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Die Hoffnung der Kranken und Sterbenden

Systematische und praktische Überlegungen einer Sterbehilfe

©1974 Diplomarbeit 97 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit Beginn meines theologischen Studiums an der Universität in Freiburg hat mich die Krankenpflege und der Dienst am Sterbenden immer wieder fasziniert. Es blieb nicht bei der Begeisterung. Da ich für die theologische Vorprüfung ein Praktikum im sozialen Bereich vorlegen musste, nahm ich an einem Pflegehelferlehrgang des Malteser Hilfsdienstes teil. Seither habe ich in verschiedenen Krankenhäusern in Bad Schwalbach, Freiburg, Mannheim und Münster/Westfalen gearbeitet. In einem Krankenhaus erlebte ich, dass in vier Wochen zehn Menschen straben. Einige von ihnen sah ich sterben, andere habe ich in der Leichenhalle aufgebahrt. Damals erlebte ich auch den Tod eines Mannes, den ich bis heute nicht vergessen habe:
Herr K., etwa fünfzig Jahre alt war wegen eines Geschwürs im Zwölffingerdarm in der Klinik. Als er sich eines Morgens am Waschbecken wusch, brach er zusammen. Ich legte ihn in sein Bett. Der Arzt erfuhr, dass er am Tag zuvor schwarzen Stuhl (Teerstuhl) ausschied, von dem der Patient uns nichts erzählt hatte, weil er sich schämte. Der Kranke wurde aus seinem Krankenzimmer herausgeschoben und in das Stationszimmer gebracht, wo er in jeder Minute beobachtet werden konnte. Das war in dieser Klinik bei allen Kranken üblich, die einen kritischen Zustand erreicht hatten. Viele Personen machten sich an dem Bett zu schaffen: Ärzte, Schwestern, Pfleger und Schülerinnen. Herr K. ließ die Prozedur über sich ergehen. Nach einer Weile fragte er die noch junge Stationsschwester: „Ist das meine Sterbezelle?“ Die Schwester wurde verlegen, winkte ab und Verneinte die Frage.
Die Zeit verstrich, das Pflegepersonal ging wieder seiner Arbeit nach. Herr K. fühlte sich immer elender. Er antwortete dem Arzt auf seine Fragen, wenn dieser sich im Vorübergehen nach seinem Wohlergehen erkundigte.
Plötzlich ließ bei dem Kranken die Atmung nach. Ich sollte die Sauerstoffflache holen. Als ich kurz darauf zurückkam, sah ich gerade noch, wie der Kranke seinen Kopf zurücklegte und die letzte Luft aus seiner Nase blies. Er war tot.
Als ich mit der oben genannten Stationsschwester die Leiche für die Angehörigen etwas schön herrichtete, fragte ich sie, warum sie Herrn K. zwei Stunden vor seinem Tod anlog. (Sie wusste nämlich, dass der Mann sterben würde.) Sie antwortete mir, dass es für sie unmöglich sei, einem Sterbenden eine solche Frage nicht zu verneinen. Die meisten Kranken könnten das Wort ‚sterben’ ja doch nicht hören. Sie hätten Angst davor. […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Vorwort
- Begründung der Themenwahl
- Das unheilvolle „Ja“ zur gottgewollten Krankheit

A. Tabuisierung von Tod und Sterben
I. Der Anteil der Gesellschaft an der Abwehrhaltung gegenüber Tod
und Sterben
II. Die Rolle der Religion an der Abwehrhaltung gegenüber Tod und Sterben

B. Die Hoffnung der Kranken und Sterbenden
I. Systematische Überlegungen (Weisheit von Tagore)
1. „Die Hoffnung ...“
a) Die Krise der Hoffnung in der Literatur und Dichtung
b) Hoffnung und Lebenserhaltung
c) Hoffnung und Hoffnungen
d) Hoffnung und „Grenzsituation“
e) Hoffnung und Selbstmord (Suizid)
f) Versuch einer Definition
- a. Revers: Hoffnung – das Haben von Zukunft
- b. Plügge: Hoffnung – geduldiges Ausharren in der Gegenwart
- c. Ansohn: Hoffnung als Tat und als Begnadung
g) Hoffnung – Christlich gesehen
2. „... der Kranken ...“
a) Das „Siechtum“ des Krankheitsbegriffs
b) Der Versuch einer Definition (aufgezeigt am allgemeinen
Zustand eines Schwerkranken)
3. „... und Sterbenden“
a) Sterben zu Hause – Sterben im Krankenhaus
b) Was heißt ‚sterben’?
- a. Der Tod und die Tode
- b. Sterben als Schicksal und Aufgabe (Sinnfrage)
- c. Zusammenfassung
c) Verschiedene Reaktionen auf den drohenden Tod
d) Psychische Phasen des Sterbens
- a. Kübler-Roos
- b. Sporken
II. Praktizierte Sterbehilfe (Weisheit von Tagore)
1. Sterbehilfe = Lebenshilfe
2. Voraussetzungen einer praktizierten Sterbehilfe
a) Die Wahrheit am Krankenbett
b) Die richtige Stellung zum eigenen Tod
c) Bereitschaft zur Kommunikation
d) Geschulte Pflegekräfte
3. Grundzüge einer praktizierten Sterbehilfe
a) Die eigentliche Aufgabe: Gespräche mit dem Sterbenden
- a. Der gegebene Augenblick
- b. Ermunterungen
- c. Trost
- d. Frage nach dem Lebenssinn
- e. Schuldgefühle und Ängste aufarbeiten
- f. Geständnisse auf dem Sterbebett
- g. Gespräche im Endstadium
b) Die Befriedung des Kranken
c) Führung zu innerem Wachstum
d) Die Familie des Kranken
- a. Probleme der Kommunikation
- b. Anpassung der Familie an die Realität des Endstadiums
- c. Entlastung von Zorn und Trauer
e) Abschließende Bemerkungen
4. Organisierte Hilfe für Sterbende
b) Beginn eines interdisziplinären Studienseminars
über Tod und Sterben
c) Eine Londoner Sterbeklinik
III. Christliches Sterben
1. Zur Theologie des Todes
4. Die Auferstehung Jesu – Grund und Vorbild unserer Auferstehung
5. Das Gebet in schwerer Krankheit
6. Die Rolle des Krankenhausseelsorgers

C. Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Hinweise für den Umgang mit Zitaten:

Zitiert wird stets nach Verfassernamen und Seitenzahl. Stammen mehrere herangezogene Werke vom gleichen Verfasser, so werden diese im Literaturverzeichnis mit römischen Ziffern nummeriert und im Text entsprechend zitiert.

z. B.: Bowers 105 = Margaretta K. Bowers u.a., Wie können wir Sterbenden beistehen, München und Mainz, 3. Aufl. 1973, Seite 105. Oder: Sporken II 42 = Paul Sporken, Umgang mit Sterbenden, Düsseldorf 1. Auflage 1973, Seite 42.

