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Die nichtlineare Erzählstruktur des postmodernen Films am Beispiel "Mulholland Drive" von David Lynch

©2003 Diplomarbeit 162 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die vorliegende Arbeit untersucht die Filmnarration des (post)modernen Kinos. Besonderes Augenmerk liegt auf der unkonventionellen Erzählstruktur, die entgegen dem klassischen Hollywoodkino vorgeht. Die Filmanalyse (Hauptteil) beschäftigt sich näher mit David Lynchs „Mulholland Drive” und belegt inwieweit dieser Film postmodern ist.
Theoretisch und mit Beispielen aus der Filmgeschichte wird im ersten Teil eine Abgrenzung zwischen dem modernen und postmodernen Film vorgenommen. Der moderne Film wird charakterisiert. Vorgehensweisen gegen das konventionelle Hollywoodkino werden erörtert. Nähergebracht wird dies durch verschiedene Beispiele, u.a. durch Sergej M. Eisensteins Ästhetik der Grossaufnahme, die Auflösung der Filmnarration bei Luis Bunuel oder Maya Derens Auflösung von Zeit und Raum zugunsten einer flüssigen Bewegung. Weiter wird die französische Nouvelle Vague besprochen.
Demgegenüber wird der postmoderne Film, von mir als Reflektion auf die Medienwelt verstanden, näher analysiert. Anhand mehrerer Kriterien wird die Abgrenzung vom modernen Kino beschrieben. Definiert von mir sind folgende Merkmale eines postmodernen Films:
- Postmodernes Kino als Medienreflexion.
- Die Doppelcodierung.
- Die fragmentierte Struktur des postmodernen Films.
- Die Künstlichkeit des Dargestellten.
- Überwältigung der Sinne.
- Autonomie der synästhetischen Reize oder Hierarchieschwund.
Diese Kriterien werden im Hauptteil auf das Werk von David Lynch übertragen. Auf die Frage, ob „Mulholland Drive” ein postmoderner Film ist, wird unter Einbezug anderer Filme Lynchs detailliert eingegangen. Neben biographischen und filmographischen Daten zu David Lynch ermöglicht uns die Filmanalyse näher in das Spektrum dieses surrealen Films einzutauchen, denn Verweise zur Nichtlinearität finden sich im gesamten Filmtext. Lynchsche Codierungen werden mit Beispielen erläutert und die Ähnlichkeit zwischen der Traum- und der Filmerzählung werden anhand einiger Kriterien auf „Mulholland Drive” übertragen. Dieses Wissen macht eine Deutung des Films mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich. Letztendlich ist diese Arbeit eine Reise in die Filmgeschichte, die (Post)moderne und in die unterbewussten und surrealen Welten des Filmemachers David Lynchs.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Zusammenfassung1
Inhaltsverzeichnis2
1.Der postmoderne Film5
1.1Merkmale des postmodernen Films6
1.1.1Postmodernes Kino - Eine Medienreflexion6
1.1.2Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8320
Jügling, Nadine: Die nichtlineare Erzählstruktur des postmodernen Films am Beispiel
"Mulholland Drive" von David Lynch
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Technische Universität Ilmenau, Diplomarbeit, 2003
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http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

Zusammenfassung
In dieser Arbeit wird die Erzählstruktur von David Lynchs MULHOLLAND DRIVE
untersucht. Dabei wird darauf eingegangen inwieweit er das Prädikat postmodern
verdient oder auch anders formuliert, in welcher Art er die Zeichen unserer
Medienwelt reflektiert.

