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Der Einfluss der Gospelmusik auf den Jazz zwischen 1950 und 1970

©2001 Diplomarbeit 105 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In seinem „Jazzbuch“ schreibt Joachim Ernst Behrendt: „Musiker wie Milt Jackson, Horace Silver, Ray Charles haben in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine Soul-Welle ausgelöst, die ihre entscheidenden Impulse aus der Gospelmusik bezog...“
Als begeisterter Gospelliebhaber und Chorleiter regte mich diese Aussage an, konkret nach diesen Impulsen zu fragen. Es interessierte mich, welche Elemente die Komponisten und Solisten aus der Gospelmusik übernahmen und in ihr Spiel integrierten.
Bei der Untersuchung musste ich wegen der Vielzahl der Musikstile die Bereiche des Jazz eingrenzen. Ich beschränke mich auf die Musiker des sogenannten „Hardbop“, da hier der Einfluss der Gospelmusik am stärksten spürbar war. Von diesen Musikern ging im Wesentlichen die von Behrendt genannte Soul-Welle aus, die danach viele Musiker beeinflusste.
Zunächst beschreibe ich geschichtlich die Entstehung der Gospelmusik und stelle ihre musikalischen Merkmale ausführlich dar. Zur Verdeutlichung habe ich jeweils Hörbeispiele angefügt.
Anschließend gehe ich drei prägende Werke des Hardbop chronologisch durch, in denen der Einfluss der Gospelmusik zum Tragen kommt:
- „The Preacher” von Horace Silver.
- „Moanin’” von Bobby Timmons.
- „This Here” von Cannonball Adderley.
Die „Transkriptionen stammen von den Aufnahmen der ersten Erscheinungen der Stücke. Die Analysen der Kompositionen und Soli sollen die Elemente repräsentativ herausstellen, die von der Gospelmusik in den Jazz übernommen worden sind.
Die Jazzmusiker, die für diese Stücke als Komponisten oder Interpreten stehen, sollen kurz vorgestellt und nach ihrer Beziehung zur Gospelmusik befragt werden. Weiterhin werden andere Musiker dieser Zeit im Hinblick auf das vorliegende Thema beleuchtet.
Der bedeutendste Stil im Jazz der 40er Jahre war der Bebop. Anfang der 50er Jahre folgte eine Weiterführung aller Errungenschaften des Bebop in mehrere Richtungen.
Zum Einen wurde die Rhythmik intensiviert, woraus sich Konzepte entwickelten, die in ungeraden Taktarten und polymetrischen Rhythmen z.B. von Max Roach, Art Blakey, Dexter Gordon u.a. realisiert wurden. Ebenso entwickelten sich improvisatorische und harmonische Weiterführungen der im Bebop gebräuchlichen Harmonik. Komponisten ließen auch Stilelemente aus afrikanischen, afrokubanischen oder brasilianischen Kulturen in den Jazz einfließen.
Zum anderen waren da Musiker wie Lennie Tristano, Lee Konitz, Miles Davis u.a., die nach der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

1. Einleitung

2. Einordnung des Themas in den musikgeschichtlichen Kontext

3. Die Gospelmusik
3.1. Geschichte und Entwicklung
3.2. Musikalische Stilbeschreibung

4. Jazzmusiker
4.1. Horace Silver
4.1.1. Kurzbiographie
4.1.2. Beziehung zur Gospelmusik
4.1.3. Ananlyse von The Preacher – Thema
4.1.4. Analyse von The Preacher – Klaviersolo
4.2. Bobby Timmons
4.2.1. Kurzbiographie
4.2.2. Beziehung zur Gospelmusik
4.2.3. Analyse von Moanin’ – Thema und Coda
4.3. Cannonball Adderley
4.3.1. Kurzbiographie
4.3.2. Beziehung zur Gospelmusik
4.3.3. Analyse von This Here – Thema
4.3.4. Analyse von This Here – Saxophonsolo
4.4. Milt Jackson
4.5. Art Blakey
4.6. Joe Zawinul
4.7. Charles Mingus
4.8. Weitere Musiker

5. Zusammenfassung

6. Anhang
6.1. Legende zu den Transkriptionen und Analysen
6.2. Transkriptionen
6.3. Verzeichnis der Hörbeispiele
6.4. Literaturverzeichnis

Anlage: Hörbeispiele auf CD

1. Einleitung

In seinem „Jazzbuch“ schreibt Joachim Ernst Behrendt: „Musiker wie Milt Jackson, Horace Silver, Ray Charles haben in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine Soul-Welle ausgelöst, die ihre entscheidenden Impulse aus der Gospelmusik bezog...“[1]

Als begeisterter Gospelliebhaber und Chorleiter regte mich diese Aussage an, konkret nach diesen Impulsen zu fragen. Es interessierte mich, welche Elemente die Komponisten und Solisten aus der Gospelmusik übernahmen und in ihr Spiel integrierten.

Bei der Untersuchung musste ich wegen der Vielzahl der Musikstile die Bereiche des Jazz eingrenzen. Ich beschränke mich auf die Musiker des sogenannten „Hardbop“, da hier der Einfluss der Gospelmusik am stärksten spürbar war. Von diesen Musikern ging im Wesentlichen die von Behrendt genannte Soul-Welle aus, die danach viele Musiker beeinflusste.

Vereinzelte Musiker, wie Albert Ayler, Alice Coltrane oder Eddie Harris ließen in anderen Stilrichtungen die Gospelmusik in ihre Musik einfließen, das soll hier außer Acht gelassen werden. Dass Duke Ellington Mitte der 60er Jahre seine „Sacred Concerts“ mit starkem Gospelanklang schrieb oder Gene Harris und Oscar Peterson gospeltypische Formen adaptierten, könnten in einer weiterführenden Untersuchung behandelt werden.

Um einen Grenzfall handelt es sich bei Ray Charles. Er bezog viele Elemente aus der Gospelmusik und inspirierte auch die Musiker des Hardbop. Da seine Musik jedoch eher in den Rhythm & Blues als in den Jazz einzuordnen ist, findet diese keinen Eingang in meine Untersuchungen.

Zunächst beschreibe ich geschichtlich die Entstehung der Gospelmusik und stelle ihre musikalischen Merkmale dar. Zur Verdeutlichung habe ich jeweils Hörbeispiele angefügt.

Anschließend gehe ich drei prägende Werke des Hardbop chronologisch durch, in denen der Einfluss der Gospelmusik zum Tragen kommt.

Die Transkriptionen stammen von den Aufnahmen der ersten Erscheinungen der Stücke. Die Analysen der Kompositionen und Soli sollen die Elemente repräsentativ herausstellen, die von der Gospelmusik in den Jazz übernommen worden sind.

Die Jazzmusiker, die für diese Stücke als Komponisten oder Interpreten stehen, sollen kurz vorgestellt und nach ihrer Beziehung zur Gospelmusik befragt werden.

