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Veränderungen des Familiensystems bei Aufnahme eines Pflegekindes

Eine empirische Untersuchung der Belastungserfahrungen und Bewältigungsstrategien von Pflegefamilien

©2004 Diplomarbeit 131 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Heimerziehung ist „neben der Adoption die bedeutsamste Möglichkeit der Jugendhilfe zur Sicherung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus prekären (kindeswohlgefährdenden) familiären Situationen“ (Jordan 2001).
In den vergangenen Jahrzehnten ging die Entwicklung im Pflegekinderbereich hin zu einer Aufwertung und zu einem Ausbau der Familienpflege. Die wurde auch durch die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) von 1991 zum Ausdruck gebracht. Die Anzahl der in Heimen untergebrachten Kinder sollte reduziert werden. Ausgelöst wurde dieser Trend durch die sogenannten „Heimkampagnen“ Anfang der 70er Jahre. „Die Zustände in den Heimen [wurden] öffentlich gemacht und die Pflegefamilien als pädagogische Alternative der Fremderziehung wiederentdeckt“ (Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993).
Die Studentenbewegung und die sich anschließenden „gesellschaftlichen Reformprozesse“ machte die für die Jugendhilfe Verantwortlichen „sensibler für kindliche Bedürfnisse“, „gesellschaftliche Unterdrückung“ und verlangte „schließlich auch nach einer Reform des sozialpädagogischen Institutionssystems und der sozialpädagogischen Ausbildung. Das Pflegekinderwesen erreichte alles dies vor allem über den Tatbestand, dass die Heimerziehung schrecklich teuer wurde“ (Blandow 2001). Mit der Aufwertung der Pflegekinderarbeit durch die Spezialisierung innerhalb der Jugendämter (Schaffung von Pflegekinderdiensten) und durch Professionalisierung potentieller Pflegeeltern (Schulungen und gezielte Informationen) – sind die Zahlen für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in institutionellen Einrichtungen in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, die Anzahl der Pflegestellen gestiegen. Insgesamt aber ist die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie rückläufig.
Ausgelöst durch die Anti-Heimkampagnen sanken in den 80’er Jahren die Zahlen der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen und sonstigen Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Anzahl der Pflegestellen konnte im selben Zeitraum fast verdoppelt werden. In den letzten zwanzig Jahren sanken sowohl die Zahlen für die Heimunterbringung als auch die der Pflegestellen. Laut Statistischem Bundesamt waren Ende 2000 insgesamt 49.000 junge Menschen bis 26 Jahre in einer Pflegefamilie untergebracht. 80 % der Pflegekinder lebten in […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Die Pflegefamilie im rechtlichen Kontext
1. Das Jugendamt
2. Vormundschaft und Pflegschaft
3. Die leiblichen Eltern
4. Herausgabeanspruch und Verbleibensanordnung
5. Die Pflegefamilie
6. Entscheidungsbefugnisse der Pflegeperson

III Forschungsergebnisse zum Pflegekinderwesen
1. Das Pflegekind
1.1 Kinder werden Pflegekinder
1.2 Bindungsverhalten des Kindes
1.3 Deprivationserfahrungen
1.4 Bindung und Trennung
1.5 Integration und Anpassung
1.6 Übertragung von Beziehungserfahrungen
1.7 Loyalitätskonflikte und Identitätsfindung
2. Die leiblichen Eltern
2.1 Gründe für die Inpflegegabe
2.2 Abgebende Eltern – Außenseiter der Gesellschaft
3. Die Pflegefamilie
3.1 Ersatz- oder Ergänzungsfamilie
3.2 System Pflegefamilie
3.3 Motivation und Inpflegenahme
3.4 Sozialer Status von Pflegefamilien

IV Dokumentation des Forschungsverlaufs
1. Forschungsanliegen
2. Methodisches Vorgehen
2.1 Wahl der Forschungsmethode
2.2 Zielgruppenbestimmung und Auswahlkriterien
2.3 Konstruktion des Interviewleitfadens und des Fragebogens
3. Datenerhebung
3.1 Kontaktaufnahme
3.2 Vorbereitung der Interviews
3.3 Durchführung der Interviews
4. Auswertung
4.1 Transkription
4.2 Interpretation

V Darstellung und Interpretation der Interviews mit den Pflegemüttern
1. Der Fragebogen
2. Der Interviewleitfaden
3. Vorstellung der interviewten Pflegefamilien
3.1 Pflegefamilie A
3.2 Pflegefamilie B
3.3 Pflegefamilie C
3.4 Pflegefamilie D
3.5 Pflegefamilie E
4. Die Vorbereitungszeit
4.1 Motivation als Pflegeeltern
4.1.1 Vergrößerung der Familie
4.1.2 Soziale Motive
4.2 Gemeinsame Entscheidung des Ehepaares
4.3 Einbeziehung der leiblichen Kinder
4.4 Einbeziehung der Familie
4.5 Vorbereitung durch das Jugendamt
4.6 Information über die rechtlichen Aspekte des Pflegeverhältnisses
4.7 Vorstellungen über ein gemeinsames Leben mit einem Pflegekind
5. Die Kennenlernphase
5.1 Erstkontakt und Kennenlernphase
5.2 Der erste Tag in der Familie
5.2.1 Reaktionen der leiblichen Kinder
5.2.2 Gefühl der Vorbereitung am ersten Tag
6. Das Pflegekind
6.1 Verhaltensauffälligkeiten des Pflegekindes
6.1.1 Entwicklungsstand bei Aufnahme
6.1.2 Überangepasstheit des Kindes
6.1.3 Affektstörungen
6.1.4 ADS / ADHS
6.1.5 Therapeutische Behandlung
6.2 Das Pflegekind im sozialen Kontext
6.2.1 Freundschaften
6.2.2 Kindergarten / Schule
6.3 Persönliche Stärken des Pflegekindes
7. Belastungserfahrungen der Pflegefamilie
7.1 Belastungserfahrungen der Pflegemutter
7.1.1 Situationsbedingte Belastungserfahrungen
7.1.2 Psychosomatische Auswirkungen
7.2 Belastungserfahrungen des Pflegevaters
7.3 Auswirkungen auf die Partnerschaft
7.4 Belastungserfahrungen für das leibliche Kind
7.5 Konflikte zwischen Pflegekind und leiblichem Kind
7.5.1 Eifersucht
7.5.2 Aggression
7.6 Belastungserfahrungen durch das soziale Umfeld
7.7 Belastungserfahrungen durch das Jugendamt
8. Bewältigungsversuche der Pflegefamilie
8.1 Bewältigungsversuche der Pflegemutter
8.2 Persönliche Einschätzung der eigenen Stärken
8.3 Unterstützung in der Partnerschaft
8.4 Reaktion der Eltern auf das leibliche Kind
8.5 Positive Veränderung zu dem leiblichen Kind
8.6 Unterstützungsmomente zwischen leiblichem Kind und Pflegekind
8.7 Unterstützung durch das soziale Umfeld
8.8 Entlastungsfaktor durch das Jugendamt als Vormund
8.9 Unterstützung durch andere Pflegeeltern / Selbsthilfegruppen
9. Die leibliche Mutter
9.1 Belastungserfahrungen durch die leibliche Mutter
9.1.1 Besuchskontakte
9.1.2 Eifersucht
9.1.3 Rückforderung
9.2 Entlastungserfahrung durch die leibliche Mutter
10. Die Pflegefamilie und das Recht
10.1 Betreuung und Begleitung durch das Jugendamt
10.2 Eindeutige Regelung des Verbleibs
10.3 Angelegenheiten des täglichen Lebens
10.4 § 1632, Abs. 4 BGB als Entlastungsfaktor
11. Die Vergangenheit und die Zukunft
11.1 Reflektion mit dem Pflegekind über seine Geschichte
11.2 Veränderung der Lebenshaltung
11.3 Veränderungen im Lebenslauf durch die Inpflegenahme
11.4 Gewonnene Erfahrungen
11.5 Wunsch nach Pflegekind in der Reflektion
11.6 Aufgaben für die Zukunft
11.7 Hoffnungen und Ängste

