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Was bewegt Partner psychisch Kranker zur Teilnahme bzw. Ablehnung der Teilnahme an einem Interventionsprogramm und welche Aspekte spielen dabei eine Rolle?

©2004 Diplomarbeit 156 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit der Einführung der ersten Neuroleptika in den 1950er Jahren hat die gesellschaftliche Situation psychisch erkrankter Menschen starke Veränderung erfahren. Das Prinzip des Lebensweltbezugs findet sich als zentrale Versorgungsleitlinie bei der WHO (1985 u. 1991) und weltweit in nationalen Programmen zur Reform der psychiatrischen Versorgung. Nachdem die Versorgung psychisch Erkrankter bis 1975 vorwiegend in psychiatrischen Großkrankenhäusern (Landeskrankenhäusern) erfolgte, wurde mit dem Bericht der Enquete-Kommission zur Situation der Psychiatrie in der BRD (Deutscher Bundestag, 1975) versucht, die Weichen in Richtung einer modernen, bedarfsgerechten und gemeindenahen Versorgung zu stellen. Deshalb beschränkt sich die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen heute zunehmend auf die Akutbehandlung und medikamentöse Einstellung im Rahmen relativ kurzer Klinikaufenthalte.
Das bedeutet, dass psychisch kranke Menschen größtenteils zu Hause bei ihren Angehörigen und damit auch bei ihren Partnern leben. „Moderne bedarfsgerechte und gemeindenahe“ Versorgung bedeutet dabei zum einen die Zunahme an sozialpsychiatrischen, ambulanten Möglichkeiten zur sozialen und beruflichen Rehabilitation z.T. chronisch psychisch Kranker. Für die Eltern, Partner und Kinder psychisch Erkrankter bedeutet sie gleichzeitig eine oft lebenslange Betreuungsleistung.
Die Erkenntnis, dass die Angehörigen eine der wichtigsten Instanzen im Rehabilitationsprozess psychisch Erkrankter darstellen, hat seit den 1950er Jahren zunächst im englischsprachigen Raum vermehrt Forschungsbemühungen hervorgerufen, die sich der Belastungssituation der Familien annahmen. Seitdem sind durch eine Vielzahl von Studien die gleichsam akute und chronische Belastungslage der Angehörigen und die vielfältigen Faktoren, die das Erleben der Belastung beeinflussen, eingehend untersucht und belegt worden.
Das psychiatrische Versorgungssystem reagiert bereits seit Mitte der 1950er Jahre auf diese Erkenntnisse aus der Belastungsforschung. Im Rahmen sogenannter psychoedukativer Angehörigenarbeit stand zunächst die intervenierende Einflussnahme auf das familiäre Klima, in das die Patienten nach einem Klinikaufenthalt entlassen werden, im Vordergrund. Durch gezielte Informationen über Ursache, Behandlung und Verlauf von psychischen Erkrankungen, sollten die Angehörigen im alltäglichen Umgang mit dem Patienten „geschult“ werden. In den letzten Jahren ist in der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8856
Bolle, Katja: Was bewegt Partner psychisch Kranker zur Teilnahme bzw. Ablehnung der
Teilnahme an einem Interventionsprogramm und welche Aspekte spielen dabei eine
Rolle?
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Universität Osnabrück, Diplomarbeit, 2005
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
4
1 Forschungsstand
8
1.1
Belastungsforschung 9
1.1.1
Ansätze in der Belastungsforschung
10
1.1.2
Untersuchte Aspekte des Belastungserlebens
12
1.1.2.1
Zeitlicher und finanzieller Betreuungsaufwand
13
1.1.2.2
Berufliche Einschränkungen und Auswirkungen auf
Soziale Kontakte
13
1.1.2.3
Informationsdefizit und fehlende Unterstützung des
professionellen Versorgungssystems
14
1.1.2.4
Schwierigkeiten im Umgang mit dem Erkrankten
15
1.1.2.5
Emotionale Belastung
16
1.1.2.6
Gesundheitliche Belastungsfolgen
17
1.1.3
Zusammenfassende Bewertung
18
1.1.4
Die Situation der Partner psychisch Kranker 19
1.1.4.1
Partnerschaften psychisch Erkrankter
19
1.1.4.2
Spezifische Belastungsaspekte der Partner
22
1.2
Studien zum Unterstützungsbedarf der
Angehörigen und speziell der Partner
25
1.3
Angehörigenarbeit in der Psychiatrie
27
1.3.1
Konzeptentwicklung: Expertengeleitet und
nutzerorientiert
27
1.3.2 Experten- und angehörigendominierte
Gruppenangebote
28
1.3.3
Störungsbezogene und zielbezogene Ansätze
30
1.3.4
Störungsspezifische
und
störungsheterogene
Ansätze
30
1.3.5
Beziehungsspezifische und ­homogene Ansätze
31
1.3.6
Zusammenfassung
31

Inhaltsverzeichnis
1.4
Untersuchungen
zum
Inanspruchnahmeverhalten
von Angehörigen psychisch Erkrankter
32
1.5
Zusammenfassung des Forschungsstandes
36
2.
Zielsetzung und Fragestellung der
Diplomarbeit
37
3.
Methodische Basis und Durchführung
der
Untersuchung
39
3.1
Konzeption und Durchführung der Rahmenstudie 39
3.2
Datenbasis der vorliegenden Diplomarbeit
41
3.3
Konzeption der vorliegenden Untersuchung
43
3.4
Methode der Datenerhebung: Das narrative Interview 44
3.4.1
Forschungstheoretische Überlegungen zum narrativen
Interview
44
3.4.2
Zur Durchführung des narrativen Interviews
44
3.4.3
Der Zugang zu den Interviewpartnern
46
3.5
Datenauswahl und theoretisches Sampling 48
3.6
Aufbereitung und Auswertung der Daten
49
3.6.1
Vorab-Information: Memowriting
51
3.6.2
Verfassen einer Globalanalyse
51
3.6.3
Diskurs über den Informationsgehalt des Interviews
52
3.6.4
Transkription der Interviewaufnahme
52
3.6.5
Sequenzierung des Interviewtranskripts
53
3.6.6
Offenes Kodieren der Textsequenzen
54
3.6.7
Bildung thematischer Felder
55
3.6.8
Zusammenfassende Fallrekonstruktion
56
3.6.9
Theoretische Verallgemeinerung
56
3.6.10
Diskursive Validierung
57

Inhaltsverzeichnis
4
Ergebnisse
59
4.1
Was bewegt Partner psychisch Erkrankter zur Teilnahme
an einem Partner-Interventionsprogramm?
61
4.1.1
Übersicht der befragten Teilnehmer am Interventionsprogramm 62
4.1.2
Darstellung
der
Kernhypothesen über die Beweggründe,
die zur Teilnahme am Interventionsprogramm führten
63
4.1.2.1
Der Partner fühlt sich zum Zeitpunkt der Entscheidung
Subjektiv belastet
63
4.1.2.2
Die wahrgenommene Belastung übersteigt die eigenen
Bewältigungsmöglichkeiten
64
4.1.2.3
Es besteht ein Veränderungswunsch mit positiven
Erwartungen an das Interventionsprogramm
66
4.1.3
Darstellung der unterschiedlichen positiven Erwartungen
(Nebenhypothesen)
68
4.1.3.1
Es besteht der Wunsch nach Anerkennung
68
4.1.3.2
Es besteht die Hoffnung auf ,,Freispruch von Schuldgefühlen" 69
4.1.3.3
Es besteht der Wunsch nach eigener Entlastung
69
4.1.3.4
Es besteht der Wunsch nach einem Erfahrungsaustausch
mit anderen Betroffenen
70
4.1.3.5
Mit der Teilnahme verbindet sich der Wunsch nach
Persönlichen Kontakten
71
4.1.3.6
Beim Partner besteht Informationsbedarf
72
4.1.3.6
Mit der Teilnahme verbindet sich der Wunsch nach
bestmöglicher Unterstützung des erkrankten Partners
73
4.1.4
Zusammenfassung und Überblick
74
4.1.5
Kosten-Nutzen-Abwägung:
Befürchtungen, Erwartungen und
Einstellungen ­ eine integrierende Illustration anhand einer
Einzelfalldarstellung
76
4.2
Was bewegt Partner psychisch Erkrankter dazu, die Teilnahme
an einem Interventionsprogramm ab zu lehnen?
80
4.2.1 Übersicht der befragten Nicht-Teilnehmer am
Interventionsprogramm
81
4.2.2 Darstellung der Kernhypothesen über die Ablehnung der
Teilnahme an einem Interventionsprogramm
82

