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Moralbegründung vom Standpunkt der Gesellschaft

Morality, Normativity and Society von David Copp. Kritische Rekonstruktion, metaethische Analyse und Diskussion

©2004 Magisterarbeit 206 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Interesse an und die Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik haben zweifellos zugenommen. Diese Einschätzung äußert sich nicht zuletzt am Bedarf an anwendungsbezogenen ethischen Konzepten (sogenannten Bereichsethiken). Viele Autoren sprechen daher von einer „Renaissance der Ethik“ oder einem „Ethik-Boom“. Von dieser „praktischen Wende in der philosophischen Ethik“ zeugen eine kaum noch erfassbare Zahl an politikberatenden Fachgremien, Symposien, öffentlichen Debatten und eine mittlerweile schwer überschaubare Fach- und populärwissenschaftliche Literatur. Dieses große Interesse an ethischen Fragen wurde nicht zuletzt geweckt durch den Wunsch nach anwendungsbezogenen ‚Rezepturen’, mit denen sich neuartige Konfliktsituationen mit moralischer Dimension bzw. Normenkonflikte, wie sie für neuartige Technologien mit großer Tragweite für die gesamte Gesellschaft, aber unsicherer Prognose über die Risikoeinschätzung der jeweiligen Entscheidungskonsequenzen, symptomatisch sind, evaluieren oder gar auflösen lassen. Hohe Erwartungen werden seitens einer verunsicherten Bevölkerung an politikberatende Gremien und an die Philosophie herangetragen, die die Dimension von Normenkonflikten solide einschätzen und adäquate Handlungsempfehlungen machen sollen. Ethik wird in diesem Kontext nicht mehr als unzeitgemäße Verhaltensbeschränkung empfunden, sondern als gesellschaftliches Instrument zur Orientierung und Aufklärung, als „Ordnungsmacht“. Die Ergebnisse bleiben zumeist aber unbefriedigend und verblassen ohne theoretischen Hintergrund zur bloßen Feiertagsrhetorik. Vor allem in politischen Entscheidungsprozessen, ist die Erwartung an solide Begründungen der Entscheidungen enorm hoch. Daher muss Angewandte Ethik zwangsläufig „an den fundamental- und metaethischen Grundlagendiskurs zurückgebunden“ bleiben, um nicht nur als Etikett für einen oberflächlichen Konsens herhalten zu müssen. Andererseits aber, so Singer, tauge eine ethische Theorie nichts, die praktisch nicht anwendbar ist.
Gerade dieser Spagat zwischen fundierter ethischer Theorie und praktischer Anwendung beschäftigt zwangsläufig nicht nur Philosophen, sondern auch Sozialwissenschaftler. Dabei gehen viele Autoren von einer abgegrenzten Arbeitsteilung aus, wobei den Philosophen die theoretische Reflexion und den Sozialwissenschaften die empirische Forschung zugewiesen wird. Empirische Beiträge können jedoch zwangsläufig nur deskriptiv sein. Für eine Sozialwissenschaft und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8846
Wenner, Markus: Moralbegründung vom Standpunkt der Gesellschaft - Morality,
Normativity and Society von David Copp. Kritische Rekonstruktion, metaethische Analyse
und Diskussion
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Magisterarbeit, 2004
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

I
NHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung und Hinführung zum Thema
001
I.1 Kontext und Hinführung zum Thema
001
I.2 Ziel
der
Untersuchung
008
II. Metaethik und metaethische Krise
012
II.1 Vier
Aspekte
der
Metaethik
012
II.2 Metaethische
Positionen
016
II.3 Vorläufiges
Fazit
018
III. Auswege aus dem Begründungsproblem
021
III.1 Rationale
Ethik
021
III.1.1 Rationale Ethik und Spieltheorie
024
III.1.2 Unterschiedliche Anwendungsansprüche an
028
eine Rationale Ethik und ihre Probleme
III.1.2.1 Moralische & altruistische Präferenzen
030
III.1.2.2 TIT
FOR
TAT 033
III.1.2.3 Die Logik kollektiver Entscheidungen
035
III.1.2.4 Das
Trittbrettfahrerproblem 038
III.1.2.5 Aufweichung klassischer Rationalitätsstandards
039
III.2 Ethischer Holismus und Kohärentismus als alternatives
Begründungsprogramm
046
III.2.1 Definition und Typen von Holismus
046
III.2.2 Ethischer
Kohärentismus
052
IV. Akteurstheoretische Dimension der Moralbegründung
058
IV.1 Erklärung moralischer Handlungen:
Der methodologische Individualismus
060
IV.2 Erklärung moralischen Verhaltens:
Der methodologische Kollektivismus
062
IV.3 Fazit:Unzulänglichkeiten beider Ansätze
063

V. Handlungstheoretische Dimension der Moralbegründung
070
V.1 Konsequentialistische, Utilitaristische und
teleologische Moralbegründung
071
V.2 Kritik am Konsequentialismus und das
Subjektivismus-Objektivismus-Problem
074
V.3 Zum Motivationsproblem ­ Begründungsexternalismus
und ­internalismus
082
V.4
Fazit: Externalistische Begründung und Erklärung,
internalistische
Rechtfertigung
086
VI. Rationale Rekonstruktion von Morality, Normativity and Society
093
VI.1 Rekonstruktion auf sprachanalytischer Ebene ­
Die standard-based theory
094
VI.1.1
Ziel der standard-based theory
094
VI.1.2
Prämissen der standard-based theory
095
VI.1.3
Argumentation 098
VI.2 Rekonstruktion auf epistemo-ontologischer Ebene ­
Die society-centered theory
107
VI.2.1
Ziel der society-centered theory
107
VI.2.2
Prämissen der society-centered theory
110
VI.2.2.1
Der Gesellschaftsbegriff bei David Copp
110
VI.2.3 Argumentation für eine society-centered theory
117
VI.2.3.1
Die
Logik
der
Selektion
117
VI.2.3.2
Die
Logik
der
Aggregation
127
VI.2.3.3
Holistische
Elemente 131
VI.2.3.4
Vorläufiges
Fazit
137
VI.2.3.4.1
Funktionen der sensible middle position:
Das model principle und we-intentions
139
VI.2.3.4.2
Der
overall
account
143
VII. Diskussion, metaethische und normative Verortung
147
VII.1 Metaethische Verortung der standard-based theory
147

VII.1.1
Semantik
der
Moral
147
VII.1.2
Handlungsgründe
149
VII.1.3
Ontologie
der
Moral
150
VII.1.4 Erkenntnistheorie der Moral
151
VII.1.5
Vorläufiges
Fazit
151
VII.2 Kritik und (meta)ethische Verortung
der society centered theory
152
VII.2.1 Ontologie
der
Moral
153
VII.2.2 Handlungsgründe
im
Vergleich
155
VII.2.3 Weitere epistemologische und wissenschafts-
theoretische Anmerkungen
163
VII.2.4 Evaluation
170
VII.2.4.1 Zur
Objektivität
171
VII.2.4.2
Zur
Praktikalität
172
VII.2.4.3 Kritik am Naturalismus und Externalismus
174
VII.2.4.4 Kritik am Begründungsstandpunkt
176
VIII.
Schlussfolgerungen
180
VIII.1
Moralbegründung und Wir-Verständnis
180
VIII.2
Subjektiver und objektiver Begründungsstandpunkt
182
VIII.3
Morality, Normativity and Society aus sozial-
wissenschaftlicher Perspektive
185
Anmerkungen
188
Literatur

E
INLEITUNG
1
I. Einleitung
I.1 Kontext und Hinführung zum Thema
as Interesse an und die Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik haben
zweifellos zugenommen. Diese Einschätzung äußert sich nicht zuletzt am
Bedarf an anwendungsbezogenen ethischen Konzepten (sogenannten Bereichsethiken).
Viele Autoren sprechen daher von einer ,,Renaissance der Ethik"
1
oder einem ,,Ethik-
Boom"
2
. Von dieser ,,praktischen Wende in der philosophischen Ethik"
3
zeugen eine
kaum noch erfassbare Zahl an politikberatenden Fachgremien, Symposien, öffentlichen
Debatten und eine mittlerweile schwer überschaubare Fach- und
populärwissenschaftliche Literatur. Dieses große Interesse an ethischen Fragen wurde
nicht zuletzt geweckt durch den Wunsch nach anwendungsbezogenen ,Rezepturen', mit
denen sich neuartige Konfliktsituationen mit moralischer Dimension bzw.
Normenkonflikte
4
, wie sie für neuartige Technologien mit grosser Tragweite für die
gesamte Gesellschaft, aber unsicherer Prognose über die Risikoeinschätzung der
jeweiligen Entscheidungskonsequenzen, symptomatisch sind, evaluieren oder gar
auflösen lassen. Hohe Erwartungen werden seitens einer verunsicherten Bevölkerung an
politikberatende Gremien und an die Philosophie herangetragen, die die Dimension von
Normenkonflikten solide einschätzen und adäquate Handlungsempfehlungen machen
sollen
5
. Ethik wird in diesem Kontext nicht mehr als unzeitgemäße
Verhaltensbeschränkung empfunden, sondern als gesellschaftliches Instrument zur
Orientierung und Aufklärung, als ,,Ordnungsmacht"
6
. Die Ergebnisse bleiben zumeist
aber unbefriedigend und verblassen ohne theoretischen Hintergrund zur bloßen
Feiertagsrhetorik. Vor allem in politischen Entscheidungsprozessen, ist die Erwartung
an solide Begründungen
7
der Entscheidungen enorm hoch. Daher muss Angewandte
1
Horn, Karen: Eine Renaissance der Ethik ­ Frankfurter Buchmesse - Schwerpunktthema Wirtschaft und
Moral. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.10.1995
2
Leist, Anton: Angewandte Ethik zwischen theoretischem Anspruch und sozialer Funktion. In: DZPhil,
Nr. 46 (1998), S. 753
3
Ebd.
4
Siehe Anmerkung 1
5
Leist führt dieses Bedürfnis paradoxerweise auf den ,,'normativen Zusammenbruch[s]' früher
maßgeblicher Orientierungssysteme, vor allem von Religion und Politik" zurück (Leist 1998, S. 753).
6
Leist, Anton: Unordnung durch Ethik. In: Schweizer Monatshefte, Nr. 10 (2003), S. 39
7
Zum Verständnis des Begründungs- und Rechtfertigungsbegriffs innerhalb der vorliegenden Arbeit
siehe S. 3f.
D

E
INLEITUNG
2
Ethik zwangsläufig ,,an den fundamental- und metaethischen Grundlagendiskurs
zurückgebunden"
8
bleiben, um nicht nur als Etikett für einen oberflächlichen Konsens
herhalten zu müssen. Andererseits aber, so Singer, tauge eine ethische Theorie nichts,
die praktisch nicht anwendbar ist
9
.
Gerade dieser Spagat zwischen fundierter ethischer Theorie und praktischer
Anwendung beschäftigt zwangsläufig nicht nur Philosophen, sondern auch
Sozialwissenschaftler. Dabei gehen viele Autoren von einer abgegrenzten
Arbeitsteilung aus, wobei den Philosophen die theoretische Reflexion und den
Sozialwissenschaften die empirische Forschung zugewiesen wird
10
. Empirische
Beiträge können jedoch zwangsläufig nur deskriptiv sein. Für eine Sozialwissenschaft
und gerade für die empirisch-analytische Politikwissenschaft ist das zu wenig, reduziert
eine solche Arbeitsteilung sie auf bloße Einstellungserhebung. Die Politische
Philosophie muss sich aus ihrer Perspektive als Teildisziplin der Politikwissenschaft an
der Klärung der theoretischen Grundlagen beteiligen, weil moralische Aspekte und
Probleme für alle drei Dimensionen des Politischen Relevanz haben, auf der Polity, der
Politics und der Policy Ebene: Auf der Polity Ebene ergeben sich Fragen nach Kriterien
und Merkmalen von (moralisch) guten Institutionen und Verfahrensregeln. Die Politics
Dimension kann in moralischer Hinsicht auf faire Strukturen und Prozesse,
insbesondere auf ,moralische Tauglichkeit' des individuellen (politischen) Handelns
geprüft werden. Letztlich muss Politikwissenschaft auch die moralische Rechtfertigung
politischer Programme prüfen (Policy Dimension). Alle drei Dimensionen unterliegen
,,der ethischen Frage nach dem Gesollten und dem Verantwortbaren."
11
Die Debatte um Grundlagen und Ausgestaltung der (Angewandten) Ethik verdeutlicht
die Relevanz für die empirisch-analytisch orientierte Politikwissenschaft. Doch gemäß
einflussreicher Strömungen innerhalb dieses Forschungsparadigmas entbehren bislang
normativ-ethische Argumentationen jeglicher Präzision, Intersubjektivität und
8
Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph; Werner, Micha H. (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und
Weimar 2002, Vorwort, S. VII
9
Vgl.: Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1994 (2. Auflage), S. 16
10
Vgl.: Nunner-Winkler, Gertrud; Edelstein, Wolfgang: Einleitung. In: Edelstein, Wolfgang; Nunner-
Winkler, Gertrud: Moral im sozialen Kontext. Frankfurt am Main 2000, S. 7ff.
11
Sutor, Bernhard: Kleine politische Ethik. Opladen 1997, S. 27