2
Inhaltsverzeichnis
Die nichtlineare Erzählstruktur des postmodernen Films am Beispiel
,,Mullholland Drive" von David Lynch... 1
Zusammenfassung... 1
Inhaltsverzeichnis... 2
1 Der postmoderne Film... 5
1.1
Merkmale des postmodernen Films ... 6
1.1.1
Exkurs: Postmodernes Kino ­ Eine Medienreflexion... 6
1.1.2
Die Doppelcodierung ... 7
1.1.3
Die fragmentierte Struktur des Postmodernen Films ... 10
1.1.4
Die Künstlichkeit des Dargestellten... 11
1.1.5
Überwältigung der Sinne... 13
1.1.6
Autonomie der synästhetischen Reize oder Hierarchieschwund
15
1.2
Der Film der Moderne ... 16
1.2.1
Die Avantgarde (Der 20er Jahre) ­ Eine zeitliche Einordnung 16
1.2.2
Charakterisierung eines Films der Moderne ... 17
1.2.3
Die Amerikanische Avantgarde als Erbe der Zwanziger... 21
1.2.4
Die Zweite Blüte des Europäischen Avantgardefilms ... 22
1.2.5
Das Neue des modernen Filmes... 23
1.2.6
Der Niedergang der Moderne ... 24
1.3
Ist die Moderne von der Postmoderne abgrenzbar?... 25
1.3.1
Postmoderne Moderne - Gemeinsamkeiten ... 27
1.3.2
Unterschiedliche Vorstellungen... 29
1.3.3
Ist die Postmoderne neu? ... 30
2 Die Subversion des unkonventionellen Kinos ... 31
2.1
Nichtlineare Filme und ihr Umgang mit Zeit, Raum und Rezipienten
31
2.1.1
Neue Filmzeit ... 32
2.1.2
Neuer Filmraum ... 35
2.1.3
Ein veränderter Rezeptionsbegriff ... 37
2.2
Narrative Erzählstruktur versus (Post)moderne Erzählstruktur ... 39
2.2.1
Der Klassische Filmaufbau und die regellose (Post)moderne
Filmstruktur ... 39
2.2.2
Unterschiedliche Filme ­ andere Dogmen ­ verschiedene
Erzählstrukturen... 41

3
2.3
Entwicklungsgeschichte des Nichtlinearen im Film ... 45
2.3.1
Citizen Kane ­ Das Labyrinth des Orson Welles... 45
2.3.2
Neorealismus ­ Der Name ist Programm... 49
2.3.3
Nouvelle Vague ­ Die neue Welle in Frankreich ... 52
2.3.4
A Bout De Souffle ­ Godards Debüt ... 54
2.3.5
Rashomon ­ Wie ein Blick durch das Kristall ... 58
3 Kriterienerstellung zur Filmanalyse von David Lynchs Mulholland Drive
61
3.1
Fragmentation... 62
3.2
Reflexion auf die (Medien)Gesellschaft ... 63
3.3
Doppelcodierung ... 64
3.4
Die Künstlichkeit des Dargestellten... 65
3.5
Überwältigung der Sinne... 65
3.6
Autonomie der synästhetischen Reize oder Hierarchieschwund ... 66
3.7
Neue Filmzeit und neuer Filmraum ... 67
3.8
Die neue Rezipientenerfahrung... 68
4 Biographische Notizen zu David Lynch ... 69
4.1
Kindheit und erste Kurzfilme ... 69
4.2
Eraserhead ­ Im Kopf von Henry ... 71
4.3
The Elephant Man ­ Am Rand der Gesellschaft... 73
4.4
Dune ­ Lynchs größter Mißerfolg... 74
4.5
Blue Velvet oder Jeffreys Reise... 75
4.6
Zeit der Rückschläge und andere Projekte ... 76
4.7
Twin Peaks ­ Weltweit geliebt... 76
4.8
Wild at Heart ­ Die Liebesgeschichte von Lula und Sailor ... 77
4.9
Twin Peaks ­ Fire Walk With Me ­ Die zweite Staffel... 78
4.10 Lost Highway ­ Anfang ist Ende ... 79
4.11 The Straight Story ­ Immer geradeaus ... 80
5 Mulholland Drive ... 81
5.1
Synopsis ... 83
5.2
Zugangsmöglichkeiten... 91
5.3
Eine Liebesgeschichte in der Stadt der Träume ... 93
5.3.1
Traumerzählung ... 95
5.3.2
Traumlandschaften... 97
5.3.3
Traumsubjekte ... 98
5.3.4
Hinterm Winkies ... 99
5.4
Auflösung: Die Wahrheit über Mulholland Drive ... 100

4
5.4.1
Bis zum Erwachen... 101
5.4.2
Die bittere Wahrheit über Diane Selwyn ... 103
5.4.3
Dianes Traum als Reflexion ihrer Wirklichkeit ... 106
5.5
Ist Mulholland Drive postmodern? ... 107
5.5.1
Mulholland Drive als Medienreflexion... 107
5.5.2
Doppelcodierung der Identitäten... 108
5.5.3
Die Künstlichkeit als Widerlegung des Gesehenen ... 109
5.5.4
Überwältigung der Sinne... 110
5.5.5
Autonomie der synästhetischen Reize ... 111
6 Resümee ... 112
7 Anhang ... 113
7.1
Gemeinsamkeiten... 113
7.2
Unterschiede ... 114
7.3
Erzählstrukturvergleich... 114
7.4
Segmentübersicht ... 116
7.5
Sequenzprotokoll... 119
8 Literaturverzeichnis... 148

5
1 Der postmoderne Film
In einer Zeit, in der das Gespenst des Post-Modernismus in Europa umging,
popularisierte sich eine Leseart des Postmodernen, die anscheinend bis heute ihr
Unwesen treibt.