Inhaltsverzeichnis
4.2.2.1 Die subjektive Belastung ist zum Zeitpunkt der
Entscheidung (wieder) gering
82
4.2.2.2 Die eigene Situation wird als bewältigbar eingeschätzt
oder es besteht kein Wunsch nach Veränderungen
84
4.2.2.3 Es bestehen keine positiven bzw. negative Erwartungen
in Bezug auf ein Interventionsprogramm
86
4.2.2.3.1 Es besteht ein anderes Konzept der hilfreichen
Unterstützung: Einzelgespräche oder Psychoedukation
86
4.2.2.3.2 Die Gruppenatmosphäre wird als zu anonym eingeschätzt
und abgelehnt
87
4.2.2.3.3 Zusätzliche Belastung durch Probleme anderer Betroffener
wird befürchtet (Abgrenzungswunsch)
88
4.2.2.3.4 Unterstützung von Anderen (Fremden) wird nicht als
hilfreich empfunden
89
4.2.3 Darstellung der Nebenhypothesen, die zu einer Ablehnung
der Teilnahme führten
90
4.2.3.1 Die Auseinandersetzung mit der Erkrankung des
Partners wird in nicht-akuten Phasen abgelehnt
90
4.2.3.2
Die eigene depressive Symptomatik verhindert die
Teilnahme
91
4.2.3.3 Die Teilnahme am Unterstützungsprogramm wird aus
zeitlichen Gründen abgelehnt
93
4.2.3.4 Es besteht zum Zeitpunkt der Entscheidung keine Bereit-
schaft (mehr), in die Partnerschaft zu investieren
94
4.2.3.5 Die Person versteht sich nicht als Partner eines psychisch
Erkrankten und fühlt sich nicht der Zielgruppe zugehörig 95
4.2.3.6 Der Partner fühlt sich im Vergleich zu anderen nicht der
Zielgruppe zugehörig
97
4.2.3.7
Die Teilnahme wird vom erkrankten Partner abgelehnt
98
4.2.4
Zusammenfassung und Überblick
98
4.2.5
Grundsätzliche Ablehnung vs. belastungsabhängige
Inanspruchnahme ­ zwei gegensätzliche Fälle
101
4.3
Eine fallübergreifende Hypothese
106

Inhaltsverzeichnis
5 Diskussion
108
5.1
Zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse und Diskussion
der Gewichtung der Hypothesen
110
5.2
Diskussion der ,,Zeitfenster-Hypothese"
113
5.3
Diskussion
des
Haupteinflussfaktors ,,Belastung"
114
5.4
Diskussion des Aspekts ,,Partnerschaft"
116
5.5
Diskussion des Behandlungsauftrags
118
5.6
Einordnung der Ergebnisse in den Forschungsstand
119
5.7
Güte und Limitationen der Arbeit
121
5.8
Fazit und Ausblick
126
Literaturverzeichnis
129
Anhang A: Fallportraits
Anhang B: Globalanalysen
Anhang C: Ablauf des Partner-Interventionsprogramms
Anhang D: Transkriptionsregeln
Anhang E: Anschreiben an die Teilnehmer
Anhang G: Entwicklung der Datengrundlage

Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Seite
Abb1: Ableitung relevanter Kernaussagen aus den bisherigen
Forschungsbemühungen
36
Abb.2: Phasen des narrativen Interviews
45
Abb.3: Exmanente Nachfragen im narrativen Interview dieser
Untersuchung
46
Abb.4: Arbeitsschritte der Datenaufbereitung und Datenauswertung
50
Abb.5:
Transkribierter
Interviewausschnitt
53
Abb.6: Sequenzierung und Offenes
Kodieren
54
Abb.7: Übersicht der Kernhypothesen der Teilnehmer
74
Abb.8: Übersicht der Nebenhypothesen der Teilnehmer
75
Abb.9: Übersicht der Kernhypothesen der Nicht-Teilnehmer
99
Abb.10: Übersicht der Differenzierung der Kernhypothese 3
(Nicht-Teilnehmer)
100
Abb.11: Übersicht der Nebenhypothesen der Nicht-Teilnehmer
100
Abb.12:
Darstellung
der
,,Zeitfenster-Hypothese"
107
Tab.1: Übersicht der befragten Teilnehmer am Gruppenprogramm
41
Tab.2: Übersicht der befragten Nicht-Teilnehmer am
Gruppenprogramm
42
Tab.3: Übersicht der befragten Teilnehmer (Ergebnisübersicht)
62
Tab.4: Übersicht der befragten Nicht-Teilnehmer (Ergebnisübersicht)
81

1
Danksagung
Allen Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern danke ich, dass sie mit meinen
Kolleginnen und mir über ihre Lebenssituation und ihre Entscheidungswege gesprochen
haben. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Zudem haben sie dazu
beigetragen, dass ich den Forschungsprozess als persönliche Bereicherung empfunden
habe.
Frau Dr. Bettina Wittmund danke ich für ihre engagierte Unterstützung und ihren
Einsatz, mit dem sie mich auf dem ,,qualitativen Weg" gehalten hat.
Ebenso herzlich bedanke ich mich bei meinen Kolleginnen Nadine Bull und Manja
Musikowski für die verbindliche und bereichernde Zusammenarbeit im
Forschungskolloquium.
Bei Herrn Professor Karl-Heinz Wiedl möchte ich mich für die Offenheit gegenüber
dem qualitativen Forschungsansatz bedanken und dafür, dass er die Begutachtung
meiner Arbeit spontan und mit Interesse zugesagt hat.
Meinen Freunden Svenja, Peter, Annett, Nadja und Annika kann ich kaum genug
danken für unermüdliches Korrekturlesen, faire und ehrliche Kritik, moralische
Unterstützung und kulinarische Prozessbegleitung.
Ohne die jahrelange Unterstützung meiner Eltern hätte ich nicht studieren und nicht
diplomieren können. Ich danke vor allem auch ihnen von ganzem Herzen.

3
,,Verständliche Zusammenhänge
[...] werden nicht durch Zahlen, sondern durch den
verstandenen Einzelfall erwiesen, Zahlen zeigen nur die Häufigkeit ihres
Vorkommens"
Karl Jaspers

4
Einleitung
Seit der Einführung der ersten Neuroleptika in den 1950er Jahren hat die
gesellschaftliche Situation psychisch erkrankter Menschen starke Veränderung erfahren.
Das Prinzip des Lebensweltbezugs findet sich als zentrale Versorgungsleitlinie bei der
WHO (1985 u. 1991) und weltweit in nationalen Programmen zur Reform der
psychiatrischen Versorgung. Nachdem die Versorgung psychisch Erkrankter bis 1975
vorwiegend in psychiatrischen Großkrankenhäusern (Landeskrankenhäusern) erfolgte,
wurde mit dem Bericht der Enquete-Kommission zur Situation der Psychiatrie in der
BRD (Deutscher Bundestag, 1975) versucht, die Weichen in Richtung einer modernen,
bedarfsgerechten und gemeindenahen Versorgung zu stellen. Deshalb beschränkt sich
die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen heute zunehmend auf die
Akutbehandlung und medikamentöse Einstellung im Rahmen relativ kurzer
Klinikaufenthalte.
Das bedeutet, dass psychisch kranke Menschen größtenteils zu Hause bei ihren
Angehörigen und damit auch bei ihren Partnern leben. ,,Moderne bedarfsgerechte und
gemeindenahe" Versorgung bedeutet dabei zum einen die Zunahme an
sozialpsychiatrischen, ambulanten Möglichkeiten zur sozialen und beruflichen
Rehabilitation z.T. chronisch psychisch Kranker. Für die Eltern, Partner und Kinder
psychisch Erkrankter bedeutet sie gleichzeitig eine oft lebenslange Betreuungsleistung.
Die Erkenntnis, dass die Angehörigen eine der wichtigsten Instanzen im
Rehabilitationsprozess psychisch Erkrankter darstellen, hat seit den 1950er Jahren
zunächst im englischsprachigen Raum vermehrt Forschungsbemühungen hervorgerufen,
die sich der Belastungssituation der Familien annahmen. Seitdem sind durch eine
Vielzahl von Studien die gleichsam akute und chronische Belastungslage der
Angehörigen und die vielfältigen Faktoren, die das Erleben der Belastung beeinflussen,
eingehend untersucht und belegt worden.
Das psychiatrische Versorgungssystem reagiert bereits seit Mitte der 1950er Jahre auf
diese Erkenntnisse aus der Belastungsforschung. Im Rahmen sogenannter
psychoedukativer Angehörigenarbeit stand zunächst die intervenierende Einflussnahme
auf das familiäre Klima, in das die Patienten nach einem Klinikaufenthalt entlassen