E
INLEITUNG
3
Begründbarkeit
12
. Diese rationalen Kriterien des Rationalitätspostulats der Wissenschaft
sind aber als Minimalstandards aller wissenschaftlichen Disziplinen anerkannt und
notwendigerweise erforderlich, um die Politische Ethik auf ein wissenschaftliches
Fundament zu stellen und moralische Normen einer rationalen Begründung zuzuführen.
,,Falls die metaethische Diskussion zeigen sollte, daß es nicht möglich ist,
ethische Urteile präzise zu formulieren und rational zu begründen, kann die
Ethik nicht als wissenschaftlich gelten. Das bedeutete das Ende jedes
(rationalen) ethischen Diskurses."
13
Mit diesem Grundlagenproblem beschäftigt sich die Metaethik als Wissenschaftstheorie
verschiedener normativer Disziplinen, darunter auch die Politische Ethik. Metaethik
analysiert den sprachlogischen Status und ,,klärt die Voraussetzungen für die Gültigkeit
normativ-ethischer Aussagen und Systeme [...]" der normativen Ethik
14
und beschäftigt
sich mit der Begründung und Rechtfertigung moralischer Urteile. Sie ist zu
unterscheiden von der normativen Ethik, die Handlungsanweisungen auf der Grundlage
bestehender Wertvorstellungen gibt
15
. In den letzten Jahrzehnten haben sich einige
metaethische Positionen entwickelt, die sich zusammenfassend auf kognitivistische und
non-kognitivistische Theorien klassifizieren lassen
16
. Trotz der anhaltenden und
sicherlich fruchtbaren Diskussion, die diese gegensätzlichen Standpunkte
hervorgebracht haben, ließ sich das Problem der Begründbarkeit normativ-ethischer
Systeme und Argumentationen bisher nicht befriedigend lösen (siehe hierzu auch
Kapitel II.3)
17
.
12
Anmerkung 2
13
Diehl, Christiane; Hütig, Andreas: Über Grundpositionen und Probleme der Metaethik. In: Druwe,
Ulrich; Kunz, Volker (Hrsg.): Politische Gerechtigkeit. Opladen 1999, S. 16
14
Ebd., S. 15
15
In Anlehnung an Mackie werden im Rahmen dieser Arbeit ebenso die Begriffe Ethik erster Ordnung
analog zur normativen Ethik und Ethik zweiter Ordnung analog zur Metaethik gebraucht (Mackie, John
Leslie: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Stuttgart 1983 (2. durchgesehene
Auflage), S. 7 und Grewendorf, Günther; Meggle, Georg (Hrsg.): Sprache und Ethik. Zur Entwicklung
der Metaethik. Frankfurt am Main 1974).
16
Vgl. Diehl; Hütig, S. 19-27 und Kapitel II.1 der vorliegenden Analyse
17
Der Begriff der ,normativen Argumentation' wird analog zu den Begriffen ,moralisches Urteil' und
,moralische Überzeugung' gebraucht. Es handelt sich um Gedanken bzw. mentale Zustände, die der
jeweilige Träger in Hinblick auf die Bewertung einer Handlung für ,wahr' hält (vgl. Baumann, Peter:
Erkenntnistheorie. Stuttgart und Weimar 2002, S. 141-145).

E
INLEITUNG
4
Zwei Bedeutungsebenen von Begründung müssen im Kontext der Normenbegründung
unterschieden werden, i) eine semantische und ii) eine epistemologisch-ontologische
Dimension
18
. Die Diskussion um die ,richtige' Perspektive der Begründung
überschreitet hierbei schon die Wissenschaftstheorie bzw. bildet eine ausgeprägte
Schnittmenge zwischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Zum einen zielen die
Bemühungen der Erkenntnistheorie darauf ab, dem Ursprung bzw. der Quelle der
Erkenntnis nachzugehen (Wahrheitsproblem), zum anderen auf die Erforschung des
Verhältnisses zwischen erkennendem Mensch und erkannter Welt (Subjekt-Objekt-
Problem) und den daraus resultierenden Bedingungen des Erkennens
19
. Die folgenden
Abschnitte illustrieren zwei Dimensionen von Begründung und deren Umgang mit
diesen erkenntnistheoretischen Fragen:
i) Die semantische Ebene der Begründung bezieht sich auf die Untersuchung der
Bedeutung moralischer Urteile bzw. die Möglichkeit präziser Formulierung und
rationaler Begründung von Normen auf der Grundlage des Zweistufen-Modells der
Wissenschaftssprache nach Rudolf Carnap
20
und der Reformulierung normativer Sätze
als empirische oder analytische Sätze, die sich dann im Sinne einer wissenschaftlichen
Erklärung begründen lassen. Begründung wird also hier im Sinne einer
wissenschaftlich-kausalen Erklärung aufgefasst, da nur diese den Kriterien
wissenschaftlichen Arbeitens, bzw. dem Rationalitätspostualt der Wissenschaft, genügt
und somit wissenschaftliche Rationalität beanspruchen kann
21
. Diese Form der
Begründung wird im weiteren Verlauf der Arbeit als linearer Begründungstyp des
empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses bezeichnet
22
. Quelle der
Erkenntnis sind Propositionen bzw. Basissätze, die auf der Grundlage von
Sinneswahrnehmungen formuliert werden. Genese der Erkenntnis sind nur
Tatsachenwahrheiten, Sinneswahrnehmungen die Grundlage des Erfahrungswissens.
18
Vgl. Diehl; Hütig, S. 17
19
Vgl.: Prechtl, Peter: Begründung. In: Ders.; Burkard, Franz-Peter (Hrsg.): Metzler Philosophie-
Lexikon: Begriffe und Definitionen. Stuttgart und Weimar 1996, S. 63ff.
20
Anmerkung 3
21
Anmerkung 4
22
Vgl.: Kuhlmann, Wolfgang: Begründung. In: Düwell, Marcus et al. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart
und Weimar 2002, S. 315f.

E
INLEITUNG
5
Demnach wird von einer, dem menschlichen Bewußtsein unabhängigen Existenz einer
objektiven Außenwelt ausgegangen
23
.
ii) Die epistemisch-ontologische Dimension operiert mit einem erweiterten
Begründungs-begriff, der sich auf ,,Erkenntnis- oder Vernunftgründe"
24
bezieht. Im
Gegensatz zu den Tatsachenurteilen, wird den Vernunfturteilen, also rational
einsichtigen Zusammenhängen, eine größere bzw. vorrangige Bedeutung als Genese der
Erkenntnis eingeräumt. Hier stellen Tatsachenurteile sicherlich eine notwendige
Bedingung von Wahrheit dar, sie sind aber nicht hinreichend. Es bedürfe
erfahrungsunabhängiger Bedingungen objektiver Erkenntnis, die erst eine
Kategorisierung, Verknüpfung und Beurteilung der Tatsachen erlaube. Dies seien
Regeln und Verstandesbegriffe, die nicht subjektunabhängig konstruiert werden
könnten
25
.
Welche Rolle kann dieses Konzept zur Begründung moralischer Urteile spielen? Es
bezieht seine Stärke durch Abgrenzung von linearen Begründungen, die ,nur' auf der
Suche nach Wissen seien und deren alleinige Kriterien hierfür Sinneswahrnehmungen
und kausale Begründungszusammenhänge darstellen. Eine Begründung im linearen
Sinne stelle lediglich quid-factis Fragen, keine de-jure Fragen und missachte so eine
Trennung zwischen Entstehung einer Überzeugung und Bewertung bzw. Rechtfertigung
dieser Überzeugung
26
. Gerade im Bereich der moralischen Überzeugungen verkenne
eine lineare Begründung die normative Relevanz und könne auf diesem Wege die
klassischen Fragestellungen in diesem Bereich (,Was soll ich glauben?' und ,Was soll
ich tun?') nicht beantworten. Sie ignoriere die Güte von Begründungen
27
. Diese Form
der Begründung wird im weiteren Verlauf der Arbeit als epistemischer Begründungstyp
bezeichnet
28
.
Bartelborth koppelt den Wissensbegriff vom Rechtfertigungsbegriff ab und meint, dass
alle Elemente einer Rechtfertigung dem Subjekt intern sein müßten, d.h. sie müßten
dem Subjekt ,,kognitiv zugänglich sein". [...] Dabei ist ,kognitiv zugänglich' in dem
23
Vgl. Prechtl, S. 63ff.
24
Kutschera, Franz von: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin und New York 1982, S. 91
25
Vgl. Prechtl, S. 63ff.
26
Bartelborth, Thomas: Begründungsstrategien: ein Weg durch die analytische Erkenntnistheorie. Berlin
1996, S. 33-37
27
Vgl. ebd.
28
Vgl. ebd. S. 56

E
INLEITUNG
6
Sinne zu verstehen, dass es sich um semantische Informationen
(Hervh. i. Org.) handelt,
zu denen das Subjekt bewußten, dispositionellen oder einfachen inferentiellen Zugang
hat. Darunter sind wiederum die impliziten Überzeugungen, die wir uns im Prinzip ins
Bewußtsein rufen können, mitgemeint."
29
Für Bartelborth ist entscheidend, wie er
Beobachtungsüberzeugungen bewertet im Abgleich zu seinem Hintergrundwissen bzw.
Vernunftgründen und für wie zuverlässig er diese Annahmen oder
Beobachtungsüberzeugungen dann hält und nicht wie zuverlässig sie tatsächlich sind
30
.
Diese Auffassung von (moralischer) Erkenntnis ist, wie noch zu zeigen sein wird, mit
einer kohärentistische Begründungsstrategie vereinbar.
Den beiden Begründungsklassen liegt ein unterschiedlicher Begriff von Rationalität
zugrunde. Die bislang gemachten Erläuterungen sollen jedoch an dieser Stelle
ausreichen; das divergierende Verständnis von Rationalität wird in Kapitel V.4
nochmals aufgegriffen.
Unabhängig davon, was einzelne Konzepte unter Begründung verstehen, muss sich die
Güte einer Begründungsstrategie moralischer Urteile immer daran bemessen lassen, ob
sie zwei grundsätzliche Merkmale des Moralischen (bzw., um ontologische
Festlegungen zu umgehen, der moralischen Sprache), als Abgrenzung von
aussermoralischen Urteilen, in Einklang bringen kann
31
: Zum einen die practicality, die
einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Haben einer moralischen
Überzeugung und einer entsprechenden Motivation zum Handeln unterstellt. Zum
anderen die objectivity, die auf den prinzipiellen Charakter moralischer Urteile abzielt
und einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit des Urteils erhebt
32
. Die Begründung
moralischer Urteile bezieht sich also auf diese zwei Komponenten und implizit auf zwei
Teilprobleme der Begründung. Das eine Teilproblem berührt den Status moralischer
Urteile hinsichtlich ihrer sprachlichen Bedeutung, Verwendung und
wissenschaftstheoretischen Begründungsfähigkeit. Das andere Teilproblem resultiert
aus der Frage, wie sich die (vermeintlich) kategorische, handlungsleitende Kraft
29
Ebd., S. 83
30
Vgl. ebd., S. 92
31
Ein drittes Kriterium bezieht sich auf die Bewertung menschlichen Handelns, spielt aber in dieser
Hinführung zum Begründungsproblem nur eine untergeordnete Rolle (Vgl.: Hoerster, Norbert: Ethik und
Moral. In: Birnbacher, Dieter; Hoerster, Norbert: Texte zur Ethik. München 2000 (11. Auflage), S. 17).
32
Vgl.: Smith, Michael: Realism. In: Singer, Peter (Hrsg.): A companion to Metaethics. Oxford 1991, S.
399ff.

E
INLEITUNG
7
moralischer Urteile darstellen und rechtfertigen lässt. Beide Teilprobleme, also das
wissenschaftliche Begründungsproblem und die Lösung der praktischen Frage, lassen
sich nicht synchron lösen. Das ist das eigentliche Begründungsproblem. Entweder
lassen sich moralische Urteile in empirische oder analytische Sätze fassen und so einer
intersubjektiven Verwendung bzw. Überprüfung zuführen (dann fallen die normativen
Aspekte unter den Tisch und es kann bislang keine Aussage darüber gemacht, wie diese
Übersetzung die handlungsleitende Semantik beibehalten kann), oder der speziell
handlungsleitende Charakter normativer Sprache kann aufrecht erhalten werden (dann
fehlt es jedoch an der Fähigkeit zur ,Objektivierung' dieses Urteils)
33
. Wie noch zu
zeigen ist, kann bislang keine metaethische Position den Objektivitätsanspruch und die
normativen, handlungsmotivierenden Aspekte moralischer Urteile in Einklang bringen.
Lediglich zwei der mannigfaltigen Konzepte innerhalb der Metaethik scheinen
fruchtbare Beiträge zur Problembewältigung beitragen zu können:
i) Zum einen die Rationale Ethik. Sie lässt sich innerhalb der strukturell-
individualistischen Theorienbildung subsummieren und basiert somit auf Annahmen der
Rational Choice-Theorie. Deren Hauptprämisse ist ein methodologischer
Individualismus
34
, d.h alle kollektiven Phänomene werden auf individuelle Handlungen
zurückgeführt. Die klassische Rational Choice Theorie modelliert ideale
Wahlhandlungen, d.h. das Individuum wählt auf der Grundlage einer Präferenzordnung
stets nutzenmaximierend. Die Rationale Ethik möchte zeigen, dass moralisches
Verhalten auf das Eigeninteresse zurückggeführt werden kann
35
.
ii) Zum anderen kohärentistische Erklärungsansätze. Erste Überlegungen zum
Kohärentismus wurden bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts im Wiener
Kreis diskutiert
36
. Gemäß der Kohärenztheorie ist eine Überzeugung genau dann
begründet, wenn sie Element eines maximal kohärenten Systems von (moralischen und
33
Leist, Anton: Die gute Handlung. Berlin 2000, S. 61-64
34
Vgl. Kapitel III.1 und IV.1
35
Vgl.: Burth, Hans-Peter; Druwe, Ulrich: Rationalität und Moralität. In: Kunz, Volker; Druwe, Ulrich
(Hrsg.): Rational Choice in der Politikwissenschaft ­ Grundlagen und Anwendungen. Opladen 1994, S.
158-166
36
Vgl.: Schlick, Moritz: Über das Fundament der Erkenntnis. In: Erkenntnis, Nr. 4 (1934), S. 86

