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Unterlassene Hilfeleistung als Folge von Kursen zu 'Lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Unfallort'

©2003 Diplomarbeit 78 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie befahren mit 90 km/h eine Landstraße und beobachten, wie 80 m vor Ihnen ein Wagen von der Straße abkommt und sich überschlägt (alternativ kann es auch ein Fahrradfahrer sein, der auf nassem Laub ausrutscht und zu Boden fallt oder jede andere Situation, die Ihnen dazu in den Sinn kommt). Etwa drei Sekunden später passieren Sie diese Stelle. Sie bemerken, wie Ihr Fuß automatisch die Bremse betätigen will, jedoch haftet Ihr Blick nicht nur auf die Unfallstelle, sondern auch im Rückspiegel auf den nachfolgenden Verkehr. Vielleicht ist vor Ihnen auch bereits ein Wagen vorübergefahren. Wenn Sie jetzt nicht schleunigst auf die Bremse treten, werden Sie den Straftatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung im Straßenverkehr erfülle& Nun, wird hoffentlich nicht so schlimm verlaufen sein. Da sind ja auch noch andere, die anhalten können. Und doch bleibt da so ein mulmig-schuldiges Gefühl ... es ist ja im Grunde nicht möglich, die Schwere von eventuellen Verletzungen aus dem Auto heraus zu ergründen. Dazu hätten Sie anhalten müssen.
Sie wurden auf diese Situation niemals vorbereitet. Da gab es sicher mal einen Erste-Hilfe-Kurs. Jedoch bereitet dieser nur auf die Situation NACH dem Anhalten vor. Den Prozess des Anhaltens selbst haben Sie noch nie antizipiert. Nach juristischen Gesichtspunkten drohen Ihnen jetzt Geldstraße oder bis zu einem Jahr Gefängnis (§ 323c StGB). Wenn diese alltäglich vorkommende Situation aber zu solchen Strafen führen kann, dann muß der Gesetzgeber auch eine adäquate Vorbereitung auf diese Situation garantieren. Und ein Kurs zu „Lebensrettenden Sofortmaßnahmen“, wie er nun mal für Führerscheinbewerber Vorschrift ist, leistet diese Vorbereitung nicht. Im Gegenteil: häufig empfinden die Teilnehmer die Ausbildung als hemmend, da sie auf schwer zu lösende Situationen fokussiert (wer kann schon etliche Jahre später noch eine Stabile Seitenlage herstellen oder eine Reanimation durchführen - oder kann sich überhaupt erinnern, wann das eine und wann das andere durchzuführen ist). Sofortmaßnahmenkurse, wie sie heute durchgeführt werden schüren eher Ängste vor dem Helfen, als daß sie dazu ermutigen. Sie befassen sich zu sehr mit notfallmedizinischen Details, welche in einer tatsächlichen Notfallsituation weder erinnert werden, noch zu einer stärkeren subjektiven Sicherheit beim leisten von Erster Hilfe beitragen.
Die Arbeit befasst sich also mit der schwierigen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8376
Raadts, Stefan: Unterlassene Hilfeleistung als Folge von Kursen zu ,,Lebensrettenden
Sofortmaßnahmen am Unfallort"
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Universität Osnabrück, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1. Abstrakt...Seite 2
2. Einleitung...Seite 2
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Erziehungswissenschaftlicher Bezugsrahmen...Seite 7
3.2 Sozialpsychologischer Bezugsrahmen...Seite 14
3.3 Juristischer Bezugsrahmen...Seite 21
4. Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen...Seite 23
5. Methoden
5.1 Unabhängige Variablen...Seite 24
5.1.1 Kursmodell I...Seite 26
5.1.2 Kursmodell II...Seite 27
5.1.3 Erläuterungen zu den Kursmodellen und Arbeitsmaterialien...Seite 31
5.2 Abhängige Variablen...Seite 39
5.3 Hypothesen...Seite 42
6. Ergebnisse...Seite 43
7. Diskussion...Seite 63
8. Literaturverzeichnis...Seite 71
9. Danksagung...Seite 74
10.Anhang...Seite 75
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1. Abstrakt
174 Teilnehmer an 17 Kursen zu ,,Sofortmaßnahmen am Unfallort" wurden gebeten, nach dem
Kurse einen Fragebogen zu beantworten, welcher die Einstellung zur Hilfeleistung bei
Unfallsituationen im Straßenverkehr messen sollte. Die Kursleiter wurden zuvor instruiert und
einem von zwei Kursmodellen zugewiesen. Ein Modell (n = 79) fokussierte auf notfallmedizinische
Details und wurde im Frontalunterricht gehalten. Das andere Modell (n = 82) war weniger
detailorientiert und beinhaltete zudem eine Aufklärung über die psychologischen Zusammenhänge
der Unterlassenen Hilfeleistung (,,Bystander Effect"). Dieses Modell wurde nicht frontal präsentiert,
sondern über mehrere unterschiedliche Methoden. Eine dritte Gruppe fungierte als Kontrollgruppe
(n = 13). Das psychologische Modell wies hochsignifikant bessere Einstellungswerte auf gegenüber
der Kontrollgruppe und dem medizinischen Modell. Das medizinische Modell wies signifikant
bessere Werte auf gegenüber der Kontrollgruppe.
2. Einleitung
Kurse zu ,,Sofortmaßnahmen am Unfallort" (im folgenden kurz als SMU bezeichnet; Erste-Hilfe-
Kurse werden als EH abgekürzt) bzw. ,,Lebensrettende Sofortmaßnahmen" gehören seit 1969 zu
den Pflichtübungen eines jeden Führerscheinbewerbers in Deutschland. Der Gesetzgeber schreibt
eine Teilnahme an einem solchen Kurs zwingend vor, mit der Intention, bei Verkehrsunfällen den
sogenannten ,,Laienhelfer" in die Lage zu versetzen, einen eventuell lebensrettenden Eingriff sofort
am Unfallort tätigen zu können. Ein Laienhelfer hat laut §323c StGB die Pflicht, als Zeuge oder
Beteiligter des Verkehrsunfalls unmittelbare Hilfe zu leisten. Diese Hilfe sollte derart gestaltet sein,
daß sie
­
die professionelle Hilfe in Form eines Notrufs herbeiholt und
­
die Zeit bis zum Eintreffen des Sanitätsdienstes oder Notarztes mit ebensolchen Maßnahmen
überbrückt, die Inhalt eines SMU-Kurses sind, falls diese bei den/dem Verletzten angezeigt sind.