Gesperrt gedruckte Stellen in Zitaten entsprechen einer besonderen Hervorhebung der Worte im Original. Eckige Klammern in Zitaten und ihr Inhalt stammen vom Verfasser.

Vorwort:

Seit Beginn meines theologischen Studiums an der Universität in Freiburg hat mich die Krankenpflege und der Dienst am Sterbenden immer wieder fasziniert. Es blieb nicht bei der Begeisterung. Da ich für die theologische Vorprüfung ein Praktikum im sozialen Bereich vorlegen musste, nahm ich an einem Pflegehelferlehrgang des Malteser Hilfsdienstes teil. Seither habe ich in verschiedenen Krankenhäusern in Bad Schwalbach, Freiburg, Mannheim und Münster/Westfalen gearbeitet. In einem Krankenhaus erlebte ich, dass in vier Wochen zehn Menschen starben. Einige von ihnen sah ich sterben, andere habe ich in der Leichenhalle aufgebahrt. Damals erlebte ich auch den Tod eines Mannes, den ich bis heute nicht vergessen habe:

Herr K., etwa fünfzig Jahre alt war wegen eines Geschwürs im Zwölffingerdarm in der Klinik. Als er sich eines Morgens am Waschbecken wusch, brach er zusammen. Ich legte ihn in sein Bett. Der Arzt erfuhr, dass er am Tag zuvor schwarzen Stuhl (Teerstuhl) ausschied, von dem der Patient uns nichts erzählt hatte, weil er sich schämte. Der Kranke wurde aus seinem Krankenzimmer herausgeschoben und in das Stationszimmer gebracht, wo er in jeder Minute beobachtet werden konnte. Das war in dieser Klinik bei allen Kranken üblich, die einen kritischen Zustand erreicht hatten. Viele Personen machten sich an dem Bett zu schaffen: Ärzte, Schwestern, Pfleger und Schülerinnen. Herr K. ließ die Prozedur über sich ergehen. Nach einer Weile fragte er die noch junge Stationsschwester: „Ist das meine Sterbezelle?“ Die Schwester wurde verlegen, winkte ab und verneinte die Frage.

Die Zeit verstrich, das Pflegepersonal ging wieder seiner Arbeit nach. Herr K. fühlte sich immer elender. Er antwortete dem Arzt auf seine Fragen, wenn dieser sich im Vorübergehen nach seinem Wohlergehen erkundigte.

Plötzlich ließ bei dem Kranken die Atmung nach. Ich sollte die Sauerstoffflache holen. Als ich kurz darauf zurückkam, sah ich gerade noch, wie der Kranke seinen Kopf zurücklegte und die letzte Luft aus seiner Nase blies. Er war tot.

Als ich mit der oben genannten Stationsschwester die Leiche für die Angehörigen etwas schön herrichtete, fragte ich sie, warum sie Herrn K. zwei Stunden vor seinem Tod anlog. (Sie wusste nämlich, dass der Mann sterben würde.) Sie antwortete mir, dass es für sie unmöglich sei, einem Sterbenden eine solche Frage nicht zu verneinen. Die meisten Kranken könnten das Wort ‚sterben’ ja doch nicht hören. Sie hätten Angst davor. Ich habe mich damals und auch heute immer wieder gefragt, wer wohl mehr Angst vor dem Tod hatte: diese Stationsschwester oder die Menschen, die vor ihrem Tod die Wahrheit wissen wollten.

Solche und ähnliche Begebenheiten veranlassten mich, über Sterben und Tod nachzudenken. Ich weiß, dass ich zu wenig Erfahrung mit Kranken und Sterbenden gesammelt habe, um darüber eine Arbeit schreiben zu können. Dennoch wollte ich die Fragen, die die Arbeit in den genannten Krankenhäusern mit sich brachte, einmal gründlich durchdenken und durcharbeiten. Die Konkursarbeit (Diplomarbeit), die ich für meine theologische Hauptprüfung vorlegen muss, bietet mir die Möglichkeit, einige Fragen über Krankheit, Sterben und Tod aufzuarbeiten. Obwohl die Literatur zu diesem Thema nicht allzu breit ist und obwohl mir die Zeitschriften und Bücher am Anfang viel Kopfzerbrechen bereitet haben, bin ich froh, diese Arbeit erstellt zu haben. Ich danke Herrn Prof. Dr. Bernhard Stoeckle für das Thema und seine Hilfe während der Arbeit. Ebenso danke ich auch allen anderen Professoren, Bibliothekaren und Kommilitonen, die zum Gelingen dieser Zeilen beigetragen haben.

Zuerst möchte ich kurz darstellen, wie ich die Arbeit aufgebaut habe. Obwohl ich Theologe bin, nimmt die Theologie bei diesem Thema nur einen kleinen Raum ein. Aus Gesprächen mit Kranken und dem Pflegepersonal erfuhr ich, dass die Vertreter der Kirchen (Geistliche) nicht selten gar nicht recht auf die Fragen und Probleme der kranken und Sterbenden eingehen. Vorgeprägte Antworten vom universalen Heilswillen Gottes lösen keineswegs die echten Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Krankheit und des Todes. Hans Gödan drückt diese Tatsache so aus: „In Theologie und Seelsorge, in Lehre, Mahnung und Zuspruch wird von dem Hörenden unter immer neuen Begründungen verlangt, dass er die Krankheit, die ihn trifft, aus Gottes Hand nimmt und als Bestandteil des Lebens erträgt. Gegen die Atombombe, gegen Hunger und Kälte und gegen Kriege soll der Mensch revoltieren und kämpfen, aber die Macht der Krankheit soll auf geheimnisvolle Weise mit Gottes Willen zusammenhängen und anerkannt werden.“ (Gödan 209) Und an einer anderen Stelle schreibt er: „Man geht sogar so weit zu betonen, dass die Krankenheilungen Jesu gar nicht gegen die Krankheit gerichtet seien, sondern eine ‚heilsgeschichtliche Bedeutung’ hätten. Im übrigen seien Krankheit und Leid die grundlegenden Kennzeichen dieser Welt und wer von ihnen absähe, habe noch nicht verstanden, was menschliches Leben ist. Das heißt mit anderen Worten, dass der, der gegen seine Krankheit kämpft, bei dieser seltsamen theologischen Benotung durchfällt. Denn, so sagt man weiter, der Kranke werde für das neue Testament zum Urbild des Menschen überhaupt.

