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Transnationale soziale Lebenswelten jüdischer Zugewanderter aus den Nachfolgestaaten der UdSSR

Beispiele aus Berlin

©2004 Diplomarbeit 192 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Berlin. Ostbahnhof Europas“ lautet ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch Karl SCHLÖGELs. Es greift damit bereits in seinem Titel ein bemerkenswertes Phänomen auf, das nicht erst nach der Osterweiterung der Europäischen Union am 01. Mai 2004 zu beobachten ist. Im städtischen Straßenbild, in den Verkehrsmitteln des ÖPNV, in Einrichtungen des Einzelhandels und des Dienstleistungssektors sowie im kulturellen Leben die Präsenz einer Vielzahl osteuropäische Sprachen sprechender Menschen unüberhörbar.
Bei den Russischsprechenden sind es SpätaussiedlerInnen und jüdische ZuwandererInnen, Au-Pairs, Studierende und Geschäftsleute, zugereiste Ehepartner und KünstlerInnen. Aber auch Flüchtlinge und AsylbewerberInnen aus Krisengebieten stellen einen Teil der russischsprachigen Bevölkerung Berlins dar. Mit diesem Phänomen unmittelbar verwoben scheint besonders das Wachstum der jüdischen Bevölkerung Berlins, die sich vor allem seit der Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion beständig vergrößert.
Internationale Migration als ein zentrales Forschungsfeld der Bevölkerungsgeographie findet im Falle der jüdischen Zuwanderung verstärkt seit 1990 tagtäglich statt. Auswirkungen der Migrationen hinterlassen sowohl auf der Seite der MigrantInnen als auch auf der Seite der bundesdeutschen Gesellschaft Spuren. Denn im Reisegepäck der Zugewanderten befinden sich nicht nur materielle Gegenstände. Ihr ebenfalls mitgebrachtes Wissen, kulturelle Prägungen, Normvorstellungen, raumübergreifenden Beziehungen und Werte bilden die Voraussetzungen für eigenes kreatives Handeln und werden in die hiesige Gesellschaft eingebracht und gelebt. Entgegengesetzt wirken sich die neuen sozialen Lebensumstände und Anforderungen auf das Leben der Zugewanderten aus.
Diese Arbeit widmet sich der Analyse individuell konstruierter Lebenswelten jüdischer ZuwandererInnen. Als Dreh- und Angelpunkt der Erforschung transnationaler sozialer Lebenswelten fungierte das Konzept des Transnationalismus, das an gegebener Stelle vorgestellt wird. Daran anknüpfend steht die zentrale, offen gehaltene Fragestellung: Welche Dimensionen haben diese transnationalen sozialen Lebenswelten, wie werden sie konstruiert und welche Faktoren beeinflussen ihre Herausbildung?
Als Projektionsfläche und Hintergrundinformation zur zentralen Fragestellung wird zunächst die quantitative Entwicklung der jüdischen Auswanderung aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten seit dem Ende der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8624
Dörre, Andrei: Transnationale soziale Lebenswelten jüdischer Zugewanderter aus den
Nachfolgestaaten der UdSSR - Beispiele aus Berlin
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Humboldt-Universität zu Berlin, Diplomarbeit, 2004
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

Autorenprofil
Name:
Andrei Dörre, Jahrgang 1974
Ausbildung:
Ehem. Student der Geographie, Europäischen Ethnologie und
Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, Schwerpunkte: Stadt- und
Bevölkerungsgeographie, v.a. Internationale Migration; Internationale Politik
Ende des Studiums und Abschluss:
März 2005 als Diplom - Geograph
Kontakt:
andrei_doerre@yahoo.de

Inhaltsverzeichnis
II
Gliederung
Seite
Tabellenverzeichnis ...
Abbildungsverzeichnis ...
Verwendete Abkürzungen ...
Danksagung ...
1
Zum Geleit ...
2
Die theoretischen Grundlagen ...
2.1
Raumkonzepte, Ort und Gesellschaft in einer globalisierten Welt ...
2.1.1 Nationalstaaten:
Vermeintliche
Kongruenz
des
Flächen-
und
Sozialraums ...
2.1.2 Das Verhältnis von Sozial- und Flächenraum im Spiegel der
Globalisierung ...
2.1.3 GLOKALISIERUNG: Der Ort im Zeitalter der Globalisierung ...
2.1.4 Schlüsselbegriffe: FLOWS und ­SCAPES ...
2.2
Humangeographische Forschung im Wandel ...
2.2.1 Der CULTURAL TURN in der Geographie ...
2.2.2 Handlungsorientierte Sozialgeographie nach Benno WERLEN ...
2.3
Migrationstheorien im Wandel ...
2.3.1 Kennzeichen klassischer Migrationsansätze ...
2.3.2 Eine neue Perspektive: Das Transnationalismus-Modell ...
2.4
Diskussion: Quantitative und qualitative Ansätze in der geographischen
Migrationsforschung ...
2.4.1 Zur Kritik an quantitativen Ansätzen ...
2.4.2 Qualitative Methoden ­ Eine Fürsprache ...
2.5
Der Stand der Forschung ...
2.5.1 Der Transnationalismus - Ansatz in der akademischen Forschung ...
2.5.2 Ausgewählte Studien zur jüdischen Zuwanderung in die BRD ...
2.5.3 Die Anknüpfung dieser Untersuchung an den Forschungsstand ...
3
Die empirischen Forschungsmethoden dieser Arbeit ...
3.1
Der Forschungsablauf ...
3.2
Hermeneutik und hermeneutische Zirkel ...
3.3
Angewandte Methoden und Arbeitstechniken ...
3.3.1 Problemzentrierte Leitfadeninterviews mit den ProtagonistInnen ...
III
III
IV
1
2
8
9
10
12
14
16
18
18
22
24
24
27
35
35
37
40
40
43
44
46
46
49
53
53

Inhaltsverzeichnis
III
3.3.2 ExpertInneninterviews ...
3.3.3 Aufzeichnung und Transkription der Interviews ...
3.3.4 Die QUALITATIVE INHALTSANALYSE ...
3.3.5 DICHTE BESCHREIBUNG nach Clifford GEERTZ ...
4
Transnationale soziale Lebenswelten jüdischer Zugewanderter in Berlin ...
4.1
Die jüdische Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der UdSSR ...
4.1.1 Ausgangsbedingungen in der ehemaligen Sowjetunion ...
4.1.2 Die ,,vierte Welle": Zielländer und Umfang der Emigration ...
4.2
Der strukturelle Rahmen der jüdischen Zuwanderung in die BR Deutschland
nach 1990 ...
4.2.1 Die rechtliche Grundlage ...
4.2.2 Das Aufnahmeverfahren ...
4.2.3 Soziale Leistungen und Ansprüche ...
4.3
Das jüdische Berlin gestern und heute ...
4.3.1 Historischer Exkurs: Jüdische Zuwanderung aus Osteuropa ...
4.3.2 Jüdische Institutionen in der Stadt ...
4.4
Individuelle Kurzporträts ...
4.4.1 Grenzüberschreitende Beziehungen ...
4.4.2 Die Frage der Identität ...
4.4.3 Konkrete Beispiele transnationaler sozialer Projekte ....
5
Fazit ...
6
Quellenverzeichnis ...
6.1
Literatur ...
6.2
Internetquellen ...
6.3
Juristische Grundlagen ...
7
Anhang ...
7.1
Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen
aufgenommene Flüchtlinge (HumHIG) ...
7.2
Leitfaden der ProtagonistInneninterviews ...
7.3
Leitfäden der ExpertInneninterviews ...
57
59
60
61
63
63
63
68
74
74
75
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80
80
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152
152
170
171
172
172
174
176

Inhaltsverzeichnis
IV
Tabellenverzeichnis
Tab. 2.1: Generalisierte Gegenüberstellung traditioneller und spätmoderner
Gesellschaften ...
Tab. 2.2: Strukturelle Voraussetzungen und Folgeerscheinungen internationaler
Migration aus klassischer und transnationaler Sicht ...
Tab.: 3.1: Interviewte ExpertInnen mit spezifischen Funktionen ...
Tab.: 4.1.1: Jährliche Zuwanderung jüdischer Personen aus der ehemaligen UdSSR im
Zeitraum 1990-2002 nach Israel, USA, BR Deutschland in 1000 ...
Tab.: 4.1.2: Mitgliederzuwachs der jüdischen Gemeinden in der BR Deutschland durch
die russisch-jüdische Zuwanderung 1990-2002 ...
Tabelle 4.3.1: Entwicklung der Mitgliederzahlen der Jüdischen Gemeinden in Berlin von
1990-2002 ...
Tab.: 4.3.2: Religiöse Einrichtungen und Gemeindezentren ...
Tab.: 4.3.3: Friedhöfe und Orte der Erinnerung ...
Tab.: 4.3.4: Internationale politische Institutionen ...
Tab.: 4.3.5: Medien ...
Tab.: 4.3.6: Soziale Einrichtungen ...
Tab.: 4.3.7: Wissenschaft, Forschung und Bildung ...
Tab.: 4.3.8: Kulturelle Institutionen und Sport ...
Tab.: 4.3.9: Unabhängige Organisationen ...
Tab.: 4.3.10: Restaurants und Geschäfte ...
Tab.: 4.4: Interviewte ProtagonistInnen ...
13
28
59
70
73
84
86
87
88
88
89
89
90
91
91
94
Abbildungsverzeichnis
Abb.: 3.1: Phasen des Forschungsablaufes ...
Abb.: 3.2.1: Hermeneutischer Zirkel 1 ...
Abb.: 3.2.2: Hermeneutischer Zirkel 2 ...
Abb.: 4.1.1: Wichtigste Ankunftsländer und der Umfang der jüdischen Auswanderung
aus der UdSSR und den Nachfolgestaaten 1990-2002 in diese Länder (gerundet) ...
Abb.: 4.1.2: Umfang und Tendenz der jährlichen russisch-jüdischen Zuwanderung nach
Israel und USA 1990 ­ 2002 ...
Abb.: 4.1.3: Jährlicher quantitativer Umfang der jüdischen Zuwanderung in die BR
Deutschland aus den Nachfolgestaaten der UdSSR im Entwicklungszeitraum 1990-
2002 ...
Abb.: 4.2: Königsteiner Schlüssel im Mai 2004 ...
Abb.: 4.5: Jüdische Institutionen in Berlin (Auswahl) ...
46
49
50
69
71
72
77
92

Inhaltsverzeichnis
V
Verwendete Abkürzungen
Abb.
Abbildung
AIB
Antifaschistisches Infoblatt
AJC
American Jewish Committee
ASSR
Autonome Sozialistische Sowjetrepublik
BAFI
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
BaföG
Bundesausbildungsförderungsgesetz
BayVG
Bayerisches Verwaltungsgericht
Bd.
Band
BJSD
Bund Jüdischer Studenten in Deutschland
BPB
Bundeszentrale für politische Bildung
bzw.
beziehungsweise
CDU
Christlich Demokratische Union
d.A.
Der Autor (dieser Arbeit)
DAMU
Deutsche Assoziation der Absolventen und Freunde der Moskauer
Lomonossow-Universität
DDR
Deutsche Demokratische Republik
d.H.
Das heißt
ESRC
Economic and social research council
GFK
Genfer Flüchtlingskonvention
GUS
Gemeinschaft unabhängiger Staaten
H.
Heft
HIAS
Hebrew Immigrant Aid Society
Hrsg.
Herausgeber
HumHIG
Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen
aufgenommene Flüchtlinge
Jg.
Jahrgang
k.A.
keine Angaben
Kap.
Kapitel
K.d.ö.R.
Körperschaft des öffentlichen Rechts
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
MMZ
Moses Mendelsohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam
MSSR
Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik
NVA
Nationale Volksarmee
Nr.
Nummer

Inhaltsverzeichnis
VI
RF
Russische Föderation
RN
Randnummer
RSFSR
Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
StatLAB
Statistisches Landesamt Berlin
SU
Sowjetunion
Tab.
Tabelle
UdSSR
Union der sozialistischen Sowjetrepubliken
VG
Verfassungsgericht
Vol.
Volume (Band)
WIGB
Wissenschaftliche Gesellschaft bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
ZWST
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.