VI Darstellung und Interpretation der Interviews mit den leiblichen Kindern
1. Der Interviewleitfaden
2. Belastungserfahrungen durch die Pflegesituation
2.1 Problematisches Verhalten des Pflegekindes
2.2 Belastungserfahrung des interviewten Kindes
2.3 Belastungserfahrung des Geschwisterkindes
2.4 Aufmerksamkeit der Eltern
3. Entlastungserfahrung durch die Pflegesituation
3.1 Positive Charaktereigenschaften des Pflegekindes
3.2 Unterstützung unter den Geschwistern
3.3 Unterstützung durch die Eltern
3.4 Reaktionen des Freundeskreises
4. Die Vergangenheit und die Zukunft
4.1 Wahrgenommene Veränderung der elterlichen Beziehung
4.2 Geschwistergefühl zum Pflegekind
4.3 Zufriedenheit mit der Familie
4.4 Wünsche für die Zukunft

VII Zusammenfassung und Kommentierung

VIII Konsequenzen für die sozialpädagogische Praxis

IX Literatur

I Einleitung

Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Heimerziehung ist „neben der Adoption die bedeutsamste Möglichkeit der Jugendhilfe zur Sicherung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus prekären (kindeswohlgefährdenden) familiären Situationen“ (Jordan 2001, S. 1346).

In den vergangenen Jahrzehnten ging die Entwicklung im Pflegekinderbereich hin zu einer Aufwertung und zu einem Ausbau der Familienpflege. Die wurde auch durch die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) von 1991[1] zum Ausdruck gebracht. Die Anzahl der in Heimen untergebrachten Kinder sollte reduziert werden. Ausgelöst wurde dieser Trend durch die sogenannten „Heimkampagnen“ Anfang der 70er Jahre. „Die Zustände in den Heimen [wurden] öffentlich gemacht und die Pflegefamilien als pädagogische Alternative der Fremderziehung wiederentdeckt“ (Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993, S. 168).

Die Studentenbewegung und die sich anschließenden „gesellschaftlichen Reformprozesse“ machte die für die Jugendhilfe Verantwortlichen „sensibler für kindliche Bedürfnisse“, „gesellschaftliche Unterdrückung“ und verlangte „schließlich auch nach einer Reform des sozialpädagogischen Institutionssystems und der sozialpädagogischen Ausbildung. Das Pflegekinderwesen erreichte alles dies vor allem über den Tatbestand, dass die Heimerziehung schrecklich teuer wurde“ (Blandow 2001, S. 115).

Mit der Aufwertung der Pflegekinderarbeit durch die Spezialisierung innerhalb der Jugendämter (Schaffung von Pflegekinderdiensten) und durch Professionalisierung potentieller Pflegeeltern (Schulungen und gezielte Informationen) – sind die Zahlen für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in institutionellen Einrichtungen in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, die Anzahl der Pflegestellen gestiegen. Insgesamt aber ist die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie rückläufig.

Die nachfolgende Tabelle soll das verdeutlichen:

Hilfen zur Erziehung außerhalb der eigenen Familien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Zahlenangaben von 1975 – 1990 nach Wiesner u.a. 1995, zit. nach Jordan 2001, S. 1346.

Ausgelöst durch die Anti-Heimkampagnen sanken in den 80’er Jahren die Zahlen der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen und sonstigen Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Anzahl der Pflegestellen konnte im selben Zeitraum fast verdoppelt werden. In den letzten zwanzig Jahren sanken sowohl die Zahlen für die Heimunterbringung als auch die der Pflegestellen.

Laut Statistischem Bundesamt waren Ende 2000 insgesamt 49.000 junge Menschen bis 26 Jahre in einer Pflegefamilie untergebracht. 80 % der Pflegekinder lebten in einer für sie fremden Familie, während die anderen bei Großeltern und anderen Verwandten untergekommen waren. Von den in fremden Familien lebenden Kindern waren mehr als die Hälfte unter 12 Jahre alt. (vgl. http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2002/zdw14.htm)

Für die Rückläufigkeit der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses werden a) strukturelle Veränderungen innerhalb der Jugendhilfe, b) Individualisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft und c) veränderte Lebensentwürfe von Paaren und Familien verantwortlich gemacht.

a) Die aktuellen Jugendhilfedebatten gehen dahin, dem Kind, solange es geht, seinen Platz in der Familie zu erhalten, indem qualifizierte ambulante und teilstationäre Hilfsangebote, wie die sozialpädagogische Familienbetreuung, Tagesgruppen, therapeutische Angebote, etc. vor einer möglichen Herausnahme des Kindes in Anspruch genommen werden müssen.
b) Es gibt in der Gesellschaft eine größere Toleranz für abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern. Die diesbezügliche Wahrnehmung und somit die „Höhe“ der Interventionsschwellen haben sich verändert.
c) Veränderte Lebensentwürfe von Paaren und Familien - der Individualisierungswunsch vieler Frauen, sich vom traditionellen Familienkonzept lösen zu wollen – führt dazu, dass sich immer weniger Personen um Pflegekinder bewerben.

(vgl. Jordan 2001, S. 1347; Blandow 2001, S. 116)

Was veranlasst also Menschen, trotz qualifizierter anderer Hilfsangebote, trotz größerer Toleranz für abweichendes Verhalten und trotz veränderter Lebensentwürfe, sich dennoch auf das Wagnis Pflegekind mit all seinen Verwicklungen einzulassen?

Die Fragestellung speziell der vorliegenden Arbeit beinhaltete: welche Veränderungen haben Familien durch die Aufnahme eines Pflegekindes erfahren? Was für Belastungen entstanden für die Familie und ihre Mitglieder und welche Bewältigungsstrategien setzten sie ein, um mit den Belastungen adäquat umgehen zu können?

Um diese Fragen beantworten zu können, war es naheliegend, die Betroffenen selbst zu befragen. Damit war der Weg für qualitative Sozialforschung und eine empirische Erhebung durch ein problemzentriertes Interview vorgezeichnet. Für die Durchführung der Interviews wurde ein Leitfaden erstellt, der dem Interview Struktur geben sollte, um zu gewährleisten, dass bestimmte Bereiche bei den Betroffenen abgefragt wurden. Aufgrund der Struktur konnten die Aussagen miteinander verglichen und ausgewertet werden.

Ziel dieser Untersuchung war es, die durch die Interviews gewonnenen Informationen wissenschaftlich zu verarbeiten und das Endergebnis dieses Prozesses in eine möglicherweise zu verbessernde Beratungspraxis und Betreuungssituation im Pflegekinderbereich mit einfließen zu lassen. Diesbezügliche Ergebnisse werden im siebten und achten Teil dieser Arbeit vorgestellt.