,,Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr
belesene Frau liebt, und daher weiß, dass er ihr nicht sagen: ,Ich liebe dich inniglich', weil
er weiß, dass sie weiß (und das sie weiß, dass er weiß), dass genau diese Worte schon,
sagen wir von Liala, geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr
sagen: ,Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich'" (zit. aus Felix, 1998, S.316)
Und dieses postmoderne Gefühl übertrug sich auch auf die Filme. Die Postmoderne,
sie war zwar nicht die Erfindung des Kinos, aber das postmoderne Kino war (wie die
Werbung, wie MTV und das Internet), der Ort, an dem sich das Selbst- und Weltbild
der postmodernen Kultur manifestierte (vgl. Felix , 2002, S.8). Filme, die sich
postmodern nennen sind keine Kassenschlager im herkömmlichen Sinne. Gemeint
sind Filme, die alte Seherfahrungen rekapitulieren, die Filmgeschichte(n) direkt oder
indirekt zitieren, indem sie auf einzelne Filme oder bekannte Genremuster Bezug
nehmen, die ihre Film-Welten mit mehr oder minder unverhüllter Künstlichkeit zur
Schau stellen und die eher auf suggestive Wirkungen und ironische Brechungen
gerichtet sind als auf zu vermittelnde Botschaften (vgl. Felix / 2, 2002) Auf solche
und ähnlcihe Kriterien werde ich MULHOLLAND DRIVE untersuchen. Inwieweit
reflektiert er den Medieneinfluss? Es wird eine Abgrenzung des modernen und
postmodernen Films vorgenommen, später wird untersucht, inwieweit die
Erzählweise David Lynchs postmodern ist.
Und Verfechtern der postmodernen Ästhetik, die dessen Kunstwerke mit einer ,Clip-
Ästhetik' gleichsetzen, sei entgegengesetzt, dass im postmodernen Kino die bislang
letzte bedeutende internationale Filmkultur entstand. Joel & Ethan Coen, Peter
Greenaway, Jim Jarmusch, Aki Kaurismäki, Quentin Tarantino, David Lynch und
Lars von Trier, sie alle sind Regisseure der postmodernen Dekade (vgl. Felix, 2002,
S.8).

6
1.1 Merkmale des postmodernen Films
1.1.1 Postmodernes Kino ­ Eine Medienreflexion
Merkmale eines postmodernen Kinos sind Reflexionen auf die zunehmende
Mediatisierung. Jürgen Felix bestätigt das:
"Wie immer man auch das postmoderne Kino ein- oder abgrenzen mag: ob als
,Formenflimmern` oder ,Oberflächenrausch`, ob über die Logik des Zitats oder im
Kontext einer durch MTV, Videorecorder und Computer veränderten Medienkultur ­
zumindest dürfte außer Frage stehen, dass das Kino der Postmoderne die zunehmende
Mediatisierung unserer Selbst und Weltbilder reflektiert" (Felix, 2002, S.9).
Und Jean Baudrillard, Vertreter der Postmoderne, meint dazu:
,,Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen ­ eine nicht
mehr zu unterscheidende chemische Lösung" (zit. aus Paech, 1992, S.48).
Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten, wie Filme den Medieneinfluss verarbeiten
und darstellen. David Cronenberg bringt seine Meinung dazu in dem apokalyptisch-
visionären Horrorfilm VIDEODROME (VIDEODROME, 1982) zum Ausdruck.
Kurze Inhaltserklärung: Je häufiger sich der Hauptprotagonist Max ,,Videodrome"-
Kassetten anschaut, desto mehr gehen ihm die Kriterien für die Wirklichkeit
verloren. Seine Wirklichkeitserfahrung wird immer mehr zu einer Video-
Halluzination. Am Ende wird er zu einer Video-Marionette. Die Botschaft des Films,
gepredigt von Brian O´Blivion, ist: ,,Das Fernsehen ist die Realität, und die Realität
ist weniger als das Fernsehen". Das Medium wird bei Cronenberg sehr überzogen
dargestellt und ist nicht mehr nur die Verlängerung des Menschen, sondern
umgekehrt wird der Mensch hier sogar zu einem Anhängsel der Medien (vgl. Winter,
1992, S.119).
Ein weiteres Beispiel ist die Episodenform von Tarantinos PULP FICTION. Die
nähert sich dem Fernsehformat der Seifenoper an. Sabine Horst definiert die
Fernsehsoap im allgemeinen:

7
,,Die Seifenoper wechselt die Perspektiven nach Maßgabe der Produktion und des
Reklamerhythmus, aber nicht einmal in der dämlichsten Windungen ihrer Stories vergisst
die Fernsehserie, uns einen Sinn unterzujubeln, sie lässt uns nie an ihrer Autorität
zweifeln" (Horst, 1998, S.155).
Bei PULP FICTION verhält es sich ein bisschen so, als würde man eine TV-Show
zeitversetzt auf zwei verschiedenen Kanälen sehen: Dass man zufällig auf eine andere
Schiene geraten ist, ändert nichts daran, dass jede Episode für sich komplett mit
Anfang, Höhepunkt, Ende ausgestattet ist und alle zusammen ein kohärentes Ganzes
bilden. Und wie die Seifenoper sinnvolle Geschichten zu erzählen versucht, so bleibt
in Tarantinos Episoden kein Strang offen, keine Geschichte bricht ab, bevor sie sich
gerundet hat, und keine Hauptfigur verschwindet von der Bildfläche, ohne dass wir
wüssten, was aus ihr geworden ist (vgl. Horst, 1998, S.155 ff.). Postmoderne Filme
reflektieren den Medieneinfluss in vielfältigster Form. Die folgenden Merkmale
gehen jetzt weiter darauf ein, wie sich die Medien in der Postmoderne spiegeln.
1.1.2 Die Doppelcodierung
Ein wichtiges Merkmal des postmodernen Films ist die Doppelcodierung. Frank
Burke beschreibt Doppelcodierungen als Verfahren, die den Text ,,jenseits seiner
selbst" codieren. Hierzu zählen Anspielungen, Zitate, Collagen, Pastiches und andere
Formen intertextueller Referenzen. Doppelcodiert ist ein Kunstwerk, welches
gewissermaßen eine Aussage hat, die zugleich aber auch einen Diskurs über die
verwendeten Zeichen führt (vgl. Höltgen, 2001, S.13).
Solche Werke greifen auf verschiedene Formen des Vorwissens seines Publikums
zurück. Die Texte, aus denen dieses Wissen stammt, sind meistens selbst
kinematographisch. Wir verstehen und genießen Filme, weil wir andere Filme kennen
(vgl. Robnik, 1995, S.69). Und so ist der postmoderne Film in der Lage, ganz
verschiedene Rezipienten anzusprechen. Dem naiven Filmschauer wird der Genuss
eines Bildes oder einer Geschichte geboten, dem reflektierenden Nutzer eine
kritische Dimension zur Selbstdistanzierung (vgl. Höltgen, 2001, S.15). Stefan
Höltgen bezeichnet sie als das zentrale Verfahren, ein Ereignis, das uns täglich
begegnet:

8
,,Die Mehrdeutigkeiten, die Doppel- und Mehrfachcodierungen, die jedoch
konventionelle erzählerische Logik zersetzenden visuellen und akustischen Schocks sind
in den neunziger Jahren in das erzählerische Repertoire des Mainstream-Kinos
eingegangen, ohne noch das große Aufsehen wie in den achtziger Jahren zu erregen. (...)