E
INLEITUNG
8
amoralischen) Überzeugungen ist
37
. Der Name Kohärenztheorie gibt bereits Aufschluss
hinsichtlich der Struktur von Begründungsszusammenhängen. Diese ist eben ein
kohärentes Überzeugungsnetz als Begründungskriterium und nicht, wie in der
empirischen Wissenschaft vorherrschend, unilinear und fundamentalistisch
38
.
Hauptgegenstand der vorliegenden Magisterarbeit ist eine kritische
Rekonstruktion
39
der Begründungstheorie normativ-ethischer Aussagen von David
Copp
40
. Ein weiteres Ziel ist es, die Begründungsleistung von Morality, Normativity
and Society auf der Basis des empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses zu
evaluieren und festzustellen, ob Copp die schwierigen Probleme, die in der
metaethischen Analyse gewahr werden, zu bewältigen. Hierbei bedient er sich explizit
einer modifizierten Fassung der Rationalen Ethik und (implizit) kohärentistischen
Begründungsargumenten. Um Copps Begründungstheorie jedoch verorten und kritisch
einschätzen zu können rekonstruiert die Analyse zuerst die wichtigsten Aspekte der
Metaethik (Kapitel II.-V.). Die vorliegende Magisterarbeit gliedert sich in drei Teile:
Metaethische Grundlagen, rationale Rekonstruktion und abschließende Diskussion.
I.2 Ziel der Untersuchung
Die Analyse verfolgt folgende Ziele:
1. Eine rationale Rekonstruktion und Systematisierung der Begründungstheorie
normativ-ethischer Aussagen von David Copp.
2. Der Versuch einer Verortung seiner Theorie innerhalb der metaethischen und
normativen Positionen.
3. Die Erläuterung seines Moral- und Gesellschaftsverständnisses und Analyse der
Beziehung zwischen Moral und Gesellschaft und
37
Vgl.: Nida-Rümelin, Julian: Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen,
Bereiche. In: Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.): Angewandte Ethik ­ Die Bereichsethiken und ihre
theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart 1996, S. 40-42
38
Vgl. Bartelborth, S. 108-111
39
Siehe zum Begriff der Rekonstruktion Kapitel II.2
40
Copp, David: Morality, Normativity and Society. New York und Oxford 2001 (Paperback-Version),
Erstveröffentlichung: New York und Oxford 1995

E
INLEITUNG
9
4. der Versuch des Nachweises kohärentistischer Begründungselemente und
solcher einer Rationalen Ethik, sowie eine Evaluation der Begründungs- und
Rechtfertigungsleistung.
Zu 1) Skizzenhaft soll an dieser Stelle erläutert werden, was mit einer rationalen
Rekonstruktion gemeint ist. Eine rationale Rekonstruktion ist ein wissenschaftliches,
sprachlogisches Instrument zur Literaturanalyse, dass den o.g. Kriterien des
Rationalitätspostulats entspricht
41
. Sie ist ein Verfahren innerhalb des empirisch-
analytischen Wissenschaftskonzepts, also auch einer empirisch-analytisch orientierten
Philosophie bzw. Politischen Philosophie und basiert auf dem Zwei-Stufen-Konzept der
Wissenschaftssprache. Zu rekonstruieren bedeutet, einen Text rational, stringent und
logisch widerspruchsfrei darzustellen. Eine Rekonstruktion muss die Prinzipien der (1)
Similarität, der (2) Präzision und der (3) Konsistenz berücksichtigen
42
. Prinzip (1)
fordert, dass die Rekonstruktion den tatsächlichen Absichten und Grundideen des
rekonstruierten Autors enstpricht; es ist eine grundsätzliche Adäquatheitsbedingung. (2)
verlangt die Darstellung des Textes in präziser Sprache, d.h. in den
Erfahrungswissenschaften stets eine Verwendung empirischer oder analytischer
Begriffe. (3) sieht eine systematische und logisch widerspruchsfreie Ordnung der
Prämissen und Argumente vor. Dabei werden die Prämissen bzw. Voraussetzungen
deutlich von den Argumenten abgegrenzt. Aus den Prämissen muss das Ziel der
Argumentation logisch (d.h deduktiv) ableitbar sein
43
. Die Deduktion ist der logisch
korrekte Schluss vom Allgemeinen auf das Spezielle
44
.
Das Ziel ist es, einen Text systematisch aufzubereiten und ihn als analytisch gültiges
Modell oder empirisch überprüfbare Hypothese zu rekonstruieren. ,,Die Rekonstruktion
belegt, daß ein Text gültig (logische Strktur) ist, d.h. widerspruchsfrei."
45
Zu 2) Copps Theorie erhebt den Anpruch, unterschiedliche metaethische und
erkenntistheoretische Positionen und einige ihrer spezifischen Merkmale
41
Vgl.: Druwe, Ulrich: Politische Theorie. Neuried 1995 (2. Auflage), S. 57
42
Vgl. ebd., S. 57-61
43
Vgl. ebd.
44
Vgl.: Chalmers, Alan F.: Wege der Wissenschaft ­ Einführung in die Wissenschaftstheorie. Berlin u.a.
2001 (5. Auflage), S. 35-37 und S. 46-49
45
Druwe 1995, S. 59

E
INLEITUNG
10
berücksichtigen zu können
46
. Damit könnte sie eher einen Ausweg aus der
metaethischen Krise (im Sinne des Begründungsproblems) finden, und, auf
wissenschaftstheoretischer Ebene, im Sinne Poppers in höherem Maße Falsifizierungen
standhalten
47
. Die vorliegende Arbeit versucht eine Standortbestimmung und bemüht
sich, Copps Ansatz in eine oder mehrere metaethische Standpunkte, die in Kapitel II.1
skizzenhaft vorgestellt werden, zu verorten. Er selbst ist der Auffassung, einen
moralischen Realismus zu vertreten
48
. Was das heißt, wird in Kapitel II näher erläutert,
ob seine Begründungstheorie wirklich einen moralischen Realismus unterstützt, stellt
die vorliegende Magisterarbeit in Frage. Im Zuge der Diskussion kann hierfür ein
Nachweis erbracht werden.
Zu 3) David Copp geht, wie in Kapitel VI.2 gezeigt wird, von einer besonderen
Beziehung zwischen Gesellschaft und Moral aus. Gesellschaft profitiert nicht nur von
moralischen Normen, sie ist auch ihre Begründungsinstanz. Die Analyse möchte diese
vermeintlich notwendige Beziehung nachzeichnen und die zentralen Begriffe ,Moral'
und ,Gesellschaft' so einer präzisen Definition zuführen. Weiter wird der
Begründungsprozess qua Gesellschaft rekonstruiert und einer kritischen Prüfung
unterzogen.
Zu 4) Da die vorliegende Magisterarbeit sich vorrangig als wissenschaftstheoretische
Analyse
49
versteht und den untersuchten Ansatz von Copp in erster Linie unter
wissenschaftstheoretischen Kriterien kritisch untersucht, orientiert sie sich im weiteren
Verlauf insbesondere an einer linearen Begründung, dennoch ist, wie bereits erwähnt,
bei einer Untersuchung ethischer Konzepte auch die erkenntnistheoretische Dimension
stets von Relevanz und stellt ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Tauglichkeit
dar. Die oben gemachte Unterscheidung wird daher sinnigerweise beibehalten und an
entsprechender Stelle das jeweilige Begründungsverständnis angezeigt. Eine weitere
sichtbare Differenzierung ermöglicht eine nominal-eingeführte, nicht-synonyme
Verwendung der Begriffe ,Begründung' und ,Rechtfertigung'. Begründung bezieht sich
46
Vgl. Copp 2001, S. 4
47
Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Hamburg 1975, S. 285
48
Vgl. Copp 2001, S. 7
49
Im Sinne des Zwei-Stufen-Konzepts der Wissenschaftssprache.

E
INLEITUNG
11
auf eine lineare Begründung, die Rechtfertigung wird als epistemischer
Begründungstypus eingeführt. Die vorliegende Arbeit fragt vor allem nach den
Strategien und der Potenz des Ansatzes hinsichtlich der Begründung. Sie rekonstruiert
und analysiert die Theorie auf der Grundlage des empirisch-analytischen
Wissenschaftsprogramms. Im Speziellen versucht sie Aufschluss darüber zu geben,
welche Anteile der hier vorgestellten Theorie den Annahmen einer Rationalen Ethik
und/oder einer kohärentistischen Begründung entsprechen und wie diese Strategien im
Begründungskontext zu bewerten sind.
Zum Schluss der Einleitung muss noch auf eine besondere Rekonstruktionsanlage in
Kapitel VI.2 aufmerksam gemacht werden. Hier wird die normative
Begründungskomponente von Copp, die society-centered theory, anhand des
Grundmodells sozialwissenschaftlicher Erklärungen
50
rekonstruiert. Dabei dient dieses
Schema in dieser Verwendung nicht wie üblich als Erklärung von empirischen
Phänomenen, sondern als Verfahren zur analytischen Reformulierung und
Systematisierung der eigentlichen Begründungstheorie. Es wird als metaethisches
Instrument zweckentfremdet, das moralische Prädikate in analytische Prädikate
übersetzt
51
. Vor allem, um die komplexe Beziehung zwischen Individuum und
Gesellschaft bzw. individuellen Interessen und Gruppeninteressen zu systematisieren
und zu erklären kann diese Anlage der gesamten Analyse gute Dienste leisten. Weiter
kann implizit mit diesem Instrument ein heuristischer Anspruch an Copp formuliert
werden: Die Reformulierung der Theorie als analytisches Modell belegt die Stringenz
und logische Argumentation. Das Explanandum muss logisch widerspruchsfrei aus den
gesetzten Prämissen deduzierbar sein. Nur dann ließe sich von einem gültigen Modell
sprechen und (zumindest) einer wissenschaftlichen Begründung (im Sinn einer
Erklärung) wäre Genüge getan.
50
Anmerkung 5
51
Vgl. Burth; Druwe, S. 167

M
ETAETHIK
12
II. Metaethik und metaethische Krise
ls Metaethik bezeichnet man in erster Linie den wissenschaftlichen Umgang mit
moralischen Urteilen und Überzeugungen. Metaethik versucht vorrangig, die
präzise Bedeutung normativer Begriffe und Sätze zu klären und so Normen dem
wissenschaftlichen Diskurs zugänglich zu machen (Klärung des Bedeutungsproblems)
und ihre Wahrheitsfähigkeit (in Hinblick auf eine Begründung) und Gültigkeit (in
Hinblick auf eine Rechtfertigung) zu beurteilen. Damit ist die Metaethik die dritte
Disziplin innerhalb der Ethik bzw. der analytischen Philosophie neben der deskriptiven
Ethik, die selbst keine Wertungen im Sinne einer normativen Moralphilosophie
vornimmt und sich mit der faktischen Geltung von Werturteilen und deren empirischen
Erhebung beschäftigt sowie der normativen Ethik, die moralische Urteile formuliert
52
.
Ähnlich wie die deskriptive Ethik ist die Metaethik normativ neutral
53
. Ihre
Hauptaufgabe ist die ,,Ausarbeitung einer Theorie der formalen Aspekte moralischer
Urteile."
54
II.1 Vier Aspekte der Metaethik
Scarano identifiziert vier nicht aufeinander reduzierbare aber dennoch
zusammenhängende Untersuchungsaspekte moralischer Urteile und daraus resultierende
Teildisziplinen der Metaethik
55
.
i)
Die metaethische Semantik, die sich mit der Bedeutung (moral-)sprachlicher
Äußerungen beschäftigt. Geklärt werden vor allem Fragen der Bedeutung
und Interpretation moralischer Äußerungen
56
. Grob werden drei
metaethische Richtungen differenziert. Jede behauptet für sich, die
Eigenheiten moralischer Äußerungen ausreichend durch einen einzigen
52
Vgl. Hoerster 2000, S. 10; einige Autoren unterlassen eine Untergliederung in Teildisziplinen der Ethik
unter Verweis auf die Redundanz dieser Einteilung (Vgl. Leist 2000, S. 55).
53
Vgl.: Frankena, William K.: Analytische Ethik ­ Eine Einführung. München 1972, S. 114; in vielen
wissenschaftlichen Abhandlungen über die Ethik verschwimmen die Grenzen zwischen normativer und
metaethischer Argumentation. Da Metaethik vorrangig als Disziplin im Rahmen des empirisch-
analytischen Wissenschaftsprogramms praktiziert wird, betrifft diese Kritik an der vermeintlichen
Neutralität der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fundamente dieses Programms ebenso die
Metaethik.
54
Scarano, Nico: Moralische Überzeugungen ­ Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral.
Paderborn 2001, S. 11
55
Vgl. ebd., S. 11-17
56
Vgl. ebd., S. 11
A