2

Ziel dieser Maßnahmen ist die Sicherstellung einer lückenlosen Versorgung von Unfallverletzten,
ab dem Zeitpunkt des Unfalls bis zur notärztlichen Behandlung vor Ort oder im Krankenhaus ­ die
sogenannte Rettungskette. Der Laienhelfer hat in dieser Rettungskette somit eine zentrale Position
inne (Garms-Homolova et al., 1986). Von ihm hängt es ab, ob die Rettungskräfte möglichst schnell
zum Unfallort kommen und eine eventuelle Lebensgefahr der Unfallbeteiligten bis zum Eintreffen
der Rettungskräfte abgewendet werden kann. Dazu sollte der Laienhelfer insbesondere zu folgenden
(lebensrettenden) Maßnahmen in der Lage sein:
1. Erkennen einer Gefahrensituation
2. Absetzen des Notrufs
3. Absichern der Unfallstelle
4. Auffinden einer verletzten Person
5. Retten aus dem Gefahrenbereich (Rautek-Rettungsgriff vom Boden und aus dem Auto heraus)
6. Erkennen von Bewusstlosigkeit
7. Kontrolle von Atmung und Puls
8. Stabile Seitenlage
9. Herz-Lungen-Wiederbelebung
10.Erkennung und Behandlung von Schockopfern
11.Stillen von leichten bis lebensbedrohlichen Blutungen
12.Helmabnahme
Gemeinsam mit einer Erörterung der rechtlichen Grundlagen, der möglichen Folgen des
Unterlassens von Hilfeleistung und der Rettungskette sind dies üblicherweise die Themen eines
Kurses zu ,,Sofortmaßnahmen am Unfallort". Sie sind vorschriftsmäßig in jedem Kurs einzuhalten.
Die pädagogisch-didaktische Gestaltung von SMU-Kursen unterliegt dagegen keinerlei
Vorschriften. Dem Ausbilder ist es freigestellt, den Kurs nach eigenem Ermessen aufzubauen. Es ist
unstrittig, daß der Lernerfolg jeglichen Lernens unabdingbar von einer guten Didaktik abhängt. Das
trifft auf SMU-Kurse umso mehr zu, als sie für die Teilnehmer eine Pflichtveranstaltung darstellen,
die sie ohne gesetzliche Vorschrift kaum freiwillig besuchen würden (Garms-Homolova et al.,
1991). Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu und wird auch von den zuständigen Institutionen
zunehmend diskutiert (Garms-Homolova & Schaeffer, 1988), jedoch scheint die Umsetzung in die
Praxis nur sehr schleppend voranzugehen. Es fehlt an ernsthaften, systematischen
Auseinandersetzungen über wirksame Konzepte der notfallmedizinischen Breitenausbildung
3

(Schaeffer, 1991). Denn immer noch kommen die meisten Teilnehmer mit negativen Erwartungen
in die SMU-Kurse. Langeweile, monotone Vortragsweise und zu hohe Erwartungen des Ausbilders
an die Teilnehmer gehören zu den am häufigsten geäußerten Befürchtungen (Anm.: persönliche
Erfahrung des Autors). Dazu kommt, daß die Kurse meist am Wochenende über sechs bis acht
Stunden durchgeführt werden ­ ein Zeitraum, der von einem Addressatenkreis von vornehmlich 16
bis 20jährigen bevorzugt mit anderen Aktivitäten gefüllt wird. SMU-Kurse haben bei
Führerscheinbewerbern nach wie vor keinen guten Ruf (Garms-Homolova & Schaeffer, 1988). Die
Teilnahmemotivation besteht hauptsächlich im Erwerb des Teilnahmenachweises, ist also als
extrinsisch zu betrachten.
Kompetenz zur Laienhilfe nach einem SMU-Kurs?
Unter diesen Bedingungen soll also ein SMU-Ausbilder notfallmedizinische Kenntnisse und
Fähigkeiten an junge Menschen herantragen, denen oftmals nicht einmal die grundlegenden
Funktionen des menschlichen Körpers bekannt sind. Bereits hier stellt sich die Frage, ob es sinnvoll
sein kann, einen notfallmedizinischen Maximalanspruch an die Teilnehmer zu stellen. Die von der
Bundesanstalt für Straßenwesen (BaSt) betriebenen Untersuchungen zur Effektivität des
Rettungswesen zeigen rasche Vergessensprozesse und deutliche Unsicherheiten bereits kurz nach
Absolvierung des Kurses (Jungchen, 1978; Sefrin et al. 1986; 1988). Ab einem bestimmten Grad
der Komplexität einer notfallmedizinischen Aufgabe stellt Jungchen (1978) sogar fest, daß die
Absolventen teilweise mit stärkerer Hilflosigkeit reagieren als Personen, die noch nie eine solche
Ausbildungsmaßnahme mitgemacht haben. In großen Teilen der Bevölkerung scheinen selbst
einfachste Maßnahmen der Ersten Hilfe, wie beispielsweise das Absetzen eines Notrufs, auf
bemerkenswerte Unsicherheit zu stoßen (Sefrin et al., 1988). Ähnliches gilt für den Ablauf der
Rettungskette (Garms-Homolova, 1987). So kommt Schaeffer denn auch konsequenterweise zu dem
Schluß, daß es neben einer verbesserten pädagogisch-didaktischen Ausbildungskonzeption auch
einer Revision der Lehrinhalte bedarf (Schaeffer 1991). Insbesondere wird in den zuständigen
Institutionen die Diskussion über Möglichkeiten zur Verbesserung der Hilfsbereitschaft der
Verkehrsteilnehmer immer intensiver.