Im Anschluss an die Einleitung wird im zweiten Teil die Pflegefamilie und die rechtliche Situation des Pflegekinderwesens dargelegt. Im dritten Teil werden die Forschungsergebnisse zum Pflegekinderwesen vorgestellt, die in die Teilbereiche Pflegekind, leibliche Eltern und Pflegefamilie unterteilt sind. Hier gilt es zu erwähnen, dass das empirische Ausgangsmaterial, welches dieser Arbeit zugrunde liegt, sich ausschließlich auf Pflegekinder bezieht, die im Säuglings- und Kleinkindalter in die Pflegefamilie gekommen sind und die keine vorangegangene Heimerfahrung gemacht haben. Aufgrund anderer Sozialisationserfahrungen werden bei der Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse Heimkinder und ältere Pflegekinder nicht explizit berücksichtigt. Zudem wird im Kapitel der Pflegefamilie der Unterschied zwischen einer Ergänzungsfamilie und einer Ersatzfamilie erläutert – eine Kenntnis der wissenschaftlichen Begründung und deren Vertreter ist Voraussetzung, um bestimmten Argumentationsketten folgen zu können.

Im vierten Teil wird der Verlauf des Forschungsprozesses dokumentiert und im fünften und sechsten Teil werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert. Der Darstellung und Interpretation der Interviews mit den Pflegemüttern folgt die Darstellung und Interpretation der Interviews mit den leiblichen Kindern, wobei die in der Auswertung verwendeten Zitate exemplarische Funktion haben. Im siebten Teil erfolgt die Zusammenfassung und Kommentierung der Forschungsergebnisse. Ausgehend von den Forschungsergebnissen werden im achten Teil Konsequenzen für die sozialpädagogische Praxis gezogen.

II Die Pflegefamilie im rechtlichen Kontext

1. Das Jugendamt

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ (Art. 6, Abs. 2 GG).

Das Jugendamt übernimmt die Wächterfunktion des Staates, die sich aus dem Grundgesetz ergibt. Ist eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung in seiner Familie nicht mehr gewährleistet, so können nach § 27 KJHG Hilfen zur Erziehung gewährt werden. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf. Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll (...) Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten (§ 33 KJHG).

Ist ein Kind zur Pflege in einer anderen Familie untergekommen, so muss das Jugendamt nach § 44, Abs. 3 KJHG regelmäßig an Ort und Stelle überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Pflegeerlaubnis weiterhin bestehen.

Die Aufgabe des Jugendamtes ist im Pflegekinderbereich vorrangig die der Beratung, Betreuung und Unterstützung der am Pflegegeschehen beteiligten Personen. Da Hilfen zur Erziehung grundsätzlich vorübergehend angelegt sind, ist das eigentliche Ziel der Erziehung in der Pflegefamilie die Reintegration des Kindes in die Ursprungsfamilie. Dieses Ziel wird auch in § 37, Abs. 1 KJHG verdeutlicht:

Die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie sollen durch Beratung und Unterstützung der Eltern soweit verbessert werden, dass sie das Kind wieder selbst erziehen können. Dies soll innerhalb eines Zeitraumes geschehen, der aus der Zeitperspektive des Kindes als vertretbar angesehen werden kann. Die Grenze für die Rückkehroption des Kindes wird durch die Formulierung innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums[2] gezogen. Ist das Ziel der Rückführung des Kindes innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes nicht möglich, so soll mit den beteiligten Personen eine andere, dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden. Dieses wird dann in der Regel der Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie sein, ggf. die Übertragung der Vormundschaft für das Kind auf die Pflegefamilie.

Ein wichtiges Instrument in der Pflegekinderarbeit ist die Erstellung eines Hilfeplans nach § 36 KJHG. Sinn des Hilfeplans ist es, den Hilfeprozess zu strukturieren, zu dokumentieren und für die Betroffenen transparent zu machen. Der Hilfeplan enthält Feststellungen über den erzieherischen Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen. „Dabei handelt es sich nur um das vom Gesetzgeber geforderte Minimum. Soll der Hilfeplan seinen Zweck erfüllen, wird er sehr viel detailliertere Angaben enthalten müssen (z.B. über die voraussichtliche Dauer der Hilfe, über die Erwartungen an die Eltern, [...], über das Ziel der Hilfe, über die Verantwortlichen für die Durchführung der Hilfe, über Art und Intensität der Zusammenarbeit [...] bei Pflegefamilien über die Besuchshäufigkeit etc. [...])“ (Bauer, Dohmel, Schimke 1995, S. 310)

Eine regelmäßige Überprüfung des Hilfeplans soll sicherstellen, dass die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.

2. Vormundschaft und Pflegschaft

Im Normalfall üben die leiblichen Eltern die elterliche Sorge für ihr Kind aus. Wurde den leiblichen Eltern das Sorgerecht entzogen (§ 1666 BGB), ruht die elterliche Sorge (§§ 1673 ff. BGB) oder sind die Eltern verstorben, so wird durch das Vormundschaftsgericht ein Vormund bestellt. Die Vormundschaft ersetzt die gesamte elterliche Sorge für den Minderjährigen (§ 1773 BGB). „Vormundschaft bedeutet nach geltendem Recht die Fürsorge für die Person oder das Vermögen eines Menschen, der außerstande ist, für sich selbst zu sorgen“ (Bauer, Dohmel, Schimke 1995, S. 209).

Das Jugendamt hat nach § 53, Abs. 1 KJHG die Pflicht und das Recht, dem Vormundschaftsgericht Personen und Vereine vorzuschlagen, die sich im Einzelfall zum Pfleger oder Vormund eignen. Die Eignung dieser Person hat sich am Wohl des betroffenen Kindes zu orientieren. Fachliche, intellektuelle und charakterliche Kriterien sind im Hinblick auf die Eignung als Vormund zu berücksichtigen. Ist eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden, so kann auch das Jugendamt zum Vormund bestellt werden (§ 1791b KJHG).

Pflegeeltern kommen grundsätzlich als geeignete Personen für eine Vormundschaft in Frage. Solange jedoch eine Rückkehroption des Pflegekindes in seine Herkunftsfamilie besteht, empfiehlt sich die Übertragung von Vormundschaft auf die Pflegeeltern in aller Regel nicht. Pflegeeltern werden von Seiten der leiblichen Eltern häufig als Konkurrenten angesehen. Durch eine Verfestigung der Rechtssituation in Folge der Vormundschaftsübertragung könnte sich die Konkurrenzsituation noch steigern. Da dem Vormund häufig eine Vermittlerfunktion zwischen Pflegefamilie und leiblichen Eltern zukommt, würde die Vermittlerfunktion unterlaufen werden und die Situation könnte zu erheblichen zusätzlichen Belastungen der Pflegefamilie führen.

Bei einem langfristig bestehenden Familienpflegeverhältnis, bei dem die Rückkehroption des Kindes ausgeschlossen ist, sollten in erster Linie die Pflegeeltern als Vormund in Frage kommen, da durch die Übernahme der Vormundschaft Stabilität und Kontinuität im Leben des Pflegekindes zum Ausdruck kommen kann. (vgl. Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993, S. 253 ff.)