M
ETAETHIK
13
Aspekt erfassen zu können
57
: Entsprechend den metaethischen
Deskriptivisten haben moralische Urteile eine beschreibende Bedeutung.
Hier muss weiter unterschieden werden in naturalistische und nicht-
naturalistische Deskriptivisten. Naturalistische De-skriptivisten unterstellen,
dass moralische Urteile mit aussermoralischen Begriffen analysiert und
beschrieben werden können
58
. Nicht-naturalistische Deskriptivisten
verstehen moralische Urteile als deskriptive Urteile sui generis, die sich
keinesfalls auf nicht-moralische Begriffe reduzieren ließen
59
.
Metaethische Emotivisten schreiben moralischen Urteilen expressive
Bedeutung zu. Jenseits jeglicher Beschreibungsfähigkeit hängen moralische
Urteile stets mit ,,affektiv getönten Einstellungen"
60
zusammen. Dabei
handelt es sich nicht strikt um nicht-verallgemeinerungsfähige Zustände, da
sie sich von üblichen subjektiven emotionalen Zuständen unterscheiden und
Reflexion beinhalten
61
.
Metaethische Präskriptivisten betonen die appelative und handlungsleitende
Funktion moralischer Äußerungen
62
.
ii)
Untersuchungen im Bereich der Philosophie des Geistes, die eine anhaltende
Fixierung auf sprachanalytische Untersuchungen der Eigentümlichkeiten
moralischer Sprache ablösten. Mentale Zustände, denen moralische
Äußerungen zugrunde liegen, treten nun in den Fokus der Metaethik. Dieser
Zweig interessiert sich vor allem für bewusstseins- und
intentionalitätstheoretische Fragen und fokussiert seine Bemühungen auf die
Schnittstelle zwischen Moraltheorie und Handlungstheorie
63
. Dieser Aspekt
der Moral bezieht sich auf die bereits angesprochene Frage der Motivation
für moralisches Handeln, die in der Internalismus-Externalismus-Debatte
diskutiert wird
64
.
57
Vgl.: Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik. Berlin und New York 2003, S. 335f.
58
Vgl. ebd., S. 337-341
59
Vgl. ebd., S. 341-344
60
Ebd., S. 345
61
Vgl. ebd., S. 344-348
62
Scarano, Nico: Metaethik ­ ein systematischer Überblick. In: Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph;
Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und Weimar 2002a, S. 29, sowie, Birnbacher 2003,
S. 348f.
63
Vgl. ebd., S. 29
64
Vgl. Kapitel V.3

M
ETAETHIK
14
iii)
Die Ontologie der Moral, der es um die Klärung des Status' und den
Nachweis der Existenz moralischer Tatsachen geht. Wollen moralische
Urteile Gültigkeit haben bzw. unterstellt man ihnen Wahrheitswert, müssen
sich diese Urteile in Bezug auf moralische Tatsachen begründen und
rechtfertigen lassen
65
.
Realistische Positionen behaupten die Existenz moralischer Tatsachen.
Moralische Aussagen korrespondierten mit diesen (wie auch immer
gearteten) moralischen Entitäten. Auch hier lässt sich wiederholt eine
Differenzierung in naturalistische (oder reduktive) und nicht-naturalistische
(nicht-reduktive) Positionen vornehmen, die der semantischen Klassifikation
entsprechen muss. Naturalistische Realisten reduzieren moralische Entitäten
in empirisch vorfindbare bzw. prüfbare Tatsachen oder metaphysische
Entitäten. Nicht-naturalistische Realisten gehen von moralischen Tatsachen
sui generis aus
66
. Hier wäre beispielsweise Kants Sittengesetz zu verorten.
Moralische Skeptizisten bezweifeln sowohl die Existenz moralischer
Tatsachen als auch die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile bzw.
moralischer Sätze.
Der Terminus des ,metaethischen Relativismus' wird oftmals äquivalent
zum Skeptizismus gebraucht
67
. Sofern sich eine starke Begründung bzw.
Rechtfertigung und ergo eine Objektivierung moralischer Prinzipien als
unmöglich erweist, erhält ein moralischer Relativismus bzgl. moralischer
Inhalte viel Raum. Begründung und Relativismus hängen also unmittelbar
zusammen
68
. Dennoch soll der Ausdruck Relativismus nicht mit
Skeptizismus gleichgesetzt, sondern eher synonym mit dem Begriff des
moralischen Pluralismus verwendet werden. Relativisten begrenzen ihre
Begründungsansprüche. Sie schränken so die empirische Geltung als auch
die normative Gültigkeit moralischer Urteile ein. Doch wird die
Wahrheitsfähigkeit solcher Urteile nicht per se in Frage gestellt.
65
Vgl. Scarano 2002a, S. 31, sowie Scarano, Nico: Motivation. In: Düwell, Marcus; Hübenthal,
Christoph; Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und Weimar 2002b, S. 13ff.
66
Vgl. Birnbacher 2003, S. 358
67
Vgl.: Wolf, Jean-Claude; Schaber, Peter: Analytische Moralphilosophie. Freiburg i. Brsg. und
München. 1998, S. 20f.
68
Vgl. ebd.

M
ETAETHIK
15
iv)
Die moralische Epistemologie, die die Möglichkeiten der Wahrheit
moralischer Urteile untersucht. Sie beschäftigt sich mit Fragen der
,,Erkennbarkeit moralischer [...] Entitäten und auf die zu ihrer Erkenntnis
führenden Erkenntnismethoden."
69
Es liegt auf der Hand, dass solche
Untersuchungen des moralischen Wissens nicht unabhängig vom
sprachlichen Gebrauch und ontologischen Status moralischer Urteile
vollzogen werden können. Die moralische Epistemologie interessiert sich für
die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile im Sinne der Begründung
moralischer Sätze und für Rechtfertigungen im Sinne epistemischer
Begründungen. Kognitivistische Theorien werden hier nicht nur, wie üblich,
als semantische Theorien über den Status moralischer Urteile verstanden
(kognitivistische Positionen korrespondieren mit einem metaethischen
Deskriptivismus), sondern (notwendigerweise) auch als epistemologische, da
die Untersuchung der Wahrheitsfähigkeit moralischer Sätze den Prozess der
Erkenntnis und die Methoden des Erkenntnisgewinns voraussetzt
70
.
Kognitivisten gehen von der Wahrheitsfähigkeit moralischer Sätze aus. Non-
Kognitivisten interpretieren moralische Sätze als nicht deskriptiv und werten
sie als nicht wahrheitsfähig. Solcherlei Sätze drückten entweder subjektive
Emotionen und Einstellungen aus (Emotivismus) oder hätten appelativen
Charakter (Präskriptivismus)
71
. Da es ein Anliegen der analytischen
(Politischen) Philosophie ist, moralische Normen wissenschaftlich zu
begründen und zu rechtfertigen, tun sie dies immer auf der Grundlage eines
begründungsmethodischen Paradigmas. Hier wird die Unterscheidung in
fundamentalistische und kohärentistische Begründung eingeführt, die in
Kapitel II.2.2 näher erläutert wird. Kognitivistische Positionen können auf
beiden wissenschaftstheoretischen Fundamenten operieren.
Je nach Konstellation der vier Aspekte können alle metaethischen Entwicklungslinien
bzw. Positionen daraus abgeleitet, ihre wesentlichen Merkmale und Terminologie
bestimmt und voneinander abgegrenzt werden. Diese Analyse dient einer möglichst
69
Birnbacher 2003, S. 354
70
Vgl. ebd., S. 354
71
Vgl. Diehl; Hütig, S. 24ff.

M
ETAETHIK
16
verallgemeinernden Darstellung metaethischen Räsonierens. Da aber die
unterschiedlichen metaethischen Analyseebenen notwendigerweise in einem engen
Zusammenhang stehen, kann es ,,de facto nur ,realistische Kognitivisten' und
,irrealistische Nonkognitivisten'"
72
geben. Die Bezeichnung Kognitivismus, z.B.
bezieht sich demnach nicht nur auf eine semantische, sondern implizit auch auf eine
ontologische und erkenntnistheoretische Theorie. Im späteren Verlauf dienen die vier
Aspekte als hilfreiches Instrument zur metaethischen Verortung von Copps
Begründungstheorie.
II.2 Metaethische Positionen
Realistische Positionen, also Theorien, die eine Verknüpfung aus einer kognitiv-
deskriptiven Moralsemantik und einer positiven Ontologie der Moral voraussetzen,
werden grob aufgeschlüsselt in Naturalismus und Intuitionismus. Als kritische
Reaktionen auf diese beiden theoretischen Standpunkte manifestierten sich Anfang des
20. Jahrhunderts zahlreiche Einwände, die fortan unter dem Etikett des Irrealismus oder
Antirealismus (bzw. Non-Kognitivismus) firmieren
73
. Nachfolgend können die
einzelnen Denkschulen nur knapp bzgl. ihrer Kernthesen und den jeweiligen
Hauptproblemen dargestellt werden. Dabei wird vor allem der semantische und der
erkenntnistheoretisch-ontologische Aspekt moralischer Urteile berücksichtigt. Der
motivationale Aspekt erfährt in Kapitel V. weitere Beachtung.
Naturalismus
Naturalisten behaupten, dass moralische ,Tatsachen' entweder mit nicht-moralischen
identisch seien oder durch solche konstituiert würden. Für den metaethischen
Naturalismus gibt es zwar demnach keine genuin moralischen Tatsachen, er unterstellt
aber auf sprachanalytischer Ebene eine Übereinstimmung zwischen normativen und
empirischen Begriffen (also einen naturalistischen Deskriptivismus und einen
erkenntnistheoretischen Kognitivismus). Normative Begriffe seien in empirische
übersetzbar und so auf ihre Wahrheitsfähigkeit hin überprüfbar. Naturalistische
Theorien werden auch als Reduktionstheorien bezeichnet, da sie normative auf nicht-
72
Ebd., S. 20
73
Vgl. ebd., S. 21

M
ETAETHIK
17
normative Begriffe, also empirische oder analytische Begriffe reduzieren
74
. Implizit
behauptet der Naturalismus somit eine ontologische Nicht-Autonomie der Moral.
Intuitionismus (= Non-Naturalisten)
Moralische Eigenschaften sind im Sinne des Intuitionisten nicht in nicht-moralische
Eigenschaften reduzierbar. Nach Meinung des Intuitionismus gibt es spezifisch
moralische Eigenschaften sui generis, die evident seien und erkenntnistheoretisch über
einen moral sense erfahrbar würden (nicht-naturalistischer Realismus). Damit seien
diese nicht bewusst-seinsunabhängig und es müsse eine entsprechend sensibilisierte
Person vorausgesetzt werden. Tatsachen seien eben auch solche Entitäten, die nicht
physikalisch-empirischer Natur sind. ,,Wahrheit bzgl. ethischer Normen liegt in der
Erkenntnis begründet und nicht in (empirischer) Wissenschaft."
75
Intuitionisten
verweisen darauf, dass moralische Intuitionen evident seien und unmittelbar
einleuchteten. So gestalteten sich normative Sätze als Behauptungssätze und seien
wahrheits- bzw. ,falschheitsfähig' (nicht-naturalistischer Deskriptivismus).
Irrealismus bzw. Non-Kognitivismus
Entsprechend einer skeptizistischen Haltung sind moralische Urteile nicht
wahrheitsfähig. Weder gäbe es objektive moralische Sachverhalte, die in irgendeiner
Weise erfahrbar und nachprüfbar seien noch könnten moralische Sätze durch
Übersetzungen wahrheitsfähig gemacht werden. Obwohl moralische Urteile die
grammatikalische Form von Behauptungssätzen hätten, erfüllten sie keine behauptende
Funktion. Moral bliebe wissenschaftlich nicht begründbar und erkenntnistheoretisch
nicht rechtfertigungsfähig
76
. Moral wird in den Bereich der Metaphysik verbannt.
Moralische Äußerungen spiegelten lediglich Gefühle und Einstellungen wider, so Ayer.
Nach Mackie könne man sowieso nur bedingt von moralischen Tatsachen sprechen, da
man gegenüber gängigen, empirisch prüfbaren Tatsachen indifferent bleiben könne,
doch moralische Äußerungen unsere Handlungsweise gerade verändern wollten
77
. Sie
74
Vgl.: Morscher, Edgar: Kognitivismus/Nonkognitivismus. In: Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph;
Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und Weimar 2002, S. 39
75
Vgl. Diehl; Hütig, S. 24
76
Vgl. Birnbacher 2003, S. 112-114 und S. 130-134
77
Vgl. Mackie, S. 38-40

M
ETAETHIK
18
hätten, mit Hare gesprochen, präskriptiven Charakter. Mackie beharrt also auf einer
Differenzierung zwischen Fakten und Werten.
II.3 Vorläufiges Fazit
In Kapitel I.1 ist das Begründungsproblem hinreichend erläutert worden. Streng
genommen muss eine adäquate Moralbegründung alle o.g. vier Aspekte
berücksichtigen
78
. Dies erweist sich als ein Problem im Umgang mit allen Normen und
Wertungen, im besonderen jedoch mit moralischen Normen, da diese den Anspruch auf
Universalität (objectivity) und Kategorialität (practicality) behaupten bzw. diese
Kriterien erfüllt sein sollten, damit von begründeten moralischen Normen gesprochen
werden kann. Es erweist sich als das Kernproblem der Moralbegründung diese beiden
wichtigen Aspekte in einer Begründungstheorie zu komplementieren.
Naturalistische Theorien behaupten eine Äquivalenz zwischen normativen und nicht-
normativen Sätzen, die analytisch gesetzt ist. Damit verschiebe sich jedoch, so Diehl
und Hütig, das Problem der Moralbegründung auf die Begründung der gewählten
definitorischen Gleichsetzung
79
. Diese Definition wiederum scheitert an einer
intersubjektiven Begründung und Rechtfertigung. Ausserdem könnten die Naturalisten
das genuin Moralische niemals hinreichend erfassen und verfehlten daher ,,gleichsam
den Witz der Moral."
80
Dieses Problem wird im Zusammenhang mit einer
konsequentialistischen bzw. externalistischen Moralbegründung in Kapitel V. nochmals
aufgegriffen und vertieft. Hier wird ein weiterer Standardeinwand gegen den
Naturalismus vorgestellt, der sich auf die Sein-Sollen-Problematik bezieht. In diesem
Zusammenhang wird diskutiert, ob und inwiefern ein Schluss von Ist-Aussagen auf
Sollens-Aussagen logisch möglich bzw. unmöglich ist.
Das Hauptproblem des Intuitionismus lässt sich folgendermaßen charakterisieren:
Moralische Intuitionen, die den Status moralischer Äußerungen definieren und diese
begründen, sind nicht intersubjektivierbar
81
. Das Kriterium der objectivity wird
vernachlässigt. Weiter drängt sich ein Zirkularitätsverdacht auf: Entweder lässt sich das
Moralische im Rekurs auf eine geeignet sensibilisierte Person erklären oder aber
78
Zur besseren Übersicht, wurden in der Einleitung lediglich zwei Bedeutungsebenen unterschieden
79
Vgl. Diehl; Hütig S. 21-23
80
Schmidt, Thomas: Realismus/Intuitionismus/Naturalismus. In: Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph;
Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und Weimar 2002a, S. 56
81
Vgl. Diehl; Hütig, S. 24