Dies ist wenig verwunderlich. Unterlassene Hilfeleistung ist ein nicht nur im Straßenverkehr ständig
auftretendes Phänomen. Die Schätzungen über die Auftretenshäufigkeit belaufen sich auf 60 ­ 90%
(Sefrin, 2001), d. h. situationsabhängig verhalten sich bis zu neun von zehn Autofahrern nicht
regelkonform und fahren am Unfallort vorbei . Mehr als die Hälfte aller Autofahrer traut sich trotz
bescheinigten Kursbesuches eine helfende Intervention bei Verkehrsunfällen nicht zu (Sefrin,
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2000). Es scheint vor diesem Hintergrund sinnvoll zu sein, innerhalb von SMU- und EH-Kursen
neben notfallmedizinischen Kenntnissen und Fähigkeiten auch die Gründe der Unterlassenen
Hilfeleistung zu diskutieren. Das Fachgebiet der Sozialpsychologie liefert zu diesem Sachverhalt
Erkenntnisse aufgrund einer sehr breiten und gründlichen Forschung. Die Notwendigkeit einer
Thematisierung psychologischer Aspekte in Erste-Hilfe-Lehrgängen wurde bereits 1991 in den
Studien der Bundesanstalt für Straßenwesen hervorgehoben. Karutz und Hockauf konstatieren, daß
,,...psychologische Fragestellungen wesentlich verstärkt oder sogar als zentrales Thema der
Ersthelferschulung..." zu behandeln seien und im Gegenzug medizinwissenschaftliche Details aus
den Lehrplänen entfernt werden sollten, da sie den medizinischen Laien eher verwirren und
abschrecken und ,,geradezu davon abhalten, in Notsituationen zu helfen" (Karutz & Hockauf,
2000). Wenn bis zu 90% der Verkehrsteilnehmer ­ welche ja alle mindestens einen SMU-Lehrgang
absolviert haben sollten ­ in Notfallsituationen die Hilfeleistung unterlassen, dann darf die
Effektivität einer präventiven Ausbildung in ,,Sofortmaßnahmen am Unfallort" als zweifelhaft
betrachtet werden, es sei denn, es gelänge, die Hilfsbereitschaft bei den Verkehrsteilnehmern zu
steigern. Dies kann alleine durch eine qualitative Verbesserung von SMU-Kursen nicht geleistet
werden. Es scheint aber einleuchtend zu sein, daß ein SMU-Kurs ein idealer Ort ist,
Hemmschwellen und Ängste bei der Hilfeleistung sowohl aus Sicht der wissenschaftlichen
Psychologie als auch aus Sicht der Teilnehmer anzusprechen. Der Einbezug sozial- und
lernpsychologischer Theorien wird von Garms-Homolova (1991) neben einem erziehungs-
wissenschaftlichen Zugriff als ,,unerläßlich" bezeichnet.
Methodik der vorliegenden Arbeit
Die vorliegende Untersuchung verfolgt genau diesen Ansatz. Es soll gezeigt werden, inwiefern die
Implementierung psychologischer Fragestellungen in einen SMU-Kurs einen Einfluss auf die
Einstellungen der Teilnehmer zur Hilfeleistung hat. Ebenso wird untersucht, wie wertvoll eine
pädagogisch-didaktische Aufbereitung eines SMU-Kurses für den Lerneffekt sein kann. Dazu
wurden zwei unterschiedliche Kursmodelle konzipiert. Das erste Modell beinhaltet keine
psychologischen Fragestellungen sondern ausschließlich die Themen, die von der
Bundesärztekammer für einen SMU-Kurs vorgeschrieben sind (siehe oben). Dieser Kurs wird im
Frontalunterricht gehalten, ohne weitere pädagogisch-didaktische Maßnahmen. Im zweiten ­
modifizierten ­ Modell nimmt das Thema der psychologischen Hintergründe für Unterlassene
Hilfeleistung eine zentrale Rolle ein, ohne die vorgegebenen notfallmedizinischen Themen zu sehr
5

zu vernachlässigen. Insbesondere werden die Teilnehmer über Rollenspiele und andere didaktische
Methoden dazu ermutigt, ihre Hemmschwellen und Ängste anzusprechen. Der zuvor instruierte
Ausbilder nimmt diese dann zum Anlaß, die psychologischen Faktoren der Unterlassenen
Hilfeleistung darzustellen und darüber zu diskutieren, wie man in einer solchen Situation eventuell
besser reagieren könnte. Operationalisiert wird die Hypothese, daß ein solcher Kurs die Einstellung
zur Hilfeleistung verbessern kann, über einen Fragebogen, der an die Teilnehmer beider
Kursmodelle zum Kursende ausgeteilt wird. Dieser Fragebogen wurde vor Beginn der
Untersuchung entworfen (Klinger & Raadts, 2003) und stellt 17 Items zum subjektiven Empfinden
bezüglich der Schwierigkeit, Erste Hilfe zu leisten und dem Thema der Unterlassenen Hilfeleistung.
Die Ausbilder wurden bei der Deutschen Unfallhilfe, einer privaten Ausbildungsorganisation,
rekrutiert und instruiert.
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Erziehungswissenschaftlicher Bezugsrahmen
Seit einigen Jahren ist von seiten der Ausbildungsorganisationen ein verstärktes Bemühen
festzustellen, den SMU- und EH-Ausbildern eine bessere pädagogische Fundierung zu geben.
Jedoch mangelt es an einer systematisierten Konzeptualisierung vor dem Hintergrund
lernpsychologischer Erkenntnisse. Die breitenwirksame Erste-Hilfe-Ausbildung wird weiterhin als
defizitär bezeichnet (Aries, 1988; Karutz & Hockauf, 2000) und beschränkt sich immer noch fast
ausschließlich auf die Vermittlung notfallmedizinischer Kenntnisse. Wie die Studien wiederholt
gezeigt haben, kann der intendierte langfristige Lernerfolg nicht erreicht werden (Jungchen, 1978;
Sefrin et al., 1988) und das geht zu lasten des subjektiven Gefühls an Kompetenz zum Helfen. Eine
Teilnahme an einer SMU- oder EH-Ausbildung vermag kurzfristig die Hilfsbereitschaft zu heben.
Je länger der Kurs jedoch zurück liegt, desto geringer wird diese Hilfsbereitschaft (Sefrin, et al.
1986; Bierhoff, 1988) und dieser Rückgang kann in Zusammenhang gebracht werden mit dem
gesunkenen Gefühl subjektiver Kompetenz (Bierhoff, et al. 1987; 1988). Eine qualitative
Verbesserung von EH- und SMU-Ausbildungen kann insofern auch nur bedingt zu einer
langfristigen Steigerung der Hilfsbereitschaft führen, wenn die Ausbildung nicht regelmäßig
wiederholt oder ergänzt wird. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, daß potenzielle
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Teilnehmer sich häufiger freiwillig zu einem Auffrischungskurs bereit erklären würden, wenn sie
die Erfahrung eines guten und pädagogisch ausgereiften Kurses bereits einmal gemacht haben ­ also
die häufig vertretenen Stereotypen über EH- und SMU-Kurse nicht bestätigen können.