Die Pflegschaft ist im Unterschied zur Vormundschaft nur für Teilbereiche der elterlichen Sorge verantwortlich (§ 1909 BGB). Der Umfang der Pflegschaft ist vom Vormundschaftsgericht genau zu bestimmen. Der Wirkungskreis des Pflegers ergibt sich aus seiner Bestallungsurkunde, die die ihm obliegenden Aufgaben genau definiert. (vgl. Bauer, Dohmel, Schimke 1995, S. 211)

3. Die leiblichen Eltern

Das elterliche Sorgerecht ist ein durch Art. 6, Abs. 2 GG geschütztes ureigenes Recht von Eltern gegenüber den leiblichen Kindern. Die Inpflegegabe eines Kindes ändert an dieser Rechtsstellung nichts. Das Elternrecht ist ein pflichtgebundenes Recht, die Bindung steht im Schutzinteresse des Kindes. Eltern können sich dieser Pflichtenstellung nicht dadurch entledigen, dass sie ihre Rechte und Pflichten auf die Pflegefamilie übertragen. Die den Pflegeltern vertraglich eingeräumten Rechte und Pflichten werden diesen lediglich zur Ausübung übertragen, nicht aber der Substanz nach. (vgl. Lausch 1985, S. 35 f.)

Das BGB gliedert die elterliche Sorge (§ 1626, Abs. 1 BGB) in drei Bereiche:

- die Personensorge (§§ 1631 ff. BGB)

(Pflege, Erziehung, Aufsicht, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Herausgabeanspruch)

- die Vermögenssorge (§§ 1638 ff. / §§ 1667 ff. / §§ 1698 ff. BGB)

(Verwaltung des Kindesvermögens, Vermehrung und Erhaltung, Verwertung)

- die gesetzliche Vertretung des Kindes in allen Bereichen (§ 1629, Abs. 1 BGB)

(vgl. Bauer, Dohmel, Schimke 1995, S. 194 f.)

Die Ausübung der elterlichen Sorge kann bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB des Vormundschafts- oder Familiengerichts in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt individuell für das Kind geregelt werden. Oberstes Leitprinzip ist hier das Kindeswohl. Die Eltern können aber auch freiwillig Teile ihres Sorgerechtes an die Pflegeeltern abgeben (§ 1630, Abs. 3 BGB), in dem Falle übernehmen die Pflegeeltern für diese Teilbereiche die Pflegschaft. (vgl. Bauer, Dohmel, Schimke 1995, S. 227 f.)

Auch im Rahmen von Pflegeverhältnissen besteht für die Eltern nach § 1626, Abs. 3 BGB die Verpflichtung zum Umgang mit dem Kind.[3] Keinen Umgang mit dem Kind zu pflegen, bedeutet eine Verletzung elterlicher Pflichten und kindlicher Rechte. Im Hinblick auf den öffentlichen Erziehungsauftrag an die Pflegefamilie und an die Vorrangigkeit elterlicher Erziehung, wie sie sich aus Art. 6, Abs. 2 GG ergibt, kann sich die Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt verzögern, wenn nicht sogar unmöglich werden, wenn die Eltern keinen Umgang mit ihrem Kind in der Pflegefamilie führen. Weiterhin besteht für die Eltern nach § 37, Abs. 1 KJHG die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den am Pflegegeschehen beteiligten Personen zum Wohle des Kindes.

4. Herausgabeanspruch und Verbleibensanordnung

Sorgeberechtigte leibliche Eltern können nach § 1632 Abs. 1 BGB die Herausgabe ihres Kindes aus der Pflegefamilie verlangen, vorausgesetzt sie haben das Aufenthaltsbestimmungsrecht inne und das Kind wird ihnen widerrechtlich vorenthalten. Widerrechtlich wird der Aufenthalt des Kindes bei den Pflegeeltern in dem Augenblick, in dem die leiblichen Eltern es zurückfordern, die Pflegeeltern die Herausgabe aber verweigern. Das Herausgabeverlangen der Personensorgeberechtigten darf aber das Wohl des Kindes nicht gefährden. Lebt das Kind schon längere Zeit in der Pflegefamilie so kann das Familiengericht von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde (§ 1632, Abs. 4 BGB).

Wann sich ein Kind längere Zeit in Familienpflege befindet, richtet sich nach dem kindlichen Zeitempfinden. Es hängt ab von dem Alter des Kindes, das in Beziehung zu setzen ist zur Dauer des Aufenthaltes und zur Qualität der Bindungen zu den Pflegeeltern. So kann für ein einjähriges Kind, das sich seit einem halben Jahr in Familienpflege befindet, dieses schon eine längere Zeit sein. (vgl. Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993, S. 150 f.)

5. Die Pflegefamilie

Pflegeperson kann grundsätzlich jeder werden, der folgende Voraussetzungen mitbringt:

- „körperliche und geistige Gesundheit
- Verantwortungsbewusstsein
- Fähigkeit zu emotionaler Zuwendung und körperliche Pflege
- emotionale Stabilität und gute soziale Wahrnehmungsfähigkeit
- Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Fortbildung in Erziehungsfragen
- Religiöse und weltanschauliche Haltung, die der von den ‚Personensorgeberechtigten gewünschten Grundrichtung der Erziehung nicht im Wege steht’“

(Pflegekindervorschriften Berlin, zit. in: Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993, S. 200)

Laut KJHG § 44 bedarf derjenige einer Erlaubnis[4], wer ein Kind oder einen Jugendlichen außerhalb des Elternhauses in seiner Familie regelmäßig betreuen oder ihm Unterkunft gewähren will. Die Pflegefamilie wird somit vom Jugendamt beauftragt und begleitet und stellt in Teilbereichen eine Institution des Jugendamtes dar. Die Pflegefamilie übernimmt die Hilfe zur Erziehung nach § 33 KJHG, indem sie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform für Kinder bietet, die aus kindeswohlgefährdenden Gründen nicht weiter in ihren Familien verbleiben können. Pflegeeltern haben während des gesamten Pflegeverhältnisses nach § 37, Abs. 2 KJHG Anspruch auf Beratung und Unterstützung und sind nach Abs. 3 verpflichtet, dem Jugendamt wichtige Ereignisse und Veränderungen bezüglich des Kindeswohles mitzuteilen.

Von den Pflegeeltern wird erwartet, das Pflegekind auf Dauer aufnehmen zu wollen, aber auch, das Pflegekind bei Verbesserung der Situation in der Herkunftsfamilie, in diese zurückzuführen. Unsichere Pflegeverhältnisse können eine extreme Belastung für alle am Prozess Beteiligten darstellen. Deshalb werden Pflegeeltern benötigt, die für eine bestimmte Zeit dem Kind zuliebe einen solchen Prozess mittragen. „In den Empfehlungen des Deutschen Städtetages (1986) wird von den Pflegeeltern erwartet, daß sie ‚einerseits dem Kind Sicherheit, Geborgenheit, Kontinuität, Liebe und Wärme geben können und andererseits bereit und fähig sind, das Kind wieder in die Herkunftsfamilie zu entlassen’“ (Wiemann 1996, S. 68).

6. Entscheidungsbefugnisse der Pflegepersonen

§ 1688 BGB räumt Pflegeeltern die Kompetenzen ein, die sie benötigen, um ihren Aufgaben im Sinne von Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung (analog zu § 1631 BGB) des Pflegekindes nachkommen zu können. Die Pflegeeltern erhalten per Gesetz Entscheidungsbefugnisse in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Das sind nach § 1687 BGB solche, die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernde Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben (z.B. Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt, Urlaub, Nachhilfeunterricht, Freizeitgestaltung). Das Gegenteil sind Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist (z.B. Religionszugehörigkeit, Schul- und Berufswahl, Fremdunterbringung, schwerwiegende medizinische Maßnahmen). (vgl. Oberloskamp 1998, S. 40)

Im übrigen sind Pflegeeltern gemäß § 1688 BGB befugt, den Arbeitsverdienst des Kindes zu verwalten sowie Unterhalts-, Versicherungs-, Versorgungs- und sonstige Sozialleistungen für das Kind geltend zu machen und zu verwalten.