5
werden, im Vordergrund. Durch gezielte Informationen über Ursache, Behandlung und
Verlauf von psychischen Erkrankungen, sollten die Angehörigen im alltäglichen
Umgang mit dem Patienten ,,geschult" werden. In den letzten Jahren ist in der
Angehörigenarbeit, die vielerorts zur Routineversorgung im Rahmen der Behandlung
psychischer Erkrankungen geworden ist, ein Wandel zu vermerken: Von eher
informativer, aufklärender Angehörigenarbeit hin zu Angeboten, die sich speziell auf
der Belastung bzw. Belastungsreduktion der Angehörigen konzentriert und dabei auf
aktuelle psychologische Konzepte zur Stressreduktion und Kommunikation
zurückgreift.
Sowohl in Ansätzen zur Belastungsforschung als auch in der Entwicklung von
Angeboten für Angehörige, wird erst allmählich und in den letzten Jahren eine
Differenzierung der Angehörigen nach Verwandtschaftsgrad vorgenommen. Dass z.B.
die Partner psychisch kranker Menschen speziellen Belastungen ausgesetzt sind, weil
die Erkrankung des Lebensgefährten im Sinne eines kritischen Lebensereignisses eine
deutliche Veränderung der Lebensperspektive nach sich ziehen kann, erfordert nach
Erkenntnissen aus neueren Forschungsansätzen eine besondere Berücksichtigung bei
der Entwicklung von Interventionsprogrammen. Die Umsetzung dieser Erkenntnisse
findet sich allerdings erst vereinzelt in der Literatur zu diesem Thema.
Der Unterstützungsbedarf, der speziell für den Lebensgefährten aus der veränderten
Lebenssituation aufgrund der psychischen Erkrankung des Partners resultiert, ist in
einigen neueren Arbeiten untersucht worden. Diese Forschungsarbeiten, die aufgrund
einer qualitativen Herangehensweise eine ,,sinnverstehende" und alltagsorientierte Sicht
auf die Belastungssituation erlauben, bieten die Möglichkeit zur Entwicklung
spezifischer Interventionsangebote, die auf die Bedürfnisse speziell der Partner
zugeschnitten sind. Aufbauend auf diese Erkenntnisse ist an der Klinik und Poliklinik
für Psychiatrie der Universität Leipzig ein Partner-Interventionsprogramm entwickelt
worden. Ziel dieser Konzeptentwicklung war die Veränderung der
Bewältigungsstrategien und des Belastungserlebens, sowie die Verbesserung des
psychischen Befindens und die Entwicklung ressourcenorientierter Perspektiven bei
Partnern von Patienten, die an Schizophrenien oder Depressionen leiden. Die hier
vorliegende Diplomarbeit entstand im Rahmen der Evaluation dieses
Interventionsprogramms.

6
In der praktischen Umsetzung des Interventionsprogramms zeigte sich ein Phänomen,
welches in der Literatur zur Angehörigenarbeit häufig beschrieben wird:
Unterstützungsangebote von professioneller Seite werden viel weniger frequentiert, als
dies aufgrund des bekundeten Unterstützungsbedarfs zu erwarten wäre. Vielerorts wird
von dieser scheinbaren Diskrepanz zwischen Bedarf und Nutzung berichtet. Dies führt
zu einem verstärkten Interesse an Forschungsarbeiten zu den Gründen, die Angehörige
dazu bewegen, sich für oder gegen die Teilnahme an Unterstützungsprogrammen zu
entscheiden.
Ziel dieser Diplomarbeit ist es, erste Ansätze zur Beantwortung dieser Frage zu liefern.
Für die Untersuchung dieses Phänomens, erschien eine größtmögliche Offenheit in der
Herangehensweise an den Forschungsgegenstand entscheidend zu sein, um den Zugang
zu neuen Erkenntnissen zu ermöglichen. Zur Umsetzung dieses Ziels war deshalb eine
explorative Studie im qualitativen Design die Methode der Wahl. Auf der Basis von 22
Einzelfällen, bei denen es sich um Partner von an Schizophrenie oder Depression
erkrankten Menschen handelt, wurden aus den Informationen aus narrativen Interviews
Hypothesen darüber abgeleitet, welche Aspekte Einfluss auf die Teilnahmeentscheidung
von Partnern psychisch Erkrankter in Bezug auf die Inanspruchnahme eines
Interventionsprogramms haben.
Der erste Teil der hier vorliegenden Arbeit soll nun zunächst eine theoretische
Einbettung dieser Untersuchung in den aktuellen Forschungsstand ermöglichen. Im
Vordergrund steht hier die Vermittlung des Verständnisses für die Belastungssituation
der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Um die zunehmend differenzierter
werdende Betrachtung dieser Thematik in ihrer Entwicklung nachzuvollziehen, werden
zunächst die Forschungsbemühungen zur Belastung von Angehörigen im Allgemeinen
bis hin zur speziellen Situation von Partnern dargestellt. Anschließend werden
Forschungsarbeiten genannt, die sich speziell mit dem Unterstützungsbedarf von
Angehörigen und im Besonderen von Partnern beschäftigen. Wie diesem Bedarf im
Rahmen der psychiatrischen Versorgungslandschaft Rechnung getragen wird, ist
nachvollziehbar anhand einer kurzen Abhandlung über unterschiedliche Ansätze in der
Angehörigenarbeit (Abschnitt 1.3). Vor diesem Hintergrund wird am Ende des Kapitels

7
zum bisherigen Forschungsstand die Literatur zur Inanspruchnahme von
Angehörigenangeboten zusammengefasst (1.4).
Darauf aufbauend erfolgt im 2. Teil die Ableitung der Forschungsfragen, die dieser
Diplomarbeit zugrunde liegen. Im Methodenteil dieser Arbeit (Abschnitt 3) erfolgt
sowohl die Beschreibung der Stichprobe (Sample), als auch eine detaillierte Darlegung
der angewandten Methode und der Vorgehensweise, die im Rahmen dieser Studie im
qualitativen Forschungsdesign zur Erkenntnisgewinnung geführt hat. Die
Ergebnisdarstellung erfolgt getrennt nach Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern am
Interventionsprogramm im 4. Teil dieser Arbeit. Abschließend werden die Ergebnisse
im letzten Teil der Arbeit diskutiert. Darauf aufbauend soll sowohl eine kritische
Bewertung dieser Untersuchung als auch ein Ausblick zur Praxisrelevanz und
möglicher anschließender Forschungsfragen vorgenommen werden.

8
1 Forschungsstand
Zur theoretischen Einordnung dieser Arbeit erfolgt die Darstellung des
Forschungsstandes mit dem Fokus auf folgende Themenbereiche: Zunächst werden
Erkenntnisse zur Belastung Angehöriger psychisch Kranker dargestellt (1.1) und
entsprechend der Fragestellung dieser Diplomarbeit in einem weiteren Schritt auf die
spezielle Situation der Partner psychisch Kranker eingegangen (1.1.3). Anschließend
soll erläutert werden, welcher Unterstützungsbedarf aus diesen Belastungen resultiert
(1.2). Im Abschnitt 1.3 wird dargestellt, welche Angebote für Angehörige und speziell
für Partner sich in der psychiatrischen Versorgungslandschaft finden, um diesem
Unterstützungsbedarf gerecht zu werden. Unter 1.4 wird der Stand der
Forschungsbemühungen zur Evaluation der Inanspruchnahme dieser Angebote durch
Angehörige, speziell durch Partner dargestellt. Abschnitt 1.5 fasst die für diese Arbeit
relevanten Kernaussagen aus den aktuellen Forschungsarbeiten noch einmal
abschließend zusammen.
Vor diesem Hintergrund soll die Relevanz und Aktualität der hier vorliegenden
Diplomarbeit deutlich werden und in einen Sinnzusammenhang mit der Entwicklung
der Angehörigenforschung gestellt werden.

9
1.1 Belastungsforschung
Lange Zeit sind die Angehörigen psychisch Erkrankter in der Forschung vor allem unter
der Perspektive betrachtet worden, welche Auswirkungen sie auf Verursachung und
Verlauf der Erkrankung haben. In einem Perspektivwechsel wurde allerdings seit den
50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst in den USA und England und
seit den frühen 80er Jahren auch in Deutschland damit begonnen, die Belastungen der
Familien psychisch Erkrankter zu untersuchen.
Mit der Psychiatriereform 1975 veränderte sich diese Rolle der Angehörigen zu einer
der wichtigsten Instanzen im Rehabilitationsprozess psychisch Erkrankter. Zahlreiche
Befunde, vor allem aus den USA und Großbritannien (hier setzte der Prozess der
Deinstitutionalisierung bereits früher ein) in den sogenannten caregiver burden studies,
belegen und thematisieren bereits seit Mitte der 1950er Jahre den hohen Grad an
Belastung bei Angehörigen psychiatrischer Patienten (Clausen &Yarrow 1955; Grad &
Sainsbury 1968). Seitdem ist auf diesem Forschungsgebiet eine kaum noch zu
überblickende Anzahl von Studien veröffentlicht worden, die aufgrund inkonsistenter
Verwendung von Belastungskonzepten und großer Heterogenität der Stichproben
schwer miteinander zu vergleichen sind. Allen gemeinsam ist jedoch die Aussage, dass
das Zusammenleben mit z.T. chronisch psychisch Kranken zu zahlreichen
Veränderungen, Belastungen und Beeinträchtigungen führt. An dieser Stelle soll auf
eine Reihe von Übersichtsarbeiten (Baronet 1999; Loukissa 1995; Rose 1959;
Jungbauer et al. 2001; Schmid et al. 2003) verwiesen werden, die einen guten Überblick
über den bisherigen Forschungsstand bieten. Zur theoretischen Einordnung dieser
Arbeit liegt der Fokus der Darstellung auf den Forschungsergebnissen zu folgenden
Punkten:
Ansätze in der Belastungsforschung (1.1.1)
Aspekte der Belastung der Angehörigen und daraus resultierende
gesundheitliche Beeinträchtigungen (1.1.2)
Die spezifische Belastungssituation der Partner psychisch Kranker (1.1.3)
Unterstützungsbedarf der Angehörigen und speziell der Partner (1.1.4)