Teilnehmerorientierung
Was soll durch SMU-Kurse also erreicht werden? Zumeist junge Menschen sollen dazu befähigt
werden, in spezifischen (Notfall-) Situationen, deren Charakter als chaotisch und relativ komplex
bezeichnet werden kann, kompetent einzugreifen und sie nach Möglichkeit sogar zu bewältigen.
Was ist dazu erforderlich?
­
das subjektive Gefühl von Handlungskompetenz
­
die Fähigkeit zur Selbstorganisation.
Wie können diese Punkte über einen SMU-Kurs operationalisiert werden? Bis heute wird dies in
aller Regel der Intuition des Ausbilders überlassen. Der Ausbilder muß also medizinische
Kenntnisse und Fähigkeiten in einem speziellen Lerntransfer so auf die Teilnehmer übertragen, daß
diese sich langfristig in Notfallsituationen als handlungskompetent empfinden. Da der Ausbilder
zunächst auf eine fast ausschließlich extrinsische Motivation der Teilnehmenden trifft, muß er diese
in intrinsische Motivation verwandeln, damit sie in die Lage versetzt werden, den Stoff überhaupt
aufzunehmen. Eine Möglichkeit dies zu tun, ist Teilnehmerorientierung (Karutz & Hockauf, 2000):
jeder Kurs unterscheidet sich relativ deutlich durch Gruppengröße, Gruppenzusammensetzung
(Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Persönlichkeiten) und Vorbildung sowohl allgemeiner als
auch medizinischer Art. Ein SMU-Ausbilder sollte in der Lage sein, sich den unterschiedlichen
Bedürfnissen der Teilnehmer individuell anzupassen. Diesem Anspruch sind jedoch aufgrund
verbindlicher Lehrinhalte und einem meist knapp bemessenen Zeitrahmen Schranken gesetzt.
Insofern ist die zu Beginn des Kurses einsetzende Aufwärm- und Kennenlernphase als
richtungsweisend für den Verlauf des gesamten Kurses anzusehen. Hier kann der Ausbilder nicht
nur die Wünsche und Erwartungen der Teilnehmer an den Kurs diskutieren, sondern auch
unterschwellige Hemmnisse und Ängste gegenüber Kurs und Kursleiter erkennen, ansprechen und
gegebenenfalls abbauen. Da es sich meist um Hemmnisse und Ängste handelt, die in realen
Notfallsituationen ebenfalls eine Rolle spielen, kann hier ein guter Übergang in die Thematik
geschaffen werden. Die immer noch häufig in den Kursen anzutreffenden Appelle an die moralische
Notwendigkeit des Kurses und damit der impliziten Notwendigkeit einer intrinsischen Motivation
stoßen dagegen eher ab und schaffen die vom Teilnehmer befürchtete Lehrer-Schüler-Situation, die
mit Langeweile und Zwang assoziiert wird.
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Geeignete Unterrichtsformen
Die Strukturierung der verbindlichen Lehrinhalte ist ebenfalls dem Geschick des Ausbilders
überlassen. Sie wird im wesentlichen bestimmt von der Art des Unterrichts. Greif (1998)
unterscheidet vier Formen des Unterrichtens:
­
Frontalunterricht
­
Lehrgespräch
­
Gruppenarbeit
­
Selbstorganisiertes Lernen
Der Frontalunterricht wird dabei mehr und mehr als antiquiiert betrachtet. Jedoch gehört er immer
noch zum Standardwerkzeug vieler Ausbilder, was angesichts des Pflichtcharakters eines SMU-
Kurses und seinem Anspruch, junge Menschen zu einigermaßen kompetenten Laienhelfern
auszubilden bedenklich stimmen mag. Die Intention, langfristige Handlungskompetenzen zu
schaffen, kann alleine mit diesem Werkzeug keinesfalls umgesetzt werden. Lernen bedeutet, neues
Wissen und unbekannte Handlungen in bereits bestehende Wissensnetzwerke und
Handlungsschemata einzubauen. Unabdingbar notwendig ist dazu jedoch eine positive Stimulation
der kognitiven Aufmerksamkeitssysteme und dies funktioniert wiederum nur unter konkretem
Miteinbezug der sensomotorischen und kognitiven Wahrnehmungskanäle der Kursteilnehmer und
einer Antizipation ihres bestehenden Wissens. Daher ist ein reiner Frontalunterricht über 6 Stunden
hinweg bei extrinsischer Teilnehmermotivation und als langweilig antizipiertem Lernstoff nicht
ausreichend, um die angestrebte Intention umzusetzen.