Es (das Postmoderne, S.H.) ist ein Bestandteil filmischen Erzählens geworden, das vor
allem das Genrekino mit neuen kreativen Impulsen aufgefrischt hat" (vgl. Höltgen, 2001,
S.12).
Er unterscheidet zwischen der Verdopplung der Erzählung, des Genres
und des Mediums. Das wohl am häufigsten benutzte Verfahren der
Referenzherstellung im Kino ist die Verdopplung der Erzählung. Ein Film kann auf
andere Filme verweisen, indem er beispielsweise dessen Inhalt zitiert.
Die ästhetische Verdopplung des Genres wird häufig zu dessen kritischer Reflexion
genutzt. Und wenn in Peter Jacksons BRAINDEAD (1989) die gewaltüberladenen
Bilder bereits humoristische Züge tragen, dann, meint Stefan Höltgen, wird deutlich,
dass der Fortschritt in der Darstellung der Gewalt zum Zwecke des ,,Horrors" nicht
mehr funktioniert (vgl. Höltgen, 2001, S.17 f.). Das Medium als Gegenstand des
filmischen Erzählens ist nicht erst in der Postmoderne populär geworden, schon seit
der Frühzeit des Kinos wird dieses Stilmittel von vielen Filmproduktionen eingesetzt.
Die Referenz an das Medium selbst findet heute nicht mehr allein in der Brechung
seiner Verwendungsweise statt, sondern nimmt Stellung zu zahlreichen Aspekten
filmischen Erzählens wie Filmmusik, Darstellungsweisen, Kamera und Montage. Zur
Verdopplung anderer Medien (z.B. Telefon, Fernsehen, Video) und deren Reflektion
auf die Lebenswelt äußert sich Höltgen:
,,Hier reflektiert der Film vor allem deren Beziehungen zueinander und deren narrative
Strategien als Medium (oft in Abgrenzung zum Film), also: wie Medien im Film
präsentiert werden und welche Erzählformen sich in den Medien herausgebildet haben"
(vgl. Höltgen, 2001, S.17 f.).
Die Doppelcodierung bedeutet für postmoderne Regisseure, dass sie auf den
Genrekonventionen und deren filmsprachlichen Ausformungen aufbauen und in
ihren Filmen archetypische Szenen aus der Filmgeschichte in den konventionellen
Kontext des Genres integrieren (vgl. Kamp, 1996, S.56). Das ironisierende Zitat lässt
sich als Bezugnahme und Auseinandersetzung mit einer Tradition des Spielfilms und
anderer Massenmedien verstehen, deren Ausdrucksformen und Inhalte zum Klischee
verbraucht sind und werden, doch immer noch weitgehend den Markt in Produktion

9
und Rezeption beherrschen (vgl. Felix / 2, 2002, S.175). Dabei ist an Filme zu
denken, die voller Zitate aus anderen sind, wie beispielsweise das Kino von Brian De
Palma. Filme von ihm wie DRESSED TO KILL (DRESSED TO KILL,1980) oder
BODY DOUBLE (DER TOD KOMMT ZWEIMAL,1984) sind ohne Hitchcocks
PSYCHO (PSYCHO, 1960) oder VERTIGO (VERTIGO ­ AUS DEM REICH
DER TOTEN, 1958) nicht denkbar, aber trotzdem eigenständige Filme (vgl. Winter,
1992, S.98). Anspielungen auf andere Filme lassen sich bei David Lynch finden,
wenn er das Abschlussgemetzel in BLUE VELVET (BLUE VELVET, 1985) im
Stile von Martin Scorseses TAXI DRIVER (TAXI DRIVER, 1975) inszeniert, so
effektvoll blutig, dass selbst ein Toter noch aufrecht stehen und dann noch einmal
erschossen werden kann (vgl. Felix / 2, 2002, S.175). Und in Tarantinos PULP
FICTION (PULP FICTION, 1993), Sabine Horst spricht von Verweisen vom
europäischen Autoren- bis zum amerikanischen Z-Film, die Musik funktioniert wie
ein Zitatteppich und es lassen sich Handlungseinheiten und szenische Arrangements
finden, die bis in einzelne Kameraeinstellungen Imitate sind (vgl. Horst, 1998, S.152).