10
1.1.1 Ansätze in der Belastungsforschung
Eine differenzierte Betrachtung der Belastung der Angehörigen ermöglichte die
Systematisierung von Hoenig & Hamilton, die zwischen subjektiven und objektiven
Belastungen unterschieden (Hoenig & Hamilton 1966). Objektive Belastungen sind
nach diesem Verständnis alle ,,beobachtbaren", aus der Betreuung des Patienten
resultierenden Auswirkungen auf die Familie (finanzielle Mehraufwendungen und ­
ausfälle; Betreuungsleistungen, Beeinträchtigungen des Familien- und Soziallebens).
Subjektive Belastungen umfassen hingegen die psychischen und emotionalen, also die
,,gefühlten" Belastungen der Angehörigen (Verlust, Trauer, Hilflosigkeit, Angst). Diese
Trennung erwies sich als sehr einflussreich für die nachfolgenden Untersuchungen und
wird bis heute angewendet (Jungbauer et al. 2001; Bernert et al. 2001; Baronet 1999).
Da sich dieses Konzept allerdings auf die direkt mit der Erkrankung des Angehörigen
verbundenen Belastungen beschränkt, wurde von Maurin & Boyd vorgeschlagen, die
allgemeine Stressbelastung der Angehörigen (,,distress") stärker zu berücksichtigen
(Maurin & Boyd 1990). Diese differenzierte Betrachtungsweise wird der Situation der
Angehörigen insofern gerechter, als davon auszugehen ist, dass außer der psychischen
Erkrankung eine Vielzahl weiterer Faktoren Einfluss auf das Belastungserleben hat
(Jungbauer 2002).
Darauf aufbauend findet sich in einer Reihe aktueller Forschungsarbeiten unter
Einbeziehung stresstheoretischer Modelle eine weitere Ausdifferenzierung des
Belastungsbegriffes ( Chwalisz & Kissler 1995; Magliano et al. 1998; Joyce et al.
2000). Unter Berücksichtigung personaler Faktoren wie intrapsychischer
Bewertungsprozesse, individueller Copingstrategien oder Ressourcen wird dazu
zunehmend eine komplexere und weniger defizitorientierte Sichtweise auf die Situation
der Familien von psychisch Kranken eingenommen (Greenberg et al. 1994; Horwitz et
al. 1996; Scherrmann 1995). Dabei wird meist die von Lazarus und Folkman (1984)
vorgenommene Unterscheidung zwischen primären und sekundären
Bewertungsprozessen aufgegriffen. Entscheidend dafür, ob aus real vorhandenen
Einschränkungen tatsächlich subjektives Belastungserleben resultiert, sind individuelle
Bewertungs- und Verarbeitungsprozesse, die ihrerseits durch eine Reihe von Faktoren
beeinflusst werden. Diese Moderatorvariablen beeinflussen nicht nur Art und Ausmaß

11
erlebter Belastung, sondern wirken auch auf die Effektivität des resultierenden
Belastungsbewältigungsverhaltens:
Eine Reihe von Studien konnte z.B. zeigen, dass sozioökonomische Faktoren wie
Bildungsniveau und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht die Höhe des
Belastungserlebens selbst nicht beeinflussen (Baronet 1999), obgleich zu bedenken
bleibt, dass die Belastungsfaktoren mit sinkendem Bildungsstand und sozialer Schicht
insgesamt zunehmen (höhere Arbeitslosigkeit, geringere finanzielle und soziale
Ressourcen, geringeres Ausmaß an Informiertheit bezüglich psychischer Erkrankungen)
(Nause 2002). Mehrere Studien zeigten zudem, dass die subjektive Belastung bei
weiblichen Angehörigen höher ist als bei männlichen. Sie führen dies auf die bei Frauen
häufiger vorkommende Mehrfachbelastung zurück (Jones, Roth & Jones 1995;
Sennekamp 1995): Da das Ausmaß der generellen Beanspruchung z.B. durch
Alltagsbelastungen (zeitgleiche Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und
Haushaltsführung) oder zusätzliche kritische Lebensereignisse höher ist, fällt vermutlich
die Belastung durch die Erkrankung eines Angehörigen stärker ins Gewicht. Dagegen
scheinen personale Ressourcen, wie individuelle Belastbarkeit und
Bewältigungskompetenzen, sowie das Ausmaß der Selbstwirksamkeitserwartung der
Person einen entscheidenden positiven Einfluss auf das subjektive Belastungserleben zu
haben (Noh & Avinson 1988; Solomon & Draine 1995). Ebenso scheint der positive
Einfluss wahrgenommener sozialer Unterstützung auf das subjektive Belastungserleben
gut belegt (Magliano et al. 1995; Solomon & Draine 1995).
Verschiedene Autoren stellen zudem den Einfluss ,,subjektiver Krankheitstheorien" auf
das Ausmaß der wahrgenommenen Belastung heraus (vgl. Jungbauer et al. 2001). Je
nachdem, auf welche Ursachen krankheitsbedingtes Verhalten des Erkrankten attribuiert
wird, kann es als sehr unterschiedlich belastend wahrgenommen werden. Entlastend
kann deshalb auch ein hohes Ausmaß an Informiertheit über die psychische Erkrankung
des Angehörigen wirken, weil dies dem häufig von Angehörigen beschriebenen Gefühl
von Kontrollverlust und Ausgeliefertsein kognitiv etwas entgegensetzen kann (Manion
& Mueser 1994).
Es zeigt sich also, dass ein eindimensionales Belastungskonzept zu kurz greift, weil es
verschiedene Moderatorvariablen, die in unterschiedlicher Weise auf das

12
Belastungserleben Angehöriger psychisch Erkrankter Einfluss nehmen, nicht
berücksichtigt.
Dass die psychische Erkrankung eines Angehörigen, wenn sie als bewältigbare
Herausforderung eingeschätzt wird, durchaus mit positiven Veränderungen verbunden
sein kann, zeigt eine Studie von Simon (1994): Fast die Hälfte (44%) der befragten
Angehörigen psychisch Kranker führten die eigene psychische und spirituelle
Entwicklung auf die Auseinandersetzung mit der veränderten Lebenssituation aufgrund
der psychischen Erkrankung des Angehörigen zurück. Antworten, die von den Autoren
zitiert werden lauteten beispielsweise: ,,Meine Werte haben sich verschoben", ,,vieles,
was mir früher wichtig war, nehme ich nicht mehr so wichtig", ,,ich habe mich von
Äußerlichkeiten entfernt und bin auf der Suche nach dem Sinn etwas weiter
gekommen", ,,ich habe einen Lebensinhalt und eine Aufgabe gefunden" (Simon 1994,
S. 237).
Im Zusammenhang mit der neueren Entwicklung sowohl in der allgemeinen
psychologischen und psychiatrischen Fachliteratur, als auch speziell in der
Angehörigenforschung wird daher die Defizitorientierung der ,,klassischen
Belastungskonzepte" weiter zugunsten einer komplexen interaktiven Sicht aufgegeben.
Diese berücksichtigt aktuelle psychologische Konzepte und die Bedeutung von
Ressourcen, Bewältigungspotenzialen und Entwicklungsmöglichkeiten der Familien
stärker als zuvor (Greenberg et al. 1994; Horwitz 1996). Dennoch ist zum Verständnis
der Situation von Angehörigen psychisch Kranker eine genaue Sicht auf das
Belastungserleben nach wie vor bedeutsam.
1.1.2 Untersuchte Aspekte des Belastungserlebens
Sowohl in den deutschen als auch in den englischen Caregiver-burden-studies wird eine
Reihe unterschiedlicher Aspekte beschrieben, die von den Betroffenen im
Zusammenleben mit einem psychisch Erkrankten als belastend erlebt werden
(Jungbauer et al. 2001; Schmid et al. 2003). Um einen Eindruck über die Situation der
Angehörigen gewinnen zu können, soll im Folgenden zunächst zusammengefasst
werden, welche Aspekte des Belastungserlebens hauptsächlich beschrieben werden.