Liegt hier nicht eine gefährliche Versuchung vor für eine Medizin, die bei der Theologie Antwort sucht?“ (Gödan 208)

Diese Zeilen charakterisieren das Dilemma, in dem sich Theologie und Seelsorge befinden. Ich möchte hier nicht verallgemeinern. Aber ich muss zugeben, dass gerade diese Einsicht mich bewogen hat, in meiner Arbeit nur wenig auf Theologie und Glaube einzugehen. Die meisten Kranken sind zwar Christen, aber sie können mit theologischen Formeln nichts anfangen. Es gibt nur wenige Leute, die in Krankheit und Leid bei ihrer Religion Hilfe suchen. Für einen gläubigen Menschen kann die Botschaft der Bibel und sein christliches Leben eine große Hilfe sein, mit Krankheit und Tod fertig zu werden und auch in diesen Lebenssituationen einen Sinn zu sehen. Die meisten Kranken können jedoch mit frommen Gebeten und theologischen Antworten nichts anfangen. Ich bin als Mensch, Christ und Theologe nicht nur für die Christen da, die in ihrem Leben immer wieder nach der Botschaft des Evangeliums zu leben versuchen, sondern für alle Menschen. Das lässt sich mit den Worten der Bibel bekräftigen. Jesus hat jedem Menschen geholfen, der zu ihm kam und hat nicht nach dessen Lebenseinstellung gefragt: dem Hauptmann von Kapharnaum (Lk 7,1ff), der syrophönizischen Frau (Mk 7,24ff), der Ehebrecherin (Joh 8,1ff), dem Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1ff), der öffentlichen Sünderin (Lk 7,36ff) und vielen anderen. Daher möchte ich in dieser Arbeit zunächst auf alle Sterbenden eingehen und danach die Theologie streifen.

Das Thema wird in drei großen Teilen behandelt. Im ersten Teil werden die drei Worte „Hoffnung – Kranke – Sterbende“ vorgestellt und zu erklären versucht, im zweiten Teil möchte ich einige Hilfen zum Sterbebeistand geben, wie sie praktisch durchgeführt werden können. Schließlich soll auch das christliche Sterben betrachtet werden. Eugen Ansohn schreibt: „Das V e r s t e h e n des menschlichen Sterbens und des menschlichen Todes ist Sache der Philosophie und Theologie. Der Arzt, der sachgemäße Sterbehilfe leisten will, wird Begründung und Ausrichtung seines Tuns von der Philosophie, vielleicht auch von der Theologie nehmen.“ (Ansohn 17f)

Ist das nicht für uns Grund genug, dass wir uns bei der Sterbehilfe auch kurz mit dem christlichen Auferstehungsglauben beschäftigen? Für einen Christen hat der Glaube hierzu Entscheidendes beizutragen.

Freiburg, im Februar 1974

Gerhard Hemker

A. Tabuisierung von Tod und Sterben

„Alles hat seine Stunde und eine Zeit (ist bestimmt) für jedes Vorhaben unter dem Himmel; eine Zeit fürs Geborenwerden und eine Zeit fürs Sterben; ...“ (Prd 3,1.2a). Diese schlichten Worte des biblischen Predigers scheinen Erfahrungen zu beschreiben, die jedem Menschen selbstverständlich sind. Dennoch ist es schwer, sie nach zu erleben, weil sich die Begegnung mit Geburt und Tod in unserer Gesellschaft geändert hat. Diese Veränderungen haben verschiedene Ursachen, die ich in zwei Teilen darstellen will.

I. Der Anteil der Gesellschaft an der Abwehrhaltung gegenüber Tod und Sterben

„Wissenschaft und Technik haben dazu beigetragen, dass die Furcht vor der Vernichtung und damit die Angst vor dem Tod immer noch ansteigt.“ (Kübler-Ross 18).

Das ist zunächst eine Behauptung, die einer Begründung bedarf. Mit dem Beginn der Industrialisierung unserer Gesellschaft scheint der Fortschritt der Menschheit nicht mehr aufgehalten werden zu können. Die Väter arbeiteten an dem Fortschritt, damit es die Söhne einmal besser haben sollten. Jede Generation wollte es noch besser haben als die andere. „Lange Zeit hat man geglaubt, man könne mit Hilfe von Elektrizität, Waschmaschinen, Fernsehen, immer schnelleren Flugzeugen und ähnlichen Dingen in einigen Jahrzehnten nicht nur eine verbesserte Lebensweise, sondern echtes Glück erreichen. Man hat sogar geglaubt, mit der über Mensch und Welt erlangten Macht die Grundfrage des Todes beseitigen zu können.“ (Oraison 31)

Aber mit dem wachsenden industriellen Fortschritt sind auch neue Probleme auf die Menschheit zugekommen, die bis heute nicht gelöst sind. Die Kernenergie brachte uns die Gefahr der Atombombe. „Es ist nicht mehr der Mann, der für seine Rechte und Überzeugungen, die Sicherheit und Ehre seiner Familie kämpft – heute gerät die ganze Nation mit Frauen und Kindern in die Gewalt des Krieges.“ (Kübler-Ross 18)

Die sauber eingepackten Lebensmittel, die immer wieder wechselnde Kleidermode und der Reichtum der Industrienationen bringen die Umweltprobleme mit sich. Die Menschen nutzen die Rohstoffquellen aus, um sie für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Sie wollen glücklich sein und das Glück hier auf dieser Erde genießen. Was nach dem Tod kommt, darüber wissen die meisten Menschen nichts zu sagen.