Dieses spezielle Thema ist weitgehend noch nicht untersucht. Zur Enstehung der „Soul-Welle“ werden bislang in Untersuchungen viele Einflüsse geltend gemacht. Dabei bekommt die Gospelmusik häufig eine nicht weiter ausgeführte Erwähnung.

Ob die Impulse der Gospelmusik wirklich entscheidend für den Jazz zwischen 1950 und 1970 waren, werde ich untersuchen und im Einzelnen belegen.

2. Einordnung des Themas in den musikgeschichtlichen Kontext

Der bedeutendste Stil im Jazz der 40er Jahre war der Bebop.[2] Anfang der 50er Jahre folgte eine Weiterführung aller Errungenschaften des Bebop in mehrere Richtungen.

Zum Einen wurde die Rhythmik intensiviert, woraus sich Konzepte entwickelten, die in ungeraden Taktarten und polymetrischen Rhythmen z.B. von Max Roach, Art Blakey, Dexter Gordon u.a. realisiert wurden. Ebenso entwickelten sich improvisatorische und harmonische Weiterführungen der im Bebop gebräuchlichen Harmonik. Komponisten ließen auch Stilelemente aus afrikanischen, afrokubanischen oder brasilianischen Kulturen in den Jazz einfließen.[3]

Zum anderen waren da Musiker wie Lennie Tristano, Lee Konitz, Miles Davis u.a., die nach der Aufgeregtheit des Bebop eine Phase des eleganten, ruhig und überlegt gespielten, gewissermaßen professionalisierten Jazz folgen ließen. Vor allem weiße Musiker prägten diesen Stil, der als "Cool Jazz" bezeichnet wurde.[4]

Des Weiteren kam eine Musikart auf, die mit „Third Stream Music“ bezeichnet wurde. Sie verband klassische Musik mit dem Jazz. Diese Musik zeichnete sich durch eine an der Klassik angelehnte reine Phrasierung und die Einbeziehung klassischer Instrumente wie z.B. Violine oder Oboe aus. Der rhythmische Puls trat hier in den Hintergrund.[5] Bedeutendster Vertreter dieser Musik war Gunther Schuller.

Sozusagen als Antwort auf den Cool Jazz und die Third Stream Music spielten v.a. schwarze Musiker in einer Art und Weise, die als "funky" bezeichnet wurde. Sie war lebendiger, in harmonischer und melodischer Hinsicht eher einfacher gestrickt und enthielt Elemente der Blues- und Gospelmusik. Damit besann man sich auf die Ursprünge afroamerikanischer Musik, die in den schwarzen Kirchen und in einigen Bluesformen erhalten geblieben waren.

Das Wort "funky" wird mit "sumpfig" oder "stinkig" übersetzt. Es bezeichnete die Afroamerikaner aus der Sicht der Weißen als dreckig und erdbehaftet. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff abgelöst von dem postiveren Begriff "soul" oder "Soul-Jazz". In ihm sollte die schwarze Seele als Qualitätsmerkmal benannt werden und nicht das abfällig bezeichnete "Stinkige" des Negers.[6]

Der Begriff „soul“ kommt ursprünglich aus der christlichen Terminologie und bezeichnet die von den Sünden befreite Seele.[7]

"Funk" und "Soul" waren nicht nur eine Beschreibung einer bestimmten Musikrichtung sondern eng verbunden mit dem politischen und sozialen Kontext im Amerika der 50er Jahre. Die Afroamerikaner lehnten sich öffentlich gegen die rassistischen Ungerechtigkeiten in der amerikanischen Gesellschaft auf und bekamen ein neues Selbstbewusstsein. Die Bürgerrechtsbewegungen von Martin Luther King und Jesse Jackson u.a. fallen ebenso in diese Zeit wie die Gründung der Black-Power Gruppen wie die „Black Panther“.

„Soul zu haben“ war eine qualitative Eigenschaft, die sich die schwarze Bevölkerung zuschrieb, und die auf alle Lebensbereiche angewendet wurde. Man sprach z.B. vom „Soulfood“ für die schwarze Küche.[8]

Die Gospelmusik wurde in dieser Situation als ein großer und wichtiger amerikanischer Musikstil erkannt, der aus den afroamerikanischen Kirchen erwuchs. Die Negro Spirituals wurden nicht mehr verdrängt und als Lieder der Unterdrückung verachtet sondern als Teil der schwarzen Identität anerkannt.

Mit den Ursprüngen, auf die man sich besann, verband man nicht nur die Gospel- und Bluesmusik sondern auch Elemente der Swing-Ära, mit denen die Musiker in ihrer Jugend zu tun hatten.

"Back to the roots" bedeutete auch für viele schwarze Musiker die Auseinandersetzung mit der derzeitigen Musik in Afrika.

Die Ära ab Mitte der 50er Jahre, die Weiterführung des Bebop und die Antwort auf den Cool Jazz und den Third Stream wird als Hardbop bezeichnet.

Die Wortschöpfung kommt nicht etwa von der Bedeutung des Wortes „hard“ im Sinne von „schwer/schwierig“ sondern von dem erdigen perkussiven Sound und einem harten und treibenden Beat in der Musik. Als ihre wichtigsten Pioniere werden u.a. Horace Silver und Art Blakey genannt.[9]

Die Musik des Hardbop war unter weißen wie schwarzen Zuhörern sehr populär. Vielen war der Bebop zu komplex und der Cool Jazz zu emotionslos. Diese Musik dagegen war emotionsgeladen, oftmals tanzbar und für die Zuhörer nachvollziehbar.

Unter Fachleuten war der Hardbop umstritten. Dass die Musiker nur eine emotionale Musik mit einfachen harmonischen und melodischen Strukturen kreierten, wurde kritisiert, und man meinte, dass damit die künstlerische Entwicklung des Jazz nicht vorangetrieben werde.[10]

Gleichzeitig entwickelte sich aus der Mischung von Rhythm & Blues und Gospel eine Stilrichtung im Rock/Popmusikbereich, die auch „Soul“ genannt wurde. Ihr wichtigster Vertreter ist Ray Charles.

3. Die Gospelmusik

Der Begriff "Gospelmusik" steht im Allgemeinen für religiöse Musik. Das Wort "gospel" ist die englische Übersetzung von "Evangelium", dem Neuen Testament in der Bibel. Der Begriff kommt vermutlich durch die Zusammenziehung der englischen Begriffe „good spell“. Wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt dies "gute Nachricht".

In einem gedruckten Werk wurde der Ausdruck "Gospelsong" erstmals vermutlich 1874 von Philipp P. Bliss verwendet und zwar für eine Sammlung seiner Kompositionen für das gemeinschaftliche Singen bei religiösen Versammlungen: "Gospel Songs, A Choice Collection Of Hymns And Tunes"[11]

Der Begriff "Gospelsong" wurde und wird in mehreren Zusammenhängen verwendet. Zuerst stand er für Lieder, die in den Kirchen der weißen Bevölkerung Amerikas gesungen wurden neben Begriffen wie "Hymns, Psalms, Chant, Chorals" und anderen.