13
1.1.2.1 Zeitlicher und finanzieller Betreuungsaufwand
Zur Belastung durch den zeitlichen Betreuungsaufwand fanden Angermeyer et al.
(1997) in einer Befragung mit 557 Teilnehmern heraus, dass für ca. ein Drittel der
Befragten die Betreuung zeitlich mit 11-20 und mehr Stunden nahezu den Stellenwert
einer Teilzeitstelle einnimmt und weitere 20,6 % einen wöchentlichen
Betreuungsaufwand von 6 ­ 10 Stunden angeben.
Die finanziellen Belastungen, die den Angehörigen durch die Erkrankung des
Familienmitgliedes entstehen, lassen sich unterscheiden in direkte und indirekte Kosten
(Mory et al. 2002). Direkte Kosten umfassen Mehraufwendungen wie Behandlungs-,
Versorgungs- und Rehabilitationskosten, unter indirekte Kosten werden finanzielle
Einbußen zusammengefasst. Diese entstehen durch die Erwerbsunfähigkeit des
Patienten oder, infolge des Betreuungsaufwandes, durch Krankschreibung oder
Einkommenseinbußen der Angehörigen (Mory et al. 2002). Auch wenn die finanziellen
Belastungen von den Angehörigen wenig thematisiert werden, da andere,
krankheitsbezogene Belastungen im Vordergrund stehen (Jungbauer et al. 2002), so
sind sie doch erheblich: Die auf Deutschland bezogenen Angaben der Kosten belaufen
sich auf jährlich durchschnittlich 7.500 ­ 10.000 Euro, je nachdem, ob es sich um die
Angabe direkter oder indirekter Kosten handelt (Peukert 2001; Clark 1994).
1.1.2.2 Berufliche Einschränkungen und Auswirkung auf soziale Kontakte
Die als Belastung empfundenen beruflichen Nachteile reichen vom Arbeitsplatzwechsel
zu einer weniger Zeit und Einsatz fordernden Beschäftigung (Schmid et al. 2003) bis
zur Frühberentung aufgrund der durch die Erkrankung des Angehörigen entstehenden
Doppelbelastung und deren Folgen (Creer & Wing 1989 ; Sibitz et al. 2002). Die Hälfte
der Angehörigen empfinden zudem ihre Arbeit aufgrund der Betreuung des Patienten
als zusätzliche Belastung (Fadden et al. 1987).
In ihrer Freizeitgestaltung empfinden sich nach Angermeyer et al. (1997) 25,7% der
Angehörigen häufig, weitere 46% gelegentlich eingeschränkt. Durch die
wahrgenommene Verantwortung und Sorge für ein psychisch erkranktes
Familienmitglied ergeben sich Einschränkungen bezüglich der Urlaubsplanung und der
Außer-Haus-Aktivitäten (Fadden et al. 1987; Sibitz et al. 2002). Jungbauer berichtet

14
zudem, dass durch die zeitliche und emotionale Mehrbelastung durch den
Betreuungsaufwand, weniger Energie für die Pflege von Freundschaften aufgebracht
wird (Jungbauer 2002). Dass die Erkrankung eines Angehörigen sich negativ auf soziale
Beziehungen auswirken kann, wird auch an anderer Stelle beschrieben. Als Gründe
hierfür werden, neben Kraft- und Zeitmangel, Befangenheit und Scham aufgrund des
auffälligen Verhaltens des erkrankten Familienmitgliedes angegeben (Jungbauer et al.
2001). Die damit eng verbundene Stigmatisierung psychisch Kranker und
psychiatrischer Versorgungseinrichtungen (,,Klapsmühle" oder ,,Irrenhaus",
Angermeyer 2000) wurde in zahlreichen Studien belegt (Angermeyer et al. 2003).
Befragungen verdeutlichen, dass das ,,Wissen" über die Ätiologie psychischer
Störungen sich zumeist auf psychosoziale (z.B. schlechtes Elternhaus, kritisches
Lebensereignis) oder persönlichkeitsbezogene (z.B. schwacher Wille, emotionale
Labilität) Attributionen beläuft (Angermeyer & Matschinger 1996; Stahl 1996).
Angehörige nehmen als besonders belastend Aspekte der Stigmatisierung, vor allem
daraus folgende Schuldzuweisungen, Diffamierungen und die Einnahme einer
ablehnenden Haltung wahr (Angermeyer 2000). Nach Dörner et al. (1982) hat die Suche
der Psychiatrie nach einem ,,Verursacherprinzip" in der Herkunftsfamilie dazu
beigetragen, dass Angehörigen psychiatrischer Patienten immer noch die ,,Sündenbock-
Rolle" zukommt. Besonders fatal erscheint die (wahrgenommene) Stigmatisierung
deshalb, weil sie sich auf das Hilfesuchverhalten auswirkt und die Hemmschwelle für
die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung erhöht (Schmid et al. 2003).
1.1.2.3 Informationsdefizit und fehlende Unterstützung des professionellen
Versorgungssystems
Dass gerade zu Beginn der Erkrankung ein Informationsdefizit bezüglich der
Erkrankung sich als besonders belastend auf die Angehörigen auswirken und zu Angst
und Kontrollverlust führen kann, arbeitet Jungbauer et al. (2002) in einer qualitativen
Untersuchung heraus. Die Autoren stellen fest, dass dies die Sicherheit im Umgang mit
dem erkrankten Familienmitglied ungünstig beeinflussen und zudem ein Gefühl der
Enttäuschung und der mangelnden Unterstützung gegenüber dem professionellen
Versorgungssystem hervorrufen kann (Jungbauer et al. 2002). Dass Angehörige
psychisch Kranker darunter leiden, unzureichend über Medikation, Verlauf, Prognose

15
und Rehabilitationsmöglichkeiten, sowie Umgangsformen mit dem Patienten informiert
zu sein (Pitschel-Walz & Engel 1997; Bäuml et al. 1996) und dies sich negativ auf die
Beurteilung von Ärzten, Psychiatern und Psychologen auswirkt, zeigt auch die Studie
von Kramer et al. (Kramer et al. 1996). Der Wunsch der Angehörigen ist es deshalb,
von den behandelnden Fachkräften ernst genommen und in den Behandlungsplan
einbezogen zu werden (Angermeyer et al. 1997; Winefield et al. 1996).
Der Weg zur Inanspruchnahme institutioneller Unterstützung ist für Angehörige
psychisch Kranker oft mit vielen Hindernissen verbunden. Winefield sieht den Grund
dafür, dass viele Angehörige die Hilfe des professionellen Versorgungssystems erst
spät, wenn überhaupt, in Anspruch nehmen, darin begründet, dass Konflikte zwischen
professionellen Mitarbeitern und Angehörigen bestehen, z.T. weil die Angehörigen eine
Schuldzuweisung der Psychiatrie empfinden oder vermuten (Winefield et al. 1996). Auf
Seiten der professionellen Helfer nennen die Autoren Berührungsängste, fehlende
Ausbildung bezüglich der Einbeziehung der Angehörigen sowie mangelnde finanzielle
und personelle Kapazitäten als hinderliche Faktoren für die adäquate Unterstützung der
Familien psychiatrischer Patienten (Winefield et al. 1996). Schmidt et al. (2003) fassen
die Konflikte zwischen Angehörigen und professionellen Helfern mit dem Begriff
,,Kompetenzrangeleien" zusammen.
1.1.2.4 Schwierigkeiten im Umgang mit dem Erkrankten
Auch im Umgang mit dem Erkrankten ergeben sich vielfältige Schwierigkeiten für die
betreuenden Angehörigen. Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass das
Funktionsniveau, die Symptome und das Verhalten des Patienten Einfluss auf das
Belastungserleben der Angehörigen im Umgang mit dem Erkrankten haben (Loukissa
1995). Die Befundlage zu der Frage welche Symptome am belastendsten erlebt werden,
ist heterogen. In Untersuchungen zum Thema Angehörige schizophrener Patienten
finden sich sowohl Anhaltspunkte dafür, dass die Positivsymptomatik (Halluzinationen,
Wahnideen, Reizbarkeit und aggressives Verhalten etc.) als besonders belastend
beschrieben wird (Katschnig et al. 1994; Salleh 1994), andere Autoren beschreiben,
dass die Negativsymptomatik (Depressivität, sozialer und emotionaler Rückzug etc.)
besonders belastend erlebt wird (Tucker et al. 1998; Fadden et al. 1987). In Studien zu