Bei längerer Inpflegegabe besteht nach § 1630, Abs. 3 BGB die Möglichkeit, den Pflegeeltern bestimmte Aufgaben der elterlichen Sorge gerichtlich übertragen zu lassen. Die Pflegeeltern erhalten dann die Rechtsstellung eines Pflegers. (vgl. Oberloskamp 1998, S. 220 f.)

III Forschungsergebnisse zum Pflegekinderwesen

1. Das Pflegekind

1.1 Kinder werden Pflegekinder

Wenn die Lebens- und Entwicklungsinteressen von Kindern in ihren Familien nicht mehr berücksichtigt werden können, so werden Kinder fremdplatziert. Ein Teil der Kinder kommt kurz- oder langfristig in einem Heim unter, ein anderer Teil kann direkt oder später in eine Pflegefamilie vermittelt werden. Mit der Fremdplazierung wird zwangsläufig das grundsätzliche Interesse von Kindern verletzt, zusammen mit ihren leiblichen Eltern aufwachsen zu können. Im Gegensatz dazu steht aber auch nach § 1, Abs. 1 KJHG das Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Der Staat kann und muss einschreiten, insofern die Rechte des Kindes in seiner Familie nicht gewahrt werden. (vgl. Permien 1987, S. 212)

Die Fremdplazierung wird meist behördlich verfügt, sie kann aber auch von den Eltern beantragt werden. Pflegekinder stammen aus Familien, die in ihrer Funktionstüchtigkeit eingeschränkt sind. Die Kinder sind geprägt von frühen Beziehungsabbrüchen und Deprivationserfahrungen – diese Erfahrungen wirken sich oft nachhaltig auf die neue Beziehung zu den Pflegeeltern und deren Beziehung zu den leiblichen Eltern aus. Das Pflegekind überträgt seine früheren Erfahrungen und Erlebnisse auf die Pflegeeltern, was diese schnell in ihren Vorstellungen und Erwartungen von einem gemeinsamen Zusammenleben enttäuschen kann. (vgl. Kaiser 1990, S. 125 f. ; Wiemann 1995, S. 386 f.)

Durch die Inpflegegabe gehört das Kind zu zwei Familien: es hat nun leibliche und soziale Eltern. In den wenigsten Fällen ist von vornherein klar, ob und wann das Kind in seine Herkunftsfamilie zurückkehren kann. Die Zukunftsperspektive des Kindes ist bei der Inpflegegabe in der Regel unklar. Pflegekinder müssen also einen Zustand der Ungewissheit – mit einem „Rückholrecht der Eltern“ und einem „Rückgaberecht der Pflegeeltern“ – aushalten und durchstehen (Permien 1987, S. 215). Das führt zu großen Belastungen für alle Beteiligten.

1.2 Bindungsverhalten des Kindes

Das Bindungsverhalten des Säuglings stellt ein eigenständiges Motivationssystem dar, mit dem der Säugling durch bestimmte Verhaltensweisen wie Schreien, Lächeln, Anklammern und Nachfolgen versucht, die Nähe zu einer vertrauten Person herzustellen. Ziel der Bindungsverhaltensweisen ist die Erfahrung von Sicherheit, Nähe und Geborgenheit. Aus den interaktiven und kommunikativen Erfahrungen, die der Säugling im Laufe seines ersten Lebensjahres macht, resultiert ein Gefühl der Gebundenheit an die Betreuungsperson. Entscheidend für die entstandene Art von Bindung[5] ist nicht die Quantität, sondern die Qualität der Interaktion. (vgl. Dornes 2002, S. 44 f.)

Die Eltern-Kind-Bindung entsteht durch die tägliche Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse nach Nahrung, Pflege, Körperkontakt und Zuwendung. Das Kind ist dabei nicht auf seine leiblichen Eltern fixiert. „Nicht nur Tierkinder, auch der menschliche Säugling trägt von der Zeugung und Geburt her keine verhaltensbestimmenden Informationen über seine leibliche Verwandtschaft mit sich. Er ist völlig offen für die individuelle Bindung an seine künftigen Betreuer, seien es die leiblichen Eltern, Adoptiveltern oder Pflegeeltern. Auch die leibliche Elternschaft bedarf, soll sie für den Säugling zur Wirklichkeit werden, dieses Lernprozesses, des Sichanschließens. Anders ausgedrückt: Auch leibliche Eltern werden erst dadurch die richtigen Eltern, daß die individuelle Bindung des Säuglings im ersten Lebensjahr vollzogen wird; auch sie adoptieren gewissermaßen ihre eigenen Kinder und dürfen sie eigentlich erst danach als ihre eigenen Kinder ansehen“ (Hassenstein 1973, S. 383, zit. n. Nienstedt/Westermann 1998, S. 50).

Die spezifische Eltern-Kind-Beziehung prägt sich also durch bestimmte Interaktionen zwischen den Beteiligten im ersten Lebensjahr aus.

Erst auf der Basis gelungener Interaktion und einem Gefühl von Sicherheit ist das Kind in der Lage, seine Umwelt zu erforschen und differenzierte Bedürfnisse zu befriedigen. Gelingt es dem Kind nicht, die Nähe zur Bindungsperson in altersangemessener Form aufrechtzuerhalten, gerät es in einen Zustand von Furcht und Unbehagen und stellt seine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ein. Kommt es in den ersten Lebensjahren des Kindes zu einem Abbruch der Eltern-Kind-Beziehung, so schädigt dies die kindliche Entwicklung. Das „Urvertrauen“ (Erickson 1973), welches Voraussetzung für die optimale Bewältigung aller weiteren Entwicklungsschritte ist, kann sich nicht herausbilden. „Urvertrauen entsteht als Reaktion auf die Erfahrung, daß die eigenen Bedürfnisse in angemessener Weise befriedigt werden. Werden die kindlichen Bedürfnisse also quantitativ oder qualitativ unzureichend erfüllt, müssen sich Störungen bei der Übernahme der Kindes-Rolle[6] einstellen“ (Blandow 1972, S. 40 f.).

Kommt es zu einer Trennung des Kindes von seiner Bezugsperson, so muss berücksichtigt werden, dass die Trennungsempfindlichkeit des Kindes abhängig vom Alter ist. Die hochsensible Phase liegt zwischen 6 Monaten und drei Jahren. Mit zunehmender Autonomie des Kindes und ersten Ablösungstendenzen von der Mutter nimmt die Trennungsempfindlichkeit ab. Man kann also sagen, dass je früher das Kind aus seiner leiblichen Familie herausgenommen wird, dieses sich umso besser für die spätere Entwicklung des Kindes auswirkt. Eine Trennung des Kindes oder häufiger Wechsel von Bezugspersonen sollte, wenn möglich, in der hochsensiblen Phase vermieden werden. Eine traumatische Trennung schädigt die kindliche Entwicklung mit der Folge, dass alle späteren Entwicklungsschritte des Kindes nur in dem Maße gelingen können, wie die vorangegangenen. Eine neue eigenständige Bindung an die Pflegeeltern mit kompensatorischer Wirkung auf Entwicklungsdefizite ist jedoch möglich und für das Kind unter günstigen Voraussetzungen vollziehbar.