Realitätsbezug
Es obliegt dem Ausbilder also, die Auslösung von Lernprozessen anzuregen, indem er eine
Problemstellung darstellt, zu deren Lösungsfindung bei den Teilnehmern eine innere Bereitschaft
induziert wurde. Das Erfordernis, notfallmedizinische Kenntnisse und Fähigkeiten zu besitzen,
sollte den Teilnehmern nicht nur aus moralischer Sicht unmittelbar einleuchtend sein (was meistens
ohnehin der Fall ist), sondern einen Bezug zum persönlichen Leben haben und tatsächlichen
Realitäten entsprechen (Karutz & Hockauf, 2000). Neben gelegentlich anzutreffenden bereits
gemachten individuellen Erfahrungen mit Erster Hilfe sollte beispielsweise klar werden, daß Erste
Hilfe viel häufiger im Haushalt als im Straßenverkehr notwendig wird und somit nicht in erster
Linie eine unbekannte Person sondern der engere Familien- und Bekanntenkreis von einer guten
Laienhelferkompetenz profitiert (Karutz & Hockauf, 2000). Darüberhinaus sind es meistens nicht
die schweren Unfälle mit Toten und zermalmten Körperteilen, mit denen ein Laienhelfer
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üblicherweise konfrontiert wird (Sefrin, 2001), sondern unter Schock stehende oder blutende
Personen. Sehr häufig ist bereits die bloße Anwesenheit eines psychischen Beistand vermittelnden
Ersthelfers von enormer ­ manchmal sogar lebensrettender - Bedeutung und stellt
realistischerweise auch die häufigste Anforderung an potenzielle Ersthelfer (Sefrin, 2001). Diese
Erkenntnis sollte den Teilnehmern vermittelt werden, denn auf diese Weise wird die allgemein
erwartete Komplexität eines Unfallgeschehens auf wenige und intuitiv einleuchtende Handgriffe
reduziert, denn: mit dem Begriff ,,Erste Hilfe" wird sehr häufig das Herstellen der Stabilen
Seitenlage oder die Herz-Lungen-Wiederbelebung assoziiert. Beide Maßnahmen trauen sich nur die
wenigsten Verkehrsteilnehmer zu. Über alle auftretenden Notfallsituationen hinweg tritt die
Notwendigkeit einer solchen Maßnahme jedoch nur in 4 ­ 5 % der für den Laien relevanten Fälle
auf, so daß die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Laienintervention mit simplen aber
wirkungsvollen Handgriffen und seiner bloßen Anwesenheit als Ersthelfer recht hoch liegt. Hier
verdeutlicht sich der Vorteil des Denkens in Wahrscheinlichkeiten: ein Ersthelfer sieht sich
subjektiv mit einer Situation voller Unwägbarkeiten konfrontiert. Um damit besser
zurechtzukommen, benötigt er Hinweise über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer
bestimmten Situation. Beispielsweise wird die Auftretenshäufigkeit einer Wirbelsäulenverletzung
eines Motorradfahrers nach einem Unfall von den meisten Teilnehmern deutlich überschätzt.
Tatsächlich liegt sie bei 15% (Buchfelder & Buchfelder, 1999). Die Aufklärung über die reale
Sachlage kann also nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Bereitschaft zur Hilfeleistung
haben.
Prinzipienorientierung
Ein Ausbilder kann also über die Vermittlung lebensnaher und ­ vor dem Hintergrund
epidemiologischer Kenntnisse - realistischer Problemstellungen recht bald die Weichen stellen für
intrinsisch motiviertes Lernen. Über alle anderen Formen des Unterrichts sollte der Ausbilder nach
Belieben und situations- oder gruppenspezifisch verfügen können, was weitere Ansprüche an die
verwendeten Lern- und Lehrmaterialien stellt. So kann Selbstorganisiertes Lernen in Kleingruppen
nur unter Bereitstellung von Leittexten, Schrift- oder Malmaterial, Folien oder Übungsdecken
erfolgen. Rollenspiele hingegen sind weniger aufwendig, sollten vom Ausbilder aber regelmäßig auf
ihren Effekt überprüft werden. Sie dürfen nicht abschrecken, also unrealistische Bedingungen
nachzeichnen und möglichst alle Teilnehmer der Gruppe miteinbeziehen (,,Jeder kann helfen"). Da
sie nur exemplarischen Charakter haben, sollten sie im handlungsfördernden Sinne einen weiteren
wichtigen Punkt beinhalten: Prinzipienorientierung (Karutz & Hockauf, 2000). Jede Notfallsituation
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stellt sich anders dar und wirkt auf den potenziellen Ersthelfer zunächst verunsichernd. Hier ist es
nötig, klare, erinnerbare und immer anwendbare Handlungsschemata parat zu haben. Bekannte
Handlungsprinzipien sind PAKET und NELKE (siehe unten). Dieser Grundstock an jedem
Ersthelfer zumutbaren und einfach durchzuführenden Maßnahmen sollte nach Abschluß des Kurses
bei den Teilnehmern verfestigt sein. Verwirrend wirken stattdessen Forderungen nach
zentimetergenauen Herzdruckmassagen und ebenso abstrakten wie irrelevanten Kenntnissen über
beispielsweise Beatmungsvolumina oder leitfadengemäßer Durchführung der Stabilen
Seitenlagerung. Medizinische Details dürfen nicht Zweifel und Ängste bei der Hilfeleistung schüren
(Karutz & Hockauf, 2000).
Was gehört in einen SMU-Kurs?
Dies führt nun zu einem gegensätzlichen Verständnis über die Inhalte eines SMU-Kurses. Sollten
die Teilnehmer hauptsächlich mit Übungen zu besonders lebensbedrohlichen Zuständen
konfrontiert werden oder sollte die relative Häufigkeit der potenziell auftretenden Verletzungen
inhaltsleitend sein? Rettungssanitäter, Mediziner und Ausbilder neigen dazu, sich an der Schwere
des Zustandes zu orientieren und halten solcherart gestaltete Situationen für besonders
betrachtenswert (Sefrin et al., 1988), wohingegen potenzielle Laienhelfer in SMU-Kursen mehr über
häufig vorkommende Unfälle mit weniger lebensbedrohlichem Charakter wissen wollen (Schaeffer,
1991). Schaeffer betont weiterhin, daß es Fachkreise gibt, die eine immer stärkere Anlehnung an die
intensivmedizinischen Interventionen für SMU-Teilnehmer fordern, geht aber davon aus, daß dieser
Standpunkt früher oder später revidiert werden muß. Der Autor der vorliegenden Untersuchung teilt
diese Auffassung: es lohnt sich, weniger Wert auf exakte Übungen zur Reanimation zugunsten einer
stärkeren Kompetenz im Bereich psychischer Erster Hilfe und Wundversorgung zu legen. Ebenso
lohnt es sich, Übungen und Kenntnisse der Hilfeleistung auf das zu reduzieren, was dem Laien
erinnerbar und zumutbar ist, denn sonst ist die Folge unausweichlich die des Unterlassens von
Hilfeleistung. So sollte der Ausbilder neben einer präzisen Ausführung der Stabilen Seitenlagerung
auch einfachere Alternativen dazu zur Übung anbieten können, wie beispielsweise die
Bauchlagerung (Karutz & Hockauf, 2000) oder das einfache Abrollen des Bewusstlosen auf die
Oberbeine des knieenden Ersthelfers. Rollenspiele und andere pädagogisch-didaktische Maßnahmen
können hier von unschätzbarer Hilfe zum Aufbau von Handlungskompetenz bei Laienhelfern sein.