Geprägt wurde der Begriff jedoch Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Bezeichnung der religiösen Lieder der afroamerikanischen Kirchen in Nordamerika. Diese Lieder waren eine Weiterführung der „Negro Spirituals“ unter starker Einbeziehung von Jazz- und Blueselementen. Diese Art von Gospelmusik, auch mit "black gospel" oder "negro gospel" bezeichnet, war meistens der Gemeindegesang oder wurde solistisch vorgetragen, in kleinen Gesangsgruppen oder von Chören gesungen und oftmals von einer Jazzband mit Schlagzeug, Bass, Klavier und Orgel begleitet.[12]

Um die Entstehung und die musikalischen Merkmale der Gospelmusik zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Afroamerikaner in der Sklavenzeit und in der Entwicklung ihrer Kirchen vor Augen halten.

3.1. Geschichte und Entwicklung

Bereits portugiesische und spanische Eroberer brachten leibeigene Diener, die aus ihren afrikanischen Kolonien stammten, mit in die „Neue Welt“.

Das erste Schiff mit 20 afrikanischen Sklaven erreichte 1619 Nordamerika. Seitdem wurden unzählige Afrikaner verschleppt und mit Waffengewalt zum Sklavendienst gezwungen. Es gab nichts, was sie mitnehmen durften und konnten außer Teilen ihrer Kultur - der wesentliche Teil ihrer Kultur war die Musikalität. Die Afrikaner konnten sich z. T. noch nicht einmal untereinander verständigen, da sie bewusst getrennt wurden und aus unterschiedlichen Stämmen mit unterschiedlichen Sprachen kamen. Es gibt viele Berichte, in denen davon erzählt wurde, dass die "negars" auf den Schiffen Lieder sangen: traurige, sehnsuchtsvolle Lieder aber auch mutmachende Melodien.[13]

Die Sklaven wurden hauptsächlich als Arbeitskräfte auf Plantagen eingesetzt. Die Anzahl der Afrikaner, die nach Amerika gebracht wurden, kann nur geschätzt werden. Die Geschichtsbücher nennen kurz vor der Zeit des Bürgerkrieges 1861 eine Zahl von 15 Millionen schwarze Sklaven auf dem gesamten amerikanischen Kontinent.[14]

Das emotionale Singen und das Tanzen der Sklaven bei der Arbeit und bei Versammlungen war wie in afrikanischen Riten ein lebensnotwendiger Ausdruck ihrer Identität. Ein wesentliches Merkmal dieses Gesanges war der "Shout", ein expressiver, gewissermaßen geschrieener Gesangsstil. Auch als "Ring-Shout" bekannt standen die Sklaven dabei im Kreis, tanzten, klatschten und scharrten mit den Füßen ("Shuffle") zu einer rhythmischen Melodie, die im Wesentlichen nur aus einem Rezitationston und einigen Nebentönen bestand.[15] (H1)

Ein weiteres Merkmal war das Steigern des Gesanges in immer höher werdende Tonlagen. Bei Männern war das Singen im Falsett in der afrikanischen Tradition ein Zeichen von höchster Potenz.[16]

Das Singen fand auch während der Arbeit statt. In den "Worksongs", "Calls" oder "Cries" ging es vor allem um das gleichmäßige Ausführen bestimmter Bewegungsabläufe der Arbeitenden und das Erleichtern von physischer Arbeit durch emotionale "Arbeit", nämlich durch das Singen. Auch das Herbeirufen der Arbeiter zum Essen oder das lautstarke Anbieten der Ware auf dem Markt geschah in dieser halb gesprochenen, halb gesungenen Form.

In den Worksongs gab ein Vorsänger den Rhythmus und die Melodie an, die dann von allen anderen aufgenommen wurde. A. M. Dauer nennt auch die afrikanische Anschauung, dass die Kraft herbeigesungen wurde, die die eigentliche Arbeit leistet.[17]

Diese Gesänge hatten je nach Tätigkeit verschiedene Namen wie u.a. "Field hollers", "Road songs", "Picking songs" oder "Street cries".[18]

Im Hörbeispiel H2 Hammer, Ring, gesungen von einer Gruppe von Arbeitern in Huntsville, Texas, werden die abwechselnden Schläge mit schweren Hämmern auf einen Pflock koordiniert.

Es gab noch andere musikalische Formen unter den afroamerikanischen Sklaven wie "Folk Songs", "Prisoners Songs" oder "Ballads", aus denen sich der "Blues" entwickelte. Ursprünglich war der Blues ein improvisierter Stegreifgesang, der solistisch ohne Harmoniewechsel gesungen wurde. Textlich ging es im Blues oftmals um das Beklagen und Beschreiben der schlechten Lebenssituation.[19]

All diese Musikformen haben eines gemeinsam: Die aus der afrikanischen Polymetrik stammende starke Rhythmik und die Betonung der "off-beats", den Schlägen, die zwischen den Grundpulsen liegen und den Gesang vorantreiben. Wesentliches Merkmal ist die Erregung, die durch die Gesangsweise hervor-gerufen wird und nicht selten zur Ekstase der Singenden führt.

Die Sklavenhalter versuchten schon früh die Sklaven nach ihrem weißen Ideal zu „zivilisieren“. Das glaubten sie zu erreichen, indem man die Schwarzen unter anderem zum christlichen Glauben bekehrte. Mithilfe der Bibel wollte man die Sklaven auch zur Unterwürfigkeit erziehen.[20]

Ende des 18. Jahrhunderts entstand eine sogenannte Erweckungsbewegung, in der Weiße wie Schwarze in großen Versammlungen bekehrt werden sollten. Bedeutend waren dabei die Methodisten und die Baptisten, die Freiversammlungen ("Camp-Meetings") veranstalteten und viele Menschen zum christlichen Glauben führten.[21]

Warum die Sklaven die weiße Religion so schnell aufnahmen, obwohl sich dadurch nichts an ihrer Situation änderte, ist nicht eindeutig belegt. Die Betonung der Freiheit und der Gleichberechtigung aller Menschenrassen in der Bibel werden häufig als ein Grund angesehen. Ein Beleg dafür können die vielen Sklavenaufstände sein, die von schwarzen Predigern angeführt wurden. Viel stärker noch kommt die Hoffnung auf ein besseres Leben, das "ewige Leben", in den Liedtexten der Gospelsongs zum Ausdruck, so dass gesagt werden kann, dass den Sklaven die christliche Botschaft ein Leben "im Himmel" verhieß, das ihnen eine Hoffnung im unerträglichen Leben auf der Erde gab. Außerdem identifizierten sich die Schwarzen sehr stark mit dem Volk Israel aus dem Alten Testament, dass sich aus der Sklaverei in Ägypten befreien ließ.[22]