Reklame und Werbung sprechen fast ausschließlich junge Menschen an, Menschen mit Zukunft: Zigaretten, Bausparen, Versicherungen, die junge Mode der Kleidung (Cordhosen, Jeans, Hot Pants, rückenfreie Kleider), der jugendliche Busen und vieles andere mehr täuschen vor allem junge Leute und gaukeln ihnen eine ewige Jugend vor. Vor kurzem sagte ein zwanzigjähriges Mädchen zu mir: „Ich möchte nicht alt werden, ich möchte immer so jung sein.“

Die Kosmetikindustrie hat viel dazu beigetragen, uns zu verjüngen. Was die Menschen früher erträumten, scheint heute Wirklichkeit geworden zu sein: der Jungbrunnen. Make up, Lippenstift, Lidschatten, Deodorant Sprays, Nagellack, Tages- und Nachtcreme täuschen auch im reiferen Erwachsenenalter jugendliche Erscheinungsformen vor. In den Vereinigten Staaten gibt es sogar einen kosmetischen Beruf (vgl. Sudnow), der dafür sorgt, dass Leichen im Sarg schlafend erscheinen.

Krankheit, Alter und Tod werden in unserer Gesellschaft immer mehr verdrängt. Der Film „Der Schocker“, der nach dem Drehbuch von Alain Jessua hergestellt wurde, zeigt, wie weit der Mensch gehen kann, wenn er ewig jung bleiben und nicht sterben will.

Ein Ärzteteam unterhält in südlichen Landstrichen eine Klinik, in der sich steinreiche Leute erholen. Wie in einem anderen Kurort sorgen sprudelnde Bäder, gute Luft, ein Strand zum Baden, vitaminreiche Kost, eine Sauna und ähnliches mehr für eine gesamtmenschliche Erholung. Eines jedoch ist in dieser Klinik anders: Die Patienten bekommen beim Erholungsbeginn Bluttransfusionen und später Frischzellen, damit es ihnen besser geht. Das Blut und die Frischzellen werden von jungen Gastarbeitern gewonnen, die ihr Leben lassen müssen, damit die Reichen, welche die Klinik besuchen, durch den Leib der jungen hingemordeten Arbeiter jung bleiben. Helen, die Hauptdarstellerin, sagt zu dem leitenden Arzt, als sie in die Klinik kam, dass die Angst vor dem Alter und vor dem Tod allein sie veranlasst habe, diese Klinik aufzusuchen.

Eine andere Tabuisierung des Todes besteht im Verharmlosen des Lebensendes. Wir tun so, als sei er nebensächlich und unbedeutend. „Auf der Bühne und im Film schaffen wir dramatische Episoden, in denen dieselben Gestalten immer wieder Sterben können, als ob es möglich wäre, ungestraft den Tod auszuprobieren. Wir sehen uns an, wie dieselbe Person im Fernsehen Woche für Woche umgebracht wird, als sei das nichts Endgültiges. Wir weichen der Diskussion über dieses Ereignis aus und tun so, als ob dies ein Zeichen dafür wäre, dass wir es unter Kontrolle haben. Durch dieses Ausweichmanöver können wir das Problem keineswegs aus der Wlt schaffen, sondern machen es nur noch schwieriger, ihm gegenüber zu treten und verstärken den Wall von Angst, mit dem wir es umgeben.“ (Bowers 13f)

Von Lehndorff (s.d.) sieht den Grund warum der Tod heute zum Tabu geworden ist, in der Tatsache, dass er sich zu viel von uns gefallen lässt. Die Medizin kann heute durch die wissenschaftlichen Forschungen viel mehr Krankheiten und krankhafte Zustände heilen, als dies früher der Fall war. „Neugeborene Kinder, die früher als nicht lebensfähig galten, können am Leben erhalten werden. Herzen, die von allein nicht mehr schlagen wollen, können durch Schrittmacher wieder in Gang gesetzt und in Gang gehalten werden. Krebserkrankungen können durch rechtzeitige Operationen geheilt, durch Bestrahlungen und Medikamente hinausgeschoben werden.“ (Von Lehndorff 106).

„Wenn früher ein Mensch 35 Jahre alt geworden war, hatte er meist mehrere Epidemien überlebt. Er hatte seine Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde und Altersgenossen sterben sehen. Ihm waren Menschen entrissen worden, an denen er hing; und er musste sich auf den eigenen Tod einstellen. Tod und Sterben gehörten zu den selbstverständlichen Erfahrungen des Lebens. In unserer Gesellschaft gibt es viele Menschen, die mit 35 Jahren noch nie einen Sterbenden oder einen Leichnam gesehen haben.“ (Becher 600)

Dies alles hat dazu beigetragen, dass Krankheit, Leid und Tod heute von jung und alt verdrängt werden.

II. Die Rolle der Religion an der Abwehrhaltung gegenüber Tod und Sterben

Eine ganze Nation, eine ganze Gesellschaft, die an der Furcht und Verleugnung des Todes leidet, kann sich offenbar nur noch durch Vernichtung wehren: Kriege, Aufstände, immer neue Morde und andere Verbrechen können durchaus auf unsere schwindende Fähigkeit deuten, dem Tod mit Würde und Bejahung ins Gesicht zu sehen.“ (Kübler-Ross 20)

Welche Rolle hat die Religion in dieser Epoche gespielt? Sicherlich haben früher mehr Leute an Gott geglaubt, weil viel mehr in der Welt nicht erklärt werden konnte als heute. Die Menschen vertrauten auf ein Jenseits, das von Qual und Schmerzen erlösen sollte. „Der Himmel hielt den Lohn bereit, und wenn wir auf Erden viel gelitten hatten, sollten wir nach dem Tode belohnt werden, wie es die Geduld, Tapferkeit und Würde, mit der wir unsere Bürde getragen hatten, verdienten. Dieser Glaube führte zu einer völlig anderen Einstellung zum Leiden. Schmerz war etwas Alltägliches“ Kübler Ross 20), Leiden hatte Sinn. Im Zweiten Aufzug der Oper Fidelio von Ludwig van Beethoven bedankt sich der gefangene Florestan für ein wenig Wasser beim Kerkermeister Rocco:

„Euch werde Lohn in besseren Welten,
der Himmel hat euch mir geschenkt.
O Dank, ihr habt mich süß erquickt;
ich kann die Wohltat nicht vergelten.“

Und ein paar Takte später singt Florestan:

„O Gott, du spendest Hoffnung mir,
dass ich sie (meine Frau Leonore) noch gewinnen kann.“ (van Beethoven 39)

Die Menschen früherer Zeiten betrachteten die Erde als ein Jammertal. Alle Krankheit und alles Leid wurde im Jenseits belohnt. Doch wozu sollen wir denn heute noch leiden, wenn es Medikamente gegen Schmerzen wie gegen Hautjucken gibt? Da der Glaube dahin ist, dass irdisches Leiden im Himmel belohnt wird, ist auch das Leiden an sich zwecklos geworden.“ (Kübler-Ross 21)

Immer weniger Menschen glauben an ein Leben nach dem Tode, das an sich ja schon zu den Vorstellungen gehört, mit denen wir unsere Sterblichkeit leugnen. Wer früher die Sterblichkeit aus religiösen Gründen nicht wahrhaben wollte, der konnte Hoffnung aus dem Glauben schöpfen, dass die Menschen nach dem Tod in vollendeter Weise weiterleben. Doch die Verleugnung des Todes bietet weder Hoffnung noch überhaupt einen Sinn, sondern steigert nur unsere Angst. Es ist sicher an der Zeit, dass die Vertreter der Kirchen die Menschen mit den Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod provozieren und dass alle versuchen, sich erneut, mit Krankheit und Tod auseinander zu setzen. Nur so kann die Gesellschaft von ihrem Glücksrausch befreit werden, durch den sie sich selbst zerstört.

B. Die Hoffnung der Kranken und Sterbenden

In der Einleitung habe ich dargelegt, dass unsere Gesellschaft Tod und Sterben verdrängt. Ewiges Glück und ewige Jugend werden überall gefordert und erstrebt. Doch dadurch schaffen wir Krankheit und Tod nicht aus der Welt. Die Medizin kann zwar das Leben der Menschen immer mehr verlängern; trotzdem warten am Ende auf uns Krankheit und Tod. Wie werden wir Menschen mit diesem Lebensende fertig? Hat es einen Sinn zu leben, zu arbeiten, sich abzumühen, wenn wir am Ende doch sterben müssen? Was bleibt für Kranke und Sterbende übrig? Etwa Langeweile, Einsamkeit, Isolierung, Anonymität, Schmerzen und grausamer Tod? Ja, das bleibt für viele heutige Menschen übrig.

In Großbritannien und in der Vereinigten Staaten begannen Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte und Studenten vereinzelt Sterbende zu Hause und in den Krankenhäusern aufzusuchen und sie bis zu ihrem Tod zu betreuen. Diese kleinen Teams setzten sich immer wieder mit dem Tod auseinander und zeigten, dass auch die Christen, die während ihres Lebens ihren Glauben nicht praktizierten, nach langen Auseinandersetzungen dem Tod zustimmen und in menschlicher Würde sterben konnten. Die Grunderfahrung dieser Helfer ist, dass jeder Schwerkranke ein Recht auf Hoffnung habe. Was Ist Hoffnung? Dieses Wort wird im Lauf der Arbeit immer wieder aufgegriffen und zu erklären versucht werden.

I. Systematische Überlegungen

In verzweifelter Hoffnung gehe ich umher
und suche sie in allen Winkeln meines Zimmers;

Ich finde sie nicht.

Mein Haus ist klein,

und was einmal aus ihm fortgezogen ist,

kann nicht wieder zurück gewonnen werden.

Unendlich aber ist deine Wohnung, o Herr,

und auf der Suche nach ihr bin ich vor deine Tür gelangt.

Ich stehe unter dem goldenen Baldachin deines Abendhimmels

und hebe die flehenden Augen zu deinem Antlitz empor,

am Rande der Ewigkeit stehe ich,

aus der nichts verloren gehen kann,

keine Hoffnung, keine Glückseligkeit,

nicht das Bild eines durch Tränen erblickten Gesichts.

O tauche mein leeres Dasein in jenen Ozean,

versenke es in seine tiefste Fülle.

Lass mich ein einziges Mal diesen verlorenen süßen Hauch

im All des Universums verspüren.

Tagore

(Kübler-Ross 120)

1. „Die Hoffnung...“

Als ich für diese Thema Literatur suchte, geriet ich auch an einem Buchhändler, der zu mir sagte: “Ich habe keine Bücher über das Thema Hoffnung. Die Menschen, die bei mir Bücher kaufen, haben Hoffnung und brauchen daher keine Bücher darüber zu lesen.“ Diese Worte stimmten mich nachdenklich. Sie drücken trotz ihrer Oberflächlichkeit eine Wahrheit aus: Unser ganzes Leben ist von der Hoffnung geprägt. Wir hoffen, dass unser Freund bald gesund wird und hoffen, dass das Wetter bald schöner wird. Trotzdem weist moderne Literatur und Dichtung auf eine große Hoffnungslosigkeit hin. Dabei wissen wir, dass Schriftsteller in ihren Werken nicht selten das reale Leben der Menschen darstellen wollen. Was hat moderne Literatur zu dem Thema Hoffnung zu sagen? Einige Beispiele sollen die Frage beantworten.

a) Die Krise der Hoffnung in der neueren Literatur und Dichtung

Vor der Aufklärung war die Hoffnung in der Dichtung und Literatur ganz vom antiken Geistesleben und dem christlichen Glauben geprägt. „Im Christentum des neuen Testamentes, der Kirchenväter und der Philosophie Thomas von Aquins ist sie als eschatologische Hoffnung ein fester Pfeiler, eine der drei Kardinaltugenden. Mit der Reformation tritt ein eigenartiger neuer Aspekt hinzu, einer im tätigen Leben wirkenden christlichen Diesseitshoffnung neben der großen und ganz gewissen Verheißung der „exspectatio futurae beatitudinis“. Mit der Aufklärung wird dieses christliche Glaubensfundament der Hoffnung immer mehr erschüttert. Die christliche Hoffnung wird als ‚schöne Idee’ gedeutet, Wilhelm von Humboldt meint gar kein Verhältnis zur Hoffnung zu haben und bei Goethe erscheint sie in mannigfacher Gestalt, als illusionäre Täuschung, als ‚edle Treiberin’ und ‚Trösterin’ als eine Macht, die für den kräftig zupackenden Menschen des tätigen Realismus nur feindlich sein kann, indem sie ihn von der Welt seiner konkreten Arbeit höchstens abzulenken vermag.“ (Brednow I 538) Die Krise der Hoffnung spitzt sich erst recht in der Neuzeit zu. Die Hoffnung und ihre Bedeutung in unserer Gegenwart wurde besonders durch die Existenzphilosophie und den französischen Existentialismus geprägt.