16
Angehörigen depressiv Erkrankter wird zumeist beschrieben, dass der Interessenverlust,
die geringe Belastbarkeit, schnelle Ermüdung und Hoffnungslosigkeit des Patienten den
Umgang für die Angehörigen erschweren (Jungbauer et al. 2001). Die Autoren neuerer
Untersuchungen (z.B. Provencher & Mueser 1997; Provencher & Fincham 2000;
Perlick et al. 1999) heben dagegen hervor, dass für das Ausmaß der Belastung
entscheidend ist, ob die Angehörigen das Verhalten des Patienten als willentlich von
ihm beeinflussbar erleben oder sein Verhalten als Folge der Erkrankung und damit
außerhalb seines Kontrollbereiches attribuieren (sog. ,,Mad-or-Bad-Problematik",
Dohner & Angermeyer 1980).
1.1.2.5 Emotionale Belastung
Die emotionale Belastung der Angehörigen ist in der Literatur vielfach thematisiert
worden. (Creer & Wing 1977; Noh & Turner 1987; Solomon & Draine 1995; Dörner et
al. 1997). Jungbauer stellt die verschiedenen Aspekte der emotionalen Belastung
überblicksartig zusammen und nennt innere Anspannung und Stress, Schuld- und
Schamgefühle, Ärger, Ängste und Sorgen, Verantwortung und Verpflichtung als die in
der Literatur als am wichtigsten beschriebenen Bereiche des Belastungserlebens der
Angehörigen (Jungbauer 2002, S. 28f.). Schmid et al. (2003) beschreiben zusätzlich die
Trauer und das Verlusterleben der Angehörigen, wobei Eltern den Verlust der
Erwartungen und Zukunftsplanung des erkrankten Kindes betrauern (Milliken 2001)
und Ehepartner sich vielfach von gemeinsamen Lebenszielen (Finzen 2001; Simon
1994) und gemeinsam gelebter Gegenwart verabschieden müssen (Wasow 1985). Die
Angehörigen empfinden zudem Hilflosigkeit in Bezug auf die Erkrankung des
Familienmitglieds, ein Viertel der Angehörigen gibt an, niemanden zu kennen, der sich
in einer ähnlichen Situation befindet und mit dem sie sich austauschen könnten.
Die daraus resultierende Erfahrung, alleinverantwortlich und einsam zu sein (Schmid
et. al 2003) wird als weiterer belastender Faktor von den Betroffenen angegeben.
Schizophrenien und auch affektive Störungen sind oft durch wechselnde Phasen von
akuter und nicht-akuter Erkrankung gekennzeichnet. Außerdem ist der Verlauf des
Einzelfalls von Seiten der professionellen Helfer selten konkret zu prognostizieren, so
dass die Angehörigen ständig die Belastung des Aufs und Abs zwischen Hoffnung und

17
Enttäuschung erfahren (Schmid et al. 2003), daraus resultierend das Gefühl haben ,,wie
auf einem Vulkan zu leben" (Simon 1994, S.235) und gleichzeitig z.T. große Ängste
bezüglich der Zukunft des Patienten haben (Sibitz et al. 2002; Hatfield 2000).
1.1.2.6 Gesundheitliche Belastungsfolgen
Gesundheitliche Belastungen bzw. Beeinträchtigungen von Angehörigen psychisch
Kranker werden in einer Reihe von Studien nachgewiesen: Ein Drittel der Angehörigen
zeigt erhöhte Werte für Angst und Depressivität im Zusammenhang mit der
Betreuungsleistung (Goldberg & Hillier 1979; MacCarthy et al. 1989), ebenso viele
weisen zusätzlich funktionelle Beschwerden auf (Benazon & Coyne 2000; Widmer et
al. 1980). In einer postalischen Befragung unter Mitgliedern des Bundesverbandes für
Angehörige psychisch Kranker (Angermeyer et al. 1997) fühlte sich ein Drittel der
Angehörigen sehr stark beeinträchtigt, ein weiteres Drittel mäßig stark beeinträchtigt
bezüglich der eigenen Gesundheit. 9 von 10 Angehörigen beschrieben depressive
Symptome wie Grübelei, innere Unruhe, Schlafstörungen oder Mattigkeit. In einer
Untersuchung von Cochrane und Birchwood erreichte die gesundheitliche
Beeinträchtigung bei 39% der untersuchten Angehörigen schizophrener Patienten
behandlungsbedürftige Ausmaße (Birchwood & Cochrane 1990). Spangenberg &
Theron untersuchten in einer Studie Partner depressiver Patienten und fanden, dass bei
mehr als der Hälfte die BDI-Werte (Beck-Depressions-Inventar) krankheitswertige
Ergebnisse im Sinne einer Depression aufwiesen (Spangenberg & Theron 1999).
Winefield & Harvey (1993) fanden sogar einen Anteil von 60,3% Angehöriger mit
behandlungsbedürftigen depressiven Symptomen.
Hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Angehörigen psychisch
Erkrankter zeigt sich also eine recht eindeutige Befundlage. Um so erstaunlicher ist es,
dass trotz dieser Erkenntnisse bis heute unklar ist, inwieweit die betreuenden
Angehörigen psychisch Erkrankter ihrerseits selbst ärztliche oder psychotherapeutische
Hilfe in Anspruch nehmen (Jungbauer 2002).

18
1.1.3 Zusammenfassende Bewertung des Forschungsstandes
Ein methodisches Problem der Untersuchungen zur Belastungssituation der
Angehörigen psychisch Kranker ist zunächst die Erfassung der Belastung: Obwohl eine
Reihe von Instrumenten zur Belastungsmessung eingesetzt wird, hat sich bislang kein
Standardinstrument durchgesetzt ( Baronet 1999; Chwalisz & Kisler 1995). Die
unterschiedliche Operationalisierung des Belastungskonzepts und die
Verallgemeinerung der Ergebnisse aus den bisherigen Studien wird deshalb kritisch
diskutiert (Schene et al. 1994; Benazon & Coyne 2000). Die erweiterte Sicht der
Thematik unter Hinzunahme stresstheoretischer Erkenntnisse und der gleichzeitigen
Betrachtung von Ressourcen, Potentialen und Entwicklungsmöglichkeiten erfordert
nach Maurin & Boyd (1990) zudem eine Ergänzung bisheriger Ergebnisse aus
quantitativen Studien um eine differenzierende qualitative Untersuchung des komplexen
Bedingungsgefüges.
Ein wichtiger, in neuerer Zeit vermehrt geäußerter methodischer Schwachpunkt
bestehender Forschungsarbeiten ist darin zu sehen, dass die Mehrzahl der Arbeiten als
Querschnittsstudien konzipiert sind. Dies ist im Hinblick auf zumeist phasenhafte
Verläufe psychischer Erkrankungen eine einschränkende Betrachtung sowohl der
Belastungssituation der Angehörigen als auch der gesamten Lebenssituation (Jungbauer
et al. 2001; Schmid 2003).
Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass die Mehrzahl der Studien zu
Angehörigen psychisch Kranker sich auf die Herkunftsfamilien von Patienten mit
Psychosen oder Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis bezieht (Jungbauer
et al. 2001). In vielen Untersuchungen wird zudem eine differenzierte Betrachtung der
Beziehungsspezifität außer Acht gelassen, so dass häufig überhaupt keine Angaben zum
Verwandtschaftsgrad erfolgen (Loukissa 1995). Es zeigt sich die Tendenz, im
Zusammenhang mit den Auswirkungen schizophrener Erkrankungen die
Herkunftsfamilie zu befragen, wohl weil diese nach wie vor den wichtigsten
Sozialkontakt darstellt (Jungbauer 2002). Im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild
der Depression konzentriert sich die Angehörigenforschung dagegen vermehrt auf die
Untersuchung der Partner (John 1988; Maurin & Boyd 1990), so dass es bei der
Verallgemeinerung von Ergebnissen häufig zu einem Vergleich zwischen Eltern

19
schizophrener Patienten und Partnern depressiver Patienten kommt. In den letzten
Jahren wird deshalb vermehrt der Forderung nach qualitativen ,,sinnverstehenden"
Forschungsansätzen in der Untersuchung von Familien mit einem psychisch Erkrankten
nachgekommen. Diese erlauben eine differenziertere Untersuchung des Phänomens, als
quantifizierende und standardisierte Methoden (Bischkopf et al. 2002). Zudem erfolgt in
neueren Arbeiten eine Fokussierung auf beziehungsspezifische Belastungsaspekte (z.B.
Wittmund et al. 2001; Jungbauer 2002; Bischkopf 2001).
1.1.4 Die Situation der Partner psychisch Kranker
Da im Rahmen dieser Diplomarbeit Partner depressiver und schizophrener Patienten
untersucht wurden, beschränkt sich die Darstellung des Forschungsstandes im
Folgenden auf diese Gruppe von Personen. Dabei werden die Partner der
Störungsgruppen zusammenfassend dargestellt, da es hier nicht um eine
Gegenüberstellung der Belastungssituationen geht. Neuere Untersuchungen zeigen, dass
das Belastungserleben der Partner psychisch Kranker weniger von der Art der
Erkrankung als vielmehr vom Grad der psychosozialen Beeinträchtigung und der
allgemeinen Lebensveränderung beeinflusst ist (Wittmund et al. 2002).
1.1.4.1 Partnerschaften psychisch Kranker
Die Lebenssituation von Ehe- und Lebenspartnern depressiver und schizophrener
Patienten hat in der Vergangenheit unterschiedlich starke Berücksichtigung in der
Forschung gefunden: Partnerschaften schizophrener Menschen wurden lange Zeit kaum
untersucht. Dies überrascht vor allem deshalb, weil die Situation der Herkunftsfamilien
schizophrener Patienten umfangreich untersucht wurde (Jungbauer 2002). Zur Frage,
warum die Partner schizophrener Menschen lange Zeit so stiefmütterlich von der
Forschung behandelt wurden, findet sich in der Literatur häufig die Begründung, dass,
vermutlich aufgrund des eher frühen Ersterkrankungsalters und der spezifischen
Beeinträchtigungen durch die Schizophrenie, die erkrankten Personen nur selten dazu in
der Lage seien, in langfristigen, partnerschaftlichen Beziehungen zu leben (Haberfellner
& Rittmannsberger 1994; Johnson 2000). Eine Reihe neuerer Untersuchungen zeigt