Auf den ersten Camp Meetings wurden Psalme und Choräle gesungen. Diese waren langsame und getragene Melodien, die vom Prediger vorgesungen und von der Menschenmenge nachgesungen wurden. Die meisten Schwarzen waren von dieser emotionslosen Musik nicht angetan. Sie begeisterten sich eher für die Lieder von Charles Wesley (H3), dem Begründer der Methodistischen Kirche. Hier wurden fließende und rhythmische Melodien gesungen. Die Sklaven brachten viel Leben in die „white hymns“, so dass sich eine Eigendynamik in den Liedern entwickelte.[23]

Auf dieser Grundlage bildeten sich vor allem auf dem Land im Süden Amerikas die "Negro Spirituals" (wörtlich: Geistliche Lieder der Neger). Wesentliches Merkmal ist das aus den Shouts, dem Blues und den Psalmgesängen der Camp Meetings stammende Ruf-Antwort-Schema. Da die wenigsten Sklaven lesen konnten, wurden Liedtexte so eingübt, dass ein Sänger eine Phrase vorsang, die alle anderen nachsangen.

Das Schema fand sich auch, wenn ein Vorsänger Strophen zu einem Lied sang, in das alle anderen beim Kehrvers einstimmen konnten. Dieses Prinzip wird mit dem Begriff "Call & Response" bezeichnet.

Die Negro Spirituals wurden einstimmig gesungen. Die Schwarzen übernahmen zunächst die Lieder der Weißen und entwickelten später eigene Melodien und Texte. Hierbei fällt gottesdienstlichen Versammlungen eine besondere Bedeutung zu. Neben festgelegten Liedern gab es Predigten, die, ähnlich wie die Calls und Cries, halb gesungen, halb gesprochen wurden (H4). Sie animierten die Gemeinde zur Teilnahme in Form von Zurufen und Klatschen. Nicht selten entstand ein neues Lied, das sich aus der Predigt entwickelte. Grundsätzlich war jeder Teilnehmer in das Gottesdienstgeschehen einbezogen. Selbst in den Gemeinden, wo es einen Chor gab, diente dieser nur zur Animation, oder er sang im Call & Response Prinzip mit der Gemeinde.[24]

Gemeinsames Singen auf langen Tönen zeigt das Hörbeispiel Prayer Meeting (H5). Das als "moaning" bezeichnete Improvisieren war Berichten zufolge ohne jegliche musikalische Vorgabe, wurde rhythmisch frei ausgeführt und fing so unvermittelt an, wie es dann nach stundenlangem Zelebrieren auch wieder verebbte[25]. Ganz allmählich entwickelten sich aus gemeinsamen Improvisationen feste Melodien.

Lieder entstanden spontan aus der Predigt heraus, indem die Gemeinde dem Prediger mit rhythmischen Zurufen antwortete und sich aus einem zentralen Satz der Predigt ein Wechselgesang formte und zu einem Lied wurde. Dabei zeichnete sich die Gesangsweise des Vorsängers durch starke Verzierungen aus. In dem Hörbeispiel Power (H6) aus einer Kirche in Memphis wird mit dem Ausruf "Power, Lord!" über ein Ostinato improvisiert.

Ab 1773 wurde den Afroamerikanern die Gründung von offiziellen "Neger-Kirchen" erlaubt. Die Weißen versprachen sich dadurch eine Trennung von den Sklaven, die bis dahin häufig zu ihren Gottesdiensten gekommen waren.[26] Diese Trennung unterstrich die Tatsache, dass das Vorhaben der Weißen, die Sklaven nach ihrem Vorbild zu „zivilieren“, misslungen war.

Zu diesem Zeitpunkt gab es schon eine eigene Musikkultur der schwarzen Christen. Um 1801 wurde erstmals ein Gesangbuch für schwarze Gemeinden veröffentlicht.[27]

Die Verbreitung der Lieder fand bis dahin nur durch die mündliche Weitergabe statt. Diese Liedkultur aus Afrika, wo eine Notenschrift nicht bekannt war, wurde auch lange Zeit weiter gepflegt, da die meisten Sklaven nicht lesen konnten.

Die Texte der Lieder waren nicht nur Ausdruck des Glaubens, sondern handelten oft in einer zweideutigen Weise von der politischen und sozialen Situation der Sklaven. Dieses sogenannte "double-talk" ermöglichte den Aus-tausch von geheimen Fluchtbotschaften während des Singens bei der Arbeit. Darin wurde die Freiheit im Himmel gleichgesetzt mit politischer Freiheit.[28]

Nach Leroi Jones waren „die autonomen religiösen Versammlungen christlicher Schwarzer der einzige Bereich in ihrem Leben, in dem sie sich emotional wie politisch so frei wie nur möglich ausdrücken konnten.“[29]

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die mehrstimmige Form der Negro Spirituals. Aus der afrikanischen Mehrstimmigkeit, die sich auf parallele Linien zur Melodie beschränkte, wurde ein europäisch geprägtes funktionales Harmonieschema wie im folgenden Kapitel näher erläutert wird. Auch wurde vielen schwarzen Christen alte Kirchengebäude überlassen. Diese waren von von zu groß gewordenen weißen Gemeinden, die sich neue Kirchenhäuser bauten. Die Afroamerikanischen Gemeinden erhielten mit den Gebäuden meistens Instrumente wie Harmonium oder Klavier dazu. Durch die Instrumente bekamen die Gesänge noch größeren Bezug zur europäischen Musizierweise und es wurden erstmals Kirchenlieder von schwarzen Musikern wie Charles A. Tindley komponiert.[30]

In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine ideologische und wirtschaftliche Kluft zwischen den amerikanischen Nord- und Südstaaten, die jeden Lebensbereich umfasste. Die größte Streitfrage zwischen ihnen war die Sklaverei. Während die südlichen Agrarstaaten daran festhielten, war für die industriellen Nordstaaten die Abschaffung der Sklaverei aus wirtschaftlichen Gründen unvermeidlich. Der Streit mündete schließlich in den Sezessionskrieg von 1861-1865 und endete mit der Niederlage der Truppen der Südstaaten. Der Kongress erklärte 1865 die Sklaverei in allen amerikanischen Staaten für abgeschafft.