Geht man davon aus, dass mit ‚Existenz’ ein ganz besonderes letztinniges Erlebnis eigenen Seins zu verstehen ist, ein Erlebnis, das an den letzten Zentralpunkt eigenen Wesens rührt, so bedeutet jede Tendenz ‚Hoffnung’ nichts anderes als ein Ausweichen, ein Zurückweisen vor der existentiellen Schärfe dieses Erlebnisses und damit vor dem existentiellen Erlebnis überhaupt. Dass unter diesen Voraussetzungen Heidegger von der Angst als der entscheidenden ‚Grundbefindlichkeit’ ausgeht, die ihren spezifischen Erlebnischarakter nach an die letzte Existenz herrührt, bedeutet den entscheidenden existentiellen Ansatz. Die Angst als unheimlicher Hintergrund menschlichen Lebens, vor dem alle Lebensbeziehungen letztlich fragwürdig und ungesichert erscheinen, wirft den Menschen in das Nichts, aus dem er nur durch eine ‚Entschlossenheit zum Dasein’, um mit Heidegger zu sprechen, auftauchen kann. Aus dem Erlebnis der ‚Geworfenheit’, des ‚In-der-Welt-Seins’, als eines völlig ungeborgenen und gefährlichen Zustandes, nur durch die Angst also, nur so kann der Mensch, nur aus der Schärfe existentiellen Erlebnisses, seine existentielle Freiheit erringen.“ (Brednow I 596)

Ein führender Mann in der Reihe der französischen Existentialisten ist Albert Camus (1913 – 1960). In seinen Werken ist nur wenig Raum für die Hoffnung. Das einzige philosophische Problem, das es gibt, ist für Albert Camus der Selbstmord. „Camus glaubt, ihn verhindert zu können. In aller Deutlichkeit sagt er zwar zu seinem Mythos des Sisyphus, dass der Mensch zur Sinnlosigkeit verdammt ist (Sisyphus muss immer von neuem den schweren Stein dem Gipfel des Berges zuschleppen, ohne sein Ziel je zu erreichen), aber er weiß auch von Glück und Erfüllung zu reden: Es gibt nur eine Welt. Das Glück und das Absurde sind die beiden Söhne der gleichen Erde ... Der Kampf als solcher gegen den Gipfel genügt, um das Herz eines Menschen zu erfüllen. Man soll sich Sisyphus glücklich vorstellen.

Der Mensch weiß, er wird den Gipfel nie erreichen. Er darf keine Hoffnung haben.“ (Jeckel 41)

Camus schildert in seinem Roman „Die Pest“ den Ausbruch einer Pestepidemie in der Gegenwart in einer Stadt Nordafrikas. „Die Bewohner werden monatelang von der Umwelt abgeschnitten, die drohende Todesgefahr dauernd vor Augen. So erwachsen Situationen, die den Menschen an die Grenze seines gewohnten Daseins führen.“ (Brednow I 598). Das Christentum wird in diesem Roman durch Pater Paneloup vertreten. Er spricht zu den Menschen und weist sie auf den Sinn und auf das göttliche Ziel der Pest hin. Es wird von ihm gesagt, dass er gegen alle Hoffnung hoffte: Gott werde das Übrige tun.

Aber dieser christlichen Lebens- und Todeseinstellung ist das Verhalten von Menschen gegenübergestellt, die ohne Gott leben. Der Arzt Rieux, ein Ungläubiger, „lehnt es für seine Person ab, große Worte wie Heldentum oder Heiligkeit auf sich anwenden zu lassen. Seine aufopfernde ärztliche Tätigkeit in der Gefahr leistet er als etwas ihm Selbstverständliches: ‚Es handelt sich nicht um Heldentum in alledem. Es handelt sich um Anständigkeit (honneteté).’ Das aber ist nichts anderes als die einfache Anerkennung und Befolgung einer sittlichen Pflicht dem Nächsten gegenüber und darüber hinaus ein hilfsbereites, loyales Handeln auch dort, wo das Recht dies nicht einmal strikte erfordert.“ (Brednow I 598) Camus gibt keine Antwort auf die Frage, ob der gläubige Christ, den Paneloup verkörpert oder der illusionslose in tatkräftigem Realismus handelnde Mensch gleichermaßen in der Lage ist, das Leben zu meistern, „der eine gestützt auf die certa exspectatio futurae beatitudinis, der andere – ohne Hoffnung.“ (Brednow I 599) Es bleibt für Camus die Frage offen, ob ein Leben ohne Hoffnung möglich sei.

Leere Ausweglosigkeit und vergebliches Warten finden wir in den Werken von Franz Kafka und Samuel Beckett. Franz Kafka (1883 – 1924), der jüdische Dichter aus Prag, kannte den modernen Menschen in seiner Angst. In seiner kleinen Fabel von der Maus meint er: „’Ach’, sagte die Maus, ‚die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte. Ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin und dort im1 Winkel steht die Falle, in die ich laufe.’ ‚Du musst nur die Laufrichtung ändern’, sagte die Katze und fraß sie.“ (Jeckel 42) So erscheint der Mensch keine Hoffnung auf Rettung oder einen Ausweg zu haben.

Samuel Beckett (geb. 1906), ein Ire, zeigt seine nihilistische Haltung in dem weltberühmten Theaterstück „Warten auf Godot“. Darin wird die Hoffnung als sinnloses Warten dargestellt. Auf einem weiten öden Feld, auf dem nur ein kümmerlicher Baum steht, haben die zwei halbverhungerten, angstgehetzten Landstreicher Wladimir und Estragon ein Zusammentreffen mit einem gewissen Godot verabredet. Doch sie warten vergebens auf ihn. Sie wissen nicht, wer Godot ist. Aber dennoch warten sie auf ihn in wachsender verzweifelter Hoffnung als auf einen, der sie von aller Not, Angst, Sorge, von allem Leid ihres elenden Lebens befreien könnte.“ (Schauspielführer 394) Am Endes des Stückes wollen sich die beiden Landstreicher aufhängen. Doch der Strick reißt. Ihnen ist aufgegeben, endlos zu warten, denn Godot kommt nicht.