Bei der Trennung von Kindern von ihren Eltern muss berücksichtigt werden, dass eine Trennung und das Verlustempfinden für Kinder nachhaltiger und schwerer wirksam wird. Trennung wird schneller als dauerhaft und endgültig erlebt. Ebenso geht die innere Entfremdung gegenüber den leiblichen Eltern, mit denen nur noch Besuchskontakt besteht, schneller vonstatten, als es bei Erwachsenen der Fall wäre. (vgl. Zenz 2000, S. 321; Gudat 1987, S. 26 f.)

1.3 Deprivationserfahrungen

Entbehrt ein Säugling oder Kleinkind die Erfahrung einer warmherzigen, intimen und stetigen Beziehung zur Mutter (oder einer gleich bleibenden Mutter-Ersatz-Person), so gerät es in einen Zustand der „Mutterentbehrung“ (Bowlby 2001, S.11). Der Begriff der Mutterentbehrung bezieht sich sowohl auf den Zustand, in dem die Mutter dem Kind die nötige mütterliche Zuwendung nicht zukommen lässt als auch auf den Zustand, in dem dem Kind aus irgendeinem Grunde die Zuwendung der Mutter entzogen wurde.

Bowlby unterscheidet hier:

- „Die partielle Deprivation, wenn [das Kind] mit einer Mutter, einer ständigen Mutter-Ersatz-Figur oder einer Verwandten lebt, die alle eine ablehnende Einstellung zu ihm haben.
- Absolute Deprivation bei Verlust der Mutter (oder der ständigen Mutter-Ersatz-Figur) infolge Tod, Krankheit oder Verlassen, wenn keine Verwandten vorhanden sind, die für es sorgen können.
- Absolute Deprivation durch Trennung von der Mutter (oder von der ständigen Mutter-Ersatz-Figur) und Unterbringung bei Fremden durch Gerichtsbeschluss [etc.].“

(Bowlby 2001, S. 69 f.)

Nienstedt und Westermann beschreiben Deprivation als “die Folge einer ungenügenden, mangelhaften Befriedigung grundlegender psychischer Bedürfnisse, wie denen nach Nähe und Zuwendung, Interaktion und Anregung, Spannungsausgleich und Beruhigung. (…) Je früher Deprivation einsetzt, je länger sie anhält und je umfassender sie ist, desto gravierender sind die Auswirkungen auf alle Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung (...)“ (ebd. 1998, S. 156).

Der Großteil der Kinder, die in Pflegefamilien vermittelt werden, sind deprivierte und emotional geschädigte Kinder, die ihre ersten Sozialisationserfahrungen in gestörten Familien gemacht haben. Diese Kinder sind in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrem Vertrauen in die Umwelt verunsichert und entmutigt worden. Die Erfahrung, abgelehnt zu werden oder der Abbruch von befriedigenden Beziehungen hat negative Auswirkungen auf die Gefühlswelt der Kinder. Die Fähigkeit, sich an andere, neue Bezugspersonen wie die Pflegeeltern zu binden, wird herabgesetzt.

Die Symptomatik des emotional gestörten Kindes reicht im Sozialverhalten von Affekthunger, Distanzlosigkeit bis zu provokatorischer Aggressivität; im psycho-sozialen Bereich treten körperliche und geistige Entwicklungsverzögerungen und Retardierung der Sprachentwicklung in Erscheinung; Folgen emotionaler Vernachlässigung sind Symptome wie Enuresis (Bettnässen), Encopresis (Einkoten), Schlafstörungen, motorische Unruhe und Iactationen (Sichhinundherwerfen). (vgl. Plinke/Sell/Sell 1979, S. 28 f.)

1.4 Bindung und Trennung

Der Prozess der Eingliederung des Pflegekindes in die Pflegefamilie ist zu Beginn durch die Übergangszeit gekennzeichnet. Voraussetzung für die Integration des Kindes in die Pflegefamilie und die Entwicklung positiver Bindungsbezüge ist die Trennung, bzw. Ablösung von den leiblichen Eltern. „Beide Prozesse, Bindung und Trennung, laufen nebeneinander her und bedingen sich gegenseitig: Bindung wird durch Ablösung ermöglicht, und Ablösung wird durch Bindungsmöglichkeiten erleichtert. Bindungen sind nur da möglich, wo Trennungen vollzogen werden“ (Nienstedt/Westermann 1998, S. 201).

Ohne Ablösung von den leiblichen Eltern können keine neuen Eltern-Kind-Beziehungen in der Pflegefamilie entstehen.

Die Trennung wird je nach Alter des Kindes, der Anzahl vorheriger Abbrüche und der Qualität der Beziehung zur Herkunftsfamilie unterschiedlich ausfallen. Einflussnehmende Faktoren bei der Verarbeitung von Trennung sind der Anlass der Inpflegegabe, die Vorbereitung des Kindes auf die Inpflegegabe und die Einstellung bzw. Zustimmung der abgebenden Familie in das Pflegeverhältnis. Je schwieriger und unvorbereiteter die Ausgangsvoraussetzungen sind, desto schwieriger ist die Verarbeitung des Trennungserlebnisses für das Kind. Eine Inpflegegabe aufgrund des Todes der Eltern ist für ein Pflegekind leichter zu akzeptieren als eine Vernachlässigung oder Sorgerechtsentzug mit anschließender Herausnahme per Gerichtsbeschluss.

Untersuchungen (O´Reilly 1961) haben ergeben, dass Pflegekinder sich eher mit ihren Pflegeeltern identifizieren, wenn diese offen und altersangemessen über die Gründe für die Inpflegegabe informierten. (vgl. Lausch 1985, S. 48 ff.)

Um den Verlust der leiblichen Eltern, der leiblichen Mutter überwinden zu können, muss das Kind Trauerarbeit leisten. Trauerarbeit ist ein durch Erinnerungen in Gang gesetzter Distanzierungsprozess. Das Kind erinnert sich Schritt für Schritt an seine Erlebnisse mit den leiblichen Eltern, wird sich gewahr, dass diese für ihn nicht mehr zur Verfügung stehen und dass solche Erlebnisse nicht mehr wiederholbar sind. Vollzogene Trauerarbeit ist die Ablösung von Bindungen durch Erinnerung – die eigene Geschichte wird nicht verdrängt, sondern abrufbar im Gedächtnis abgespeichert. (vgl. Nienstedt/Westermann 1998, S. 202)

1.5 Integration und Anpassung

Ziel eines Pflegeverhältnisses sollte immer die Integration des Kindes in die Pflegefamilie sein. Grundlage hierfür ist die Entwicklung von positiven und individuellen Eltern-Kind-Beziehungen. Beziehungen sind die Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine Kindheit als gesunder Mensch verlässt und nun seinerseits in der Lage ist, Bindungen und Beziehungen außerhalb der Familie eingehen zu können. Integration darf aber nicht als Eingewöhnungsprozess verstanden werden. Soll die Integration des Kindes in die Pflegefamilie gelingen, so können laut Nienstedt und Westermann die früheren familialen Beziehungen nicht aufrechterhalten werden. Die Lebensgeschichte des Kindes erfährt einen Bruch. Gelingt dieser Prozess nicht und bleibt das Kind weiterhin mit seiner Herkunftsfamilie verhaftet, so bleibt es ein Fremdling in der Pflegefamilie.