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19
umgekehrt. ,,Wie immer man sich hier entscheidet, man bleibt entweder eine
unabhängige Bestimmung des (moralisch, M.W.) Wertvollen oder dessen, was es heißt,
,geeignet sensibilisiert' zu sein, schuldig."
82
Die Defizite der Realisten scheinen der irrealistischen Positon bzw. den Non-
Kognitivisten bzgl. ihrer Skepsis gegenüber einer Wahrheitsfähigkeit der Moral Recht
zu geben. Zwar kann der Non-Kognitivismus den normativen Aspekt moralischer Rede
beibehalten, er muss jedoch die Möglichkeit der objectivity anzweifeln, da der Anspruch
auf die Allgemeingültigkeit eines moralischen Urteils nicht herleitbar ist. Ethik wird
,,dadurch zu einem bloß subjektiven System von Überzeugungen."
83
Dies erscheint aber
insofern als inakzeptabel, als dass die Irrealisten der Verwendung moralischer Urteile in
der alltäglichen Praxis und ihrer Relevanz nicht gerecht werden. Druwe konstatiert
hierzu:
,,Es erscheint als bittere Ironie, wenn ausgerechnet ein so 'lebenswichtiger'
Bereich, wie die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gut und böse,
wissenschaftlich nicht diskutiebar wäre."
84
Die Defizite der jeweiligen metaethischen Schulen hinsichtlich der Begründung und der
Rechtfertigung moralischer Urteile liegen auf der Hand. Keine metaethische Position
scheint imstande, beide Merkmale moralischer Urteile gleichwertig zu berücksichtigen
und somit eine zufriedenstellende und wissenschaftlichen Kriterien genügende Theorie
auf den Weg zu bringen. Die Betonung des einen erfolgt stets unter Preisgabe des
anderen.
Das Begründungsproblem resultiert in erster Linie aus grundlegenden Prämissen des
empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses. Welche Annahmen dieses
Paradigmas behindern die präzise Formulierung normativer Begriffe und die
Begründung moralischer Urteile?
Wie bereits an voriger Stelle erläutert, fußt die empirisch-analytische
Wissenschaftstheorie auf Carnaps Zweistufenmodell der Sprache. Demnach gibt es
82
Schmidt 2002a, S. 57
83
Diehl; Hütig, S. 27
84
Druwe, 1995, S. 395

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20
lediglich zwei (wissenschaftliche) Sprachklassen, empirische und analytische Sätze
85
.
Dieses Konzept rekurriert wiederum auf einem Sinn- und einem Basiskriterium. Carnap
formulierte (neben Wittgenstein und Schlick) ein Sinnkriterium, wonach Aussagen bzw.
Sätze nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich empirisch prüfen lassen
86
. Da dies für
normative Sätze nicht möglich erscheint, müssen diese als sinnlos ausgewiesen werden.
Das damit zusammenhängende Basistheorem besagt, dass Erkenntnis nur durch
Erfahrung gewonnen werden kann und festigt eine physikalische,
wahrnehmungsorientierte Erkenntnisbasis
87
. Moralische Ausdrücke können nicht
kognitiv rekonstruiert werden, ihr Wahrheitswert bleibt zweifelhaft. Sinn- und
Basistheorem untermauern, wie bereits bei Mackie gesehen, eine Fakt-Wert Trennung
bzw. eine Unterscheidung in naturwissenschaftlich akzeptierte Tasachen einerseits und
moralische ,Tatsachen' andererseits
88
. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt werden
konnte, versuchen gerade die Naturalisten im Gegensatz zu den Nicht-Naturalisten diese
Diskontinuität zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Moral zu überwinden.
Eine Übersetzung normativer Begriffe in empirische oder analytische scheint
verlockend und als heuristisch gewinnbringende Prozedur. Jedoch, wie in Kapitel V.
noch präziser argumentiert wird, eliminieren die Naturalisten jegliche Normativität und
bewegen sich in ihren Bemühungen ,lediglich' auf einem empirisch-analytischen
Begründungsniveau bzw. stets im Rahmen des Rationalitätspostulats und erreichen
keine epistemische Rechtfertigung, die neben kontingenten Handlungsgründen,
kategorische Vernunftgründe für eine moralische Handlung angeben könnte
89
.
85
Vgl. Anmerkung 3
86
Carnap, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis,
Nr. 2 (1932), S. 236
87
Hegselmann, Rainer: Normativität und Rationalität: zum Problem praktischer Vernunft in der
analytischen Philosophie. Frankfurt am Main und New York 1979, S. 16
88
Harman, Gilbert: Das Wesen der Moral. Frankfurt am Main 1981, Kap. 1
89
Schmidt 2002a, S. 52f.

M
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21
III. Auswege aus dem Begründungsproblem
ereits in der Einleitung wurde auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass
zwei gegenwärtig stark diskutierte Konzepte es mit dem oben erläuterten
metaethischen Dilemma aufnehmen könnten, die Rationale Ethik und der Ethische
Kohärentismus.
Im ersten Teil dieses Abschnitts werden die grundsätzlichen Annahmen des Rational
Choice Ansatzes vorgestellt. Darauffolgend wird knapp in die Spieltheorie eingeführt.
Diese ist als Anwendung der Rational Choice Theorie zu verstehen und fußt auf deren
theoretischen Annahmen. Es wird erläutert, wie eine Theorie rationalen Handelns für
die Ethik heuristisch fruchtbar gemacht werden kann, aber auch auf welche Probleme
ein solches Verfahren stößt. Mit diesen Problemen kann ein holistisches bzw.
kohärentistisches Begründungsprogramm souveräner umgehen. Nachfolgend wird
dieses vom fundamentalistischen Programm, zu dem auch die Rational Choice
Erklärung gehört, abgegrenzt und dessen Besonderheiten, auch in Hinblick auf die
Moralbegründung, expliziert.
III.1 Rationale Ethik
Die Rationale Ethik basiert auf Annahmen des Rational Choice Ansatzes. Dieser Ansatz
unterstellt, ,,daß Individuen rational handeln und daß man aus diesem individuellen
Handeln auf das Verhalten von Kollektiven schließen könne."
90
Die Hauptannahmen
dieses aus der Ökonomie stammenden Ansatzes sind demnach a) die Umsetzung eines
methodologischen Individualismus, b) die Annahme, dass die individuellen Handlungen
auf rational getroffenen Entscheidungen basieren und c) drittens, diese Rationalität auf
einer Präferenzliste und einer Kosten-Nutzen Kalkulation beruht, d.h. der Akteur sich
für diejenige Handlungsalternative entscheidet, die seinen zu erwartenden Nutzen
maximiert
91
. Dieses Nutzenmaxi-mierungstheorem (oder auch Wert-Erwartungstheorie)
stellt das ,Gesetz' innerhalb der Erklärung dar. Es ist der nomologische Kern der
90
Schmitt, Annette: Ist es rational, den Rational Choice-Ansatz zur Analyse politischen Handelns
heranzuziehen? In: Druwe, Ulrich; Kunz, Volker (Hrsg.): Handlungs- und Entscheidungstheorie in der
Poitikwissenschaft ­ Eine Einführung in Konzepte und Forschungsstand. Opladen 1996, S. 111
91
Vgl.: Zimmerling, Ruth: ,Rational Choice'-Theorien: Fluch oder Segen für die Politikwissenschaft. In:
Kunz, Volker; Druwe, Ulrich (Hrsg.): Rational Choice in der Politikwissenschaft ­ Grundlagen und
Anwendungen. Opladen 1994, S. 16
B

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ETAETHIK
22
Erklärung kollektiver Phänomene. Rationale Wahlhandlungen werden den Individuen
modellhaft unterstellt und die Wahlresultate aller Individuen zu einem kollektiven
Phänomen aggregiert. Die Kollektivebene (oder auch: System-, Aggregatebene) ist
hierbei nicht nur Explanandum, sondern hält auch Restriktionen,
Handlungsmöglichkeiten und deren Kosten sowie sonstige Randbedingungen, bereit,
die bei einer rationalen Wahl berücksichtigt werden müssen. Der ,,analytische Primat",
das Explanandum also, liegt auf der Kollektivebene, der ,,theoretische Primat"
hingegen auf der Individualebene
92
. Somit bildet die Rational Choice Theorie das
Herzstück einer strukturell-individualistischen Erklärung, wie sie in Anmerkung 5
erläutert wird.
Wahlfreiheit und Nutzenmaximierung sind die nennenswerten Handlungsprinzipien
einer Rational Choice Erklärung, die den (rationalen) Akteuren analytisch unterstellt
werden. Da immer unterschiedliche Handlungsoptionen gegeben sind, konstruiert und
prüft der Akteur seine Präferenzordnung. Diese muss folgende formale Bedingungen
erfüllen
93
: Konnektivität (der Akteur kann einzelne Präferenzen in Beziehung
zueinander setzen), Transitivität (die Ordnung muss logisch widerspruchsfrei sein) und
Kontinuität (vor die gleichen Handlungsalternativen gestellt, trifft der Akteur stets die
gleiche Wahl). Jedes Gut hat in Folge dessen in einer konsistenten Präferenzordnung
einen ordinalen Rangplatz. Die Inhalte individueller Präferenzordnungen werden als
gegeben vorausgesetzt und bleiben offen. Die Präferenzbildung entzieht sich dem
Erkenntnisvermögen von Rational Choice Theorien. Dennoch wird der Einfachheit
halber meistens stillschweigend von zwei Präferenzklassen ausgegangen, eine Klasse,
die alle Ziele hinsichtlich des physischen Wohlergehens subsummiert und eine weitere,
die alle Aspekte sozialer Anerkennung vereint. Ein rationaler Wähler muss keineswegs
auf kategorische Nutzenmaximierung im hedonistischen Verständnis festgelegt sein.
Solange Rationalität gewahrt bleibt, kann er durchaus über altruistische Präferenzen
verfügen insofern seine gewählten Mittel zur Erreichung seines Ziels in einem
92
Gilleßen, Christoph; Mühlau, Peter: Grundzüge strukturell-individualistischer Theoriebildung. In:
Kunz, Volker; Druwe, Ulrich (Hrsg.): Rational Choice in der Politikwissenschaft ­ Grundlagen und
Anwendungen. Opladen 1994, S. 28
93
Braun, Dietmar: Theorien Rationalen Handelns in der Politikwissenschaft ­ Eine kritische Einführung.
Opladen 1999, S. 33-34

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23
angemessenen Verhältnis zur Zielerreichung stehen
94
. Die gewählte
Handlungsalternative offenbart demnach nur mittelbar die Präferenzen des Wählenden
(Prinzip der revealed preferences). Präferenzen werden als relativ konstant und stabil
vorausgesetzt. Änderungen im Entscheidungsverhalten werden zunächst auf
Änderungen der Situation, also auf die Ressourcen und Restriktionen, die ein Akteur
innerhalb der Logik der Selektion vorfindet, zurückgeführt, nicht auf die Änderung der
Präferenzordnung
95
.
Die Entscheidungssituation wird im wesentlichen durch zwei Aspekte bestimmt. Zum
einen durch die sozialen und natürlichen Restriktionen innerhalb der Logik der Situation
(diese Situation wird in der Regel modelliert als Situation der Knappheit und
Unsicherheit), zum anderen durch die Präferenzen des Akteurs innerhalb der Logik der
Selektion
96
. So ergeben sich für den Akteur verschiedene Handlungsalternativen, indem
er seine Präferenzen mit den Möglichkeiten oder Hindernissen seiner Situation
abstimmt. Diese Alternativen muss man als die verfügbaren Mittel interpretieren, die er
mit seinen persönlichen Zielen bzw. Präferenzen, die im Modell als unbestimmt gelten,
konfrontiert. Für jede Präferenz errechnet er den Nettonutzen und wählt diejenige
Option, die den höchsten Nettonutzen verspricht. Dieser errechnet sich aus der
,,Bedürfnisintensität für ein bestimmtes Gut abzüglich der Kosten, die für die Erlangung
des Gutes aufgebracht werden müssen"
97
. Rationalität bezieht sich also nicht nur auf
die Erfüllung vorrangiger Präferenzen bzw. auf die erwünschten Konsequenzen einer
Entscheidung
98
, sondern vor allem auf die eingesetzten Mittel bzw. die exakte bedür-
fnisbezogene Kalkulation
99
.
,,Die Wahl der Mittel ist dann rational, wenn das gewählte Mittel im
Vergleich zu allen anderen als verfügbar erkannten Handlungsalternativen
am geeignetsten erscheint, die gegebenen Präferenzen zu verwirklichen."
100
94
Vgl.: Braun, Norman: Altruismus, Moralität und Vertrauen. In: Analyse Kritik, Nr. 14 (1992), S.
177-186
95
Vgl. Schmitt, Annette, S. 114
96
Vgl. ebd., S. 111
97
Braun, Dietmar, S. 34
98
Vgl.: Koller, Peter: Rationales Entscheiden und moralisches Handeln. In: Nida-Rümelin, Julian
(Hrsg.): Praktische Rationalität ­ Grundlagenprobleme und ethische Anwendungen des rational choice-
Paradigmas. Berlin und New York 1994, S. 282
99
Vgl. Schmitt, Annette, S. 112
100
Ebd., S. 112