Ich könnte in dieser Art noch viel mehr Literatur aufzeigen, in der die Sinnlosigkeit und die Leere der Hoffnung dargestellt wird. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich Gabriel Marcel und O.F. Bollnow ernsthaft bemühen, das Wesen der Hoffnung zu ergründen.

Zusammenfassend können wir sagen, dass Dichter und Schriftsteller einiges über das Verhältnis des heutigen Menschen zur Hoffnung zu sagen haben. In ihrem Werken wird die Hoffnung als gefährliche Illusion (Camus), als Ausweglosigkeit (Kafka) und vergebliches Warten (Beckett) aufgezeigt. Ist Hoffnung für Menschen, die ohne Gott leben, überhaupt möglich? Diese ernste Frage wird besonders bei Camus in seinem Roman „Die Pest“ deutlich.

Im nächsten Abschnitt will ich zunächst versuchen, die neuesten Bemühungen zum Thema Hoffnung zusammenzutragen.

b) Hoffnung und Lebenserhaltung

Wir nähern uns dem Problem am besten, in dem wir das vorstellen, was wir in der Literatur gefunden haben. Jores berichtet (I 420):

Ein Verladearbeiter, der eines Abends versehentlich in einem zu entladenden Kühlwagen auf dem Bahnhof eingeschlossen worden war und am nächsten Morgen dort tot aufgefunden worden war, hinterließ Aufzeichnungen. Darin schilderte er, wie sich die Kälte mehr und mehr entwickelte, bis sie schließlich unerträglich und lebensbedrohlich wurde. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Aggregate gar nicht eingeschaltet gewesen waren.

In seinem Lehrbuch für Ärzte veröffentlicht Jores (II 179) hierzu aber auch ein Gegenbeispiel:

Eine Patientin mit schwersten Zustand an Pneumonie², sagt kurz vor dem erwarteten Einbruch der Agonie: „Es ist nun alles vorüber, ich sterbe noch vor dem Morgen. Das ist auch die gerechte Strafe.“ Der Arzt, der diese Worte zufällig hörte, griff sofort ein und löste mit seinen Fragen eine lange Beichte aus. (Es ging um Ehebruch). Diese Beichte und der darauf folgende Zuspruch des Arztes führten zu einer Wendung in der Krankheit und zur Genesung in kürzester Zeit.

Noch ein letztes Beispiel. Jores berichtet: „Ich weiß von einer früher sehr gefeierten Sängerin, die sehr Schweres in ihrem Leben durchgemacht hatte und schließlich einsam und allein, unterstützt von der Wohlfahrt auf den Tod wartete. Dass sie nicht starb, war medizinisch ein Rätsel, denn sie war voller Ödeme³, hatte einen Hochdruck und eine Herzinsuffizienz4, wurde aber kaum ärztlich behandelt. Schließlich ergab sich, dass sie auf den Tag ihres fünfzigjährigen Bühnenjubiläums zulebte. Es sollte ein großes Fest werden. Noch einmal hoffte sie, dass die Öffentlichkeit von ihr Notiz nähme. Der Tag kam heran, aber es ließen sich nur wenige blicken und Freunde sorgten dafür, dass eine kleine Notiz in die Zeitung kam. Wenige Tage später war sie tot.“ (Jores III 129)

Diese Berichte haben eines gemeinsam. Sie zeigen die Hoffnung als lebenstragenden und lebenserhaltenden Faktor im Menschen. „Niemals wird ein Mensch in seinem Leben genug Liebe, Wahrheit, Freiheit, Schönheit, Güte und Freude gefunden und gegeben haben. Es gibt immer ein Auslangen nach einem neuen Morgen. Der Mensch gibt sich mit keiner endlichen Grenze zufrieden. Hier liegt die stärkste Triebfeder für alles Leben und jeden Fortschritt: wir leben auf Letztgültiges hin.

Es ist erstaunlich, dass es Hoffnung gibt, Hoffnung auf eine wahrhaft menschliche Menschheit, auf ein vollkommenes Staatswesen oder einfach auf eine bessere Zukunft. Es ist erstaunlich, denn das Letzte, was wirklich unumstößlich für uns fest steht, ist das schwarze Loch des Todes. Und trotzdem ist das ganze Leben des Menschen, auch des Menschen, der nicht an ein Weiterleben glaubt und die Hoffnung theoretisch als eine Folge der Angst deutet, innerlich getragen von Hoffnung und Fortschrittsglauben.“ (Holländischer Katechismus 517)

Demnach heißt Hoffen die Gewissheit haben, dass die Zeit und das Leben weiter gehen. Hoffen heißt: Zukunft vor sich sehen.

Das, was sich in den angeführten Beispielen in kürzester Zeit abspielte, das beobachten wir auch im Leben eines Menschen. Je älter und reifer ein Mensch wird, je weniger ist er imstande, große umwälzende Ereignisse zu schaffen. Das Leben macht uns mit seinem Vorschreiten im allgemeinen hoffnungslos, nicht immer im Gedanken, aber im Sein. Wir glauben im Alter nicht mehr an die Möglichkeit großer Wendungen; es erscheint uns irgendwie illusorisch, sie noch zu vollziehen“. (Simmel 105)

Einen anderen Aspekt des Zusammenhangs von Hoffnung und Lebenserhaltung gewinnen wir, wenn wir im Alten Testament, besonders in der Genesis beim Tod Abrahams, Isaaks und Jakobs, wiederholt lesen: „Abraham starb in gesegnetem Alter, betagt und lebenssatt“ (Gen 25,8), oder „Isaak verschied ... alt und lebenssatt.“ (Gen 35,29) Ganz entsprechend heißt es im Neuen Testament (Lk 2,29f): „Nun entlässt du deinen Diener, Herr, nach deinem Worte in Frieden, denn meine Augen haben dein Heil geschaut.“

„Damit haben wir von empirischen Beobachtungen ausgehend, eine Grundlage für die weitere Untersuchung gewonnen. Wir haben die Hoffnung erkannt als eine Grundgegebenheit des menschlichen Daseins, die diesem Dasein Zukunft offen hält. Diese Grundgegebenheit kann vernichtet werden, indem Zukunft sich als faktisch unerreichbar erweist. Sie kann abgelöst werden durch Verwandlung aller Zukunft in Gegenwart, in Erfüllung.“ (Ansohn 120 f)

c) Hoffnung und Hoffnungen

Wir haben bisher von Hoffnung immer nur in der Einzahl gesprochen. Man kann aber auch von Hoffnungen sprechen. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Hoffnung und Hoffnungen herauszuarbeiten.