In der ersten Phase der Integration passt sich das Kind tendenziell an die neuen Lebensbedingungen an. Es hat ja in der Regel die Erfahrung gemacht, das familiale Beziehungen nicht auf der Befriedigung kindlicher Bedürfnisse beruhen, sondern eher auf Ablehnung, der Nicht-Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse und auf Frustrationen. Aufgrund dieser Ohnmachtserfahrungen wird das Kind durch Überanpassung an die Pflegeeltern herauszufinden versuchen, ob die neuen Lebensbedingungen zu- oder abträglich sein werden. Mit der Überanpassung des Kindes und seinem Wohlverhalten den Pflegeeltern gegenüber versucht es die eigene Unsicherheit unter Kontrolle zu halten, um seine Situation durch Fehlverhalten nicht zusätzlich zu gefährden. Erst durch die Erfahrung von Sicherheit in verlässlichen Beziehungen und die Befriedigung seiner Bedürfnisse wird das Kind in einen Dialog mit den Pflegeeltern treten. Die Eltern müssen sich von dem Kind an die Hand nehmen und zulassen können, dass es Einfluss auf sie gewinnt und sie manipuliert. Erst dadurch wird es dem Kind möglich sein, seine ängstliche Überanpassung aufzugeben und sich in die Familie als angenommenes Kind zu integrieren. (vgl. Nienstedt/Westermann 1998, S. 48-56)

1.6 Übertragung von Beziehungserfahrungen

Ist die erste Phase der Integration gelungen, hat das Kind eine gewisse Sicherheit in den neuen Lebensbedingungen gefunden, so treten seine frühen traumatischen Erfahrungen, Ängste und Aggressionen zutage. Das Kind überträgt die traumatischen Erfahrungen, die es mit seinen leiblichen Eltern gemacht hat, auf die Pflegeeltern. Es nutzt und gestaltet die Beziehung zu den Pflegeeltern wie eine therapeutische Situation, um durch die Übertragung die gestörte Sozialisation korrigieren zu können. Die alten Probleme und Konflikte müssen noch einmal durchgearbeitet werden.

Übertragung „bezeichnet in der Psychoanalyse den Vorgang, wodurch die unbewußten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus, der sich mit diesen Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. (...) Es handelt sich dabei um eine Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden“ (Laplanche/Pontalis 1972, S. 550).

Das Kind scheint in der Übertragungssituation gar nicht mehr wahrnehmen zu können, dass es nun mit ganz anderen Eltern zu tun hat, die sich in keinster Weise so verhalten, wie es das gewohnt ist. Durch Provokationen, Drohungen und Aggressionen den Pflegeeltern gegenüber versucht das Kind herauszufinden, wie viel es den Eltern wert ist. Für die Pflegeeltern ist solch ein Verhalten befremdend und beängstigend, da ihnen zum einen das Kind noch fremd ist und es sich in der Anpassungsphase noch unauffällig und bereitwillig gezeigt hat. Die Integrationsphase, mit den noch wirksamen Übertragungen, ist für die Familie die schwierigste und konflikthafteste. In dieser Phase kommt am ehesten der Wunsch nach Abbruch des Pflegeverhältnisses auf. (vgl. Nienstedt/Westermann 1998, S. 67-70)

1.7 Loyalitätskonflikte und Identitätsfindung

Ein schwieriges und häufig konfliktgeladenes Thema in jeder Pflegebeziehung ist die Frage nach dem Kontakt des Kindes zu seiner Herkunftsfamilie.[7] Das Pflegekind erlebt sich als Kind zweier Familien – mit unterschiedlicher Zugehörigkeit. Auf der einen Seite steht die leibliche Familie – Eltern, die ihrem Erziehungsauftrag dem Kinde gegenüber nicht nachgekommen sind, dieses weggegeben haben oder aufgrund eines Gerichtsbeschlusses weggeben mussten. Auf der anderen Seite steht die Pflegefamilie mit dem Angebot, dem Kind eine neue Chance in stabilen und positiven Familienbezügen zu bieten. Da sich das Kind als Teil seiner Herkunftsfamilie definiert, fühlt es sich als schlechtes Kind (abgebende Eltern sind schlechte Eltern). Es fühlt sich minderwertig und zweifelt an seinem Selbstwert. Bei seinen leiblichen Eltern kann und darf das Kind nicht leben und in der Pflegefamilie ist es nicht das leibliche Kind, muss sich vielleicht sogar noch einen Platz unter Geschwistern erkämpfen.

„Diese Identitätskonflikte werden oftmals noch verschärft durch heftige Loyalitätskonflikte. Fühlt sich das Kind ganz als Kind seiner Pflegefamilie, so hat es oft Schuldgefühle gegenüber seinen Herkunftseltern. Bleibt es emotional seinen Herkunftseltern treu, können dies meist die Pflegeeltern nicht akzeptieren“ (Wiemann 1995, S. 386).

Ist eine langfristige Dauerpflege für das Kind vorgesehen, so benötigt es für die notwendige Integration in die Pflegefamilie die Zustimmung der leiblichen Eltern. Geschieht diese Entbindung durch die leiblichen Eltern nicht, so bleibt das Kind oft unbewusst den Eltern gegenüber loyal und kann sich auf das neue Beziehungsangebot nicht einlassen. Daran ändert sich auch nichts, selbst wenn keine Kontakte mehr zu der Herkunftsfamilie (aufgrund von Desinteresse, Unvermögen, Tod der Eltern/Mutter) bestehen. (vgl. Wiemann 1996, S. 139)

Für das seelische Gedeihen des Kindes ist die Übereinkunft zwischen den Herkunftseltern und den Pflegeeltern unablässig. Die Kinder haben ein großes „Bündel an psychischen Hypotheken, da beide Systeme Herkunftsfamilie und Pflegefamilie sich in der Regel nicht selbst gewählt haben“ (Wiemann 1995, S. 387).

Es gibt keine gemeinsame Vergangenheit, zwei unterschiedliche soziale Welten und Umgangsformen prallen aufeinander.

Die Überwindung von Loyalitätskonflikten und der Identitätskrise kann für ein Kind nur gelingen, wenn im Rahmen des Pflegeverhältnisses klare Regelungen und Absprachen bestehen und wenn die Pflegeeltern in der Lage sind, sowohl die Eltern in ihrer „Mangelhaftigkeit“ zu akzeptieren, als auch dem Kind die Möglichkeit der Übertragung im Sinne von Korrektur traumatischer Erfahrungen zu ermöglichen.

2. Die leiblichen Eltern

2.1 Gründe für die Inpflegegabe

Was sind das für Familien, die ihre Kinder in Pflege geben, bzw. geben müssen? Es gibt diverse Untersuchungen, die sich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben. Gegenstand der Untersuchungen waren jedoch hauptsächlich das Alter und der Familienstand der abgebenden Eltern und deren sozioökonomischer Status. Im Vergleich zu den Pflegeeltern und den Pflegekindern standen die leiblichen Eltern bisher kaum im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Differenzierte Aussagen über die biographische Situation der Herkunftsfamilien vor und während der Fremdunterbringung der Kinder gibt es kaum. Nach einer Untersuchung des Deutschen Vereins[8] stellen über die Hälfte der Herkunftsfamilien Alleinerziehende dar. Jede vierte Mutter war geschieden, jede fünfte ledig. 54 % der Kinder waren ehelich, 40 % nichtehelich geboren. (vgl. Leitner 1978, S. 12 f., zit. n. Faltermeier 1989, S. 221).