Viele ehemalige Sklaven wurden arbeitslos. Die allgemeine wirtschaftliche Situation verschlechterte sich deutlich durch den Verlust der billigen Arbeitskräfte.[31] Zahlreiche Hilfsorganisationen versuchten, den Freigelassenen eine Ausbildung zu ermöglichen und gründeten Schulen und Universitäten. Eine von ihnen war die Fisk University von Nashville, Tennessee. Ihr Gründer George White leitete einen kleinen Chor, in dem er mit den schwarzen Studenten Volkslieder und Negro Spirituals sang. Die "Fisk Jubilee-Singers" hatten mit den konzertant gesungenen Spirituals aus der Sklavenzeit großen Erfolg und so gründeten sich mehrere kleine Gesangsgruppen im Stile der Fisk-Jubilee-Singers.[32] Diese Lieder fanden große Verbreitung auch unter der weißen Bevölkerung. Die Leiter der Gruppen, die die Chorarrangements schrieben, waren meistens Weiße. Das führte dazu, dass die charakteristischen Modi der Negro Spirituals in die Richtung der klassischen Musik verändert wurden. (H7)

Unterdessen begann eine große Auswanderungswelle aus den ländlichen Gegenden der Südstaaten in die Großstädte. Das hatte zur Folge, dass die Negro Spirituals in den Städten Einzug hielten und mit anderen Formen des Jazz vermischt wurden.

Um 1900 gründeten sich neue sektenartige Religionsgemeinschaften aus einer Bewegung heraus, die den direkten Einfluss des Heiligen Geistes auf den Menschen betonte. Die sogenannten "sanctified churches" oder "storefront churches" wie die "Holy Church of God in Christ" oder die "Pentacostals" veranstalteten Gottesdienste, in denen spontane, geistgegebene Ausdrucks-formen im Vordergrund standen.[33] Emotionale Rufe, lautes ekstatisches Zungenreden, improvisiertes Singen und ähnliche Merkmale zogen viele Afroamerikaner an. Letztlich entsprach diese Art des Auslebens ihres Glau-bens ihren afrikanischen Ursprüngen.

In dieser Periode gab es viele Gesangsgruppen, die sich "quartets" nannten, obwohl sie meistens aus bis zu acht Mitglieder bestanden. Sie sangen vorwie-gend Jubilee Songs, Hymns und traditionelle Spirituals. Beispiele dafür waren "The Hummingbirds" oder "The Harmonizing Four".

Die schwarzen Kirchen versuchten zunächst die Einflüsse des Jazz in ihre Musik zu unterbinden. Sie waren sich der gemeinsamen Wurzeln von Negro Spirituals und anderen Jazzformen bewusst. Jedoch wollte man sich inhaltlich distanzieren vom Jazz, der in Bordellen, Kneipen und Tanzschuppen gespielt wurde.

Doch die Entwicklung war nicht aufzuhalten. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erhielt der Jazz besonders in den Städten Einzug in die immer größer werdenden Kirchen. Hier ist Thomas A. Dorsey zu nennen, der sich als Bluespianist unter dem Namen "Georgia Tom" einen Namen gemacht hatte und in seiner Kirche in Chicago der musikalische Leiter war. Er komponierte vitale, swingend jazzige Lieder und trug sie mit Chor und Jazzband vor. Der Erfolg war so gewaltig, dass viele Gemeinden diesen Stil übernahmen.[34]

Ein sehr vitales Beispiel für eine Dorsey-Komposition ist Highway To Heaven, das im Hörbeispiel H8 von einer Dixieland-Band und einem Gospelchor interpretiert wird.

Mit dem veränderten Sound änderte sich auch der Name der Musik: Da sich die Texte mehr auf das Neue Testament bezogen (es gab keine Identifikation mehr mit dem versklavten Volk Israel) wurde nicht mehr vom Negro Spiritual sondern vom "Gospelsong" gesprochen.[35]

Es gab im Amerika der 30er Jahre eine Unmenge von Gospelsängern und Gospelgruppen. Die bekannteste Gospelsängerin war Mahalia Jackson, die 1947 mit "Move On Up A Little Higher" einen Kassenhit landete und damit die Verbreitung der Gospelmusik vorantrieb.[36] (H9)

Die Quartets sangen auch in diesem neuen Stil und ließen sich immer mehr von Instrumenten begleiten. Ihre Konzerte waren der Motor zur Verbreitung der Gospelmusik. Das bekannteste Quartet, dass später die Musik auch nach Europa brachte, war das "Golden Gate Quartet".[37]

Mit der Gospelmusik verband sich weiterhin politisches Gedankengut, denn die schwarzen Gottesdienste blieben auch in den 50er Jahren ein Ort, in dem sich die Afroamerikaner so frei wie nirgends sonst ausdrücken konnten. Für den Austausch politischer Gedanken und Diskussionen war die Kirche der wichtigste Versammlungsort. Bürgerrechtsbewegungen gründeten sich häufig innerhalb der afroamerikanischen Kirchen, wie die größte Friedensbewegung ab 1955 unter dem Pastor Martin Luther King.[38]

Heutzutage gibt es die verschiedensten Formen afroamerikanischer Kirchenmusik. Je nach Geschichte und geographischer Lage reicht das Spektrum von Gemeinden, die die Tradition der Negro Spirituals pflegen bis zu Kirchen, die die europäische Musik ganz übernommen haben.

Je nach Region entwickelten sich andere Formen von Gospelmusik in der Synthese mit anderen Musikstilen, beispielsweise der Country- und Dixieland-Musik.[39]

3.2. Musikalische Stilbeschreibung

Die Gospelmusik, um die es in dieser Arbeit geht, hat viele unterschiedliche Facetten. Je nach Kirchengemeinde ist diese Musik mit verschiedenen Merkmalen behaftet. Es gibt jedoch Elemente, die stilbildend sind und für die diese Musikrichtung bekannt wurde. Ich werde anhand von Klangbeispielen die wichtigsten Stilmerkmale aufzählen.

Gemeinsam haben alle Gospelsongs, dass sie Gesangsstücke sind. Da es besonders um verbale Botschaften in den Liedern geht, werden diese solistisch oder chorisch vorgetragen.

Lautes, emotionales und mit vielen Verzierungen angereichertes Singen mit einer ungeheuren Expressivität sind die wesentlichen Merkmale des Gesangs.

Der allgemeine Klang der Gospelmusik ist als positiv, optimistisch und fröhlich zu bezeichnen. Die Texte in den Liedern handeln vom Loben, Danken und von der Hoffnung, die aus dem Glauben an Gott entspringt. Musikalisch passend dazu sind schnelle wie langsame Stücke in ihren Grundzügen fröhlicher Natur.

Die Fröhlichkeit ist aber keineswegs oberflächlich zu nennen sondern entstammt einer großen Leidensgeschichte von der Sklavenzeit bis heute. Der positive Ausdruck in den Gospelsongs ist somit eine tiefe innere Erfüllung der Singenden mit Freude und Hoffnung. Den meisten schwarzen Gospelchören wird aus diesem Grund eine große Authentizität bezüglich der Liedinhalte mit ihrer emotionsgeladenen Performance nachgesagt.

Das kommunikative Prinzip der Negro Spirituals mit dem Call & Response sowie das Entwickeln von Liedern aus den Predigten blieben in den Gospelsongs erhalten. Ob Pastor mit Gemeinde, Solist mit Chor oder Band mit Sängern, fast immer findet sich in den Liedern das Prinzip der Wechselgesänge.