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Praktische Umsetzung anhand des Kursmodells II
Zum besseren Verständnis sollen an dieser Stelle einige Erläuterungen zur praktischen Umsetzung
erfolgen: Für diese Untersuchung wurde zu Beginn des modifizierten Kurses (Modell II) eine
einfache aber häufig anzutreffende, konkrete Notfallsituation mit den Teilnehmern simuliert und
über ein Rollenspiel antizipiert. Damit sollte dreierlei erreicht werden:
­
Darstellung einfachster, aber effektiver Hilfsmaßnahmen anhand des PAKET-Schemas;
­
Initiierung selbstregulativer und selbstorganisatorischer Kräfte auf kognitiver wie auch
sensomotorischer Basis durch Anregung, eigene Bewältigungsversuche ohne Anleitung durch
den Ausbilder zu unternehmen;
­
Beobachtung von Hemmnissen und Ängsten bei der Hilfeleistung, wie beispielsweise das
Erspüren der initialen Distanz zum fremden Opfer oder das Hoffen auf ein Eingreifen anderer
Anwesender.
Das Anregen der Selbststeuerung hat hier nicht nur eine erhöhte Lern- und Leistungsbereitschaft zur
Folge, sondern ist unabdingbares Erfordernis in jeder echten Notfallsituation. Mit der Entscheidung,
helfend eingreifen zu wollen beginnt eine Kette von weiteren Entscheidungen, über die sich jeder ­
oft auch professionelle ­ Helfende zunächst unsicher ist. Dieser Anforderung kann ein Laienhelfer
mit hoher Selbstorganisationskompetenz besser entsprechen als einer mit niedriger
Selbstorganisationskompetenz. Das exakte Imitieren von Lehrbuchwissen entspricht eher einer
fremdgesteuerten Handlung und kann zudem von einem Laienhelfer kaum erwartet werden, da er
(lange zurückliegendes) Lehrbuchwissen in stark belastenden Situationen nicht abrufen kann.
Chaotische Situationen können nie schematisch genau gelöst werden, sondern erfordern ein hohes
Maß an Improvisationsfähigkeit. Dazu ist es auch erforderlich, dem Laienhelfer genügend
Freiheitsgrade im Vorgehen am Unfallort einzuräumen, denn ein Laie kann nicht so routiniert
vorgehen wie es professionelle Rettungskräfte tun. Dies sollte im SMU-Kurs operationalisiert
werden durch minimale Handlungsbeschränkungen von seiten des Kursleiters.
Dem sensomotorischen Aspekt wird in der Übung ebenfalls ein hohes Maß an Bedeutung
beigemessen. Es beginnt mit dem ersten Kontakt zum Opfer als Abbau von handlungshemmenden
Ängsten. Die darauffolgende Umsetzung von handlungsrelevantem Wissen in handlungspraktische
Kompetenz (Schaeffer, 1991) bietet alle Voraussetzungen, bei den Teilnehmern erinnerbar
enkodiert zu werden, denn sie verbindet unter Einbezug visueller und sensomotorischer
Wahrnehmungskanäle altes Wissen mit neuem Wissen, ohne die Teilnehmer zu überfordern.
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Psychische Erste Hilfe
Besonderen Wert hat in dieser Übung der Punkt der Psychischen Ersten Hilfe. 10% der
lebensbedrohlich verletzten Unfallopfer könnten einen Unfall überleben, wenn ihnen überhaupt nur
diese Hilfe zuteil würde. Das wären im Jahre 2000 etwa 750 Menschen gewesen (Sefrin, 2001).
Insofern wurde diesem Punkt größtmögliche Beachtung eingeräumt, da es sich nicht um eine
isolierte Übung handelt ­ weder im Kurs noch im realen Unfall ­ sondern viel mehr um eine innere
Haltung der sorgenden Anteilnahme, die den gesamten Verlauf der Laienhilfe bis zum Eintreffen
des Notarztes und eventuell auch darüberhinaus charakterisiert. Oftmals ist es genau diese Haltung,
die den Opfern im Nachhinein am stärksten in Erinnerung bleibt (Sefrin, 2001). Der frühzeitige
Beginn der Laienhilfe aus genau dieser Haltung heraus darf auch als präventiv auf die Entwicklung
einer späteren Posttraumatischen Belastungsstörung bewertet werden (Butollo, 1997; Winter, 1996).
Etwa 3 Mio. Menschen erleiden in Deutschland eine akute Belastungsreaktion nach
Verkehrsunfällen, die in 25% der Fälle zu einer PTBS mit ernsthaftem Krankheitswert führt
(Netzwerk Psychologie, 2003).
In der Übung sollten die vier Regeln zur Psychischen Ersten Hilfe für Laien exploriert werden
(Lasogga & Gasch 2002):
­
Regel 1: Sage, daß du da bist und das etwas geschieht
­
Regel 2: Abschirmung des Verletzten vor Schaulustigen
­
Regel 3: Vorsichtiger Körperkontakt; knieende Körperhaltung; Erhaltung der Eigenwärme
­
Regel 4: Sprechen und Zuhören
Es sollte jedem Teilnehmenden nach der Übung klar werden, daß Erste Hilfe anhand einfacher und
leicht durchführbarer Regeln kein unmögliches Unterfangen ist und daß das Eingreifen des
Ersthelfers von nicht abzuschätzender Wichtigkeit für den weiteren Verlauf der Rettungskette ist.
Nützlich dazu ist die abschließende Zusammenfassung des PAKET-Schemas:
­
Pulskontrolle
­
Atmungskontrolle
­
Krankenwagen rufen
­
Eigenwärme erhalten
­
Trost spenden
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Für den weiteren Verlauf des Kurses waren zur Aufrechterhaltung der intrinsischen Motivation der
Teilnehmer Methoden aus dem Bereich des Selbstorganisierten Lernens sinnvoll erachtet worden.
Da Selbstorganisiertes Lernen in jeder Lernsituation auf Grenzen stösst (Greif, 1998) und der
Rahmen eines SMU-Kurses eng umrissen ist, sollten die Ausbilder zwischen Lehrgespräch und
Eigeninitiative der Teilnehmer variieren. Je nach Gruppengröße sollten einige Themen der Ersten
Hilfe an Kleingruppen verteilt werden. Nicht verteilte Themen konnte der Ausbilder über das
Lehrgespräch präsentieren. Den Kleingruppen wurden Arbeitsmaterialien ausgehändigt, anhand
welcher sie sich über einen längeren Zeitraum selbständig in die Thematik einarbeiten konnten, um
sie dann den anderen Teilnehmern mit Folien oder am Flip-Chart zu präsentieren und unter
Assistenz des Ausbilders die Übungen zu leiten. Mindestens zwei kleinere und eine größere Pause
sollten für die nötige Erholung sorgen. Darauffolgend sollte der Ausbilder wieder stärker in den
Vordergrund treten und über das Thema der Rettungskette die zweite Intervention gegenüber dem
anderen Kursmodell (Modell I) einleiten: psychologische Faktoren der Unterlassenen Hilfeleistung.