Wer glaubt dann noch, wenn alles nur noch ein Zitat zu sein scheint, dass ihm im
Kino eine ,wahre Geschichte` erzählt wird, dass ihm der Film das Abbild einer
(zumindest möglichen) Realität vorführt?
In postmodernen Filmen lassen sich aber nicht nur Zitate in Bezug auf den Film
finden. Die schon erwähnten Medienzitate beziehen sich auf Werbung, Comics,
Videoclips, alle Formen visueller Gestaltung, mit denen wir heute konfrontiert sind.
Kleidung, Wohnungsausstattung und Design sind Anlass und Aufforderung an den
Zuschauer, assoziative Einstiege in den Film zu finden. Sie sind nicht mehr nur
schmückendes Beiwerk (vgl. Schreckenberg, 1998, S.121). So kann das
doppelcodierte Kunstwerk der Postmoderne sehr unterschiedliche Menschen mit
gänzlich unterschiedlichen Erwartungshaltungen ebenso ansprechen wie einen
Menschen zugleich auf sehr unterschiedliche Weise. Georg Seeßlen sieht
postmoderne Filme als eine Art Schizophrenie-Maschine (vgl. Seeßlen, 2000, S.129).
Der Zuschauer kann bei solcher mehrfacher Kodierung die eine oder andere
Aneignungsebene für sich favorisieren (vgl. Höltgen, 2001, S.14). Anders formuliert,
ihm wird die Möglichkeit eröffnet, wie ein Nomade zwischen den verschiedenen
Bedeutungsebenen hin und her zu wandern. Deshalb eignen sich viele postmoderne
Filme zur mehrmaligen Rezeption (vgl. Winter, 1992, S.123). Auf die Frage, ob der
Genuss eines postmodernen Filmes bei mediensozialisierten Menschen höher ist,
kann hier nicht näher eingegangen werden, aber postmoderne Filme appellieren an
einen kompetenten Rezipienten, der die intertextuellen Bezüge und Anspielungen
und damit die in den Film eingelassenen Bedeutungsebenen dekodieren kann. Jeder
Zuschauer fabriziert sich seinen eigenen Film, der von dem seines Nachbarn im

10
Kinosaal verschieden sein kann (vgl. Winter, 1992, S.123). Ob der Zuschauer die in
diesen Filmen immer wieder gesetzten Irritationen zur ironischen Distanzierung von
den massenkulturell propagierten, seriellen Erlebnismustern nutzt und somit zur
kritischen Reflexion der eigenen Erlebnismuster, ob er das Spiel mit Klischee und
Zuschauererwartung durchschaut oder eben übersieht und rein trivial genießt, bleibt
die Frage (vgl. Felix / 2, 2002, S.176). David Lynch scheint es nicht so wichtig zu
sein, dass er bis ins Detail verstanden wird, aber er gibt den Zuschauern seiner Filme
einen Tipp zur Rezeption und meint damit, dass sich jeder seinen eigenen Film
konstruieren soll, Lynch:
,,Die Leute sollten ermutigt werden, ihren eigenen Gefühlen zu trauen. Je abstrakter
etwas ist, desto weiter wird die Spanne der Interpretationen sein" (Seeßlen, 2000, S.219).
1.1.3 Die fragmentierte Struktur des postmodernen Films
Unser Verlangen, die Welt als Ganzes zu sehen, ist zerbrochen an der Fülle der
Fragmente, zu der das Leben heute verkommen ist. In unseren Köpfen entsteht
daraus keine neue Einheit der Welt, sondern nur ein sinnloses Kaleidoskop (vgl.