„Bei 66 % der Herkunftsfamilien wird von ‚chronischen, ökonomischen und sozialen Defiziten’ berichtet (ebd. S. 94, zit. n. Faltermeier 1989, S. 221). (...) Buschmann u.a. berichten davon, daß insbesondere die ledigen und geschiedenen oder getrennt lebenden Mütter in einer äußerst ungünstigen sozioökonomischen Situation leben (...). Ähnliche Ergebnisse ermitteln auch ältere Studien von Dührssen (1955), Blandow (1972) und des Jugendamtes Ludwigshafen (1974)“ (Faltermeier 1989, S. 221).

Bei den Gründen für die Inpflegegabe eines Kindes führt die Studie des Deutschen Vereins aus, dass die Vernachlässigung oder das Verlassen des Kindes durch die leiblichen Eltern an erster Stelle steht. Als weitere Gründe folgen der Entzug des Sorgerechtes, die Misshandlung des Kindes, Erziehungsschwierigkeiten der leiblichen Eltern, die ledige Situation der Mutter, Scheidung und Wohnverhältnisse.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass Kinder, die von einer Fremdunterbringung in Pflegefamilien betroffen sind, überwiegend aus Familien stammen,

- die ökonomisch depriviert sind. Alleinerziehende (Mütter) müssen oftmals einer Berufstätigkeit nachgehen, ohne die für sie entstehenden Mehrfachbelastungen durch Aufgabenteilung mit einem Partner oder ein funktionierendes soziales Netz abfangen zu können.
- die unterprivilegiert sind. Familien oder Alleinerziehende mit geringem Einkommen, Sozialhilfebezug, mangelnder berufliche Qualifikation, ungünstigen Wohnbedingungen (Wohnungsgröße, Umfeld) und mehreren Kindern.
- die wenig empathisch und fürsorglich sind. Familien oder Alleinerziehende, die die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Achtung und Wärme nicht befriedigen können.
- mit unbewältigten Identitätskonflikten, psychischen Problemen, Delinquenz und Suchterkrankungen der Eltern.

(vgl. Faltermeier 1989, S. 220-223)

2.2 Abgebende Eltern – Außenseiter der Gesellschaft

Die freiwillige oder die erzwungene Inpflegegabe des Kindes ist für die übrig gebliebene Familie meist ein beschämender Schritt. Die „Familie als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Liegle 2001, S. 517) hat versagt.

In einer Gesellschaft, in der die Mutterschaft noch immer ein anerkanntes Gut ist und einen hohen Stellenwert hat, hat die abgebende und versagende Mutter bzw. Familie einen schweren Stand. Der Druck und die Ausgrenzung durch die Gesellschaft führt oftmals dazu, dass Eltern ihre Kinder zurückverlangen, obwohl keine Hoffnung auf Erfolg besteht. Die Eltern tun dies, um sich so von ihrer Stigmatisierung als „schlechte Eltern“ befreien zu können. Die Loyalitätskonflikte, die dadurch für das Kind entstehen, können den Erfolg der Inpflegenahme deutlich schmälern und sogar zum tatsächlichen Abbruch führen. (vgl. Wiemann 1996, S. 228)

„JENKINS (1969) fand bei ihrer Analyse der Gefühle, die leibliche Mütter bei der Trennung von ihren Kindern angegeben hatten, am häufigsten Traurigkeit, dann Sorge um die Kinder und in der Folge das Gefühl der Leere und Bitterkeit, schließlich der Undankbarkeit der eigenen Kinder. Ein Drittel berichtete auch von Scham- und Schuldgefühlen“ (Lausch 1985, S. 57).

Empfinden die Herkunftseltern die Inpflegegabe ihres Kindes als persönliche Niederlage und fühlen sich gesellschaftlich moralisch abgewertet, so können auch diese Gefühle zu einer Abwehrhaltung gegenüber der Pflegefamilie führen, die die Integration des Kindes in diese erschweren kann.

3. Die Pflegefamilie

3.1 Ersatz- oder Ergänzungsfamilie

Die Frage, ob es sich bei der Pflegefamilie um eine Ersatz- oder um eine Ergänzungsfamilie handelt, bzw. handeln sollte, löste in der sozialwissenschaftlichen und praxisorientierten Diskussion einen Richtungsstreit über das Selbstverständnis des Pflegekinderwesens aus.

Auf der einen Seite stehen die Vertreter des psychoanalytisch orientierten Theorieansatzes, die auf den Auffassungen von Goldstein, Freud und Solnit beruhen. In ihren Arbeiten[9] zum Thema „Kindeswohl in Sorgerechts- und Unterbringungsfällen“ plädieren die Verfasser dafür, dass ein Kind, das länger als zwei Jahre in einer Pflegefamilie untergebracht war, Bindungen zu seinen Pflegeeltern entwickelt hat, die eine faktische Elternschaft begründen und diese Bindung durch eine entsprechende Gesetzgebung von staatlicher Seite aus geschützt werden muss. Somit richtet sich das Hauptinteresse der Jugendhilfe auf die Pflegefamilie und das Pflegekind – die Interessen der Herkunftsfamilien rücken in den Hintergrund. Nach dieser Argumentation handelt es sich bei den Pflegefamilien um Ersatzfamilien, die die Kinder vor negativen Einflüssen durch das Herkunftsmilieu schützen sollen. (vgl. Faltermeier 1989, S. 231)

[...]


[1] Ablösung des Jugendwohlfahrtsgesetzes/JWG (modifizierte Form des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes/RJWG von 1922) durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz/KJHG am 01.01.1991 (vgl. Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern 1993, S. 167 f.)

[2] „vertretbarer Zeitraum“: siehe Erläuterungen in Kap. II/4.: „Herausgabeanspruch und Verbleibensanordnung“

[3] Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf § 1684, Abs. 1 BGB, wonach dem Kind ein eigenes Umgangsrecht mit jedem Elternteil zusteht.

[4] Ausnahmen für die Erteilung einer Pflegeerlaubnis werden in § 44, Abs. 1 KJHG definiert.

[5] Nach Mary Ainsworth (1978) gibt es drei Typen von Bindung: 1. sicher-gebunden, 2. unsicher-vermeidend, 3. unsicher-ambivalent. Main/Weston (1981) machten einen vierten Typ von Bindung aus: 4. desorganisiert-desorientiert.

[6] Dreitzel (1968) definiert die Kindes-Rolle als „Sozialisierungsrolle“. Der Begriff bezieht sich auf die allgemeinen Verhaltenserwartungen an das Kind. „Gehorsam gegenüber Regeln und eine starke Identifikation mit der Rolle sind damit die wesentlichen formalen Merkmale der Rolle“ (Blandow 1972, S. 35)

[7] Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kap. III/3.1: „Ersatz- oder Ergänzungseltern“

[8] 1974 wurde vom Deutschen Verein f. öffentl. u. priv. Fürsorge eine empirische Studie in Auftrag gegeben, die sich zum Ziel setzte, einen repräsentativen Überblick über die Sozialisationsbedingungen und Entwicklungschancen von Kindern in Pflegefamilien zu liefern. In dieser Studie wurden mit Fragebögen und ausgiebigen Interviews die Angaben von 440 Pflegeeltern und 76 Jugendämtern erfasst und interpretiert. (Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich 1987, S. 6 f.)

[9] Joseph Goldstein, Anna Freud, Albert Solnit: Jenseits des Kindeswohls (1974); Diesseits des Kindeswohls (1982)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832490218
ISBN (Paperback)
9783838690216
DOI
10.3239/9783832490218
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Düsseldorf – 06 Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2005 (September)
Note
1,7
Schlagworte
interviewleitfaden ersatzfamilie bindung loyalität
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Titel: Veränderungen des Familiensystems bei Aufnahme eines Pflegekindes
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