7
Danksagung
Diese Aufzeichnung hätte ohne die umfangreiche Unterstützung während des
gesamten Studiums durch meine Eltern, Natalja und Wolfram Dörre, und die
konstruktiven Kritiken Olga Lindners, Antje Böttchers, Matthias Naumanns, Romy
Döges und Kay Sonchocky-Helldorfs, die wichtigen Anregungen Olaf Glöckners vom
Moses-Mendelsohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität
Potsdam, Judith Kesslers und Marco Mundelius´ sowie die Nutzung und
Unterstützung folgender Institutionen nicht entstehen können: Wissenschaftliche
Gesellschaft bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Zentralwohlfahrtsstelle der
Juden in Deutschland e.V. in Frankfurt am Main, die Bibliotheken der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin sowie der Berliner Zweigstelle des American Jewish Committee.
Ihnen allen, obendrein den interviewten ExpertInnen, gilt mein herzlicher Dank!
Meine ganz besondere Dankbarkeit gilt den interviewten ProtagonistInnen, die
mir alle mit großer Geduld und Offenheit begegneten. Ich bin mir des
außerordentlichen Vertrauens bewusst, das sie mir entgegengebracht haben.
Aufgrund ihrer reichhaltigen Schilderungen der persönlichen Erfahrungen wurde die
Ausarbeitung in der vorliegenden Form überhaupt erst möglich.
,
.
,
.
.
Olga Lindners Bereitschaft, bei Anfragen und Bitten um kritische Beurteilungen
jederzeit ansprechbereit zu sein, erwies sich als unverzichtbarer Beistand bei der
Erstellung des Manuskripts. Dabei fand sie immer die richtigen und motivierenden
Worte. Ihr und meinen Eltern widme ich diese Arbeit.
Berlin, den 30. Juli 2004

1 Zum Geleit
8
1
Zum Geleit
,,Berlin. Ostbahnhof Europas" lautet ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch. Es
greift damit bereits in seinem Titel ein bemerkenswertes Phänomen auf, das nicht
erst nach der Osterweiterung der Europäischen Union am 01. Mai 2004 zu
beobachten ist.
1
In der U-Bahn, im Bus, auf der Strasse, in Geschäften oder beim
Besuch von Behörden ist die Präsenz einer Vielzahl russischsprechender Menschen
unüberhörbar. Es sind SpätaussiedlerInnen und jüdische ZuwandererInnen, Au-
Pairs, Studierende und Geschäftsleute, zugereiste Ehepartner und KünstlerInnen.
Aber auch Flüchtlinge und AsylbewerberInnen aus Krisengebieten stellen einen Teil
der russischsprachigen Bevölkerung Berlins dar (vgl. BURCHARD, 2002 (a): 7).
Zeitungshalter an Kiosken präsentieren eine Fülle von Publikationen in russischer
Sprache, vielfältige Einzelhandelsgeschäfte, gastronomische Einrichtungen und
Dienstleistungsunternehmen werben multilingual um Kundenzuspruch für ihre
Angebote. Spezialisierte Reiseunternehmen führen Fahrten in die Nachfolgestaaten
der ehemaligen UdSSR sowie damit verbundene organisatorische Dienstleistungen
und Aufgaben durch. Zwischen Berlin und Zielen in der Nachfolgestaaten der
ehemaligen UdSSR bestehen mehrfache tägliche Direktverbindungen: ein täglicher
Zug mit verbindet Kiew mit Berlin und bietet Möglichkeiten, mit angekoppelten
Kurswagen ohne Umzusteigen Charkov, Simferopol, Lvov oder Kaliningrad zu
erreichen. Alle zwei Tage verkehren Züge zwischen Moskau, Saratov und Berlin.
Täglich bestehen mehrfache Flugverbindungen von und nach Moskau. Vilnius, Minsk
und St. Petersburg werden ebenfalls fast jeden Tag von Berliner Flughäfen
angesteuert.
Vielfältig sind auch die Busreisemöglichkeiten vom und zum Berliner
Zentralen Omnibusbahnhof: Vilnius, Minsk, Kiew, Riga, Tallin, Moskau und St
Petersburg sind nur die Hauptziele jener Reiserouten, die eine Vielzahl weiterer Orte
ansteuern (vgl. SOMMERFAHRPLAN: 15, 20, 23, 34, 47ff). Lesungen,
Ausstellungen, Cluberöffnungen oder Theatervorführungen ­ kulturelle Ereignisse
einschlägiger Institutionen wie dem Haus der russischen Kultur in der Friedrichstraße
unter Mitwirkung von KünstlerInnen mit osteuropäischem Sprach- und
Herkunftshintergrund können in Berlin täglich besucht werden. Verschiedene, von
und für MigrantInnen gegründete Gruppen, Vereine und Organisationen bieten
1
Karl SCHLÖGEL beleuchtet das Berlin des 20. Jahrhunderts als Transitstation zwischen Ost- und Westeuropa.
Er deckt Beziehungen zwischen ansässigen Deutschen, russischen Durchreisenden und ZuwandererInnen auf
und zeigt, wie sich Berlin im 20. Jahrhundert zum Zentrum der deutsch-russischen Symbiose entwickelte.

1 Zum Geleit
9
Treffpunkte, Kommunikationsräume, Kontaktmöglichkeiten, Beratungen und
Ausbildungskurse für Zugewanderte an.
Mit diesem Phänomen unmittelbar verwoben scheint das Wachstum der
jüdischen Bevölkerung Berlins, die sich zum vor allem mit der Zuwanderung aus den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion vergrößert (vgl. ZWST). Die Mitgliederzahlen der
religiösen jüdischen Gemeinden
2
steigen und sich selbst als jüdisch bezeichnende
Kunst und Kultur präsentiert sich zunehmend im vielfältigen urbanen Kulturangebot
Berlins. Laut dem Soziologen BODEMANN scheint das jüdische Leben in der BR
Deutschland und vor allem in Berlin nach den Schrecken des Holocausts eine
Renaissance (ebd.: M1) zu erleben.
Diese Entwicklung weckte mein Interesse und so vertiefte ich mich in die
Thematik der jüdischen Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der UdSSR nach
1990. Mein Wissen aus dem Studium der Geographie, besonders der
Bevölkerungsgeographie, schien sich bei der Annäherung an das Forschungsfeld
überaus passend mit den Erkenntnissen aus dem Studium der Europäischen
Ethnologie, die ich als Nebenfach an der Humboldt-Universität zu Berlin studierte, zu
ergänzen: Internationale Migration als ein zentrales Forschungsfeld der
Bevölkerungsgeographie findet im Falle der jüdischen Zuwanderung verstärkt seit
1990 tagtäglich statt. Auswirkungen der Migrationen hinterlassen sowohl auf der
Seite der MigrantInnen als auch auf der Seite der bundesdeutschen Gesellschaft
Spuren. Denn im Reisegepäck der Zugewanderten befinden sich nicht nur materielle
Gegenstände. Ihr ebenfalls mitgebrachtes Wissen, kulturelle Prägungen,
Normvorstellungen und Werte bilden die Voraussetzungen für eigenes kreatives
Handeln und werden in die hiesige Gesellschaft eingebracht und gelebt.
Entgegengesetzt wirken sich die neuen sozialen Lebensumstände und
Anforderungen auf das Leben der Zugewanderten aus. Daran angeknüpft, stellten
sich Fragen nach Lebensstrategien, nach der Zuwanderung, Bindungen zum
Herkunfts- und dem Niederlassungsort, Konstruktionen kultureller Identität und den
Integrationsprozessen in die bundesdeutsche Gesellschaft. Aus diesen Erörterungen
entstand der Gedanke, meine Studienabschlussarbeit dem Themenbereich der
jüdischen Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der UdSSR zu widmen.
Eine vorläufige Kategorisierung der im Forschungsfokus Stehenden als
soziale Einheit an einem geographischen Ort schien mir als Ausgangspunkt meiner
2
In Berlin existieren zwei jüdische Gemeinden: Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Addas Jisroel.

1 Zum Geleit
10
Überlegungen
unvermeidbar
da
nur
so
eine
Abgrenzung
der
im
Betrachtungszentrum
stehenden
ProtagonistInnengruppe,
des
räumlichen
Forschungsfeldes, als auch des notwendigen räumlichen Bezugs geographischer
Forschungstätigkeit realisiert werden konnte. Die primäre Gemeinsamkeit der
ProtagonistInnen stellt das Jüdisch-Sein im Sinne einer nationalen Zugehörigkeit dar.
Wie später ausführlich dargestellt wird, ermöglicht dies eine Zuwanderung in die BR
Deutschland durch eine spezifische Zuwanderungsregelung. Maßgeblich schätzte ich
den Umstand ein, dass unabhängig von der individuellen Herkunft die Beherrschung
einer gemeinsamen Sprache ­ Russisch ­ eine zweite zentrale Gemeinsamkeit
darstellt. Dies ist insofern von herausragender Bedeutung, als dass durch diese
Sprache verbale Kommunikation zwischen Menschen mit ähnlichen Hintergründen
möglich wird. Weiter ging ich davon aus, dass der größte Teil der Betroffenen einen
bedeutenden Lebensabschnitt in der UdSSR bzw. in deren Nachfolgestaaten
verbracht hat. Die Eingliederung in das sowjetische Gesellschaftssystem, verbunden
mit ähnlichen, individuellen Sozialisationserfahrungen als Auswirkung der
spezifischen Nationalitätenpolitik der UdSSR, stehen ferner neben den Kenntnissen
bestimmter Verhaltensregeln, Norm- und Wertevorstellungen sowie, vorerst
vermuteten, ersten ähnlichen Erfahrungen nach der Zuwanderung in die BR
Deutschland. So handelt es sich bei den Akteuren um VertreterInnen der ersten
Generation der noch relativ jungen russisch-jüdischen Zuwanderung.
Um die Klarheit und Stringenz der Darstellung des Forschungsprojektes zu
gewährleisten, gliedern sich die Ausführungen nach einem linearen Schema: Den
theoretischen Grundlagen folgt die Darstellung der angewandten empirischen
Forschungsmethoden mit Begründung, die Feldbeschreibung und schließlich die
Präsentation der Ergebnisse. Der Forschungsprozess gestaltete sich jedoch
keineswegs so geradlinig und reibungslos. Vielmehr kreiste der Erkenntnisprozess
zwischen gewonnenen Antworten und neuen Fragen und damit neuen theoretischen
Grundüberlegungen, die wiederum veränderte Annäherungen an das Feld anboten.
Diesen Verstehensprozess umschreibt das Modell des hermeneutischen Zirkels
treffend (vgl. Kapitel 3.2). Durch die gewählte Darstellungsform werden die
Ansprüche erfüllt, die einer Arbeit das Prädikat der Wissenschaftlichkeit verleihen:
Die empirischen Verfahren müssen dem Forschungsfeld und der Forschungsfrage
angemessen ­ valid - sein und dabei Verlässlichkeit besitzen. Daneben müssen sie
Reliabelität besitzen, so dass bei erneuter Untersuchung unter weitestgehend

1 Zum Geleit
11
gleichen Rahmenbedingungen keine grundlegend anderen Ergebnisse erzielt
werden dürfen. Dieses zieht das Kriterium der Überprüfbarkeit und
Nachvollziehbarkeit
des
Forschungsprozesses
nach
sich
(vgl.
BERG-
SCHLOSSER/QUENTER: 19f).
Diese Arbeit widmet sich der Analyse individuell konstruierter Lebenswelten
jüdischer ZuwandererInnen. Als Dreh- und Angelpunkt der Erforschung
transnationaler sozialer Lebenswelten fungiert das Konzept des Transnationalismus,
das an gegebener Stelle vorgestellt wird.
3
Anders ausgedrückt, sollen ausgehend
von der Mikroebene individueller Fallbeispiele - also in Berlin lebender jüdischer
ZuwandererInnen - Konstruktionen von Lebenswelten, die sich in transnationalen
sozialen Feldern aufspannen, offengelegt werden. Denn jüdische MigrantInnen aus
den Nachfolgestaaten der UdSSR bewahren alltagsprägende, nationalstaatliche
Grenzen überschreitende Beziehungen oder erschaffen diese neu, so die
Ausgangshypothese dieser Arbeit. Daran anknüpfend, steht im Zentrum der
Untersuchung die offen gehaltene Fragestellung: Welche Dimensionen haben diese
transnationalen sozialen Lebenswelten, wie werden sie konstruiert und welche
Faktoren beeinflussen ihre Herausbildung?
Wie der Titel bereits verrät, stellen Migrationsereignisse einen besonderen
Stellenwert in den persönlichen Biographien der ZuwandererInnen dar. Die
theoretischen Überlegungen wurden daher aus der Auseinandersetzung mit
Theorien der Migration entwickelt. Das klassische Interesse der Migrationsforschung
zielte auf die Untersuchung der Ursachen, Gründe und des Verlaufs von
Migrationsereignissen ab, um Gesetzmäßigkeiten über Migrationserscheinungen zu
formulieren. Es interessierten die begünstigenden Kräfte und ihr Einfluss auf
Wanderungsentscheidungen, die Frage nach Beziehungen zwischen Distanz und
Wanderungsvolumen. Als unmittelbar anknüpfendes Verhalten von MigrantInnen im
Zielland wurde deren Eingliederung, Assimilation oder Integration in die Gesellschaft
und der vermeintlich einheitlichen, nationalen Kultur jenes Ziellandes mitgedacht.
Bei der Betrachtung zunehmender grenzüberschreitender sozialer,
ökonomischer und politischer Beziehungen vor dem Hintergrund der globalisierten
Welt scheinen diese traditionellen Konzepte jedoch keinen ausreichenden
Erklärungsgehalt für dauerhafte grenzüberschreitende Beziehungen zu bieten. Das
Phänomen
der
Globalisierung
als
fortschreitende
Intensivierung
3
Es besteht keine Identität mit dem Begriff der Diaspora, der klassisch für die Beschreibung der jüdischen,
global verteilten Bevölkerung als Form einer entgrenzten Gesellschaftsform herangezogen wird.