Reisz/Millar, 1988, S.236). Die fragmentierte Filmstruktur als ein Merkmal des
postmodernen Kinos reflektiert die zunehmende Flut der Informationen und
Sinneseindrücke. Jean-Francois Lyotard als wichtiger Vertreter der Postmoderne
bezeichnet das Fragmentarische, das Heterogene als ,,zitierendes Formenflimmern"
(vgl. Schreckenberg, 1998, S.119). Schon in den Sechzigern hat Jean-Luc Godard sich
mit diesem Phänomen in seinem frühen Film- und Videobeitrag ICI ET AILLEURS
(HIER UND ANDERSWO, 1970) auseinandergesetzt (vgl. Beller, 1993, S.245). Seit
Beginn der Fernsehgeschichte nutzte er die Möglichkeit, in der Struktur seiner Filme
Auswirkungen experimentell vorwegzunehmen, die der Einfluss des Fernsehens und
später des Videos auf alle Bereiche des Films haben würden (vgl. Paech, 1992, S.50
f.). In seinem Projekt ließ Godard ,,Bildträger" an der Kamera vorbeidefilieren:
Kaum hat einer das Bild vor das Objektiv gehalten, kaum hat die Kamera ein Bild
,,aufgenommen", schon drängt das nächste nach und verdrängt das vorangegangene
Bild. Er übertrug mit diesem Beitrag die Situation zu Hause vor dem Fernsehgerät

11
auf seinen Film. Godard beschreibt, welche Ideen ihn zu dem Videoprojekt HIER
UND ANDERSWO brachten:
,,Die Menschen haben ihre eigenen alltäglichen Sorgen, die sie mit lauten Bildern und
Tönen des Fernsehens kompensieren und gegen die jene Bilder von ,,anderswo" sich erst
noch durchsetzen müssten. Auf dem heimischen Bildschirm selbst kommt es zu einer
Konkurrenz der Bilder, wo ein Bild das nächste verjagt, sich an seine Stelle setzt und
wieder von einem nächsten Bild verdrängt wird. Eine nicht abreißende Kette von Bildern,
die den Blick fesseln, ohne ihm etwas zu ,,sehen" zu geben" (zit. aus Beller, 1993, S.245).
Auch Lynchs WILD AT HEART (WILD AT HEART ­ DIE GESCHICHTE
VON SAILOR UND LULA, 1990) reflektiert das Leben im Medienzeitalter, indem
es in seiner Gesamtheit eine künstliche, eine artifiziell konstruierte Wirklichkeit
darstellt (vgl. Kreimeier, 2002, S.180). Die Handlung des Films ist nur ein
oberflächliches Gerüst ohne große Bedeutung. Figuren tauchen nur sporadisch auf,
es gibt viele Brüche, manche Episoden bleiben handlungslogisch unverständlich (vgl.
Wilckens, 1996, S.74). Klaus Kreimeier unterstellt WILD AT HEART eine
Dominanz der ästhetischen Mittel gegenüber der ,Botschaft` und argwöhnt, dass die
Faszination, die er auslöst oder auslösen könnte, das Resultat einer perfiden
dramaturgischen Strategie sei (vgl. Kreimeier, 2002, S.180). Die bedeutungslose
Handlung und die Dominanz der ästhetischen Mittel sind gewollte postmoderne
Zeichen, es erinnert an eine Produktpräsentation in der Fernsehwerbung.
Postmodern sind Lynchs Filme insofern, als sich die einzelnen Elemente nicht mehr
hintereinander und ineinander zu verbergen suchen, um am Ende als großes Ganzes
und Verpflichtendes zu erscheinen; das Auseinanderfallen der einzelnen Elemente
wird vielmehr erst wirklich zelebriert (vgl. Seeßlen, 2000, S.151). Verena Lueken
meint zur Fragmentation von WILD AT HEART, er sei nach der ,,Logik populärer
Mythen" konstruiert, seine Strukturen seien die einer ,,medial codierten Welt" und
Angelika Ohland bemerkt, eine ,,mediale Scheinwelt" habe sich tief in die Herzen der
Protagonisten dieses Films gefressen, er enthalte nur noch Erinnerungen an die
Wirklichkeit (vgl. Kreimeier, 2002, S.181).