20
jedoch, dass ein zwar verhältnismäßig geringer, aber doch beachtlicher Prozentsatz
schizophrener Patienten in stabilen Partnerschaften lebt (Stromwall & Robinson 1998;
Kilian et al. 2001; Salokangas 1997; Schulze Moenking et al. 1996): In einer
katamnestischen Untersuchung von Schulze Moenking et al. (1996) lebten nach einem
Beobachtungszeitraum von acht Jahren immerhin etwa 20% der Befragten noch mit
dem Partner zusammen wie zu Beginn der Erhebung. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich
in einer finnischen Längsschnittstudie von Salokangas (1997): Zwar lebten, ebenso wie
in der o.g. Studie, fast die Hälfte der Patienten dauerhaft bei ihren Herkunftsfamilien,
aber auch hier führten ca. 26% der Befragten eine Ehe oder feste Lebensgemeinschaft.
In einer Untersuchung zur Lebenssituation schizophrener Patienten (N=307) fanden
Kilian et al. (2001) sogar einen Anteil von 32,9% der Studienteilnehmer, die zum
Befragungszeitpunkt in einer Ehe oder festen Partnerschaft lebten.
Übereinstimmend kommen zudem verschiedene Autoren zu dem Schluss, dass die
Gruppe der Patienten, die in einer langfristigen Partnerschaft leben, mehr positive
Veränderungen im Hinblick auf die Notwenigkeit psychiatrischer Behandlung und des
allgemeinen Funktionsniveaus erwarten lässt als die Vergleichsgruppen der allein oder
in der Herkunftsfamilie lebenden Patienten (Salokangas 1997; Schulze Moenking et al.
1996). Dies unterstreicht nach Jungbauer (2002) die Bedeutung der Partner im
Rehabilitationsprozess schizophrener Patienten und die Notwendigkeit, deren
spezifische Situation eingehender in der Forschung zu berücksichtigen. Zu erwähnen ist
an dieser Stelle jedoch auch der häufig genannte Kritikpunkt, dass es sich bei in
Partnerschaften lebenden schizophren Erkrankten möglicherweise von vornherein um
weniger durch die Erkrankung beeinträchtigte Personen handelt (z.B. Salokangas 1997).
Jungbauer kommt zu dem Schluss, dass Partnerschaften mit schizophrenen Patienten ein
modernes Phänomen sind, das durch die verbesserten Rehabilitations- und
Behandlungsmöglichkeiten überhaupt erst möglich geworden sei (Jungbauer 2002, S.
139). Ähnliches beschreiben Zaumseil & Leferink als ,,Modernisierung der
Schizophrenie" (Zaumseil & Leferink 1997).
Partnerschaften depressiver Patienten sind dagegen seit langem zentraler Bestandteil der
Forschungsbemühungen. Basis dafür boten empirische Befunde aus den 1970er und
1980er Jahren zum Zusammenhang von interpersonellen Faktoren und affektiven
Erkrankungen (Brown & Harris 1978; Paykel et al. 1969). Dabei standen jedoch mehr

21
die dyadischen Aspekte der Depression, z.B. das Vorhandensein spezifischer
Beziehungsmuster oder der Grad der Ehezufriedenheit im Vordergrund (Birtshnell
1991; Hell 1998, Hautzinger 1983).
Es zeigte sich, dass die partnerschaftlichen Beziehungen affektiv Erkrankter häufig
gekennzeichnet sind durch ein angespanntes bis zerrüttetes Eheleben, der Verlust
sozialer Kontakte, aber auch finanzielle Schwierigkeiten und emotionale Belastungen
wie Gefühle von Scham, Angst vor der Zukunft und sowie Enttäuschung über das
Desinteresse der depressiv erkrankten Partners belasten die Beziehung stark (Marneros
2004). Dabei scheinen affektive Störungen die Angehörigen stärker zu belasten als
durch andere psychiatrische Erkrankungen (Crowther 1985) oder chronische somatische
Leiden wie Rheuma und Herzerkrankungen (Bouras et al. 1986). Im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung beklagen die Partner depressiver Patienten zudem häufiger
partnerschaftliche Kommunikationsstörungen und Trennungsgedanken (Fiedler et al.
1998). In neueren Untersuchungen rückt deshalb auch die Belastung der Partner durch
die affektive Erkrankung vermehrt in den Mittelpunkt der Forschungsbemühungen.
In Bezug auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen sollen beispielhaft einige
Untersuchungen genannt werden, die sich speziell mit den Beeinträchtigungen der
Partner depressiver Patienten befassen. Coyne et al. (1987) fanden in ihrer
Untersuchung, dass für 40% der Partner depressiver Patienten ebenfalls eine
therapeutische Intervention notwenig wurde, und belegen eine höhere Prävalenz
depressiver Symptome bei diesen Partnern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.
Spangenberg und Theron (1999) zeigen zudem, dass, gemessen mit dem Beck-
Depressions-Inventar (BDI), über die Hälfte der Partner selbst im klinischen Sinne
depressiv waren. Wittmund et al. (2002) zeigen ein erhöhtes Depressionsrisiko bei
Partnern psychisch Erkrankter unabhängig von der Diagnose des Patienten. Diese
Studie belegt zum einen, dass die betroffenen Partner einer gesundheitlichen
Risikogruppe angehören. Zum anderen lässt sich daraus ableiten, dass für ein
Verständnis der Belastungssituationen von Partnern verstärkt die gesamte Lebens- und
Alltagssituation zu berücksichtigen ist.

22
1.1.4.2 Spezifische Belastungsaspekte der Partner
An der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universität Leipzig ist in den letzten
Jahren eingehend untersucht worden, wie sich das Zusammenleben mit einem psychisch
Kranken speziell auf den Partner auswirkt. Die Ergebnisse aus den qualitativen
Anteilen dieser Studien liefern eine detaillierte Sicht auf das Alltagserleben der
betroffenen Partner. Da es meines Wissens nach keine vergleichbar umfassende
qualitative Untersuchung der Lebenssituation von Partnern psychisch Kranker gibt,
beschränke ich mich im Folgenden auf die Darstellung dieser Arbeiten.
In einer Untersuchung von Bischkopf (2001), die sich im qualitativen Forschungsdesign
das Alltagserleben von 52 Partnern depressiver Patienten befasste, wird von den
Teilnehmern vor allem ein langfristiger und chronifizierender Erkrankungsverlauf und
die damit einhergehende Unvorhersehbarkeit der wechselnden Symptomatik als
belastend geschildert. Die lang anhaltende Erkrankung und verminderte Belastbarkeit
des Partners führen häufig zu verminderter Erwerbsfähigkeit. Damit verbunden ist für
die Partner die Sorge um die finanzielle Absicherung der Familie und der Verlust der
gemeinsamen Lebensperspektive. Die depressive Erkrankung führt zudem zu einer
Veränderung des partnerschaftlichen Rollengefüges und kann den Umgang der Partner
miteinander derart prägen, dass andere Themen wie Sexualität aus der Beziehung
gedrängt werden. Der damit einhergehende Verlust der ehelichen Intimität und
partnerschaftlichen Vertrautheit hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der
partnerschaftlichen Basis (Bischkopf 2001).
Hinzu kommt, dass bei langanhaltender oder wiederkehrender akuter Symptomatik und
Belastung die Partner psychisch Erkrankter auf Dauer an die Grenzen ihrer Kräfte und
auch ihrer Solidarität mit dem Erkrankten kommen. Die gemeinsame Lebensplanung
der Partner kann dadurch so bedroht erscheinen, dass eine Trennung vom Erkrankten in
Erwägung gezogen wird (Bischkopf et al. 2002; Jungbauer 2002).
Jungbauer unterscheidet in seiner qualitativen Untersuchung an 49 Partnern
schizophrener Patienten chronische und akute Belastungserfahrungen (Jungbauer 2002,
S. 107): Bei akuten Belastungserfahrungen unterscheidet er zwischen Zeiten akut-
psychotischer Erkrankungsschübe, die eine Kumulation praktischer und emotionaler