In den Kirchen der 30er Jahren wurde auch nach dem Muster der Ring-Shouts getanzt. Die ekstatischen Phasen im Gottesdienst wurden unter dem treibenden Rhythmus der Instrumente stärker und länger. Zur Formation von Klavier, Orgel, Schlagzeug und Bass kamen auch häufig Gitarre, Blasinstrumente und vor allem der Schellenkranz. Letzterer verstärkte den Grundpuls, der sich zum off-beat auf den Zählzeiten 2 und 4 reduziert hatte und das treibende Element in der Musik verstärkte. Stilbildend wurde das gemeinsame off-beat-Klatschen der ganzen Gemeinde bei schnellen Stücken.

Die Lieder waren sowohl in binären wie ternären Rhythmen gehalten, wobei „groovige“ Stücke im binären Achtelrhythmus überwogen und - parallel zur Entwicklung der Beat- und Rockmusik - immer häufiger zu finden waren.

Die afrikanische Melodik war in den originalen Ring-Shouts, Worksongs und Negro Spirituals noch weitgehend erhalten. Die afrikanischen Modi lassen sich mit unserem europäischen Tonsystem nicht erfassen, da die Intonation von unserem Tonsystem abweicht. Im Verlauf der Vermischung der Musikkulturen erwuchsen daraus Pentatoniken und die „blue notes“.

Über die Herkunft und die Beschaffenheit der Pentatoniken gibt es unterschiedliche Meinungen unter den Musiktheoretikern. Die häufigste Übereinstimmung ist das Benennen einer Dur-Pentatonik mit den Tönen c, d, e, g und a in C-Dur und entsprechend den gleichen Tönen für die parallele Moll-Tonart (also a, c, d, e und g) als Moll-Pentatonik.[40]

Ein weiteres Charakteristikum sind die Blue Notes. Es handelt sich hierbei um die "blue third", "flatted fifth" und die "blue seventh". Das sind Tonleitertöne, die etwa einen Viertelton tiefer liegen, als es das europäische Tonsystem vorsieht. Am häufigsten tritt die "blue third" auf. In der deutschen Sprache wird sie als Blues-Terz bezeichnet.[41] In C-Dur hieße das: Das e' ist etwas tiefer als es die reine Intonation vorsehen würde. Aber auch jeder andere Ton kann etwas zu tief oder durch ein Hineingleiten von unten „blue“ klingen.

Die Blue Notes werden meistens zusätzlich zur "normalen" Tonleiter gebraucht und je nach Phrase eingesetzt. In einem Erlebnisbericht erzählt James Lincoln Collier: "The exhorting preacher breaks into song at points in the sermon, typically using a melody that begins on the fifth and then descends through a blue fifth and blue third to the tonic."[42]

Durch die tiefe Intonation der Dur-Terz entstand ein sozusagen falsches Empfinden von einer Moll-Melodik bei Stücken, die in einer Dur Tonart stehen. Daraus entstand die Bluestonleiter. Die Benennung einer einheitlichen Blues-Skala ist umstritten. Ich halte mich an die weit verbreitete Version von Moll-Pentatonik mit einem zusätzlichem Tritonus (in C-Dur: c, es, f, fis, g und b).[43]

Diese Melodik wurde besonders stark im Blues und im Gospel von Sängern, Bläsern und Gitarristen benutzt. Pianisten, die die Intonation des Klavieres nicht verändern können, bedienen sich sogenannter Cluster oder Vorschläge. Durch das gleichzeitige Spielen von reinen Tönen und einer kleinen Sekunde darunter entsteht ein ähnlicher "blue" oder "dirty" Klang. Diese Vorschläge werden in Anlehnung an die Pianisten auch häufig von Bläsern gespielt.

Europäische Kadenzen bildeten nicht die harmonische Grundlage bei den alten schwarzen Gesängen sondern meistens nur ein tonales Zentrum im Sinne einer Tonika. Später gab es den Wechsel mit der Subdominante und gelegentlich erschien auch die Dominante. Die frühen Bluesschemata bestanden hauptsächlich aus Tonika und Subdominante, bis sich um 1912 die heutige 12-taktige Form entwickelte, in der Tonika, Subdominante und Dominante ihren festgelegten Platz haben.[44]

Aus dem Wechselspiel zwischen Tonika und Subdominante entstanden im späteren Gospel und im Blues bestimmte Motive (sogenannte Riffs), die Gitarristen und Pianisten aufgriffen und auch für den Boogie-Woogie stilbildend waren. Diese Akkordwechsel werden als plagale Kadenz oder umgangsprachlich als „amen chords“ bezeichnet.[45]

Es gab gegenüber dieser sehr ursprünglichen schwarzen Musik eine weitergeführte Art der Gospelmusik, die auf einem Harmonieschema aufgebaut war, die als "close harmony" bezeichnet wird. Close Harmony, die sich aus dem traditionellen europäischen System herleitet, benutzt skalenartige Melodien über Harmonieschemata mit Zwischendominanten.[46] Diese Art von Harmonik benutzten Gospelgruppen in der Tradition der Fisk Jubilee Singers, wie z.B. das Golden Gate Quartett.

Im Gospelsong der 30er Jahre wurde die Jazzharmonik (d.h. die Harmonik des Blues und des Swings) einbezogen. Durseptakkorde nicht nur in der Dominante, Turnarounds, Optionstöne in Akkorden und die Jazzmelodik wurde in die traditionelle Musik eingewebt.

Die Harmonik und Melodik ist in der Gospelmusik vom Blues kaum zu unterscheiden. Die Musikforscher sind sich einig, dass der Gospelsong im Grunde den Blues mit religiösen Texten darstellt oder umgekehrt der Blues die weltliche Form der Gospelmusik ist.[47]

Der Bluessänger T-Bone Walker schrieb: "Natürlich kommt auch vieles im Blues aus der Kirche. Den ersten Boogie-Woogie meines Lebens habe ich in der Kirche gehört."[48]

Ein Hörbeispiel, dass nahezu alle Merkmale beinhaltet, verdeutlicht die einzelnen Elemente der Gospelmusik: Can’t Walk this Highway, gesungen von den Jackson Singers im Jahr 1953 (H10). Das Call & Response-Prinzip zwischen Vorsängerin und Chor ist hier ebenso enthalten, wie Boogie-Riffs auf vom Klavier und ein starker off-beat vom Schlagzeug. Die Harmonik und Melodik baut auf der Tradition der Jubilee Songs auf und ist mit Jazzelementen angereichert. In dem „Vamp“ vor dem letzten Refrain findet der mehrmalige Wechsel von Tonika und Subdominante statt.

Die Strophe am Anfang besteht aus 16 Takten in einer bestimmten Harmonieabfolge, die sich in Variationen im Großteil aller Gospelsongs findet und man deshalb von einer Grundform sprechen kann.