1 Zum Geleit
12
grenzüberschreitender Beziehungen auf politischer, ökonomischer und sozialer
Ebene vermag die Entwicklung sogar zu begünstigen, wie CASTLES/MILLER 1993
feststellen (vgl. ebd.).
Das Konzept des Transnationalismus bietet einen Ansatz, der die
unbefriedigenden
Erklärungspotentiale
traditioneller
sozialwissenschaftlicher
Konzepte aufgreift und dabei Alternativen oder gar konzeptionelle Gegenentwürfe
darstellt. Bezogen auf traditionelle Modelle der Migrationsforschung verneint das
Transnationalismus-Modell das klassische Merkmal der Migration als einseitig
gerichteten, bipolaren Wanderungsprozess - eine der Basisannahmen klassischer
Konzepte. Weiter wird die Verwurzelung mit ausschließlich einem sozialen und
kulturellen Ort sowie eine Kausalverbindung zwischen Kultur und geographischem
Ort abgelehnt. Transnationale Migration als besondere Form von Mobilität wird von
einer zunehmenden Anzahl Menschen praktiziert. Die Aufrechterhaltung des
beidseitigen Kontaktes zwischen Akteuren und Strukturen im Herkunftsland und
jenen am Zielort findet laut diesem Konzept in vielfältiger Form statt und führt zur
Entwicklung transnationaler sozialer Räume, Felder und transnationaler Netzwerke,
die nationalstaatliche Grenzen überbrücken oder durchdringen. Durch diese
Austauschbeziehungen wird eine Einbindung der in transnationalen sozialen
Räumen Verorteten in zwei oder mehrere Gesellschaften mit vielfältigen Identitäten
möglich.
Als Projektionsfläche und Hintergrundinformation zur zentralen Fragestellung
wird zunächst die quantitative Entwicklung der jüdischen Auswanderung aus der
UdSSR und ihren Nachfolgestaaten seit dem Ende der 1980er Jahre skizziert. Die
seit 1990 anhaltende russisch-jüdische Migration in die BRD wird nachgezeichnet.
Dabei werde ich einführend die rechtlichen Zuwanderungstore darstellen sowie
statistisches Datenmaterial einbeziehen.
Um spezifische Informationen zur Lage in Berlin zu erhalten, wurden
ExpertInneneninterviews mit Vertretern unterschiedlicher Institutionen durchgeführt.
Da primär die individuelle Ebene der Konstruktion transnationaler sozialer Felder
interessierte, lag im weiteren Untersuchungsverlauf der ausdrückliche Schwerpunkt
auf der Wahl qualitativer Forschungsmethoden. Durch diese Annäherungsstrategie
sollten transnationale Lebenswelten und der Bedeutungswandel klassischer
sozialwissenschaftlicher Konzepte auf der Individualebene sichtbar gemacht werden.
Die Durchführung von Interviews erschien mir dabei als besonders geeignete

1 Zum Geleit
13
Strategie. Die Chance, auf individuell gelebte und empfundene Lebenswirklichkeit
der ProtagonistInnen zu treffen, schien dabei besonders hoch. Als zweckdienliche
Vorgehensweise stellte sich das Konzept des problemzentrierten Interviews dar,
welches durch einen vorgefertigten Leitfaden charakterisiert ist. Bei dieser
Vorgehensweise waren meine Kenntnisse der russischen Sprache von Vorteil, da ich
die Gespräche weitestgehend auf Russisch führte. Ich vermutete, dass durch die
Kommunikation in der vertrauteren Sprache die Wahrscheinlichkeit des offenen
Umgangs mit mir als Interviewer höher sein würde. Ausgehend von der Fragestellung
sollten durch die Interviews biographische Informationen, Erwartungen und
Einschätzungen der Migration sowie die individuellen Strategien sich ein neues
Leben aufzubauen, aufgedeckt werden. Die transkribierten Interviews wurden einer
qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, ausgewertet und individuelle Fallbeispiele
durch die Methode der dichten Beschreibung nach Clifford GEERTZ dargestellt.
Dabei wurden unterschiedliche Dimensionen transnationaler Handlungsformen im
privaten und professionellen Bereich offenkundig. Nicht alle ProtagonistInnen jedoch
gestalten ihr Leben nach transnationalen Mustern in Form beständiger Migration oder
grenzüberschreitender Beziehungen. Für einige der interviewten Personen rissen die
Beziehungen zum Herkunftsland im Zuge der Migration fast vollständig ab oder
lassen im Zeitverlauf kontinuierlich nach, während sie gleichzeitig ihre
Lebensgestaltung auf die bundesdeutsche Gesellschaft ausrichten.
Für die im Zentrum der Betrachtung stehenden ProtagonistInnen dieser Arbeit
wurden im Text unterschiedliche Bezeichnungen benutzt. Angeregt durch Franziska
BECKERs Studie werden auch hier die Benennungen russische Juden, sowjetische
Juden,
jüdische,
russisch-jüdische
ZuwandererInnen
oder
jüdische
NeuzuwandererInnen synonym verwendet. Zwar sind die Bezeichnungen nicht
immer korrekt im Sinne der nationalstaatlichen Herkunft, jedoch allgemein
verständlich. Ebenfalls sollen die Termini der Wanderung, Zuwanderung und
Migration sowie der Zugewanderten und MigrantInnen mit der gleichen Bedeutung
gelesen werden. Erfahrungsgemäß leidet die Lesbarkeit von Texten bei paralleler
Nennung der männlichen und weiblichen Substantivformen. Mit der Verwendung des
gängigen Suffixes ,,­Innen" bzw. eines geschlechtsneutralen Formulierungsstils
verfolgte ich den Anspruch, geschlechtsspezifische Diskriminierungen in der
Abhandlung zu vermeiden.

2 Theoretische Grundlagen
14
2 Die theoretischen Grundlagen
In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen der Untersuchung
vorgestellt. Zum einen stellten sie den Ausgangspunkt des wissenschaftlichen
Zugangs zu dieser empirischen Untersuchung dar. Zum anderen jedoch mussten sie
durch fortschreitendes hermeneutisches Verständnis fortwährend überdacht und
geschärft werden.
Zunächst sind die Globalisierungsphänomene begleitenden Prozesse zu
betrachten. Sie bilden die Projektionsfläche, auf der transnationale soziale
Lebenswelten darstellbar werden. Besonders wichtig erscheinen in diesem
Zusammenhang die Bedeutungsverschiebungen der Konzepte des Flächenraumes,
des Sozialraumes, der Kategorie des Ortes sowie der Auswirkungen auf menschliche
Gesellschaften (vgl. ALBROW, 1998 (b): 425). Deshalb wird gleich zu Beginn auf
Transformationen von Raum- und Ortskonzepten eingegangen. Mit der Zuwanderung
jüdischstämmiger MigrantInnen in die BR Deutschland sind bemerkenswerte, als
transnational zu bezeichnende Phänomene verbunden. Um diese zu erfassen, wurde
auf das Modell des Transnationalismus und speziell der transnationalen Migration als
Teilbereich des Konzeptes zurückgegriffen. Diese werden in eigenen Kapiteln
vorgestellt.
Die
Fokussierung
der
Individualebene
durch
den
Transnationalismusansatz korrespondiert mit dem Forschungsanspruch der
handlungszentrierten Sozialgeographie nach Benno WERLEN. In Folge eines
transformierten Kulturverständnisses als Konsequenz des humangeographischen
cultural turn rückt das individuelle ,,Geographie-Machen" (WERLEN, 1998 (a): 28) im
Alltag in das Zentrum des Interesses. Die Migrationsforschung als Teilbereich
humangeographischer Forschung erlebte einen Wandel in der theoretischen
Ausrichtung, der sich notwendigerweise auf die Wahl der methodischen Mittel
empirischer Untersuchungen auswirkte. Darum wird die Wahl des hier angewandten
Zugangs zunächst durch eine Gegenüberstellung quantitativer und qualitativer
Methoden nachvollziehbar begründet. Abschließend erfolgt die Illustration des
Forschungsstandes bezüglich der Theorie des Trapsnationalismuskonzepts und
empirisch beobachtbaren, transnationalen Phänomenen. Daran anknüpfend wird ein
Überblick über bereits stattgefundene Untersuchungen zur jüdischen Zuwanderung
aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten in die BR Deutschland ab 1990
gegeben.

2 Theoretische Grundlagen
15
2.1
Raumkonzepte, Ort und Gesellschaft in einer globalisierten Welt
Angesichts der weltweiten Transformationen im ,,globalen Zeitalter" (ALBROW, 1998
(a)) scheint Raum als sozialwissenschaftliches Forschungsfeld an Bedeutung zu
gewinnen (vgl. ROBERTSON, 1998: 203; PRIES, 1999: 437). Zeitgleich scheint
jedoch eine Verminderung der Bedeutung des Raumes stattzufinden, beobachtet
man die quantitativ wachsende schnelle und beständige Distanzüberwindung durch
grenzüberschreitende Migrationen, Kommunikation und Handel, die Diskussionen um
Bedeutungsverluste staatlicher Grenzen oder den Diskurs um vermeintliche kulturelle
Homogenisierung. So erscheinen als augenfälligste Merkmale der Globalisierung die
Potentiale distanzübergreifenden Handelns (vgl. WERLEN, 2002: 14): Hohe
Entfernungen stellen kein Handlungshemmnis mehr dar. Nach GIDDENS ist es die
Ausdehnung der Wirkungsradien sozialer Handlungen, also das Auftreten einer
raumzeitlichen
Abstandvergrößerung
(ebd.,
1995:
85),
welche
das
Globalisierungsphänomen maßgeblich prägen. Damit wird die scheinbar polare
Gegenüberstellung von Lokalem und Globalem in neuer qualitativer Form überbrückt
(vgl. WERLEN, 2002: 14). GIDDENS formuliert sein Globalisierungsverständnis wie
folgt:
,,Definieren lässt sich der Begriff der Globalisierung demnach im Sinne einer
Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher
Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge
geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und
umgekehrt."
(ebd., 1995: 85)
Die neuen Handlungsmöglichkeiten wirken unmittelbar auf das Gesellschafts-Raum-
Verhältnis, welches das Kerninteresse der Sozialgeographie bildet (vgl. WERLEN,
2000: 11). Als wissenschaftliche Disziplin an der Schnittstelle (ebd.) zwischen
Geographie und Soziologie angelegt, stehen dabei Menschen als handelnde
gesellschaftliche Akteure im Zentrum sozialgeographischer Betrachtungen und nicht
natürliche oder räumliche Kategorien (vgl. WERLEN, 2002: 13):
,,Es geht nicht mehr darum, eine handlungsorientierte Raumwissenschaft betreiben zu
wollen, ... Es geht vielmehr um das Betreiben einer raumorientierten
Handlungswissenschaft, ..."
(ebd., Hervorhebungen im Original)
WERLEN betont drei Dimensionen der Raumaneignung, die durch menschliche
Handlungen verfolgt werden: die ökonomische, normative und symbolische Sphäre

2 Theoretische Grundlagen
16
(vgl. ebd., 2002: 14f). Aus dieser handlungsorientierten sozialgeographischen Sicht
befinden sich somit russisch-jüdische ZuwandererInnen als aktiv handelnde Subjekte
im Fokus der vorliegenden Forschung. Zwischen der Bildung transnationaler
Strukturen durch die ProtagonistInnen als besondere Art und Weise des alltäglichen
Geographie-Machens (vgl. WERLEN, 1998 (a): 28) und Globalisierungsprozessen
scheinen unmittelbare Verbindungen zu bestehen. Denn mit der globalen
Verknüpfung lokaler Gegebenheiten ist die Erzeugung transnationaler Kulturen sowie
weltumspannende, soziale Interaktionsnetze verbunden (vgl. WERLEN, 2000 (a):
384). Der geographische Raum spielt dabei eine Rolle als Handlungsdimension,
ohne dabei diese Handlungsformen zu determinieren. Physisch-materielle
Raummerkmale wirken diesem Ansatz nach nicht auf subjektive Handlungen und
tragen keine ursprünglichen soziokulturellen Bedeutungen in sich. Diese werden erst
durch bewusste Aktivitäten und Sinnzuschreibung verliehen.
2.1.1 Nationalstaaten: Vermeintliche Kongruenz des Flächen- und
Sozialraums
Der raumwissenschaftliche geographische Ansatz basiert auf dem Konzept des
absoluten Raumes (vgl. GLÜCKLER: 40).
4
Der erdgebundene Raum ist im
ARISTOTELESschen Sinne substantiell existierend und wird in der Ausformung klar
begrenzter,
spezifischer
räumlicher
`Container´
mit
individuellen
Wesenseigenschaften und Charakteristika gedeutet. Diese immobilen, voneinander
klar abgegrenzten Behälter schließen die Substanz der physisch-materiellen
Komponenten der Erdoberflächengestalt ein, welche sowohl massiven Einfluss auf
soziale Prozesse in dem abgegrenzten Raum haben als auch von diesen geformt
werden (vgl. ebd.: 18f; PRIES, 1999: 442). Relief, Böden, klimatische Verhältnisse,
Flora und Fauna prägen menschlichem Handeln typische Merkmale ein, bei
gleichzeitiger Kreation unverwechselbarer Raumentitäten durch dieses menschliche
Wirken (vgl. WARDENGA: 8f). Von dieser Vorstellung ableitend ergibt sich auf der
Erdoberfläche ein Mosaik kontingenter Raumeinheiten gleicher Merkmalsausprägung
(GLÜCKLER: 42) ­ räumlich identifizierbarer Regionen, die aus dem
HETTNERschen Verständnis die Objekte der traditionellen Länderkunde waren. Ziel
dieser Perspektive war die Kreation einer geordneten Welt auf der Basis
abgegrenzter Territorialstrukturen mit dem Nationalstaat als hierarchisch am
4
Dieses wird auch als substantialistisches Raumverständnis bezeichnet (vgl. GLÜCKLER: 15).