Landsberg formuliert den Unterschied so: „Die Hoffnung als ein Akt der persönlichen Existenz ist wesentlich verschieden von den vielfältigen Gemütserregungen, die wir ‚Hoffnungen auf etwas’ nennen. Das will nicht besagen, dass die Hoffnung eines intentionalen Gehaltes entbehren würde. Im Gegenteil ist die Hoffnung eines solchen Gehaltes inne. Was ihr aber nicht zukommen kann, das sind unter sich auswechselbare Gehalte und dies eben darum, weil sie ihren Gehalt in einer unvergleichlich intimeren Weise besitzt. Die Hoffnung und die Hoffnungen scheinen beide der Zukunft zuzugehen. Aber es gibt hier zwei Arten von Zukunft, die zwei Arten von Zeitlichkeit angehören. Die Zukunft der Hoffnungen ist die Zukunft der Welt, in der man das Eintreten verschiedener Ereignisse erwartet. Die Zukunft der ‚Hoffnung’ ist die Zukunft meiner eigenen Person, in der ich mich erfüllen muss. ... Die Hoffnung tendiert ihrem Prinzip nach zur Wahrheit, die Hoffnungen tendieren ihrem Prinzip nach zur Illusion. ... Die Hoffnung ist eine aktualisierende Schöpfung.“ (Landsberg 46ff)

Ansohn fasst die Aussagen, die stark von Gabriel Marcel geprägt sind und dessen ganze Philosophie der Hoffnung enthalten, wie folgt zusammen:

„1. ‚Hoffnung und Hoffnungen’ sind beide auf Zukunft gerichtet.
2. ‚Hoffnungen’ sind auf Ereignisse gerichtet, darauf, dass etwas werde. ‚Hoffnung’ ist auf die eigene Person des Hoffenden gerichtet, darauf, dass ich werde, was ich noch nicht bin.
3. ‚Hoffnungen’ haben daher auswechselbare Gehalte; man kann heute dieses und morgen jenes hoffen, man kann auch vieles zugleich hoffen: ... dass aus meinem Sohn etwas wird, dass ich von dieser Krankheit genese. Der Gehalt der Hoffnungen wird also jeweils von der Situation bestimmt. Die Hoffnung als Fundament des Daseins, das Leben ermöglicht, ist unabhängig von Situationen, was ihren Gehalt angeht, denn sie meint immer nur das eine: mich selbst, meine Möglichkeit, immer mehr ‚ich selbst’ zu werden. Die Hoffnungen bestehen darauf, dass dies oder jenes näher komme. Die Hoffnung dagegen besteht darauf, dass ich weiter komme, über mich selbst hinaus.
4. Die Hoffnungen tendieren zur Illusion, weil sie oft die Wirklichkeit verschleiern und Wunschbildern den Charakter von Wirklichkeit verleihen. Die erwünschte Zukunft wird in Gedanken vorweg genommen und beeinflusst unser Denken und Fühlen als wäre sie schon Gegenwart. Die ‚fundamentale’ Hoffnung (Plügge) dagegen hält die Gegenwart aus und überwindet sie in Geduld.“ (Ansohn 122f) Demnach kann sich auch eine Ent-täuschung auswirken; sie kann den Ent-täuschten veranlassen, seine Anker an einer tieferen Stelle auszuwerfen, sie kann somit zu einem Fortschreiten im Sinne der fundamentalen Hoffnung führen.

d) Hoffnung und „Grenzsituation“

Der Begriff der „Grenzsituation“ ist in der modernen Philosophie besonders von Karl Jaspers (geb. 1883) ausgearbeitet worden. „Grenzsituationen sind auf unser Dasein bezogen, endgültig. Sie sind nicht überschaubar. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Wahrheit zu bringen, ohne sie aus einem anderen erklären oder ableiten zu können. Sie sind mit dem Dasein selbst.“ (Jaspers 203)

Wir haben bereits Grenzsituationen kennen gelernt, als wir die Literatur zum Thema „Hoffnung“ befragten. Camus zeigt in seinem Buch „Die Pest“ Menschen in Grenzsituationen. Eine Grenzsituation ist also gerade die Situation eines schwerkranken Menschen, die alle gemeinen Hoffnungen unsinnig macht oder sie als Illusion erweist, mit denen sich der Kranke vor der Wirklichkeit verschließt. Gabriel Marcel hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass die fundamentale Hoffnung in der Grenzsituation nicht nur nicht gegenstandslos wird, sondern gerade in ihr erst voll zur Auswirkung kommt. Hoffnung ist das absolute Gegenmittel gegen die Verzweiflung. „In Verzweiflung gibt der Mensch sich selbst auf. Verzweifeln angesichts der unheilbaren Krankheit heißt nach Marcel darauf verzichten, man selbst zu bleiben, heißt sich bannen zu lassen vom Gedanken an die eigene Zerstörung.

Ein erster Schritt gegen die Verzweiflung wäre die Annahme des Schicksals.“ (Ansohn 124f)

Die positive Nicht-Annahme der Zerstörung des eigenen Selbst ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mit der Geduld verbindet. Geduld bedeutet in diesem Zusammenhang nach Marcel: sich Zeit nehmen. Es bedeutet, einem ‚vor sich gehenden’ Prozess des Wachsens und Reifens zu vertrauen, sich vom Rhythmus dieses Wachsens und Reifens nicht abbringen zu lassen. „Wo kein Raum mehr bleibt für irgendwelche Erwartung einer exakt zu definierenden Wende in der Krankheit, da bleibt noch immer Raum für die Hoffnung, ‚dass es mit mir gut wird’, auf irgendeine nicht näher zu beschreibende Weise, die aber auch gar nicht beschrieben werden muss.“ (Ansohn 126)

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1974
ISBN (eBook)
9783832484200
ISBN (Paperback)
9783838684208
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – Katholische Theologie
Note
1,0
Schlagworte
sinnfrage notlage schicksal grenzsituation
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Titel: Die Hoffnung der Kranken und Sterbenden
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