Diese Grundform ist in vier mal vier Takte unterteilt. Die ersten vier Takte befinden sich im Wesentlichen auf der Tonika. Der zweite Teil wechselt von der Tonika meistens über die Doppeldominante zur Dominante. Im dritten Teil wird mit einem Septakkord auf der Tonika eine Zwischendominante zur Subdominante erzeugt, die dann auch erklingt und manchmal zurück zur Tonika geht. In diesem dritten Teil liegt der melodische Höhepunkt. Der letzte Teil beinhaltet die Tonika und die Dominante und endet im letzten Takt mit der Tonika.

The Golden Gate Jubilee Quartet benutzt durchgängig diese Grundform in dem Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Dieselbe Harmonik wurde in verschiedenen Variationen angewendet und mit Turnarounds, verminderten Akkorden und Zwischendominanten angereichert, wie bei dem Gospelsong That's Enough von Dorothy Love Coates & The Original Gospel Harmonettes. (H12)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Gottesdienstpraxis wurden die spontanen Zurufe der Gemeinde verstärkt durch Kommentare der Band wie in Hörbeispiel H13. Die gesprochene Predigt unterlegte die Band auch häufig mit leisen Harmonien, ostinaten Linien ohne Harmoniewechsel oder spielte die 16-taktige Grundform.

Langsame Gospelstücke findet man meistens mit triolischen Unterteilungen der Viertel, sowie im 3/4 bzw. 6/8-Takt, wie in der bekanntesten Komposition von Thomas A. Dorsey, Precious Lord, Take My Hands (H14), zu hören ist. Vermutlich werden die Dreiertakte deswegen gebraucht, weil sie fließender sind als binäre Takte und in langsamen Tempi nicht statisch wirken sollen. In ihnen können sich die Gemeindemitglieder im Takt wiegen oder sogar tanzen.

Als "Gospel-Ending" bekannt, ist der Schluss eines Liedes mit Subdominante und Tonika (im Gegensatz zur Dominante als Leitakkord zur Grundtonart.) Meistens singt der Vorsänger auf ausgehaltenen Akkorden eine improvisierte Kadenz.(H15)

4. Jazzmusiker

Ich möchte den Einfluss der Gospelmusik auf den Jazz an drei wichtigen Musikern des Hardbop deutlich werden lassen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Lebenslauf, musikalisches Schaffen, Kompositions- und Improvisationsanalysen und eigene Statements aus Interviews.

Als erstes wird Horace Silver beleuchtet, der auch den Beinamen "Father of funk" bekam. Er gilt als wesentlicher Initiator der "funky"-Spielweise und hat mit seiner Komposition "The Preacher" laut Ekkehard Jost eine "inoffizielle Hymne des frühen Hardbop"[49] geschaffen.

Bobby Timmons schrieb mit "Moanin´" einen Jazzstandard, der stärker als viele andere Stücke aus dieser Zeit am Gospel orientiert ist. Er brachte viel vom Gospelsound in jede Band, in der er gerade spielte.

Zuletzt widme ich mich dem Saxophonisten Julian "Cannonball" Adderley. Sein "Cannonball Adderley Quintet" mit seinem Bruder Nat Adderley war die bedeutendste Band des späten Hardbop in den 60er Jahren und am stärksten mit dem Begriff „Soul Jazz“ behaftet.[50]

Im Anschluss beschreibe ich weniger ausführlich weitere Musiker, die im Hinblick auf das Thema wichtig für diese Zeit des Jazz waren.

4.1. Horace Silver

4.1.1. Kurzbiographie

Horace Ward Martin Tavares Silver (eigentlich: Silva) wurde 1928 in Norwalk, Connecticut geboren. Als Sohn eines portugiesisch-afrikanischen Einwanderers von den Kapverdischen Inseln hörte er als Kind dessen Folklore.

Während der Schulzeit spielte er Saxophon und Klavier und erhielt Unterricht bei einem Kirchenorganisten. In dieser Zeit komponierte er schon u.a. spätere Hits von ihm wie "Horacescope" oder "Yeah". Er spielte Klavier bei verschiedenen Gelegenheiten und diversen Clubs meistens in der Trio-Besetzung mit Schlagzeug und Kontrabass.

Seine frühen Vorbilder waren Boogie-Woogie Pianisten, später Bud Powell und Thelonius Monk. Weitere Einflüsse waren Blues-Sänger wie Memphis Slim und Big-Bands von Count Basie, Duke Ellington und vor allem Jimmy Lunceford.

Um 1950 hatte Horace Silver ein festes Engagement im "Sundown", einem Club in Hartford, Connecticut. Dort gab Stan Getz eines Tages ein Konzert in Begleitung der Hausband von Horace Silver. Das junge Trio gefiel Getz, so dass er sie mit auf seine Tournee und anschließend nach New York nahm, wo er Studioaufnahmen mit ihnen machte.

Silver arbeitete danach in New York mit unterschiedlichen Musikern wie Coleman Hawkins, Lester Young, Oscar Pettiford, Miles Davis und Art Blakey.

Seine ersten eigenen Aufnahmen machte er 1952, als er für eine Aufnahme-Session mit dem Altsaxophonisten Lou Donaldson beim Blue Note Plattenlabel gebucht war. Donaldson sagte kurz vorher ab und so spielte er mit dessen Rythmusgruppe seine erste eigene Platte ein. Er blieb für 28 Jahre bei Blue Note.

Mit Art Blakey gründete er 1953 die „Jazz Messengers“ mit der Besetzung Trompete, Tenorsaxophon, Klavier, Bass und Schlagzeug. Diese Besetzung wurde zum Standard im Hardbop. In dieser Zeit entstanden einige Hits von Silver wie "The Preacher", "Doodlin'" u.a.

1955 verließ er die „Jazz Messengers“ und gründete 1956 ein Quintett unter seinem eigenen Namen, das in unterschiedlichen Besetzungen bis heute besteht.[51]

Viele Jazzstandards sind von Horace Silver komponiert worden. Dazu zählen Peace, Senor Blues, Nica's Dream, Sister Sadie und Song For My Father.

Ab 1960 schrieb er auch Liedtexte zu bestehenden Stücken und ganze Suiten wie "New York States Of Mind" u.a.

Horace Silver war wesentlicher Initiator des Hardbop und eine seiner einflussreichsten Figuren. Mit ihm finden die Begriffe "funky" bzw. "Funk" Eingang in das Vokabular des Jazz. Seine Stilistik wird häufug mit heiß, „dirty“ oder „bluesig“ beschrieben.[52]

4.2.2. Beziehung zur Gospelmusik

Begibt man sich auf die Suche nach Interviews mit Horace Silver, begegnet man dem Wort "Gospel" in fast jedem Artikel. Aussprüche wie "I was always very fond of black gospel music"[53] finden sich sehr häufig.

In seiner frühen Kindheit kommt Horace Silver mit der Gospelmusik in Berührung.