2 Theoretische Grundlagen
17
höchsten angesiedelte Einheit (vgl. ALBROW, 1998 (b): 426). Die raumzentrierte
Sichtweise schien angesichts der zunehmenden Informationsfülle infolge der
Entwicklung der Naturwissenschaften und Völkerkunde seit dem 19. Jahrhundert
zunächst auch vorteilhaft, erlaubte sie doch eine Komplexitätsreduktion des
Datenmaterials durch die Anordnung in einem übersichtlichen System von
Containerräumen (vgl. WARDENGA: 8).
Wie erwähnt, bildet das Gesellschafts-Raum-Verhältnis das Kernanliegen der
Sozialgeographie. Damit lastet das Interesse der Disziplin aber auf einem zentralen
Konfliktbereich der Menschheit und übernimmt enorme politische Verantwortung: Der
Frage nach der räumlichen Organisation von Gesellschaften. Vor allem im Bereich
der politischen Steuerung werden insbesondere soziale Sachverhalte und
Konstellationen traditionell bis zur heutigen Zeit zumeist in Abhängigkeit von
räumlichen Bedingungen und in Anlehnung an das Absolutraumkonzept dargestellt:
Über den territorialen Nexus findet das theoretische Prinzip der Kongruenz von
Gesellschaft, Kultur und Territorium bis auf die Ebene der Nationalstaaten
Beachtung: Durch die abstrahierte Annahme interner Homogenität in historischer,
sprachlicher und kultureller Hinsicht sowie sozialer Differenzierung ließen sich
vermeintliche Nationalgesellschaften spezifizieren und unterscheiden (vgl. PRIES,
2001: 6). Demnach umfasst der nationalstaatliche Behälter auf definiertem
nationalstaatlichem Territorium in sich eingebettet Nationalgesellschaften und
Nationalkulturen (vgl. ALBROW, 1997: 291). Jedoch birgt das Konzept enorme
Sprengkraft, wie historische Beispiele lehren. Deshalb soll dieses Prinzip hier in
kurzer Form vorgestellt werden.
Nationalstaaten als Modelle politisch definierter, nach außen abgegrenzter
und von legitimierter Staatsgewalt verteidigter Territorien existieren im historischen
Verlauf des menschlichen Daseins erst seit relativ kurzer Zeit: die Blütezeit ihrer
Entstehung ist im 19. und 20. Jahrhundert zu verorten (vgl. PRIES, 2001: 5). Dem
Containermodell nach, definiert der Flächenraum nationalstaatlicher Territorien den
Sozialraum der darin lebenden BürgerInnen sowie kollektive soziokulturelle und
nationale Identitäten (vgl. ebd.: 9; VONDERAU: 9f).
5
Dies wird durch die doppelt
exklusive Verschachtelung beider Räume in den Container-Gesellschaften (PRIES,
2001: 58) möglich. Die territorialen und sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen
des Konzeptes entfalten dabei eine zweifache Wirkung der Überlappung: Die
5
Den Begriff des Containers führte Albert Einstein bei seiner kritischen Beurteilung mechanistischer
Raumkonzepte ein (vgl. PRIES, 2001: 60).

2 Theoretische Grundlagen
18
territoriale nationalstaatliche Ausdehnung gibt eine eineindeutige Reichweite des
Sozialraumes der Nationalgesellschaft vor. Die Erstreckung des Sozialraumes ist
umgekehrt einer einzigen territorialen Einheit zuzuordnen, dem Gebiet des
Nationalstaats. Zwischen beiden Extensionen bestünde faktisch ein 1:1 ­
Maßstabsverhältnis (vgl. KASCHUBA: 124). Welches Motiv verbirgt sich hinter
diesem Konzept? Es ist die Suche nach Eindeutigkeit. Durch die undifferenzierte
dominante Definition des Eigenen in Form nationaler, ethnischer, soziokultureller und
religiöser Kategorien wird gleichzeitig das Prinzip des Ausschlusses des Anderen
und Fremden, das heißt aller von den definierten Werten der Zugehörigkeit
abweichenden Positionen, zum Zweck der Reinhaltung eindeutiger dualer Kategorien
durchgesetzt (vgl. PRIES, 2001: 5): Die Existenz multipler Identitäten, mehrfacher
Zugehörigkeiten, pluri-lokale(r) (PRIES, 2001: 60) und supranationaler Sozialräume
wird unterschlagen. Diesem Konzept entgegenlaufende Sozialraumprojekte wie die
der armenischen und jüdischen Diaspora, wurden nicht als Bestandteile nationaler
Gesellschaften gesehen bzw. als Übergangsphänomene bis zur endgültigen
soziokulturellen Integration in die jeweilige Nationalgesellschaft interpretiert. Die
Bedeutung mehrfach örtlich gebundener, sozialer Räume wächst jedoch: Sei es auf
der substaatlichen Ebene der Regionalisierung oder der supranationalen Ebene der
Globalisierung ­ das Modell abgeschlossener Container-Gesellschaften und ihre
Betrachtung
durch
eine
chorographische
Brille
wird
angesichts
des
Bedeutungswandels nationaler Grenzen und des quantitativen Anwachsens
grenzüberschreitender Handlungen, Beziehungen und multipler Verortungen bzw.
Identitäten zunehmend problematisch (vgl. ebd.: 59f).
2.1.2 Das Verhältnis von Sozial- und Flächenraum im Spiegel der
Globalisierung
Die im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Sichtweise des bereits in der
Vergangenheit strittigen und unbeweisbaren Postulats der Kongruenz von
Flächenraum und Gesellschaft wird jedoch im globalen Zeitalter (ALBROW, 1998)
zunehmend zweifelhaft (vgl. WERLEN, 2000 (b): 7). Dies wird deutlich bei der
Gegenüberstellung idealtypischer Modelle traditioneller und spätmoderner
Gesellschaften (vgl. WERLEN, 2000 (b); WERLEN, 1993). Die folgende Tabelle
veranschaulicht dies:

2 Theoretische Grundlagen
19
Merkmale
Traditionelle Gesellschaften
Spätmoderne
Gesellschaften
Lebenszusammenhang
Lokale Gemeinschaft
,,Globales Dorf"
Kommunikation
v.a. face-to-face
Kommunikation
Durch abstrakte Systeme
(Geld), moderne Transport-
und
Kommunikationstechnologien
Kontakt über hohe Distanzen
Erfahrungshintergrund
Tradition
Alltägliche Routine
Soziale Beziehungen
v.a.
Verwandtschaftsbeziehungen
Globale Generationskulturen
Soziale Position
Über Herkunft, Alter,
Geschlecht definiert
Beeinflusst über Stellung im
Produktionsprozess
Kommunikationsreichweite
Geringer Umfang
interregionaler Kommunikation
Weltweite
grenzüberschreitende und
­durchdringende
Kommunikation
Tabelle 2.1: Generalisierte Gegenüberstellung traditioneller und spätmoderner Gesellschaften
Eigene Darstellung nach: WERLEN, 1993: 242f, 248ff; WERLEN, 2000 (b): 8ff
Traditionelle Gesellschaften erscheinen damit stabil, räumlich begrenzt und territorial
verankert (WERLEN, 2000 (b): 8). Vor allem für nationalstaatliche Container-
Gesellschaften trifft diese Beschreibung zu. Für Kommunikationsprozesse innerhalb
begrenzter Gemeinschaften war die physische Anwesenheit der beteiligten Subjekte
und Objekte maßgeblich. Vor allem die Verbindung der Vergangenheit mit der
Gegenwart und die Vorbestimmung der Zukunft durch Traditionen sowie der
Entwicklungsstand des Kommunikations- und Transportsektors schufen eine
räumlich-zeitliche Bindung (vgl. ebd.).
Die soziale Ordnung spätmoderner Gesellschaften befindet sich im Gegensatz
dazu in ständiger Transformation und ist von fixen räumlichen Bezügen und Zeit
entankert (vgl. ebd.: 9). Angesichts aufweichender Kongruenz politischer,
wirtschaftlicher und sozialer Räume, verliert das Territorialitätsprinzip als
Ordnungsmaxime an Bedeutung (vgl. BROCK/ALBERT: 259). Individuelle Praktiken
sind an globalen Handlungsmustern ausgerichtet und verfügen über einen breiten
Pool an Entscheidungsmöglichkeiten. Das Leben wird von radikal anderen Modi des
alltäglichen Geographie-Machens (WERLEN, 2000 (b): 11) bestimmt: Fortwährende
Lernbereitschaft und selbstbewusste Entscheidungen bilden die Voraussetzung des
Bestehens in kontinuierlich transformierenden, spätmodernen Gesellschaften.
Zunehmend bestimmen die ökonomische Einbindung und Positionierung im
Produktionsprozess die Entfaltung sozialer Beziehungen (vgl. ebd.). Räumliche
Anwesenheit ist für einen bedeutenden Teil von Kommunikationsformen nicht mehr
notwendig, denn Transport- und Kommunikationstechnologien schaffen hohe
Mobilitätspotentiale für Menschen, Güter und Informationen (vgl. ebd.).

2 Theoretische Grundlagen
20
Das Konzept des relationalen Raumes vermag dem Verständnis der
Entkopplung von Flächen- und Sozialraum (PRIES, 1999: 446) dienlich sein. Raum
wird dabei als formal-klassifikatorischer Begriff (GLÜCKLER: 55f) verstanden, der
orientierend in der physisch-materiellen Welt wirkt, ohne über sie hinauszugreifen
und dabei Kategorisierungen gestattet, ohne selbst eine Kategorie darzustellen. Er
besteht nicht von vornherein ­ a priori ­ sondern baut a posteriori auf individuellen
Erfahrungen aus Verhältnissen zu anderen physisch-materiellen Konstellationen,
Menschen und den innewohnenden Bedeutungen für das individuelle Handeln auf
(vgl. ebd.: 56f). Damit produzieren und konstruieren soziale Aktivitäten Räume (vgl.
WARDENGA: 11). Daraus folgt, dass Raum keine Substanz besitzt, keinesfalls
kausal auf nichtmaterielle Konstellationen wirksam ist und deshalb nicht im Zentrum
von Forschungen stehen soll.
Es muss festgehalten werden: In beiden Fällen bestimmen nicht die
natürlichen Raumkategorien das Erscheinungsbild der Gesellschaft, sondern sie sind
durch menschliches Handeln strukturiert, so die These (vgl. PRIES, 1999: 439). Da
Raumkategorien in Abhängigkeit der Handlungsintentionen unterschiedliche
Bedeutungen tragen können, rückt die Praxis vor den Raum auf dem
sozialgeographischen Forschungstableau. Die neue Sozialgeographie wird mit dieser
Ausrichtung der Fragestellungen und ihrer Erkenntnissuche einer wichtigen
politischen Verantwortung gerecht, berücksichtigt sie doch damit die Entkopplung
des Flächenraumes (Nationalstaat) und der Sozialräume (Gesellschaften) (vgl.
WERLEN, 1998 (a): 7; PRIES, 1999: 438f).
2.1.3 GLOKALISIERUNG: Der Ort im Zeitalter der Globalisierung
Spätmoderne soziale Räume konstituieren sich nach AUGÉs Vorstellungen über
zwei Formen von Orten: Tatsächliche, erdräumlich verankerte Orte mit einerseits
scheinbar eindeutigen, historischen und identitätsstiftenden Merkmalen sowie
andererseits Orte mit relationalen Zuschreibungen (vgl. ebd.: 92). Der Rückgriff auf
räumliche Faktoren allein erschließt den Charakter von Orten aber nur unzureichend:
Denn Orte sind eben mehr als lediglich fixierte geographische Punkte im Raum. Die
Auflösung räumlich definierter Grenzen vollzieht sich bei gleichzeitiger Verblassung
der dualistischen Gegenüberstellungen des Ein- und Ausschlusses, des Eigenen und
Fremden, der Innen- und Außenwelt oder des Hier- und Dortseins.