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Der
Rational Choice Ansatz lässt sich hinsichtlich der Merkmale der
Entscheidungssituation in äußere und innere Situationsmerkmale untergliedern.
Äußere Merkmale modellieren die Entscheidungssituation als eine strategische Wahl
oder als parametrische Wahl. Bei der strategischen Wahl hat die Entscheidung des
Akteurs Konsequenzen für andere Beteiligte bzw. deren Entscheidungen haben
wiederum Auswirkungen für den Akteur. In parametrischen Entscheidungssituationen
trifft der Akteur seine Entscheidung isoliert von anderen Akteuren und kann in einer
kalkulierbaren Umwelt seine Wahl unabhängig von anderen treffen
101
. Die Spieltheorie
beschäftigt sich mit strategischen Wahlhandlungen, während sich die
Entscheidungstheorie mit parametrischen Entscheidungen befasst. Dabei stellt die
Spieltheorie einen Spezialfall der Entscheidungstheorie dar, da die Annahmen einer
Einzelentscheidung die Grundlagen für wechselseitig interdependente Entscheidungen
darstellen
102
.
Innere Situationsmerkmale beziehen sich auf den Grad der Informiertheit des Akteurs.
Bei Entscheidungen unter Sicherheit kennt der Entscheidende die Konsequenzen der
jeweiligen Handlungsalternativen, die ihm zur Verfügung stehen. Bei einer
Entscheidung unter Risiko kann der Akteur für jede Handlungsalternative eine
Wahrscheinlichkeit über das Eintreffen zu erwartender Konsequenzen angeben. Bei
einer Entscheidung unter Ungewißheit hingegen kennt der Akteur zwar die jeweiligen
Konsequenzen einer Handlungswahl, kann die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens aber
nicht einschätzen
103
.
III.1.1 Rationale Ethik und Spieltheorie
Grundannahme der Rationalen Ethik ist, dass es sich bei moralischen Fragen zumeist
um Entscheidungsprobleme handelt, denen man mit dem Instrument der Entscheidungs-
und Spieltheorie begegnen kann. Beide Theorietypen möchten Kriterien für individuell
vernünftige Entscheidungen formulieren und begründen. Die Spieltheorie ist im
Kontext der Beziehung zwischen Rationalität und Moralität von größerem Interesse und
101
Vgl. Zimmerling 1994, S. 17
102
Vgl.: Spohn, Wolfgang: Wie lässt sich Spieltheorie verstehen? In: Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.):
Praktische Rationalität ­ Grundlagenprobleme und ethische Anwendung des rational choice-Paradigmas.
Berlin und New York 1994, S. 199f.
103
Vgl. ebd., S. 18

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25
größerer Erklärungskraft, da sich moralisches Verhalten in erster Linie auf andere
Personen bezieht. Die Spieltheorie wird diesem Sachverhalt am ehesten gerecht, da sie
die Modelle rationaler Wahlhandlung auf interaktive Situationen anwendet
104
. Sie
,,formalisiert interdependente Entscheidungs-strukturen"
105
in paradigmatischen
Spielsituationen und simuliert soziale Interaktionen, in denen modellhaft mindestens
zwei Akteure in Konkurrenz um knappe Ressourcen zueinander stehen. Ein rationaler
Akteur muss strategisch handeln, um seine Ziele bestmöglichst umzusetzen bzw. um
einen großen Teil der Güter, um die gespielt wird, zu ergattern
106
. Ziel der Spieltheorie
ist es, die beste Lösung für paradigmatische Spielsituationen wie z.B. dem
Gefangenendilemma zu analysieren. Das Gefangenendilemma ist die klassische
spieltheoretische Modellierung und gehört zur Klasse der Zwei-Personen-Spiele. Dieses
Standardspiel ist ein einmaliges Spiel um ein Gut, an dem beide Beteiligte interessiert
sind (also beide dieselbe Präferenzordnung haben). Als Prämissen gelten die Annahmen
der Rational Choice Theorie, d.h. jeder Spieler verhält sich streng nutzenmaximierend.
Beide Spieler können nicht kommunizieren oder verbindliche Absprachen treffen,
wählen jedoch ihre Strategie zeitgleich, ohne die des anderen Mitspielers zu kennen. Als
Strategie hat ein Spieler zwei Optionen: Entweder er kooperiert mit seinem
Gegenspieler, oder er defektiert bzw. konzentriert sich auf Selbsthilfe
107
.
Um die weitere Argumentation nachvollziehen zu können, muss das klassische
Gefangenendilemma in Anlehnung an Luce und Raiffa
108
vorgestellt werden:
,,Zwei Verdächtige werden in Einzelhaft genommen. Der Staatsanwalt ist sich sicher, daß
die beiden eines schweren Verbrechens schuldig sind, doch verfügt er über keine
ausreichenden Beweise, um sie vor Gericht zu überführen. Er weist jeden Verdächtigen
darauf hin, daß er zwei Möglichkeiten hat: das Verbrechen zu gestehen oder aber nicht zu
gestehen. Wenn beide nicht gestehen, dann, so erklärt der Staatsanwalt, wird er sie wegen
ein paar minderer Delikte wie illegaler Waffenbesitz anklagen, und sie werden eine geringe
Strafe bekommen. Wenn beide gestehen, werden sie zusammen angeklagt, aber er wird
104
Vgl. Braun, Dietmar, S. 49
105
Druwe, Ulrich; Hahlbohm, Dörte; Singer, Alex: Internationale Politik. Neuried 1998 (2. Auflage), S.
79
106
Vgl.: Esser, Hartmut: Soziologie ­ Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main und New York 1999
(3. Auflage), S. 343ff.
107
Schmidt, Thomas: Entscheidungstheorie/Spieltheorie. In: Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph;
Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. Stuttgart und Weimar 2002b, S. 332-334
108
Luce, R. Duncan.; Raiffa, Howard.: Games and Decisions. New York 1957, S. 95

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26
nicht die Höchststrafe beantragen. Macht einer ein Geständnis, der andere jedoch nicht, so
wird der Geständige nach kurzer Zeit freigelassen, während der andere die Höchststrafe
erhält (Kronzeugenregelung, M.W.)."
109
Aus dieser Faktenlage ergibt sich für die beiden Delinquenten (bzw. Spieler X und Y)
die gleiche Präferenzordnung, die mit den jeweiligen Nutzenkennziffern (hoher Nutzen
= hohe Kennziffer) korrespondieren:
4 = X gesteht (=Defektion oder Selbsthilfe) , Y gesteht nicht (Kooperation)
3 = beide gestehen nicht
2 = beide gestehen
1 = X gesteht nicht, Y gesteht
Schematisch lassen sich dann die einzelnen Entscheidungsprozeduren und ihre jeweilige
Gewinnauszahlung bzw. Nutzenkennziffern in der sogenannten Payoff-Matrix
darstellen. Die erste Nutzenkennziffer bezieht sich dabei auf den Verdächtigen X, die
zweite auf Y:
Defektion (gestehen)
Kooperation (nicht gestehen)
Defektion 2/2
4/1
Kooperation 1/4
3/3
Da beide Spieler unabhängig voneinander entscheiden müssen, ist es die rationalste
Strategie jedes einzelnen Spielers, zu defektieren, da hier die Gewinnauszahlung am
höchsten ist. Beide Verdächtige würden auf Kosten ihrer Komplizen entscheiden. Diese
Strategie ist die dominante Strategie
110
. Sie ist das einzig zu erwartende
Gleichgewicht
111
im einmaligen Zwei-Personen Gefangenendilemma. Daraus folgt das
109
Holler, Manfred J.; Illing, Gerhard: Einführung in die Spieltheorie. New York u.a. 1996 (3. Auflage),
S. 2
110
Eine Strategie heißt dominant, ,,wenn ihre Konsequenzen für alle möglichen Umstände - bzw.
Entscheidungen der anderen Akteure - besser sind als die der anderen Strategien." Schmidt, Thomas:
Kooperation als Handlungsgrund im einfachen Gefangenendilemma. In: Druwe, Ulrich; Kunz, Volker
(Hrsg.): Anomalien in Handlungs- und Entscheidungstheorien. Opladen 1998, S. 183
111
Taylor definiert ein Gleichgewicht als ,,Strategievektor (d.h., eine Liste von Strategien pro Spieler),
der so gestaltet ist, dass kein Spieler eine größere Auszahlung erreichen kann, wenn er, während der
andere mit derselben Strategie fortfährt, eine unterschiedliche Strategie verwendet." (Taylor, Michael:
Von Hobbes zu den rationalen Kooperationsbedingungen des Gefangenendilemmasuperspiels. In: Markl,
Karl-Peter (Hrsg.): Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität. Band 1, Opladen 1985,
S. 11)

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27
Interaktionsergebnis 2/2, das auch Nash-Equilibrium genannt wird
112
. Es besagt, dass
keiner der Verdächtigen von diesem gleichgewichtigen Ergebnis abweichen kann, ohne
sich selbst zu schaden
113
. Es ist das stabilste Spielergebnis.
Das eigentliche Dilemma besteht aber nun zwischen dieser individuell rationalsten
Lösung und einer zweiten Interaktionslösung, einer kollektiv rationalsten Strategie, die
auf der Grundlage eines zweiten Gleichgewichts beruht. Diese pareto-optimale Strategie
tritt in wiederholten Spielen in Erscheinung (sogenannten Superspielen)
114
und wäre
erreicht, wenn beide Spieler kooperieren würden (3/3), also ein Ergebnis erzielten, bei
dem kein Spieler das Spiel verlassen könnte ohne den anderen Spieler zu schaden
115
.
,,Das Dilemma liegt darin, daß es für jeden Spieler, unabhängig vom
Verhalten des anderen, vorteilhafter ist, zu defektieren, daß jedoch
beiderseitige Defektion für jeden Spieler ungünstiger ist als wechselseitige
Kooperation."
116
Übertragen auf ethische Belange bedeutet dies, dass ein Zustand rationaler und
gewünschter ist, in dem sich alle Beteiligten an moralische Normen halten. Es ist aber
aus individueller Perspektive nur rational, das Einhalten moralischer Normen den
anderen zu überlassen. Die Rationale Ethik versucht das beschriebene Dilemma
aufzulösen. Moralisches Handeln wird im Rahmen der Rationalen Ethik als
kooperatives Handeln bzw. kooperative Strategie verstanden
117
. Da die Rationale Ethik
auf der Grundlage des methodologischen Individualismus argumentiert, steht sie vor der
schwierigen Aufgabe, ein Individuum von der dominanten Strategie abzubringen und zu
zeigen, dass moralische Normen auf individuelle Interessen zurückführbar sind
(Ableitungsproblem). Es muss gezeigt werden, dass es unter den gegebenen Prämissen
für ein nutzenmaximierendes Individuum rational sein kann zu kooperieren bzw.
theoretisch formuliert, dass ein Pareto-Optimum aus streng nutzenmaximierendem
112
Vgl.: Koller, Peter: Rationales Entscheiden und moralisches Handeln. In: Nida-Rümelin, Julian
(Hrsg.): Praktische Rationalität ­ Grundlagenprobleme und ethische Anwendungen des rational choice-
Paradigmas. Berlin und New York 1994, S. 290
113
Druwe 1995, S. 224
114
Vgl. Taylor 1985, S. 11
115
Vgl. ebd.
116
Axelrod, Robert: Die Evolution der Kooperation. München 2000 (5. Auflage), S. 7
117
Vgl. Burth; Druwe, S. 160

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28
Handeln abgeleitet werden kann. Dies erscheint insofern als realisierbar, da das
Gefangenendilemma zeigt, dass individuelle Rationalität beide zu einem schlechteren
Ergebnis führt, als dies nötig wäre. Durch eine wechselseitige Kooperation wäre jeder
der Spieler bessergestellt als durch Defektion.
III.1.2 Unterschiedliche Anwendungsansprüche an eine Rationale Ethik und ihre
Probleme
Moral- und politikphilosophische Anwendungen von spieltheoretischen Methoden bzw.
eine Rationale Ethik basierend auf einer Rational Choice Theorie differieren sehr
grundsätzlich voneinander: In erster Linie sollte die Rationale Ethik ein Instrument der
Metaethik sein, da sie geeignet erscheint, ethische Entwürfe, wie oben beschrieben,
spieltheoretisch präzise zu reformulieren (Bedeutungsproblem) und im Rekurs auf das
Zweistufen-Konzept der Wissenschaftssprache auf ihre Wahrheitsfähigkeit hin zu
überprüfen (Begründungsproblem)
118
. Ethische Systeme werden in diesem Kontext
analytisch reformuliert bzw. Normen in eine analytische Sprache übersetzt. Auf der
Basis der Modellierung der Entscheidungssituation als Prämisse und der rationalen
Wahl eines Individuums als Erklärungsgesetz, wird das ,moralische Handeln' abgeleitet
und ist begründet im Sinne analytischer Gültigkeit
119
. So verstanden kann ,,diese
Argumentationsstrategie [...] als metaethische Variante einer reduktiven rationalen
Rekonstruktion (im Sinne Stegmüllers) verstanden werden."
120
Zusammengefasst kann
die Rationale Ethik als Instrument der Metaethik zur Reformulierung und
Rekonstruktion ethischer Systeme als analytische Modelle angewendet werden. Als
solches ,,systematisiert und modelliert [sie] bestehende Moralnormen sowie
entsprechende Handlungszusammenhänge, d.h. sie ist keine normative sondern eine
analytische Disziplin."
121
Gelingt die kohärente Rekonstruktion, so gilt dieses
Moralsystem zumindest als analytisch gültig. Diese hat aber für das
Begründungsproblem im weitesten Sinne, also in Bezug auf das Eigentümliche der
normativen Sprache und der handlungsleitenden Kraft der Moral keine weitreichenden
118
Vgl. ebd., S. 158 sowie Diehl; Hütig, S. 16
119
Vgl. Diehl; Hütig, S. 27-29
120
Burth, Hans-Peter: Mißverständnisse und Ambiguitäten im Programm der Rationalen Ethik.
Vortragsabstract:
http://gapimnetz.de/4ARationalChoicehiv/ARationalChoicehiv/gap4konf/sektionen/ethik.html
121
Burth; Druwe, S. 168