3.2 Sozialpsychologischer Bezugsrahmen
Hilfeleistung in Notfallsituationen ist keine Frage von Charakter oder stabiler Persönlichkeits-
disposition. Die Forschung innerhalb der Sozialpsychologie hat deutlich gezeigt, wie sehr die
Verhinderung von Hilfeleistung eine Folge situativer Dynamiken ist und nicht abhängt von
Konzepten wie ,,sozialer Apathie" oder ,,Gleichgültigkeit". ,,Es mag für unser Gewissen beruhigend
sein, anzunehmen, daß Menschen, die nicht helfen, einen Charakterfehler besitzen, während wir von
unseren eigenen Tugenden überzeugt sind. Um helfendes Verhalten zu fördern, ist es jedenfalls
besser, Einsichten in die Situationsdynamik zu erlangen, als auf Tugenden zu setzen." (Bierbrauer,
1996). Der Autor der vorliegenden Untersuchung teilt diese Sichtweise: Kurse zu SMU sind nur
sehr bedingt dazu geeignet, aufgrund moralischer Appelle und der einmaligen Einübung technisch-
medizinischer Fähigkeiten die Hilfsbereitschaft in Notfallsituationen anzuheben. Ängste und
Hemmnisse in solchen Situationen müssen deutlicher angesprochen werden in Verbindung mit der
Erläuterung der Dynamiken der Entstehung der Unterlassenen Hilfeleistung. Öffentliche Aufklärung
über das Entstehen der Hilflosigkeit und Unsicherheit bei Zeugen von Notfallsituationen sollte
verbunden werden mit stärkerer Beleuchtung der situativen Dynamiken und kann auf das Entstehen
von Unterlassener Hilfeleistung präventiv wirken.
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Pluralistische Ignoranz
Daß dies erfolgreich sein kann, wurde bereits bei der Untersuchung des Konzeptes der
Pluralistischen Ignoranz von Prentice & Miller demonstriert: in der Untersuchung (Prentice &
Miller, 1993) befragten die Autoren eine Anzahl von Studenten der Universität Princeton nach ihrer
persönlichen Akzeptanz von Alkoholgenuss und ihrer Einschätzung der durchschnittlichen
Akzeptanz von Alkoholgenuss der Kommilitonen. Das Resultat zeigte eine deutliche Divergenz
zwischen den Angaben: die Probanden wähnten ihre Kommilitonen signifikant stärker dazu geneigt,
Alkohol während des Studiums zu akzeptieren als sie sich selbst einschätzten. Das bedeutet, daß
sich die Studenten bezüglich der allgemeinen Akzeptanz von Alkoholgenuss auf dem Campus in
einem Irrtum befanden. Sie lebten in der Illusion einer Universalität, von der sie glaubten, daß nur
sie selbst sich von ihr unterscheiden. Um dieses Phänomen als Ausdruck einer pluralistischen
Ignoranz zu definieren, mussten zwei zugrundeliegende Mechanismen freigelegt werden:
a) die Studenten neigen dazu, sich öffentlich als stärker alkoholakzeptierend zu präsentieren, als sie
es tatsächlich sind und
b) sie schlußfolgern aus den öffentlichen Selbstdarstellungen der anderen Studenten deren private
Auffassungen zur Akzeptanz von Alkoholgenuss.
Dazu ließen die Untersuchungsleiter eine Gruppe weiblicher Studenten das oben beschriebene
Rating durchführen und dann eine Diskussion zu dem Thema führen. Nach der Diskussion sollten
alle Teilnehmer angeben, wie sehr sie die Akzeptanz von Alkohol bei den anderen Diskutanten
einschätzten, wie sehr sie selbst von den anderen als alkoholakzeptierend eingeschätzt würden und
wie ähnlich ihre Auffassungen zu denen der anderen Teilnehmer wären. Tatsächlich zeigten die
Teilnehmer das beschriebene Muster der Divergenz zwischen eigener und fremder Auffassung und
damit die Existenz des Glaubens an eine universelle Meinung. In der Diskussion erweckten die
Diskutanten durch ihre öffentliche Präsentation auf die Teilnehmer eine eher liberalere Auffassung,
was durch die Ratings bezüglich der wahrgenommenen Akzeptanz operationalisiert wurde. Ein
zusätzlicher Befund zeigte: je diskrepanter sich die Studenten von der angenommenen Meinung der
anderen Teilnehmer wähnten, desto homogener nahmen sie die Gruppe der anderen Teilnehmer
wahr, konnten also desto schlechter Differenzen zwischen den anderen Teilnehmern bemerken.
Pluralistische Ignoranz definiert sich also über eine Diskrepanz zwischen Eigen- und
Fremdwahrnehmung und dem Glauben an eine Homogenität der Auffassungen anderer. Kommt es
zu einer öffentlichen Stellungnahme ­ sei es durch verbale Äußerungen oder Handlungen ­ nähern
sich die Beteiligten graduell an die wahrgenommene Meinung der Gruppe an.