2 Theoretische Grundlagen
21
Aus der allgemein gehaltenen Argumentation abgeleitet, Globalisierung sei die
Verdichtung der Welt (ROBERTSON, 1998: 208) in Form der Verknüpfung von
Lokalitäten (ebd.), lässt sich die Einbettung menschlicher Aktivitäten an konkreten
Orten ableiten: Als Knoten von Beziehungsnetzwerken laufen in Orten soziale
Beziehungen von Individuen zusammen und verstärken einerseits die örtliche
Vielfalt. Andererseits weisen sie ihnen dadurch Bedeutungen zu, die beständig neu
ausgehandelt werden (vgl. ebd.: 12ff; GOEBEL/PRIES: 43). Diese Handlungen
wirken distanzüberwindend auf lokale Gegebenheiten in der Ferne und sind
gleichzeitig Mikroabbildungen des Globalen im Lokalen (vgl. ROBERTSON, 1998:
214). Doreen MASSEY hält zur Bedeutung des Örtlichen fest:
"And this ... allows a sense of place which is extroverted, which includes a
consciousness of its links with the wider world, which integrates in a positive way the
global and the local."
(ebd.: 155)
Scheinbar homogene, kulturelle Erscheinungen vor Ort sind dementsprechend
vielmehr Ergebnis der Mischung verschiedener Einflüsse. Das Lokale wird
entscheidend von supralokalen Einflüssen geprägt. Dabei bietet es Ressourcen, mit
globalen Einrichtungen in Verbindung zu treten, und ist damit integraler Bestandteil
des Globalen (vgl. ALBROW, 1997: 308). So durchdringen globale und lokale Ebene
einander und sind folglich nicht einer binären Logik folgend als gegenüberstehende
Pole zu verstehen (vgl. ROBERTSON: 198, 208; GIDDENS: 30, 85f). Diesen
dialektischen Prozess nennt ROBERTSON Glokalisierung.
6
Es bleibt festzustellen: Mit der Bedeutungstransformation territorialer Grenzen
und wachsender Wirkungsradien sozialer Handlungen entstehen Räume mit
spezifischen Charakteren, in denen das Lokale eine erweiterte Form des tatsächlich
gegebenen Ortes ist (vgl. VONDERAU: 10): Es entstehen innovative Ausprägungen
des räumlichen Lokalen in imaginärer, virtueller oder transnationaler Form. Es lassen
sich ihnen keine festgeschriebenen, eigenen Identitäten, historische Aufladungen
und soziokulturelle Bedeutungen zuschreiben, da Ortsbedeutungen an rationale
zweckorientierte Nutzungen gebunden sind (vgl. AUGÉ: 92ff). Dies wird durch die
raum-zeitliche Verdichtung, die Überwindung hoher interlokaler Distanzen durch
6
glocalize: Der Begriff (dochakuka) trat erstmalig im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Erstarken
Japans auf dem globalen Markt auf (vgl. ROBERTSON, 1992: 173f). Ursprünglich war damit das Anpassen
agrarischer Verfahren an lokale Bedingungen gemeint. Daraus wurde das Verständnis der Anpassung des
globalen Fokus auf lokale Konstellationen geboren (vgl. ROBERTSON, 1998: 197).

2 Theoretische Grundlagen
22
weltweite ökonomische Vernetzung, fließende kulturelle Bedeutungen und Symbole,
innovative Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien und
letztendlich Migrationen möglich. Selbst weit entfernt stattfindende Prozesse wirken
so auf Ortsidentitäten: Der individuell zugewiesene sense of place (APPADURAI:
29), die zugewiesene Bedeutung des Ortes, und die Strategien des place making
(GUPTA/FERGUSON: 6ff) finden sich in Konstruktionen individueller Lebenswelten
wieder.
2.1.4 Schlüsselbegriffe: FLOWS und -SCAPES
Angesichts ständiger Bewegung von Menschen, Dingen sowie entgrenzender
Prozesse im Zusammenhang mit der Globalisierung bekommt das Sinnbild des flow
­ des beständigen Flusses ­ eine Schlüsselfunktion für die Beschreibung
grenzüberschreitender Beziehungen (vgl. HANNERZ: 4).
7
Auch APPADURAI (1996)
entwickelt sein Konzept der -scapes aus dieser Vorstellung. Dabei werden
grenzüberschreitende Bewegungen als fließende und beständig neu zu
konzipierende Landschaften
8
ohne scharfe Grenzlinien verstanden (vgl. ebd.: 33). Mit
der Einführung bestimmter Neologismen kategorisiert APPADURAI Bereiche der
global cultural flows (vgl. ebd.: 33ff):
9
· Ethnoscapes: Touristen, Migranten, Flüchtlinge, Gastarbeiter und andere
mobile Gruppen bilden sie und leben in diesen,
· Mediascapes:
Sowohl
die
Infrastruktur
der
Produktions-
und
Verteilungseinrichtungen von Informationen, wie Zeitungen, Magazine oder
TV-Stationen, als auch die durch diese Institutionen verbreiteten Bilder,
· Technoscapes:
schnelle
grenzüberschreitende
Bewegungen
von
mechanischen und datenverarbeitenden Technologien, Waren und
Informationen,
7
Mehrere Autoren bedienen sich dieser Metapher: LASH/URRY (1994) sehen das Hauptcharakteristikum der
Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts durch Kapital-, Arbeits-, Güter-, Informations- und Bildflüsse
gebildet (vgl. ebd.: 4, 12). CASTELLS (1989) spricht beim Informationsmanagement von Organisationen mit
gestreuten räumlichen Dependancen vom space of flows (ebd. 129ff).
8
Da das englische -scape als Suffix nicht eigenständig in die deutsche Sprache übersetzt werden kann, wird der
Landschaftsbegriff bzw. das Verständnis von Sphären bemüht (vgl. ALBROW, 1997).
9
Der besondere Charakter globaler kultureller Flüsse (vgl. APPADURAI: 33) lässt sich nicht durch etablierte
Begriffe hinreichend beschreiben. Deshalb erfüllen Metaphern und neue, künstliche Wortschöpfungen die
Funktion der sprachlichen Verdinglichung dieser Phänomene.

2 Theoretische Grundlagen
23
· Financescapes: mysteriöse, schnellwandelnde und schwer nachvollziehbare
Landschaft der Verteilungsmuster globalen Kapitals (Währungsmarkt, Börsen,
Immobilienspekulationen),
· Ideoscapes: politische und ideologische Landschaften, Normen und
Wertvorstellungen.
ALBROW erweitert das Modell um die Komponente des socioscape, der sozialen
Landschaft (vgl. ebd., 1997, 1998). Auch Nichtmobile sind in dieses
Beziehungsgewebe, welches aus individuellen sociospheres zusammengesetzt ist,
eingebunden. Zwischen Menschen an einem Ort bestehen Beziehungen in Form der
sich nicht tangierenden Koexistenz: Am konkreten Aufenthaltsort überlappen sich
individuelle Soziosphären (ALBROW, 1997: 309) ohne einander zu beeinträchtigen
(vgl. ALBROW, 1998: 245). Hier erfahren diese in Reichweite, Intensität und
Konstruktionsstrategien differenzierten individuellen Soziosphären ihre räumliche
Anbindung (vgl. ALBROW, 1997: 309). Wichtig ist die Betonung des offenen
Charakters der Sphären als Abbild sozialer Kommunikationsnetze mit individuell
zugeschriebenen Bedeutungen und Interessen sowie die Vermeidung der Reduktion
auf räumliche Bezüge (vgl. ebd.). Durch Wahrnehmung, Erfahrung und Handlung
vieler Individuen werden soziale Landschaften - socioscapes - gebildet. In dieser
Form wird nach ALBROW die vielschichtige Bedeutung von Lokalität unter
Globalisierungsbedingungen geschaffen, die mit der bereits vorgestellten
Glokalisierung korrespondiert (vgl. ebd., 1997: 308). In diesem Fall bilden die
individuellen sociospheres russisch-jüdischer ZuwandererInnen einen Teil der
sozialen Landschaft Berlins und anderer Orte.

2 Theoretische Grundlagen
24
2.2
Humangeographische Forschung im Wandel
Die Entstehung neuer humangeographischer Perspektiven im Zuge des cultural turn,
insbesondere die Transformation von Migrationsansätzen vor dem Hintergrund der
Globalisierung werden in diesem Abschnitt erläutert.
2.2.1 Der CULTURAL TURN in der Geographie
Die Bedeutung des Forschungsfeldes Kultur scheint für eine Vielzahl
wissenschaftlicher Disziplinen zuzunehmen. Ein über die Fächerlandschaft
schweifender Blick lässt Suchende Teildisziplinen entdecken, die sich aus
fachspezifischer Sicht dem kulturellen Feld zuwenden: Kulturanthropologie,
Kulturpsychologie oder auch Kulturgeographie. Um die Bedeutung des cultural turn
für die nomologisch ausgerichtete humangeographische Disziplin zu erfassen, ist es
vorerst wichtig darauf hinzuweisen, dass es den einen cultural turn nicht gibt,
sondern mehrere prozessuale Schritte die Wende treffender beschreiben (vgl.
BLOTEVOGEL: 8f). Weiter ist es notwendig, sich dem wandelnden Kulturverständnis
und seiner Verortung in der geographischen Forschung zuzuwenden, auch wenn
eine eindeutige Definition von Kultur nicht formuliert werden kann, da bereits Max
WEBER feststellte, dass Kultur ein Wertbegriff sei (vgl. ebd.: 28). Dieser semiotische
Kulturbegriff sieht Kultur als ein Bedeutungsgewebe (GEERTZ, 1987: 9), welches
von Menschen ständig neu erschaffen wird und aus dem Grund nicht erschöpfend
und allgemeingültig definiert werden kann (vgl. ebd.: 9). Dennoch ist es
entsprechend dem Feldzugang hilfreich, ein Vorverständnis des Arbeitsfeldes zu
formulieren (vgl. GERNDT: 11f). Deutlich wird die Verschiebung der
kulturgeographischen Fragestellung bei der Betrachtung der Transformation des
Kulturverständnisses als eine Dimension des cultural turn (vgl. BLOTEVOGEL: 9ff).
Nach Eugen WIRTH bildete das Grundverständnis der Kulturgeographie jene Sicht,
dass sowohl die Menschheit, als auch Kultur und Gesellschaft eine geschichtliche
Wesenheit mit unauflöslichen Beziehungen (vgl. ebd.: 28) bilden. Die Fragestellung
lautete folgerichtig: Wie haben unterschiedliche Kulturgemeinschaften und
Gesellschaften den Raum, die Erdoberfläche, die Landschaft im zeitlichen Prozess
geprägt und gestaltet (vgl. ebd.: 87)?
10
10
Eugen WIRTH bedient sich des nachfolgenden Verständnisses: ,,...Unter Kultur versteht man das Insgesamt an
Vorstellungen und Wissen (einschließlich der Werte = Ziele menschlichen Strebens, menschlichen Handelns und
menschlicher Verehrung und einschließlich der Kenntnis materieller Geräte und ihrer Nutzung) sowie an
Fertigkeiten (Schreiben, Rechnen, Lesen usw.)..., die einem Menschen verfügbar sind. Kultur erwirbt der
Mensch im lebenslangem Kontakt mit anderen Menschen. Kultur ist ständig in Bewegung, denn jede Generation

2 Theoretische Grundlagen
25
Ein anderer Ansatz verfolgt die disziplinäre Ausrichtung einer kulturellen
Regionalgeographie: Kulturgeographie wird als Geographie der Sprache, des
Glaubens usw. gesehen. Der essentialistischen Richtung folgend, bilden Regionen
dabei
eigenständige
Grundeinheiten
mit
charakteristischen
physischen
Eingrenzungen und Besonderheiten. Die Frage nach natürlichen Gegebenheiten in
Verbindung mit religiösen, sprachlichen und kulturellen Einflüssen auf das räumliche
Agieren von Menschen und dem daraus entstehenden System unterscheidbarer
Kulturregionen stand im Vordergrund (vgl. HAGGETT: 317ff). Vom HERDERschen
Kulturverständnis sich gegenseitig ausschließender Einheiten ausgehend, wird
Kulturlandschaft als der regionaltypische, geographische Ausdruck von Kultur
betrachtet (vgl. BRÄUNLEIN/LAUSER: III; BOECKLER/LINDNER: 118; LESER ). Die
Kulturlandschaft ist das Feld einer historischen Kulturlandschaftsgeographie, die sich
mit anthropogeographischen Faktorenbereichen in Abhängigkeit von Zeit und Raum
auseinandersetzt. Carl SAUERs Konzept der Landschaft als organischer Einheit von
Natur und Kultur bildete die theoretische Grundlage für dieses Verständnis: Es
beherrschte seit den 1920er bis in die 1970er Jahre die Disziplin der
Kulturgeographie (vgl. JOHNSTON/GREGORY/SMITH: 111).
11
In Ablehnung der
Trennung zwischen natürlichen und kulturellen Landschaften wurden zwar
vereinfachte naturdeterministische Wirkungsweisen verneint. Es sei das gemeinsame
Wirken vielfältiger Faktoren, das die Landschaft prägt (vgl. PEET: 14f). Jedoch hat
sich die Disziplin in den letzten Jahrzehnten stark verändert: Die Hauptkritik an
SAUERs Kulturkonzept bezog sich auf die starken historischen und biologistischen
Bezüge bei gleichzeitiger Vernachlässigung sozialer Beziehungen der ökonomischen
Produktion und Reproduktion (vgl. JOHNSTON/GREGORY/SMITH: 112). Die
Konzentration der Berkeley-School auf agrarische Gesellschaften und ihre separate
Betrachtung von Region und Bevölkerung unter der traditionellen Sichtweise regional
gebundener, historisch geprägter Kulturen, führten zum Exzeptionalismusvorwurf:
Der Selbstisolierung der Geographie von der zeitgemäßen Entwicklung der
Sozialwissenschaften (vgl. SCHÄFER: 51ff).
vergisst oder verändert etwas von dem, was die vorige hatte und fügt Neues hinzu." (ebd.: 30) WIRTHs
,,Theoretische Geographie" kann als einer der wenigen bedeutenden Versuche aus dem deutschsprachigen Raum
gewertet werden, der Geographie eine theoretische Grundlage zu verleihen.
11
SAUER und die mit ihm verbundene Berkeley-School prägten maßgeblich die geographische Vorstellung von
Landschaftsgenesen. Sein Hauptwerk ,,The Morphology of Landscapes" (1925) gilt bis heute als einer der
Grundlagentexte der Kulturgeographie.