Sein Vater war katholisch und so ging er auf eine katholische Schule "...and naturally, you don´t hear that type of music there."[54]

Doch er war fasziniert von dieser Musik. "Not too far from my neighborhood, they had a black church that sang the real down-home gospel. And I always used to stop by and stand in front and listen, and it used to knock me out."[55]

Seine Mutter war Mitglied in einer methodistischen schwarzen Kirche, in die sie ihn manchmal mitnahm. Er hörte dort nicht nur den Gemeindegesang, sondern auch Gospel Quartetts, die dort auftraten "...and they'd be cookin'."[56]

Im Radio hörte er sich Sendungen an, in denen Gospelmusik gespielt oder Gottesdienste übertragen wurden.[57]

In der Umgebung vom "Sundown", dem Club, in dem Horace Silver regelmäßig spielte, bevor er mit Stan Getz auf Tournee ging, bestand eine rege Gospelszene. An der Windsor Street, an der der Club lag, gab es mehrere Kirchen, unter anderem eine "Holy Trinity Church of God in Christ", jene Kirche, die für die Emotionsgeladenheit in ihren Gottesdiensten bekannt ist. Der Geistliche der Gemeinde, Bishop I. L. Jefferson, sowie die Chorleiterin Mother Sarah Carter und die Solistin des Chores, Edith Powell, waren bekannt für ihre Gospelproduktionen und die moderne Art, Gospel zu musizieren.[58]

Obwohl Horace Silver in der Swing Ära groß geworden ist und sagt, "Although my inspirations go back to the swing era, the major part of me has it's roots deeply planted in bebop"[59], äußert er sich ganz klar zu seinem Verhältnis zur Gospelmusik: "My main influences came from black gospel music, sanctified churches. And the other important influence was just the blues."[60]

An anderer Stelle: "I loved the American black blues music and the American black gospel music. Those were my two earliest influences."[61]

Silvers Herkunft wird in einigen Interviews hinterfragt. Seine Großmutter mütterlicherseits und ein Großelternteil väterlicherseits waren afrikanischen Ursprungs. Trotz des nicht geringen Anteils an weißer Herkunft, fühlt sich Horace Silver den Afroamerikanern zugehörig.

Auf die Frage, ob er in der Black Culture lebt, antwortet er: "Auf jeden Fall!...Wir respektieren unser kulturelles Erbe, essen gerne Soulfood - fried chicken, colored greens, backeyed peas and cornbread - und lieben unsere Musik...don't loose your culture!"[62]

Die naheliegende Behauptung, dass er auch politisch und sozialkritisch engagiert sei, verneint er allerdings.[63]

Kritik durch die Black-Power Bewegung, dass er auch weiße Musiker in seinen Combos beschäftige, wies er mit den Worten ab: "..., if I can find a black guy who can play my music to my satisfaction, I'll probably hire him first. But if a white guy comes along and he plays better than that guy, I'll get him."[64]

Silvers Solospiel ist bekannt für seine Zitate in seinen Soli. Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit ist das Zitieren von Gospelmelodien interessant. Deutlich zu hören ist beispielsweise die Andeutung des Spiritualsongs Down By The Riverside im Solo über Nica`s Dream (H16) auf der Platte „Horace Scope“ (Blue Note 4042).

[...]


[1] Joachim E. Berendt: Das große Jazzbuch. 5. überarbeitete Ausgabe, S. 182

[2] vgl. Polillo, S. 161-170

[3] vgl. Kunzler, S.477, 478; Wölfer, S.95

[4] Kunzler, S. 250, 251

[5] vgl. Sidran, S. 122-124, Tanner & Gerow, S. 118

[6] Sidran, S. 126, 127

[7] vgl. Collier, S. 439

[8] Schoepsdau, S.8

[9] Kunzler, S. 477, Wölfer, S. 95, Kernfeld, The New Grove Dictionary..., S. 481

[10] Berendt: Funk, funk, funk – und kein Ende, S. 13

[11] Wilson-Dickson, S. 200

[12] R., H.R

[13] Lehmann, S. 23, Wilson-Dickson, S. 191

[14] Ebd., S.191

[15] vgl. Dauer, S. 26, Kunzler, S. 1056

[16] Behrendt, Das große Jazzbuch, S. 232

[17] Dauer, S.20

[18] Ebd., S. 22

[19] Ebd.

[20] Lehmann, S. 68-74

[21] Wilson-Dickson, S. 192-193

[22] Über die Gründe zur Hinwendung der Neger zum christlichen Glauben, vgl. Lehmann, S. 171-176

[23] Wilson-Dickson, S. 192-193

[24] James, ohne Seitenangabe

[25] Ebd.

[26] Zur Gründung der Negerkirchen vgl. Lehmann, S. 93 - 101

[27] Wilson-Dickson, S. 193f.

[28] Lehmann, S. 159 –165, 261

[29] Kunzler, S. 626

[30] Wilson-Dickson, S. 203

[31] Wilson-Dickson, S. 197, vgl. auch Lehmann, S. 48 - 52

[32] Wilson-Dickson, S. 198-199

[33] Cooper & Woods, S. 13-18

[34] Ebd. S. 18-24

[35] vgl. Lehmann, S. 118-130, Wilson-Dickson, S. 200f.

[36] Kunzler, S. 556f.

[37] Cooper & Woods, S 32

[38] Polillo, S. 216f.

[39] Wilson-Dickson, S. 196

[40] vgl. Herzog zu Mecklenburg & Scheck, gesamtes Werk, Owens, S. 155

[41] Herzog zu Mecklenburg & Scheck, S. 17

[42] Collier, S. 438

[43] Owens, S. 17

[44] Herzog zu Mecklenburg & Scheck, S. 25

[45] Tanner & Gerow, S. 112

[46] Collier, S. 438

[47] Berendt: Das große Jazzbuch, S. 229, vgl. auch zum Verhältnis von Spirituals und Blues: Lehmann, S. 349-352

[48] Berendt: Das große Jazzbuch, S. 229

[49] Kunzler, S.1067

[50] Carr, Fairweather & Priestley, S. 5

[51] Angaben zur Biographie aus Kunzler, Carr, Fairweather & Priestley, Bohländer & Holler, Kernfeld

[52] Kunzler, S. 1067

[53] Cuscuna, S. 17

[54] Klee: Horace Silver’s…, S.16

[55] Ebd.

[56] Ebd.

[57] Jones, S. 54

[58] Blake

[59] Silver: Plattentext zu: Horace Silver, The Hardbop Grandpop

[60] Greyshock, S.26

[61] Brodacki, S.23

[62] wörtl. in Broecking, S.30

[63] Ebd. S.28

[64] Lees, S.87

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832489571
ISBN (Paperback)
9783838689579
DOI
10.3239/9783832489571
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Künste Bremen – Musik
Erscheinungsdatum
2005 (August)
Note
1,1
Schlagworte
horace silver cannonball adderley hardbop gospel
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Titel: Der Einfluss der Gospelmusik auf den Jazz zwischen 1950 und 1970
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