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Konformität
Diese Internalisierung einer Gruppenposition hat in der Literatur zur sozialen Beeinflussung eine
beträchtliche Rolle gespielt durch die Betonung der Konformität als Mittel zur Lösung von
Diskrepanzen zwischen Individuum und Gruppe (Asch, 1956; Moscovici, 1985). Tatsächlich zeigte
eine Folgeuntersuchung (Prentice & Miller 1993), daß sich die Abweichungen zwischen selbst- und
fremdwahrgenommener Einstellung zum Alkoholgenuss bei den Studenten in Abhängigkeit von der
Länge des mit den Kommilitonen auf dem Campus verbrachten Zeitraums anglichen ­ und zwar in
Richtung der als universal empfundenen Fremdeinstellung. Ross, Bierbrauer & Hoffman (1976)
konnten jedoch zeigen, daß es auch Möglichkeiten für nichtkonformes Verhalten gibt. Die
Bedingungen dafür sind gegeben, wenn den Individuen innerhalb der Gruppe Anhaltspunkte
gegeben werden, warum sich die Mehrheit anders verhält. Hat ein Teilnehmer einer
Gruppensituation einen diesbezüglichen Hinweis, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für
nichtkonformes Verhalten stark an (Ross et al. 1976). Der kognitive Konflikt, sich in einer von der
wahrgenommenen Gruppenmeinung abweichenden Position zu befinden, kann also aufgelöst
werden, wenn das Individuum die zugrundeliegenden Motive der anderen Gruppenteilnehmer
wahrnehmen kann. Bezogen auf die Pluralistische Ignoranz in der Untersuchung von Prentice &
Miller (1993) ließe sich nun hypothetisieren, daß eine Aufklärung der Teilnehmer über das Konzept
der Pluralistischen Ignoranz in Bezug auf das zu untersuchende Konstrukt ­ also selbst- und
fremdwahrgenommene Einstellungen zu Alkoholgenuss auf dem Universitätscampus ­ den sozialen
Druck, exzessiv Alkohol zu konsumieren reduzieren würde. Den Studenten müsste also nahegelegt
werden, daß ihre privaten Einstellungen von den Kommilitonen geteilt werden und sie bisher
diesbezüglich einem Irrtum unterlagen. Die Folge wäre, daß eine neue Norm über das angemessene
Level des Alkoholkonsums entsteht, welche sich stärker an die privaten Einstellungen der Studenten
anlehnt und somit den sozialen Druck reduziert. Da soziale Normen ihre außerordentliche Wirkung
aus der vom Individuum beobachteten Universalität ziehen, jedoch bereits durch die sichtbare
Anwesenheit von nur einem Abweichler beträchtlich geschwächt werden (Asch, 1951), würde diese
neue Norm sich also über vereinzeltes, sichtbar abweichendes Verhalten manifestieren.
Aufhebung situativer Dynamiken durch Aufklärung
Diese Hypothese wurde überprüft (Schroeder & Prentice, 1995). Die Teilnehmer dieser Studie
wurden zufällig einer von zwei Diskussionsgruppen zugewiesen. Vor Beginn der Diskussion sahen
sie einen siebenminütigen Film, der mehrere soziale Szenen mit Bezug zu universitärem
Alkoholgenuss zeigte. Die Gruppen unterschieden sich im Inhalt der folgenden zwanzigminütigen
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Diskussion. Während die eine Gruppe ein übliches Programm zur Sensibilisierung der Teilnehmer
für die schädlichen Effekte exzessiven Alkoholkonsums absolvierte ­ welches also einem
appellativen Charakter an die Vernunft der Teilnehmer entsprach ­ wurden die Teilnehmer der
zweiten Gruppe mit den Befunden der zuvor durchgeführten Untersuchungen (Prentice & Miller,
1993) konfrontiert. Darauf erläuterte der Diskussionsleiter den Studenten kurz das Phänomen der
Pluralistischen Ignoranz. Die Teilnehmer wurden ermuntert, sich darüber zu äußern, wie die
dargestellten Fehlwahrnehmungen entstehen konnten und welche Folgen sie für das soziale Leben
auf dem Campus haben könnten. Kurz vor der Untersuchung und 5 Monate nach der Untersuchung
sollten die Teilnehmer ihre Einstellung zu Alkoholkonsum und die Einstellung ihrer Kommilitonen
angeben. Außerdem wurden sie gebeten, die Anzahl der alkoholischen Getränke anzugeben, die sie
in der letzten und in einer durchschnittlichen Woche zu sich nahmen. Direkt nach der Untersuchung
füllten sie einen Fragebogen zur Angst vor negativer Bewertung (FNE) (Leary, 1983) aus, denn der
erwartete Effekt einer Reduzierung der Norm sollte sich am stärksten bei Teilnehmern mit hoher
Angst vor negativer Bewertung auswirken. Tatsächlich zeigten die Studenten der zweiten Gruppe
geschlechtsunabhängig ein deutlich geringeres Level an Alkoholkonsum als die der ersten Gruppe
fünf Monate nach der Erhebung. Als zugrundeliegender Mechanismus emergierte eine dreifache
Interaktion zwischen wöchentlichem Alkoholgenuss, wahrgenommener Fremdeinstellung und
einem hohen bzw niedrigen FNE-Level. Die ­ über das Konzept der Pluralistischen Ignoranz
informierten ­ TN zeigten mit hohem als auch mit niedrigem FNE-Level eine Reduktion des
Alkoholkonsums, wenn die Norm der zugehörigen Gruppe hoch war. In der ersten Gruppe gelang
dies jedoch nur den niedrigängstlichen Teilnehmern. Waren Teilnehmer mit hoher Angst vor
negativer Bewertung nicht über das Konzept der Pluralistischen Ignoranz informiert, konnten diese
sich nicht einer als hoch empfundenen Norm entziehen und verhielten sich in puncto
Alkoholkonsum gruppenkonform. Die Angst vor negativer Bewertung ist also die modulierende
Kraft bei der Beachtung von normativem Verhalten in Gruppen. Sie kann nur durchbrochen werden,
wenn die Individuen über den Irrtum der Universalitätsannahme und die Motive der
Gruppenmitglieder informiert werden.
Verantwortungsdiffusion
Wie kann diese Dynamik nun - auf Notfallsituationen übertragen ­ den Teilnehmern an SMU-
Kursen nahegebracht werden? Bereits im einleitenden Rollenspiel sollten die Ausbilder die
Teilnehmer bewusst derart in das Rollenspiel einbinden, daß die sich fremden Teilnehmer sich auf
einen ­ den Verletzten mimenden und ebenso fremden ­ Teilnehmer zubewegen sollten ohne daß
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832483760
ISBN (Paperback)
9783838683768
DOI
10.3239/9783832483760
Dateigröße
769 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Osnabrück – Humanwissenschaften
Erscheinungsdatum
2004 (November)
Note
1,0
Schlagworte
erste hilfe laien ersthelfer verantwortungsdiffusion verkehrspychologie
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Titel: Unterlassene Hilfeleistung als Folge von Kursen zu 'Lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Unfallort'
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