2 Theoretische Grundlagen
26
Bedeutende Wirkung entfalteten in den 1970er Jahren marxistische und
kunsthistorische Einflüsse. So zeichnet der Literaturwissenschaftler WILLIAMS ein
erweitertes Kulturverständnis, das Sprache, Literatur, Ideologie, Moral, Ästhetik,
Wirtschaft und Politik zu einem Beziehungsnetzwerk aufbaut. Kultur umfasst den
gesamten Bereich der Lebensführung und ist als sozialer Prozess zu verstehen (vgl.
JACKSON: 38). Er analysiert individuelle Einstellungen zu Stadt und Land als
Reflektion sozioökonomischer Bedingungen im Kontext des Zusammenspiels von
Industrialisierung und Urbanisierung. So erhält die Umschreibung von Kultur
emanzipatorische Züge:
"...`culture´ is never any `thing´, but is rather a struggled-over set of social relations,
relations shot through with structures of power, structures of dominance and
subordination."
(MITCHELL: xv)
Kennzeichnend für alle neuen Ansätze ist der Rückgriff auf sozialwissenschaftliche
Argumente und Methoden, vornehmlich jene aus den cultural studies. Landschaften
werden als Texte verstanden, die dementsprechend zu deuten und zu lesen sind.
Dieses metaphorische Konzept bezieht historische literarische Texte und graphische
Quellen in die Bewertung von Landschaft ein, da Landschaft doppeldeutig ist im
Sinne idealisierter Betrachtungsweisen und künstlerischer Reproduktionen sowie
dem Ausdruck tatsächlicher Lebensweisen (vgl. DANIELS: 329ff).
12
Die New Cultural
Geography wendet sich erstmalig weiteren Problembereichen zut: Ideologie, Gender
und Sexualität, Rassismus und Sprache (vgl. ANDERSON/DOMOSH/PILE/THRIFT).
Mag die Relevanz einiger Themen für die geographische Disziplin nicht erkennbar
sein, so verweist JACKSON doch auf deren Bedeutung.
13
So prägen Ideologien das
menschliche Handeln und haben folgerichtig materielle Konsequenzen (vgl. ebd.:
47). Die Beschäftigung mit sozial zugeschriebenen Geschlechtern (Gender) und
Sexualität als Spiegel sozialer Beziehungsstrukturen eröffnet Fragestellungen mit
aktueller Bedeutung (vgl. ebd.: 104f). Das Problemfeld Rassismus widmet sich der
sozialen Konstruktion von race, denn durch dieses Konzept wird die soziale und
ökonomische Gesellschaftsstruktur durch Migration, Segregation und Arbeitsteilung
nach ethnischen Kriterien stark beeinflusst (vgl. ebd.: 132ff).
12
Ein Beispiel für diese Position ist das Buch "The City as a Text" von James DUNCAN.
13
JACKSONs "Maps of Meaning" kann als ein zentraler Text der neuen Kulturgeographie gewertet werden.

2 Theoretische Grundlagen
27
Die Vielfalt der Effekte im Zuge der Globalisierung stellt letztendlich
vollkommen andere Bedingungen dar als jene, welche SAUER vorfand.
14
So wirkte
sich die veränderte Situation auch auf die Kulturgeographie aus:
,,Traditionally a subfield of HUMAN GEOGRAPHY that focussed upon the patterns
and interactions of human culture both material and non-material, in relation to the
natural environment. Today the term ,,cultural geography" covers a diverse range of
studies
with
only
tenuous
links
to
a
common
tradition"
(JOHNSTON/GREGORY/SMITH: 111; Hervorhebungen im Original).
Die neue Feldannäherung zeichnet sich nunmehr durch die Fokussierung auf
Interpretationen und Nutzung von Raum und Orten durch handelnde Individuen aus
(vgl. CRANG: 3). Die kulturgeographische Herausforderung liegt damit in der
Untersuchung der Wechselwirkung globaler Zwänge, lokaler Besonderheiten und der
Beziehungen zwischen Ort, Raum, Kultur und Identität. Kulturelle Erfahrungen an
einem Ort müssen nicht mehr mit eben diesem Ort in Beziehung stehen (vgl.
PRED/WATTS: 7; WERLEN, 2003: 40f). Territoriale Bindung sowie räumliche
Kammerung des Kulturellen (WERLEN, 2003: 40) sind in der Spätmoderne nicht
mehr zwingend (vgl. ebd.):
,,For example it is now commonplace - at least for the relatively affluent - to be able
to wear Peruvian jewellery with an Italian sweater while listening to carribean
reggae on a Japanese made personal stereo in a Chinese restaurant in the company of
Indian friends."
(McDOWELL: 165)
Klassische Vorstellungen von Kulturen als abgeschlossene, geographisch verortbare
Einheiten mit klaren Trennungslinien sowie hohen Homogenitäts- und gegenseitigen
Abhängigkeitsgraden der darin lebenden Individuen offenbaren sich bei der
Betrachtung kultureller Verschmelzung und hybrider Identitäten als zu starr:
Kulturelle und nationale Mehrfachzugehörigkeit finden darin keine Akzeptanz, da sie
durch keine theoretische Basis begründet werden können. Kultur ist zunehmend
entterritorialisiert (vgl. BOECKLER/LINDNER: 117ff; PECAUD: 12f). Der Kulturbegriff
erweiterte sich um die Bereiche der Sub- und Alltagskultur, die ebenfalls zu
Untersuchungsfeldern wurden.
14
David HARVEY beschreibt in "The Condition of Postmodernity" (1989) die veränderten Bedingungen
postfordistischer und postmoderner Gesellschaften aus einer geographischen Perspektive. Er analysiert neben
neuen Formen flexibler Kapitalakkumulation auch die Bedeutungsverschiebungen von Raum und Zeit.

2 Theoretische Grundlagen
28
Entsprechend diesen theoretischen Veränderungen entwickelten sich auch
neue methodische Ansätze: die zweite Dimension des cultural turn als
methodologische Wende fand statt (vgl. BLOTEVOGEL: 11f). Hermeneutische und
auslegende Ansätze finden zunehmenden Einsatz (BOECKLER/LINDNER: 107). So
werden von Geographen qualitative Zugänge der Literaturwissenschaften, der
Soziologie, der Kunstgeschichte und der Ethnographie angewandt (vgl. ebd.;
JOHNSTON: 205f; vgl. Kapitel 2.3). Der kulturgeographische Methodenapparat
nimmt damit interdisziplinären Charakter par excellence an (vgl. EYLES: 5f).
15
Aus
dem Prozess des cultural turn heraus entwickelte WERLEN sein Plädoyer für eine
handlungsorientierte
Sozialgeographie.
An
diesem
Punkt
bestehen
Anknüpfungspunkte für die geographische Transnationalismusforschung (vgl.
MITCHELL, K.: 75): Wie wirkt die Ausweitung der grenzüberschreitenden, multiplen
Beziehungen und Interaktionen auf individuelle, lokale, regionale oder nationale
Kulturgeographien?
2.2.2 Handlungsorientierte Sozialgeographie nach Benno WERLEN
In seinem Vorwort zu WERLENs ,,Gesellschaft, Handlung und Raum" von 1997 stellt
GIDDENS die Notwendigkeit fest, handelnden Subjekten in Sozialwissenschaften
und Politik höhere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Suche nach Raumgesetzen
müsse durch handlungstheoretische Akzente ersetzt werden (vgl. GIDDENS, 1997:
15ff).
16
So begreifen auch SEDLACEK/WERLEN die Sozial- und Kulturgeographie
als theoretische Leistung über und für situationsbezogenes Handeln, wobei die
räumliche Ordnung von Sachverhalten die zentrale Fragestellung ist (vgl. ebd.).
Anstelle von Raum steht jedoch menschliches Handeln als Forschungsgegenstand
im Mittelpunkt, denn wie WERLEN mit Rückgriff auf G.W. LEIBNIZ argumentiert,
bezeichnet Raum eine von verschiedenen Möglichkeiten der Anordnung von
Elementen, ohne dabei eine spezielle Form oder Funktion ihrer Existenz zu
determinieren. Handlungen schaffen und reproduzieren tagtäglich Gesellschaft und
Kultur, die wiederum die Gesamtheit von Lebensformen und Lebensbereichen
(WERLEN, 2003: 42, vgl. WERLEN, 1998 (a): 28) ist. Da zwischen Raum und
spezifischen soziokulturellen Konstellationen jedoch keine kausalen Beziehungen
bestehen, besitzt Raum für diese Konstellationen keinen Erklärungsgehalt, sondern
15
Obwohl hier der Begriff des Transdisziplinären sicherlich treffender wäre.
16
WERLEN befasst sich in diesem Werk fundiert mit der politischen Aktualität und sozialen Bedeutung des
Verhältnisses von Gesellschaft und Raum. Zum tieferen Studium dieser Frage ist es unbedingt zu empfehlen.

2 Theoretische Grundlagen
29
wird zum Bestandteil gesellschaftlicher Kommunikation. Damit steht WERLENs
Konzept BARTELS´ Verständnis der Sozialgeographie als Raumwissenschaft
entgegen.
17
Sein relationales Raumverständnis sieht in der Kategorie Raum keine
Stofflichkeit, keine Ursache und keinen Untersuchungsgegenstand (vgl. GLÜCKLER:
60). Um Bedeutungen sozialer Prozesse aufzudecken, müssen die Spuren
menschlichen Handelns in räumlichen Landschaften gelesen werden (vgl. WERLEN,
1998 (a): 17). Der Raum bietet eine Handlungsdimension, die in verschiedenen
Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen annimmt und somit nicht als
gegebener Gegenstand zu verstehen ist (vgl. WERLEN, 2003: 42; WERLEN, 2002:
13). Die sozialgeographische handlungszentrierte Perspektive (ebd.: 13) zielt auf die
Erklärung menschlichen Handelns durch die Betrachtung unterstützender und
einschränkender Bedingungen soziokultureller, subjektiver und physisch-materieller
Handlungsaspekte (vgl. WERLEN, 2002: 13). Das alltägliche Geographie-Machen
meint dementsprechend eine Gliederung der Alltagswelt über individuell konstruierte
Lebensformen (WERLEN, 1998 (a): 28; WERLEN, 2002: 14f):
· Produktiv-Konsumptive Regionalisierungen: zweckrationale alltägliche
Geographien der Produktion, der Konsumption und Güterdistribution,
· Normativ-Politische Regionalisierungen: Normative Raumaneignungen,
räumliche Dimensionen der Kontroll- und Gewaltausübung (Staat),
· Signifikativ-Informative Regionalisierungen: Subjektive Zuweisung von
Bedeutung zu alltagsweltlichen Ausschnitten (emotionale Raumbezüge:
Heimat und Ähnliches) und individuelle Geographien des
Informationsgewinns.
Die geographische Wissenschaft soll diesen Dimensionen entsprechende, global
wirkende
Handlungszusammenhänge
und
außerhalb
des
eigenen
Wahrnehmungsradius der handelnden Subjekte liegende Wirkungen ihres Handelns
aufdecken (vgl. WERLEN, 2002: 14).
17
BARTELS plädierte in seiner Habilitationsschrift ,,Zur wissenschaftlichen Grundlegung einer Geographie des
Menschen" von 1968 für die wissenschaftliche Suche nach empirisch gültigen Raumgesetzen, die räumliche
Anordnungsmuster ökonomischer und soziokultureller Institutionen erklären und Prognosen zukünftiger
Entwicklung erlauben (vgl. WERLEN, 1998 (a): 21).