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29
Konsequenzen, da genuin moralische Begriffe durch analytische ausgetauscht werden,
und die Moralbegründung lediglich hypothetisch modelliert wird. Es handelt sich um
ein Gedankenexperiment in dem eine Person qua Definition ,moralisch' handelt. Das
Motivationsproblem wird so umgangen, jedoch nicht gelöst. Eine Rechtfertigung
verlagert sich von den moralischen Überzeugungen und ihrer Zustimmungsfähigkeit auf
die modellimmanenten Prämissen.
Zum anderen wird dieses Begründungskonzept auch als Ethik erster Ordnung
interpretiert. Eine Handlung wird dann an ihrer Rationalität bemessen bzw. moralisches
Handeln unmittelbar auf rationales Handeln reduziert. Spieltheoretisch formuliert wird
eine Handlung als moralisch klassifiziert, wenn sie zu einem pareto-optimalen Zustand
führt. Moralität entspricht einer kooperativen Lösung
122
. Dazu muss allerdings gezeigt
werden, dass moralisches Verhalten nicht nur hypothetisch auf das Eigeninteresse
zurückgeführt werden kann, da eine Handlung moralisch geboten ist, sofern sie rational
ist. In solch einer ,,individualistisch-rationalen Theorie der Moral"
123
sind moralische
Normen also nichts anderes als ,,Richtlinien des menschlichen Verstandes, deren
allgemeine Befolgung dem wohlerwogenen Interesse jedes Menschen dient und die
darum von jeder Person anerkannt und befolgt werden sollte."
124
In einer rationalen
Wahl stehen individuelle Interessen bzw. Präferenzen nicht im Widerspruch zu
moralischen Normen bzw. Kooperation. Daraus ergibt sich eine universelle
Zustimmungsfähigkeit, d.h., dass moralische Normen von jedem Individuum bzw.
Spieler vernünftigerweise akzeptiert werden sollten und diese nicht mehr als bloße
Einschränkungen wahrgenommen werden. Dies erscheint intuitiv aber insofern als
widersprüchlich, da den Individuen mit den Annahmen der Rational Choice Theorie ein
eher egoistisches Menschenbild unterstellt wird und sich dieses mit alltäglichen
Vorstellungen über Moral nicht vereinbaren lässt. Empirische Befunde belegen zwar,
dass sich Individuen auch unter klassischen Gefangenendilemma Umständen kooperativ
verhalten
125
, damit wird aber prinzipiell und auf theoretischer Ebene die Frage des
Motivationsproblems nicht beantwortet. Es bleibt weiterhin schleierhaft, warum man
122
Vgl.: Nida-Rümelin, Julian: Das rational choice-Paradigma ­ Extensionen und Revisionen. In: Ders.
(Hrsg.): Praktische Rationalität ­ Grundlagenprobleme und ethische Anwendungen des rational choice-
Paradigmas. Berlin und New York 1994, Teil 2
123
Koller, S. 281
124
Ebd.
125
Vgl. Nida-Rümelin 1994, S. 16

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30
moralisch handelt, wenn dies den Eigeninteressen widerspricht
126
. Die Kernfrage lautet
also: ,,Wie kommt man von Rationalität zu Moralität?"
127
Kann es im
Gefangenendilemma für beide Spieler von Interesse sein, zu kooperieren? Die weitere
Argumentation soll zeigen, dass das Ableitungsproblem nicht oder nur unter
Inkaufnahme von Modifikationen lösbar ist. Selbst wenn eine Ableitung gelingen sollte,
stellt sich dann noch die Frage, ob alle alltäglich relevanten Moralurteile auf
Rationalität zurückgeführt werden können. Die erste Frage bezieht sich auf das bereits
oben angesprochene Ableitungsproblem, die zweite auf das Reichweitenproblem
128
.
Eine kooperative Strategie ist im orthodoxen Gefangenendilemma (also im einmaligen
Zwei-Personen Gefangenendilemma) nicht rational und daher nicht realisierbar.
Nachfolgend sollen dennoch einige Möglichkeiten vorgestellt werden, die
gängigerweise zur Lösung in Betracht gezogen werden. Dabei sollte es sich idealiter um
interne Lösungen handeln, da diese an den Ausgangsbedingungen des Spiels nichts
verändern. Eine Lösung wird von innen heraus generiert. Im Gegensatz zu externen
Lösungen benötigen interne Lösungen keine Spielmanipulationen von aussen. Externe
Lösungen führen lediglich neue Strukturmerkmale in ein Spiel ein und können so recht
leicht das Entscheidungsverhalten von Spielern beeinflussen (z.B durch externen Zwang
oder Sekundäranreizen). Ausserdem ließe sich dann nur noch bedingt von einer rational
zustande gekommenen Kooperation sprechen
129
. In Hinblick auf die Lösung des
Ableitungsproblems muss nachfolgend auch auf die Problematik aufmerksam gemacht
werden, die mit Versuchen einhergeht, Kooperation in großen Gruppen bzw.
Gesellschaften zu realisieren.
III.1.2.1 Moralische altruistische Präferenzen
Braun diskutiert die Tauglichkeit von moralischen und altrusitischen Motivatoren bzw.
Präferenzen, die in der konventionellen, spieltheoretischen Modellierung, also in einem
einmaligen Zwei-Personen Spiel (one-shot game), kooperatives Verhalten fördern
126
Vgl. Hegselmann, S. 23
127
Vgl. Burth; Druwe, S. 158-166
128
Vgl. ebd. S. 159; für hier eingeführte Zusammenhänge ist in erster Linie das Ableitungsproblem von
Relevanz. Das Reichweitenproblem hängt von der Lösung des Ableitungsproblems ab und bedarf vorerst
keiner gesonderten Berücksichtigung.
129
Vgl. Braun, Dietmar, S. 198f.

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31
können
130
. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass solche Präferenzen durchaus in
der Präferenzliste eines homo oeconomicus auftauchen können
131
. Betrachten wir
zunächst den Fall moralischer Präferenzen:
Moralität wird funktional übersetzt in kostenverursachende Schuldgefühle nach einer
Defektion; ein Moralitätsparameter m zeigt an, wie viel an Schuldgefühlen ein Spieler
ertragen kann. Sinkt sein m gegen 0 (bzw. bis hin zu m = 0), so nimmt das Zwei-
Personen Gefangenendilemma seinen unseeligen Lauf. Bewegt sich m zwischen 0 und
1, so vefügt der Spieler über gewisse Skrupel und er trägt nach einer Defektion
(psychische) Kosten, die die Auszahlung vermindern. Übersteigen die psychischen
Kosten eines Vertrauensmißbrauchs den Nutzen der Defektion, dann scheint eine
zumindest einseitige Kooperationstendenz möglich. Ein weiterer Parameter, der in
diesem Zusammenhang allerdings beachtet werden muss, ist die Einschätzung des m
des gegenerischen Spielers, der festlegt, ob sich ein Vertrauensvorschuss lohnt. Ein
Spieler muss demnach den m des anderen Spielers bestimmen können, da gegenseitige
Kooperation nur dann gewährleistet ist, ,,wenn die Vertrauensperson dem Vertrauenden
glaubhaft signalisieren kann, daß ihre Nutzenverluste aufgrund eines schlechten
Gewissens im Falle des Vertrauensbruchs ihren Anreiz zur Defektion übersteigen."
132
Diese Einschätzung erfordert aber eine vollständige Informiertheit zumindest eines
Spielers, die nicht haltbar erscheint
133
. Zwar lassen sich Moralitätsindikatoren
bestimmen, jedoch bleiben deren mittelbare, nicht direkt beobachtbare Informationen
zwangsläufig unsicher. Ein Spieler weiß nie, ob er nicht doch getäuscht wird. Fazit:
Eine vollständige, moralische Informiertheit ist unplausibel, eine mittelbare bzw.
unvollständige moralische Informiertheit gefährlich und kein Garant für gegenseitige
Kooperation
134
.
In ähnlicher Weise lassen sich altruistische Präferenzen in das konventionelle Zwei-
Personen Gefangenendilemma integrieren. Altruismus bedeutet, ,,daß die
Vertrauensperson ein positives Interesse am Wohlergehen des Vertrauenden besitzt
130
Vgl. Braun, Norman, S. 180ff.
131
Vgl. Kapitel III.1
132
Braun, Norman, S. 182
133
Dieser Umstand verweist bereits auf die Erfordernisse einer unvollständigen Informiertheit im Rahmen
einer bounded rationality (vgl. Kapitel III.1.2.5).
134
Vgl. Braun, Norman, S. 182

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32
(d.h. das Nutzenniveau der Vertrauensperson steigt, falls es dem Vertrauenden besser
geht)."
135
Ein Altruismusparameter a drückt das Ausmaß des Interesses eines Spielers y
am Wahlergebnis des Spielers x aus. a
y
= 0 bedeutet, dass der Spieler x rein egoistisch
veranlagt ist und es für ihn keine Anreize zu altruistischem Verhalten gibt. Dennoch
sollte y's Altruismus keine autoaggressiven Konsequenzen mit sich bringen und er
daher immer ein knapp größereres Interesse an seinem Wohlbefinden besitzen (daher a
kleiner 1, niemals a = 1), so dass eine Defektion weiterhin positive Nutzenwerte zeitigt
und Berechtigung behält. Ein ,egoistischer' Spieler x kooperiert mit einem Spieler y
sofern dieser (y) ausreichend als altruistisch eingeschätzt werden kann. Eine
gegenseitige Kooperation erscheint dann möglich bzw. wird dann eine
,,gleichgewichtige und sozial optimale Strategiekombination sein, wenn das Interesse
der Vertrauensperson (y, M.W.) am Wohlergehen des egoistischen Vertrauenden (x,
M.W.) so groß ist, daß es die Rechtfertigung des Vertrauens (in Form einer
kooperierenden Antwort, M.W.) zumindest so lohnend macht wie den
Vertrauensmißbrauch."
136
Damit eine kooperative Strategie möglich wird, muss der
Altruismusparameter a von y ein Mindestausmaß haben. Diese Mindestausprägung von
Spieler y entspricht dem ausgewogenen Verhältnis zwischen dem möglichen
Nutzengewinn aus der eigenen Defektion und dem Nutzen daraus, dass x ihm das
Vertrauen entgegenbringt. Sind beide Nutzenwerte für y gleichwertig, so ist eine
kooperative Strategie möglich
137
.
Auch die altruistischen Fälle überfordern die Spieler mit einer idealistischen
Modellierung, die eine vollständige Informiertheit zumindest eines Spielers erfordern
würde. Andererseits lässt sich Altruismus, wie schon die Moralität, nicht direkt
beobachten. Eine Täuschung des Spielers x durch einen vermeintlich altruistischen
Spieler y kann nicht ausgeschlossen werden
138
.
Braun hält die vorgeschlagenen Vorgehensweisen zur Integration moralischer und
altruistischer Präferenzen und ihre Übersetzung in kostenverursachende Aspekte für
streng kalkulierende Individuen für defizitär aber ausbaufähig
139
. Dieses Urteil teilt die
135
Vgl. ebd.
136
Ebd., S. 183
137
Vgl. ebd., S. 183f.
138
Vgl. ebd., S. 184
139
Vgl. ebd., S. 185

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33
vorliegende Arbeit nicht. Abgesehen von den bereits diskutierten Unklarheiten und
Mängeln erscheint es, wie noch genauer zu zeigen ist
140
, als unplausibel, dass sich
gerade Moralität auf eine Kosten-Nutzen-Kalkulation reduzieren lassen soll, ganz zu
schweigen, dass eine Erfassung dieser Art von Kosten als nicht messbar erscheinen
muss. Vor allem aber helfen Brauns Überlegungen der vorliegenden Analyse nicht
weiter, da Moral nicht mehr mit Kooperation (bzw. als zu generierende Moral)
gleichgesetzt bzw. Moral als existierendes, nicht weiter erklärungsbedürftiges
Phänomen vorausgesetzt wird.
III.1.2.2 TIT FOR TAT
TIT FOR TAT wird als weitere Standardlösung des Gefangenendilemmas angeführt.
Bei der TIT FOR TAT Spielstrategie wird die Spielfrequenz von einem einmaligen auf
viele aufeinander folgende Spiele (oder Züge) erweitert. Bei gleichbleibenden Spielern
muss es sich um ein iteriertes Spiel handeln, d.h., dass das Spiel entweder unendlich oft
gespielt wird oder das Ende des Spiels für die Spieler nicht kalkulierbar ist
141
. Als
Konsequenz greifen zwei Prinzipien, das Prinzip der Reziprozität und das Prinzip des
Schattens der Zukunft
142
. Reziprozität bedeutet nichts anderes, als dass Defektion auch
mit Defektion geahndet wird aber auch, dass Kooperation mit Kooperation belohnt
wird. Reziprozität führt eine bedingte Kooperation herbei. Der Schatten der Zukunft
sorgt dafür, dass den zukünftigen Spielen bzw. Zügen ein hinreichend hohes Gewicht
beigemessen wird bzw. die Spieler die Auszahlungen der zukünftigen Züge als
hinreichend groß einschätzen und so die gegenwärtige Spielstrategie positiv (in
Richtung Kooperation) beeinflußt wird. Mathematisch manifestiert sich der Schatten
der Zukunft im Diskontparameter, der das Verhältnis zwischen gegenwärtigem Zug und
den zukünftigen Zügen angibt
143
. Es erscheint plausibel, dass Spielzügen in der Zukunft
140
Vgl. Kapitel V.
141
Sogenannte Metapräferenzansätze, die durch die Einführung zusätzlicher moralischer Präferenzen
(neben den üblichen Gefangenendilemma Präferenzen) zu Kooperation auch ohne Iteration führen
können, spielen bis auf weiteres keine Rolle. Es handelt sich strukturell dann nicht mehr um ein
Gefangenendilemma, weil den Spielern zuviel Selbstbindung unterstellt und das Prinzip der revealed
preferences unterminiert wird, wonach die Strategieentscheidung das Eigeninteresse unmittelbar
repräsentiert (vgl. hierzu Burth; Druwe, S. 161-165).
142
Vgl. Axelrod, Einführung. Detailliertere Erläuterungen zur TFT-Strategie und vergleichbaren
Konzepten können aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden, sind für den weiteren Verlauf der
Arbeit auch nicht von Belang.
143
Vgl. Axelrod, S. 11-14 und Taylor, Michael: The Possibility of Cooperation. Cambridge und New
York 1987, S. 61-64