23
Anforderungen mit sich bringen, und einer persistierenden Negativsymptomatik, die
nach Jungbauer zu tiefgreifenden Veränderungen der Paarbeziehung führen kann
(Jungbauer 2002, S. 108). Bischkopf kommt in ihrer Untersuchung zu ähnlichen
Ergebnissen: Depressive Symptome und Suizidversuche oder ­gedanken lösen eine Art
,,Schockzustand" beim Partner aus (Bischkopf 2001, S.159). Ferner können
Daueranspannungen zu einem ,,Burn-out" und zur Demoralisierung führen. Hintergrund
derartiger langanhaltender Anspannungen sind etwa die Erwerbsunfähigkeit des
Patienten und die Ungewissheit hinsichtlich der Zukunftsplanung. Für das
professionelle Versorgungssystem und die Arbeit mit Angehörigen bedeutet dies, dass
die spezifische und jeweils aktuell empfundene Belastungssituation des Einzelnen
berücksichtigt und aufmerksam eruiert werden sollte (Jungbauer 2002).
Besonderer Bedeutung kommt auch der erlebten Verlusterfahrung in Bezug auf die
gemeinsame Lebensperspektive zu: ,,Während die psychische Erkrankung des Sohns
oder der Tochter für Eltern mit dem Verlust vieler Zukunftshoffnungen verbunden ist,
wird die psychische Erkrankung des Ehepartners häufig als Verlust der gelebten oder
erlebbaren Gegenwart empfunden" (Jungbauer et al. 2001, S. 106).
Im Hinblick auf die vielfältigen genannten Belastungsaspekte, die aus dem
Zusammenleben mit einem psychisch Kranken resultieren, kann die Situation der
Partner aufgrund psychologischer Modelle der Entstehung einer Depression
1
nach
Pitschel-Walz et al. als zumindest potenziell depressiogen angesehen werden (Pitschel-
Walz et al. 2003): Der soziale Rückzug des Patienten und der damit verbundene Verlust
gemeinsamer Alltagsgestaltung bei gleichzeitigen oftmals erfolglosen Bemühungen zur
Wiederherstellung der partnerschaftlichen Beziehung führen zu Gefühlen der
Hilflosigkeit und Insuffizienz. Der häufig beschriebene Rückzug aus sozialen
Beziehungen führt zu einem weiteren Verlust wichtiger personaler Ressourcen. Auf
Dauer kann dies zu einer erhöhten Vulnerabilität für eigene psychische Erkrankungen
führen. Pitschel-Walz et al. (2003) betonen, dass in diesen Fällen eine wichtige Instanz
der Unterstützung bei der Rehabilitation des erkrankten Partners wegbricht. Eine
Bestätigung dieser Aussage finden sowohl Jungbauer als auch Bischkopf: Vor allem im
Zusammenhang mit einer langjährigen Betreuungsleistung finden die Autoren sowohl
bei Partnern depressiver als auch schizophrener Patienten vor allem schwere seelische
1
z.B. Depressionsmodell von Hautzinger et al. 1989; Konzept der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman
1975; kognitionstheoretisches Modell nach Beck 1979; Verstärkerverlustmodell nach Lewinsohn 1974.

24
Erschöpfungszustände sowie depressive Reaktionen (Jungbauer 2002; Bischkopf 2001).
Die Autoren plädieren aufgrund dieser Ergebnisse für die stärkere Fokussierung der
praktischen und forschungstheoretischen Bemühungen auf partnerschaftsbezogene
Belastungssituationen und Interventionsmaßnahmen (Jungbauer et al. 2001).

25
1.2 Studien zum Unterstützungsbedarf der Angehörigen und
speziell der Partner psychisch Erkrankter
In einer Umfrage zum Informationsbedarf unter Mitgliedern einer österreichischen
Selbsthilfeorganisation (HPE) von Katschnig et al. (1997) gaben 93% der Befragten
,,mehr Informationen für Angehörige" und 83% ,,mehr Informationen für Patienten" als
Verbesserungsvorschläge an. Dabei war der Informationsbedarf am größten in den
Bereichen ,,Hilfreicher Umgang mit der Erkrankung", ,,Ursachen der Erkrankung",
,,medizinische Betreuung" und ,,Rückfallprävention". Görnitz fand in einer Befragung
von Angehörigen depressiver Patienten an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie in
München vergleichbare Ergebnisse: Über 80% der Befragten wünschten sich gezielte
Informationen über Rückfallprophylaxe und Akutsituationen (z.B. Suizidversuch)
(Görnitz 2002). Winefield & Harvey (1994) fanden, dass der Wunsch nach
Unterstützung bei Angehörigen über die reine Informationsvermittlung hinaus geht und
sowohl die eigene Unterstützung als auch die des Patienten umfasst: Die Angehörigen
in dieser Untersuchung äußerten zumeist einerseits den Wunsch nach verbesserter
medizinischer Betreuung und Rehabilitation des Patienten und andererseits nach
eigener Entlastung in Form von krankheitsbezogenen Informationen, therapeutischer
Betreuung oder praktischer Unterstützung (Urlaubsvertretung, Haushaltshilfe). Bereits
in einer frühen qualitativen Untersuchung von Krauss wurde dieser letztgenannte
Wunsch der Angehörigen nach eigener Entlastung deutlich (Krauss 1976): Die
Befragten äußerten häufig den Wunsch nach einer engen Vertrauensperson oder nach
freundschaftlichen Kontakten. Insgesamt kommt Bruns (1996) zu dem Schluss, dass
Unterstützungswünsche der Angehörigen bezogen auf ihre eigenen Bedürfnisse selten
geäußert werden. Fiedler et al. (1984) dokumentieren diesbezüglich eine interessante
Beobachtung: Im Rahmen einer Angehörigengruppe befragten sie die teilnehmenden
Angehörigen jeweils vor und nach den Treffen nach ihrem Unterstützungsbedarf.
Während zu Beginn der Treffen die Unterstützung des Patienten im Vordergrund stand,
änderte sich dies im Austausch mit anderen Betroffenen und die gegenseitige
Unterstützung der Angehörigen sowie persönliche Belange wurden als Grund für die
Teilnahme angegeben.

26
Zum Unterstützungsbedarf speziell der Partner depressiver und schizophrener Patienten
finden sich in die bereits zitierten qualitativen Untersuchungen weitere
Differenzierungen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Es zeigt sich, dass zu
verschiedenen Zeitpunkten im Erkrankungsverlauf unterschiedliche Hilfsangebote
gewünscht werden. Besonders zum Zeitpunkt der Ersterkrankung und in Phasen akuter
psychotischer Rückfälle wünschen sich die Partner vermehrt Informationsvermittlung
und Einbezug in die Behandlung des Patienten (Jungbauer et al. 2002). Im weiteren
Erkrankungsverlauf, der zum Teil chronische Spannungssituationen für die
Angehörigen darstellt, brauchen die Betroffenen entlastende Gespräche über
Möglichkeiten für den Umgang mit dem Patienten und über partnerschaftliche
Konfliktsituationen. Bei der Bewertung hilfreicher Aspekte von
Unterstützungsprogrammen wurden von den befragten Partnern zudem ,,Entspannungs-
und Erholungsmöglichkeiten" positiv bewertet (Jungbauer et al. 2002, Wittmund et al.
2001).
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Angehörige psychisch Kranker sich in
verschiedener Hinsicht als unterstützungsbedürftig wahrnehmen und dabei sowohl mehr
Hilfe für sich selbst als auch für den Patienten wünschen. In Bezug auf die Gestaltung
von Interventionsprogrammen für Partner ergibt sich daraus die Anforderung, vermehrt
mit den Angehörigen zusammen zu arbeiten und deren spezifische Bedürfnisse zu
berücksichtigen. Wittmund et al. (2001) fordern deshalb für die Zukunft die vermehrte
Zusammenarbeit im Trialog zwischen Betroffenen, Familien und Behandlern in der
psychiatrischen Versorgung. Welche Angebote für Angehörige bisher tatsächlich in der
psychiatrischen Versorgungslandschaft realisiert werden, wird im folgenden Abschnitt
dargestellt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832488567
ISBN (Paperback)
9783838688565
DOI
10.3239/9783832488567
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Osnabrück – Humanwissenschaften
Erscheinungsdatum
2005 (Juli)
Note
1,0
Schlagworte
angehörigenarbeit bedarfsanalyse qualitative forschungsansätze partner kranker caregiver
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Titel: Was bewegt Partner psychisch Kranker zur Teilnahme bzw. Ablehnung der Teilnahme an einem Interventionsprogramm und welche Aspekte spielen dabei eine Rolle?
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