2 Theoretische Grundlagen
30
2.3
Migrationstheorien im Wandel
Worin bestehen nun signifikante Veränderungen in der Migrationsforschung? Um
diese Frage zu beantworten, wird in den anschließenden Ausführungen zuerst auf
die Grundannahmen und Erkenntnisorientierungen klassischer Migrationstheorien
eingegangen. Diesen gegenübergestellt wird das Konzept des Transnationalismus
als neuer Ansatz der Migrationsforschung.
18
Mit kritischem Blick auf Theorien
klassischer Wanderungsforschung entwickelt dieser Ansatz innovative Perspektiven
und Fragestellungen an Migrationsprozesse als sozial eingebettete Handlungen und
Lebensformen. Diese Perspektive widmet sich insbesondere den Problemen der
individuellen gesellschaftlichen Einbindungen während des Migrationsverlaufs sowie
in dessen Anschluss.
2.3.1 Kennzeichen klassischer Migrationsansätze
Klassische Ansätze der Wanderungsforschung arbeiten auf der Grundlage eines
positivistisch-behavioristischen
Verständnisses
von
Migration
(vgl.
HALFACREE/BOYLE: 334). Demnach werden Wanderungsphänomene als
empirische Ereignisse, als vorbestimmte Reaktionen der Akteure auf Reize,
gedeutet, wie beispielsweise höhere Einkommenschancen an anderen
Niederlassungsorten.
Angesichts
diverser,
empirisch
beobachtbarer
Wanderungsverläufe wurden Typisierungsversuche zu ihrer Beschreibung
unternommen. So wurden Migrationen durch räumliche und zeitliche Kategorien
neben ihren organisatorischen Einbettungen und demographischen sowie sozialen
Merkmalen beschrieben (vgl. HEINEBERG: 79ff). Beispielhaft sei das Modell des
Mobilitätsübergangs nach ZELINSKY genannt.
19
Klassische
migrationstheoretische
Erklärungsansätze
richteten
den
Betrachtungswinkel insbesondere auf die Makroebene in Form kollektivistischer
Migrationsanalysen mit dem Ziel, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten des
Migrationsverhaltens aufzudecken (vgl. HALFACREE/BOYLE: 334; PRIES, 2001:
26). Dabei wurden MigrantInnen nicht als handelnde Akteure gesehen, sondern
lediglich als Spielbälle differenzierter Kräfte ihrer Umwelt. Als prominentes Vorbild
18
Eine Rezeption der Ansätze kann beispielsweise in den Bänden von HAUG, LEBHARDT, SZELL, CLARK
nachgelesen werden. Die geographische Auseinandersetzung mit Wanderungsprozessen wird ausführlich in
ROBINSON und LEWIS diskutiert. In knapper und überblicksorienter Form stellt PRIES klassische und
neuentwickelte Theorien internationaler Migration vor (vgl. ebd., 2001).
19
ZELINSKY entwirft in Anlehnung an das Modell des demographischen Übergangs ein fünf Phasen
umfassendes Mobilitätsmodell. Er nimmt an, dass zwischen sozioökonomischen Entwicklungsständen und
räumlichem Mobilitätsverhalten Zusammenhänge bestünden.

2 Theoretische Grundlagen
31
seien hier E.G. RAVENSTEINs Gesetze der Wanderung genannt, die auf der Basis
von Forschungen zur Binnenmigration im Vereinigten Königreich im 19. Jahrhundert
formuliert wurden (vgl. RAVENSTEIN; LEBHARDT: 5). Er typisierte MigrantInnen
(lokale Wanderer, Nah- , Etappen-, Fern- und temporäre WandererInnen) nach der
Reichweite der überwundenen Distanz und folgerte, dass zwischen dem Umfang und
den Reichweiten der Migrationen ein reziproker Zusammenhang besteht: Mit
wachsender
Distanz
zwischen
Herkunfts-
und
Zielorten
nehme
das
Migrationsvolumen ab (vgl. RAVENSTEIN: 43ff, 51f).
Das klassische theoretische Verständnis wurde durch drei grundlegende
Annahmen geprägt, die folgerichtig die Gestaltung klassischer Forschungsdesigns
vom theoretischen Ausgangspunkt bis zur empirischen Forschung beeinflussten (vgl.
HALFACREE/BOYLE: 335):
· Migrationen seien einseitig gerichtete Bewegungen zwischen zwei
räumlich verorteten Punkten i und j.
· Vor dem Akt der räumlichen Verlagerung des Niederlassungsortes
bestünde eine Belastung oder Druck (Reiz) am Ausgangsort.
· Migrationen seien diskrete reaktive Handlungen des Erreichens eines
Ortes mit geringeren Belastungsfaktoren oder höherer Vorteilsausstattung
als im Herkunftsort mit dem Ziel der dauerhaften Niederlassung.
Migration als temporäre Übergangshandlung von der Sesshaftigkeit an einem Ort zu
einem anderen Wohnort wurde als begleitender Fortschritt der modernen
Industriegesellschaft gedeutet. Wohnortsverlagerungen seien räumlich und temporär
begrenzte Sonderfälle im allgemein sesshaften Leben der Moderne. Nomadenhafte
Lebensweisen entsprachen nicht den Leitbildern des industriell-technischen
Fortschritts und der Zivilisation, sondern eher vormodernen Lebensformen (vgl.
PRIES,
2001:
5,
8).
Nationalstaatliche
Grenzen
überschreitende
Wanderungsbewegungen stellten lediglich den räumlichen Wechsel zwischen
Flächen- und Sozialraum erfassenden, nationalstaatlichen `Containern´ dar (vgl.
ebd.: 12, 30f). Die Kernbegriffe der Emigration als dauerhafte Auswanderung aus
Sicht der Auswanderungsgesellschaft und der Immigration als dauerhafte
Einwanderung aus Sicht der Zielgesellschaft verkörpern dieses Verständnis deutlich.

2 Theoretische Grundlagen
32
Pendelmigration oder Remigration verweisen hingegen auf befristete, temporäre
Aufenthalte außerhalb des Herkunftslandes (vgl. ebd.: 5f; LESER: 167, 161, 702).
Stand in den Forschungen RAVENSTEINs die Suche nach allgemeingültigen
Gesetzmäßigkeiten bezüglich der Verläufe von Migrationen im Vordergrund,
konzentrieren sich push-pull-Ansätze primär auf die zweite und dritte genannte
Grundannahme (s.o.). Das zentrale Forschungsinteresse richtete sich dabei auf die
Migrationsbewegungen steuernden, abstoßenden und anziehenden Kräfte. Damit
schlug sich die Erkenntnis vom Einfluss sozioökonomischer, kultureller und
politischer Faktoren des Geschlechts, des Alters, der Klassenzugehörigkeit, der
ethnischen Zuschreibung, der Lebensphase, der Wirtschaftszyklen und politisch-
rechtlicher Rahmenbedingungen auf Migrationsmuster in der geographischen
Migrationsforschung nieder (vgl. PRIES, 2001: 26f). HEINEBERG zählt sie dennoch,
ebenfalls wie Gravitations- und Distanzmodelle, zu den deterministischen
Migrationsmodellen (vgl. ebd.: 87).
Eine
wegweisende
Richtung
schlugen
verhaltens-
und
entscheidungstheoretische Modelle ein: Ihre Aufmerksamkeit galt stärker als in
bisherigen Ansätzen der Ebene der individuellen Akteure und dem Prozess der
Entscheidungsfindung auf Grundlage eingeschränkter Wahrnehmung und Bewertung
(vgl. HEINEBERG: 87). Selbst dieses differenziertere Konzept blieb jedoch der
Grundannahme des Migrationsablaufes in Form einer Reiz-Reaktions-Kette
verbunden, da von der Annahme ausgegangen wurde, die individuellen
Entscheidungen zu migrieren, seien durch Rahmenbedingungen determiniert und
individuelle kreative Handlungsmöglichkeiten bestanden demnach weiterhin nicht
(vgl. HALFACREE/BOYLE: 335).
Zusammenfassend formuliert richtete sich das Erkenntnisinteresse auf die
Suche nach Gesetzen, die Migrationsvorgänge als einmalige, unidirektionale
Ereignisse vorhersagbar und kalkulierbar machen. Die Fragen nach den push- und
pull-Faktoren bildeten ein zentrales Ziel des Forschungsinteresses.
In logischem Anschluss knüpften sich Fragen nach den Integrationsprozessen
in der Ankunftsgesellschaft an. Als klassisch ist das Assimilationskonzept der
Chicagoer Schule zu bezeichnen: Gesellschaftliche Eingliederung im Zielland sei nur
durch den vollständigen Abbruch der Beziehungen und Bezüge zur
Herkunftsgesellschaft möglich (vgl. GOEBEL/PRIES: 40f; ACKERMANN: 4f). Bis zur
vollständigen gesellschaftlichen Eingliederung durchlaufen ZuwandererInnen die

2 Theoretische Grundlagen
33
Stufen sozioökonomischer, kultureller und kognitiv-identifikativer Assimilation. Auf
politischer Ebene wird das Modell durch eine eindeutige Staatsangehörigkeit definiert
(vgl. FAIST, 1999: 15, 19ff). Die nationalstaatliche Containerperspektive verschließt
aber den Blick auf gegenseitige Abhängigkeiten, soziale Eingliederungen und
kulturelle Identitäten jenseits des Nationalstaates (vgl. GOEBEL/PRIES: 42).
2.3.2 Neue Perspektiven: Das Transnationalismus-Modell
Im Zuge der Diskussion um die Ursachen, Folgen, Wirkungen und Dimensionen des
Globalisierungsphänomens erlebte auch die akademische Migrationsforschung neue
Anstöße. Denn mit den ökonomischen, politischen und soziokulturellen Umbrüchen
gewannen nationalstaatliche Grenzen überschreitende Wanderungsbewegungen
neue quantitative und qualitative Formate (vgl. PRIES, 2001: 8). Auch das zeitliche
Zusammentreffen vielfältiger historischer Faktoren und technologischer Innovationen
kann zum Verständnis der Komplexität dieser Phänomene dienlich sein. So nennen
GUARNIZO/SMITH neben den destabilisierenden Effekten einer fortschreitenden,
kapitalistisch ausgerichteten, ökonomischen Globalisierung den technischen
Fortschritt in Bereichen des Transport- und Kommunikationswesens, globale
politische Umbrüche im Zuge der Dekolonisierung, die weltweite Ausbreitung
standardisierter Wertvorstellungen wie den Menschenrechten, aber auch die
Expansion sozialer Netzwerke mit Potentialen, welche die transnationale Migration,
grenzüberschreitendes ökonomisches Handeln und politische Partizipation
unterstützen (vgl. ebd.: 3f). Das Schlüsselelement des spätmodernen Kapitalismus
äußert
sich
in
neuen,
globalen,
räumlichen
und
flexiblen
Kapitalakkumulationsmustern (vgl. HARVEY). Beeinflusst von den Intensivierungen
und
Ausweitungen
grenzüberschreitender
Migrations-,
Waren-
und
Finanzbewegungen, Dienstleistungsangeboten, Informations- und Wissenstransfers,
dem Bedeutungswandel von Nationalstaaten und ihrer Grenzen rücken die
sozioökonomischen Umfelder von Migranten, die bedeutende Rolle von Netzwerken,
neue
Migrationsmuster
und
auf
Normen
und
Werten
basierende
Migrationsentscheidungen als Handlungsoptionen in den Mittelpunkt der
Betrachtungen (vgl. FASSMANN; MITCHELL: 75; Tabelle 2.2).

2 Theoretische Grundlagen
34
Traditionelle
Migrationskonzepte
Transnationale Migration
Strukturelle
Voraussetzungen
Barrieren: Grenzen, ökonomische
Ungleichheit
Distanzüberwindung mit hohem
Zeiteinsatz, Kosten- und Mühen
Wanderung ohne
Netzwerkunterstützung
Entwertung vorhandener
Qualifikationen
Grenzen durchlässig, ökonomische
Ungleichheit
Bedeutungsverlust der Distanz:
Optimierung der Kommunikations-
und Transportmittel, Kostensenkung,
Beschleunigung und Häufung
grenzüberschreitender Aktivitäten
Migration in Netzwerke eingebettet
Qualifikationen transferierbar
Folgen und Indikatoren
Migration im Familienverband, oft
phasenweise
Wanderungen sind endgültig,
Lebensschwerpunkt wird verlagert
Beziehungen zum Herkunftsland
abgebrochen, Interaktion gering
Assimilation in Zielgesellschaft als
Eingliederungsstategie
Haushalte: dauerhaft räumlich geteilt
Migration als dauerhafter Zustand,
plurilokale Lebensschwerpunkte
Starke Beziehungen zur
Herkunftsgesellschaft (Reise,
Überweisungen, Kommunikation
etc.)
Multikulturelle, hybride Identitäten,
Selbstverortung in mindestens zwei
Gesellschaften
Tabelle 2.2: Strukturelle Voraussetzungen und Folgeerscheinungen internationaler Migration aus
klassischer und transnationaler Sicht
Eigene Darstellung nach: FASSMANN: 347
Schon bei flüchtigen Betrachtungen wird deutlich, dass zwischen Globalisierungs-
und Migrationsprozessen Wechselwirkungen bestehen: Internationale Migration
generiert und induziert Beziehungen über Staatsgrenzen hinweg, ist selbst Teil als
auch Resultat wachsender, grenzüberschreitender Verflechtungen. Nicht nur die
Debatte um Globalisierungstendenzen, auch die Diskussion um den
Bedeutungswandel und Einflussverlust von Nationalstaaten sowie Thesen von der
Auflösung von starren nationalen oder ethnischen Identitätskategorien lassen sich im
Modell des Transnationalismus wiederfinden.
Die Begriffe des Transnationalen und Transnationalismus sind primär aus den
Wirtschaftswissenschaften im Zusammenhang mit international operierenden
Unternehmen bekannt geworden (vgl. LESER: 900). In der Kulturwissenschaft und
Literaturtheorie fanden die Begriffe erstmalige Anwendung im Zusammenhang mit
poststrukturalistischen Debatten über ambivalente Nationalitätszugehörigkeiten (vgl.
MITCHELL: 74f). Deutlich wird die Aktualität des Konzeptes durch einen Vergleich
der dritten und vierten Auflage von The Dictionary of Human Geography (vgl.
JOHNSTON/GREGORY/SMITH; MITCHELL, K., 2000: 853ff). Den in der 2000er
Auflage referierten Transnationalismus- Begriff sucht man in der Ausgabe von 1994
noch vergeblich. GLICK-SCHILLER/BASCH/BLANC-SZANTON fassen den
Transnationalismusdiskurs zusammen und definieren das zentrale Prinzip:
20
Als
20
Erstmalig wurde der Terminus von SUTTON/MACKIENSKY-BARROW Mitte der 1970er Jahre verwendet,
als sie vom transnationalen sozio-kulturellen und politischen System sprachen (vgl. PRIES, 1996: 465).