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weitaus weniger Relevanz beigemessen wird bzw. ihre Auszahlungsbeträge im
Vergleich zu gegenwärtigen Auszahlungen wesentlich geringer eingeschätzt werden.
,,Wenn aber w (der Diskontparameter im Vergleich zu den vier möglichen
Auszahlungen, M.W.) groß genug ist, dann kann weder IMMER D (die
dominante Strategie Defektion, M.W.) noch die Abwechslung zwischen D
und C in TIT FOR TAT eindringen. Wenn aber keine dieser beiden
Strategien in TIT FOR TAT eindringen kann, dann auch keine andere
Strategie. [...] TIT FOR TAT ist genau dann kollektiv stabil, wenn w
hinreichend groß ist (Herv. M.W.)."
144
Zwar wird unter den gegebenen Modifikationen eine bedingte Kooperation hergestellt,
aber es liegt auf der Hand, dass Kooperation nicht mehr auf den statischen Spielregeln
des orthodoxen Gefangenendilemmas basieren würde. Weiterhin wird unter diesen
Bedingungen die Rationalität der Spieler zwangsläufig durch den Schatten der Zukunft
aufgeweicht, da sie nicht mehr eindeutig kalkulieren können. Dieses Bounded-
Rationality-Konzept
145
entspricht allerdings eher realen Bedingungen und ist damit
besser empirisch umsetzbar. TIT FOR TAT bietet, wie oben bereits erwähnt, gute
Lösungsstrategien für das Zwei-Personen Gefangenendilemma bzw. für Interaktionen in
kleinen Gruppen. Schwieriger wird es bei der Anwendung in großen und heterogenen
Gruppen, wo sich Spielzüge nicht mehr eindeutig einem bestimmten Spieler zuordnen
lassen, was für den Erfolg von TIT FOR TAT aber maßgeblich ist
146
. Die
Wahrscheinlichkeit der Kooperation sinkt und somit werden entweder externe
Lösungen im Sinne institutioneller Arrangements notwendig (Hobbes'sche Lösung)
oder übergreifende Strategien der Selbstorganisation können intern generiert werden.
Dies widerspräche jedoch empirischen Befunden, die belegen, dass die Anreize zum
144
Axelrod, S. 53; Beweisführung und Berechnung des kritischen Wertes vgl. Anhang B in Axelrod.
145
Vgl.: Simon, Herbert A.: Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben. Frankfurt am Main
und New York 1993
146
Vgl. Taylor 1987, S. 104f.; es handelt sich dann um Kooperationsprobleme, die im Zusammenhang
mit n-Personen Superspielen diskutiert werden. Taylor konstatiert, dass für solche großen und
heterogenen Gruppen mindestens zwei Bedingungen erfüllt werden müssen, damit ein kooperatives
Verhalten wahrscheinlich wird: Es muss eine ausreichend große Subgruppe innerhalb der großen Gruppe
existieren, deren Teilnehmer wiederum eine kooperative Strategie befürworten bzw. zumindest eine
Disposition haben zu kooperieren und zweitens muss für diese Subgruppe die Diskontrate ausreichend
groß sein. Dies erfordert jedoch auch eine Kenntnis darüber, welche Strategie die jeweils anderen
Teilnehmer einhalten (vgl. Taylor 1985, S. 16-21).

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35
Trittbrettfahren in solchen Situationen zu hoch sind. Das ist, neben dem
Ableitungsproblem ein weiteres zentrales Problem der social choice oder public choice
Theorie, die nachfolgend mit dem deutschen Terminus Logik kollektiver
Entscheidungen bezeichnet wird. Diese wird im folgenden Abschnitt (nur) skizzenhaft
und entsprechend der Argumentationsbedürfnisse dargestellt. Weiter kann eine TIT
FOR TAT Lösung nur unter der Geltung einer impliziten Symmetrieannahme
beibehalten werden. Verwirft man diese Annahme und konstruiert Spiele, die von einer
asymmetrischen Machtverteilung unter den Spielern ausgeht, die mit Anwachsen einer
Gruppe wahrscheinlicher wird, so ist es umso weniger möglich, individuelle
Rationalität und Moralität zu integrieren
147
.
III.1.2.3 Die Logik kollektiver Entscheidungen
Die Logik kollektiver Entscheidungen ist ein weiterer Zweig der Entscheidungstheorie,
der sich mit kollektiven Entscheidungsprozessen beschäftigt
148
und besonders für die
Politische Philosophie bzw. Demokratietheorie Relevanz und Brisanz hat, sofern man
davon ausgeht, dass eine Demokratie keinen (metaphysischen) kollektiven Akteur
voraussetzt, sondern eine besondere Form der Kooperation darstellt
149
. Eine solche
Demokratietheorie erklärt Demokratie als besondere Form der Kooperation und
argumentiert spieltheoretisch. Sie sucht nach einer Aggregationsregel, die die
Präferenzstrukturen aller Individuen eines Kollektivs adäquat in eine kollektive
Präferenz transformieren kann. Denn die Intuition ,,einer Zusammenfassung
individueller Interessen zu einem Gemeininteresse qua Abstimmungsverfahren [bildet]
den Kern, der durch die französische Revolution geprägten Demokratiekonzeption."
150
Damit fokussiert die Logik kollektiver Entscheidungen ihr Interesse in erster Linie auf
die Logik der Aggregation (innerhalb der sozialwissenschaftlichen Erklärung), die die
individuellen Effekte des Handelns der Akteure zu dem jeweiligen kollektiven
Explanandum auf der Makroebene transformiert. Solch eine Aggregationsregel nennt
147
Vgl. Koller, S. 299-304
148
Die folgenden Ausführungen basieren auf: Kern, Lucian; Nida-Rümelin, Julian: Logik kollektiver
Entscheidungen. München und Wien 1994, Kapitel 3 / Nida-Rümelin, Julian; Schmidt, Thomas:
Rationalität in der praktischen Philosophie: Eine Einführung. Berlin 2000, Kapitel 11 / Weale, Albert:
Social Choice. In: Heap, Shaun Hargreaves Heap; Hollis, Martin; Lyons, Bruce; Sugden, Robert; Weale,
Albert: The Theory of Choice ­ A Critical Guide. Oxford Cambridge 1992
149
Vgl.: Nida-Rümelin, Julian: Demokratie als Kooperation. Frankfurt am Main 1999
150
Ebd., S. 85

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Kenneth Arrow, dessen Untersuchung Social Choice and indivividual values sowohl als
zentrales Ergebnis wie auch als Initialuntersuchung der Logik kollektiver
Entscheidungen gilt, soziale Wohlfahrtsfunktion (social welfare function = Soziale
Wohlfahrtsfunktion = SWF)
151
. Diese Transformation ist aber ein schwieriges
Unterfangen, denn eine SWF muss die ordinalen Rangordnungen aller individueller
Präferenzen unter Berücksichtigung zentraler Rationalitätsannahmen in eine kollektive
(ordinale) Rangordnung abbilden. Arrow kann u.a. mit dem Wahlparadox Condorcets
beweisen, dass z.B. eine einfache Mehrheitsregel als Aggregationsregel, wie sie wegen
ihrer intuitiv moralischen Plausibilität in der Praxis häufig angewendet wird, oftmals zu
zyklischen Präferenzrelationen führt, d.h. es liegen letztendlich keine
Präferenzordnungen mehr vor
152
. Die Mehrheitsregel verletzt auf kollektiver Ebene die
Transitivität und zeigt, dass bereits bei sehr simplen Versuchen der Modellierung von
Präferenzaggregationen gravierende Probleme auftauchen
153
, um so mehr bei
komplexen Bedingungen, wie sie z.B. im Rahmen demokratischer Willensbildung
berücksichtigt werden müssen. Arrow zählt fünf Rationalitätsbedingungen, die
mindestens für demokratische Entscheidungsverfahren relevant sind. Es handelt sich um
notwendige, aber keineswegs hinreichende Anforderungen an eine adäquate
Demokratiedefinition und für die Gewährleistung demokratischer Verfahren, die eine
SWF bei der Aggregation der individuellen Präferenzen berücksichtigen muss.
i) Transitivität und Vollständigkeit der Wahloptionen, d.h. die Ordnung muss
komplett und logisch widerspruchsfrei sein.
ii) Uneingeschränkter Gegenstandsbereich: Diese Bedingung stellt sicher, dass
es sich tatsächlich um eine SWF handelt bzw. alle individuellen
Präferenzordnungen nach derselben Transformationsregel korrekt in der
kollektiven Ordnung abgebildet werden.
151
Arrow, Kenneth J.: Social Choice and Individual Values. New York 1951. Nachfolgend wird Arrows
Theorem kurz skizziert. Auf weitere zentrale Ergebnisse des Forschungsbereichs ,Logik kollektiver
Entscheidungen', wie z.B. das Sen-Theorem oder das Gibbard-Satterthwaite-Theorem, kann und muss
verzichtet werden.
152
Vgl. Kern; Nida-Rümelin, S. 29-32
153
An dieser Stelle soll nur kurz das Wahlparadoxon von Codorcet erwähnt werden, das die unlogischen
Implikationen beschreibt, die bei der Anwendung einer einfachen Mehrheitsregel auftreten können. Es
zeigt, dass sich aus transitiven, individuellen Präferenzen intransitive, kollektive Präferenzen ergeben.
Wenn also mehr als zwei Wahlalternativen vorliegen, so kann die Mehrheitsregel nicht zu einem
widerspruchsfreien Ergebnis führen; es liegen zyklische Mehrheiten vor. Zu einer detaillierteren
Erläuterung sei auf Nida-Rümelin 2000, Kapitel 11, S. 169ff. verwiesen.

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iii)
Pareto-Inklusivität: Diese Bedingung fordert ein positives
Entsprechungsverhältnis zwischen sozialen und kollektiven Rangfolgen. Pareto-
Inklusivität besagt, dass, wenn alle Individuen Präferenz x über y vorziehen, dann
die kollektive Präferenz xy lautet bzw. wenn eine Wahloption in der
Präferenzliste eines Individuums einen höheren ordinalen Rangplatz erhält, diese
Option in der gesamtgesellschaftlichen Rangfolge zumindest nicht sinken darf.
iv)
Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen oder
Neutralitätsbedingung: Eine kollektive Ordnung über eine Teilmenge von
Optionen aus einer Gesamtmenge von Optionen muss ausschließlich von den
individuellen Ordnungen über diese Teilmengen abhängen, nicht vom Verhältnis
anderer präferentieller Alternativen zu den Optionen, die gerade zur Wahl stehen.
v)
Ausschluss von Diktatur oder Anonymitätsbedingung: Die
Präferenzordnung eines einzelnen Individuums darf nie allein, ohne die
Berücksichtigung der Präferenzen der übrigen Individuen für die kollektive
Präferenz ausschlaggebend sein bzw. eine kollektive Präferenzrangordnung darf
nicht mit der Präferenzordnung einer einzigen Person inzidieren. Gerade in sehr
kleinen Gruppen kann diese Bedingung rasch unterminiert werden.
Obwohl diese Bedingungen nicht einmal hinreichend Demokratie und demokratische
Verfahren definieren, konnte Arrow zeigen, dass es keine SWF geben kann, die alle
fünf erforderlichen Bedingungen synchron erfüllt
154
. Alle Verfahren der Aggregierung
individueller Präferenzen zu einer kollektiven Präferenz verletzen mindestens eine der
fünf Anforderungen. Zusammenfassend wird diese Erkenntnis als das Arrow'sche
Theorem bzw. ironischerweise als das Possibility-Theorem
155
betitelt. Von einem strikt
logischen Standpunkt aus betrachtet, verabschiedet es sich von der These, dass
Demokratie auf einem Kollektivwillen beruht. Dieser Kollektivwille kann weder auf der
Grundlage logischer Überlegungen konstituiert, noch, obwohl es unseren Intuitionen
widerspricht, Demokratie als einzig moralisch haltbare Staatsform rational begründet
werden, da es keine Transformation individueller Präferenzordnungen zu einer
154
Die Beweisführung und detailliertere Erläuterung muss aus Platzgründen unterlassen werden, ist aber
im Rahmen der Argumentation auch nicht dringend erforderlich. Siehe hierzu: Kern; Nida-Rümelin, S.
35-39
155
Weale und Nida-Rümelin nennen es ohne Umschweife das Unmöglichkeitstheorem.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832488468
ISBN (Paperback)
9783838688466
Dateigröße
930 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Sozialwissenschaften
Note
1,3
Schlagworte
rationale ethik strukturelle rationalität ethischer kohärentismus wissenschaftstheorie spieltheorie
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Titel: Moralbegründung vom Standpunkt der Gesellschaft
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