2 Theoretische Grundlagen
35
Transnationalismus sei der Konstruktionsprozess von grenzüberschreitenden,
sozialen Feldern durch so bezeichnete Transmigranten zu verstehen (vgl. ebd.: 81).
Diese ökonomischen, politischen, sozialen, organisatorischen, religiösen und
kulturellen Beziehungen verknüpfen Menschen in mehr als nur einem Nationalstaat
(vgl. ebd.; MITCHELL, 2000: 853).
Das Modell ruht auf mehreren Basisannahmen: MigrantInnen sind nicht
ausschließlich an einem sozialen und kulturellen Ort verwurzelt. Zwischen Kultur und
geographischem Ort besteht keine Kausalverbindung und somit sind MigrantInnen
nicht von schmerzhaften Trennungen von Herkunftskulturen und der Assimilation in
die soziokulturellen Prägungen der Gesellschaft des Ankunfts-
21
bzw.
Niederlassungslandes betroffen. Ein Wanderungsprozess reduziert sich nicht auf die
einmalige Bewegung vom Herkunfts- in das Zielland; die kontinuierliche
Aufrechterhaltung
des
beidseitig
gerichteten
Kontaktes
zwischen
Migrationsursprungs- und Migrationsankunftsort in vielfältigster Form führt zur
Entwicklung transnationaler Netzwerke und sozialer Räume, die nationalstaatliche
Grenzen überbrücken (vgl. GLICK-SCHILLER/BASCH/BLANC-SZANTON: 81f;
FAIST, 2003: 1f).
Ihre zunehmende Entfaltung erreichen transnationale Phänomene durch das
Auftauchen diverser neuartiger, qualitativer Ursachen (vgl. GUARNIZO/SMITH: 4):
Die erste Dimension sind die leicht erlernbaren, preiswerten und schnellen
Kontaktmöglichkeiten
durch
den
Fortschritt
der
Informations-
und
Kommunikationstechnologien. Dadurch konnte die Kontaktdichte überproportional
erhöht und ein Fast-Sofort-Informationsaustausch und Datenfluss erreicht werden,
wie dies noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht möglich war. Dies führte zur
Steigerung
der
Kontakthäufigkeit,
zur
Intensivierung
und
Normierung
grenzüberschreitender Kontakte. Die grenzüberschreitende Kommunikation konnte
damit zum Bestandteil alltäglicher Praxis werden. Moderne Transporttechnologien
beschleunigen und erhöhen die räumliche Mobilität bei niedrigen Kosten (vgl. PRIES,
1996: 458; FAIST, 2003: 2). Durch globale wirtschaftliche Umstrukturierungen
entstehen Gruppen deplazierte(r), unterbeschäftigte(r) Arbeitskräfte (GLICK-
SCHILLER/BASCH/BLANC-SZANTON:
91),
deren
Handlungsstrategien
transnationale Charakterzüge annehmen. Parallel entwickelt sich der internationale
21
PRIES verweist auf den offenen Charakter des Wortes Ankunft, da im Gegensatz zum Ziel eine Ankunft auch
in anderen Gesellschaften und Orten stattfinden kann als jenen, die vorher als Ziel erkoren wurden (vgl. ebd.:
2001: 11).

2 Theoretische Grundlagen
36
Arbeitsmarkt für hochqualifizierte ArbeitnehmerInnen und Führungspersonal (vgl.
PRIES, 1996: 458) neu und wirkt als Multiplikator der grenzüberschreitenden
Arbeitsmigration anderer Segmente (vgl. ebd.). So wird festgestellt, dass eine Form
der Globalisierung verbreiteter als alle anderen ist: die der menschlichen Migration
(vgl. HELD/McGREW/GOLDBLATT/PERRATON: 283).
22
Eine wichtige Dimension transnationaler Verflechtungen zeigt sich in ihren
Beiträgen zur ökonomischen Entwicklung in den Herkunftsländern. Gegenwärtig sind
anwachsende Überweisungssummen und ­aufträge (remittances), finanzielle
Investitionen in den Heimatgemeinden und Einfuhren technologischer Neuerungen
durch TransmigrantInnen in die Herkunftsländer zu beobachten. Diese
Entwicklungen wecken zunehmend die Aufmerksamkeit der nationalen Regierungen,
da die Investitionen Größenordnungen erreichen, die sich den Umfängen der
gesamten Güterexporte dieser Ländern annähern oder gar übersteigen. Unter
solchen Voraussetzungen scheinen die Entwicklungsaussichten der betroffenen
Staaten unentwirrbar mit den ökonomischen Aktivitäten der AuswandererInnen
verbunden (vgl. PORTES/HALLER/GUARNIZO: 6f). Die Reaktionen der
Regierungen reichen von der Errichtung von Lenkungseinrichtungen wie speziellen
Ministerien über die Etablierung politischer Partizipationsrechte für Ausgewanderte in
ihren Herkunftsländern, beispielsweise dem Wahlrecht oder der Wahl von
Repräsentanten der MigrantInnengemeinschaften mit eigenen Sitzen in den
Parlamenten der Herkunftsländer, bis hin zu Möglichkeiten von doppelten
Staatsangehörigkeiten.
23
Die Bildung von Netzwerkstrukturen kann als weiteres Charakteristikum des
postmodernen Kapitalismus gesehen werden: Soziale und ökonomische Netzwerke
von MigrantInnen werden durch ihre transnationale Praxis in der Entwicklung
verstärkt (vgl. MITCHELL: 76). Von der Tatsache ausgehend, dass die Bedeutung
starker, beständiger Beziehungen von MigrantInnen zu ihrem ursprünglichen
Herkunftsland bei gleichzeitiger sozialer Inkorporation im Niederlassungsland für eine
zunehmende Anzahl von Menschen mit Migrationsbezügen anwächst, werden die
klassischen Annahmen bezüglich der Ausrichtung, Bedeutung und Ausprägung
internationaler Migration zunehmend fraglich (vgl. LEVITT/DeWIND/VERTOVEC:
22
PORTES/GUARNIZO/LANDOLT stellen ein Typisierungsmodell transnationaler Phänomene in
ökonomischen, politischen und soziokulturellen Bereichen abhängig von der Institutionalisierungsintensität vor
(vgl. ebd.: 222). An dieser Stelle würde dessen Präsentation jedoch den Rahmen sprengen.
23
Empirische Beispiele für solche politischen Maßnahmen in GLICK-SCHILLER/BASCH/BLANC-
SZANTON; IMHASLY; PORTES/HALLER/GUARNIZO

2 Theoretische Grundlagen
37
565; PRIES, 2001: 32). Gleichzeitig werden klassische Modelle soziokultureller
Integration überdacht. Denn starre Assimilationsmodelle in Nationalgesellschaften
erfassen die Strategien soziokultureller, hybrider, kreativer Aneignungen und
Praktiken nicht, wie bereits festgestellt wurde.
Gesellschaftliche Inkorporation als offenes Konzept erlaubt den Vorgang
,,...der ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Eingliederung von
Migranten auf der lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebene..."
(GOEBEL/PRIES: 42) zu erfassen.
Migration als dauerhafte Handlung erweist sich jedoch für zunehmend mehr
Menschen als soziale Lebensform (vgl. PRIES, 2001: 32). Nicht mehr
Migrationsvoraussetzungen, -formen oder -folgen bilden den Kern des akademischen
Interesses, sondern Fragen nach jenen Faktoren, welche die neuen Quantitäten und
qualitativen Muster bedingen, geraten in das Zentrum der Erkenntnissuche (vgl.
ebd.). Statt den Fokus ausschließlich auf individuelle Mikroebenen, wie bei der den
klassischen Migrationstheorien zuzurechnenden Wert-Erwartungstheorie ESSERs,
oder
auf
die
Makroebene
der
Analyse
umfangreicher,
statistischer
Datensammlungen zu legen, bemühen sich die neuen Ansätze um die Verknüpfung
beider Ebenen in einer analytischen Mesoebene: Die räumliche Bewegung und
sozialen Felder zwischen und über dem nationalstaatlichen Rahmen ­ die
transnationalen sozialen Felder als multipel strukturierte Flächenextensionen -
geraten in das Blickfeld (vgl. PRIES, 2001: 32). Das spezifische Verhältnis zwischen
nationalstaatlichen Territorien und sozialen Räumen als Containermodell wie in
Kapitel 2.1.1 beschrieben, wird durch diese transnationalen Phänomene
aufgebrochen (vgl. ebd.: 9).
Es muss festgehalten werden, dass dieses Denkmodell keinen
unumstößlichen Fakt darstellt, sondern ein Konzept, welches die unzulänglichen
Erklärungspotentiale
klassischer
Migrationsansätze
und
traditioneller
sozialwissenschaftlicher Konzepte des Staates, ethnischer Gruppen, der Nation,
Gesellschaft oder Kultur aufgreift und Alternativen bzw. konzeptionelle
Gegenentwürfe dazu bietet. Der Transnationalismus-Ansatz stellt einen Versuch dar,
einem globalen, soziokulturellen Phänomen, welches in der Entstehung neuer
Migrationsmuster wurzelt, in Modellform adäquat gerecht zu werden. In der Ära der
raumzeitlichen
Abstandsvergrößerung
(GIDDENS, 1995: 85) besitzt die

2 Theoretische Grundlagen
38
transnationale Perspektive innovative Potentiale für die wissenschaftliche
Auseinandersetzung
mit
internationaler
Migration
und
gesellschaftlicher
Inkorporation. Die gesellschaftliche Bedeutung des Konzeptes ist enorm, da
traditionelle
Integrationskonzepte
in
vermeintlich
nationalstaatliche
Containergesellschaften zunehmend in Frage gestellt werden. Doppelte
Staatsbürgerschaften, multiple Identitäten und die Entstehung hybrider Kulturen
jenseits definierter Ausprägungen in Folge kontinuierlicher Migrationen als
Lebensform, grenzüberschreitender Beziehungen und soziokultureller flows finden
damit eine theoretische Basis (vgl. FAIST, 2003: 2f; FAIST, 1999: 15, 24f).
Transnationale Migration
Die anregende Perspektive des Modells der transnationalen Migration oder
Transmigration liegt im Verständnis von Wanderungsbewegungen als beständige,
oszillierende, multidirektionale Migrationen zwischen mindestens zwei räumlich
verankerten Orten (vgl. PRIES, 2001: 49). Oft handelt es sich dabei um
unregelmäßig und in ungleichen Zeitspannen stattfindende, grenzüberschreitende
Mobilität (FASSMANN: 345f). Bezogen auf tradierte Migrationsmodelle der
Wanderungsforschung verneint das Transnationalismusmodell die klassische
Hauptannahme der Migration als bipolaren Wanderungsprozess, um einführend eine
der Basisannahmen zu nennen (vgl. PRIES, 2001: 49). MigrantInnen, die diese
Wanderungsstrategie verfolgen, werden als Transmigranten (ebd.) bezeichnet.
24
Sie
sind dabei nicht nur mobile Arbeitskräfte, sondern TrägerInnen kultureller Prägungen
und individueller Identitäten (vgl. GLICK-SCHILLER/BASCH/BLANC-SZANTON: 94).
Transnational strukturierte Lebensstrategien werden durch die individuelle Verortung
in zwei (Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft) oder mehr Gesellschaften und daraus
kreierte, kulturell hybride Identitäten konstituiert (vgl. FASSMANN: 346). Dies äußert
sich unter anderem in ­ der Alltagspraxis zuzurechnenden ­ regelmäßigen
Geldüberweisungen, Mehrsprachigkeit, grenzüberschreitender Kommunikation oder
transnationaler politischer Aktivität (vgl. ebd.: 347; GOEBEL/PRIES: 36).
KritikerInnen des Modells sehen in transnationalen Phänomenen keine
empirischen Neuheiten und somit keine Notwendigkeit des Modells (vgl. SMITH: 39f).
Sie verweisen auf die jüdische und armenische Diaspora, mittelalterliche
24
Der Begriff der Transmigranten taucht erstmals bereits im 17. Jahrhundert auf. So wurden die nach
Siebenbürgen verbannten Untergebenen des Kaisers KARL VI. und der Kaiserin MARIA THERESIA
bezeichnet (vgl. REINGRABNER).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832486242
ISBN (Paperback)
9783838686240
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Note
1,3
Schlagworte
geographie transnationalismus migration diaspora kontingentflüchtlinge
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Titel: Transnationale soziale Lebenswelten jüdischer Zugewanderter aus den Nachfolgestaaten der UdSSR
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