1.1.4 Die Künstlichkeit des Dargestellten
Postmodernes Kino ist fasziniert von seiner Künstlichkeit und wenn es nach
Meinung Rainer Winters je ein Jahrzehnt gegeben hat, in dem Filme ihre

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Künstlichkeit so demonstrativ und mit großem Erfolg an der Kinokasse zur Schau
gestellt haben, dann sind es die achtziger Jahre gewesen (vgl. Winter, 1992, S.123). In
diesem Jahrzehnt gab die angewandte Filmästhetik dem Stilbegriff eine Bedeutung,
,,die den Akzent weg von traditionellen Definitionen wie der individuellen Handschrift
eines Künstlers ..., hin zur universellen Routine des Dekorationshandwerks verlagert" (zit.
aus Robnik, 1995, S.63).
Stil erfährt eine enorme Aufwertung gegenüber Parametern wie narrativer
Geschlossenheit oder kausal-psychologischer Motivation. Horwath nennt sie
,,antinaturalistische Effekte" und verbindet damit extreme Brennweiten und
Schärfenwechsel oder die Überbetonung von Farben. Elsaesser empfindet die Filme
der achtziger als eine Variation rasch wiedererkennbarer Bilder, die einen an
Werbespots denken lassen. Elsaesser:
,,Wir erinnern uns (nicht ohne Grausen) an Glanzlicht auf Haut, Glas und Metall, an
Gegenlicht durch Jalousien, an jede Menge Ventilatoren oder an die Pastellfarben und
Sportsakkos der TV-Serie Miami Vice" (Robnik, 1995, S.64).
Die Definition der Künstlichkeit postmoderner Filme von Jürgen Felix fasst das alles
treffend zusammen:
,,Statt einer filmischen Erfassung eines realen Milieus führen diese Filme ihre Zuschauer
in ästhetische Kunstwelten, reproduzieren in übersteigerten Formen und ironischen
Brechungen Versatzstücke der Massenkultur, des Films und der Fernsehserien, der
Werbung und Video -Clips" (Felix / 2, 2002, S.176).
Angesprochen wird damit ein Zuschauer, der in einer Gesellschaft aufgewachsen ist,
deren Oberfläche aus Bildern und Darstellungen zusammengesetzt ist.
In BLUE VELVET problematisiert David Lynch die Wirklichkeit, wenn er zum
Beispiel in der Schlussszene, als in der Handlung wieder Normalität eingekehrt, eine
Rose im Garten zeigt, die sich beim näheren Hinsehen als Papierrose erweist. Die
Künstlichkeit der dargestellten Realität wird durch dieses Zitat, das auch in einem
Werbefilm vorkommen könnte, deutlich gemacht (vgl. Winter, 1992, S.123). Was
bedeutet die Künstlichkeit bei David Lynch? Ist sie vielleicht ein Stilmittel, um die

13
Harmlosigkeit des Dargestellten zu wiederlegen? Wenn der Zuschauer zu Beginn von
BLUE VELVET die fast stillebenhaft wirkenden Momentaufnahmen des
amerikanischen Idylls nicht als distanzierter und vielleicht gelangweilter Betrachter
erleben dürfte, dann durch die übersteigerten Farben, die dem Alltäglich-Banalen
einen Anstrich irritierender Künstlichkeit verleihen. Lynch spielt mit dem Zuschauer
und dessen Rezeptionshaltung, die erwartet, dass im Film jedes Zeichen seine
Bedeutung hat. In Erwartung einer Geschichte sucht man in den Bildern nach
Bedeutungen und will sie zu einer sinnvollen Geschichte verknüpfen (vgl. Felix / 2,
2002, S.170).
Die Künstlichkeit des Dargestellten ist ein Verfahren postmoderner Filme, welches
die zunehmende Mediatisierung unserer Selbst und Weltbilder aufzeigt. ,,Die Bilder
sind schöner als die Wirklichkeit", sie wirken nicht mehr realistisch (vgl.
Guggenberger, 1998, S.26).
Beispielsweise die ersten Bilder von David Lynchs BLUE VELVET - sie scheinen
nicht wie ein Wirklichkeitsabbild. Zu sehen sind der einem zuwinkende
Feuerwehrmann und die über die Straße gehenden Kinder, doch wirkt das Gezeigte
eher wie Bilder einer Ausstellung (vgl. Kreimeier, 2002, S.182). Nur weshalb
durchbricht die übersteigerte Künstlichkeit der Farben den Realismus der Motive?
Weshalb wird dem Zuschauer die Inszeniertheit des Geschehens durch den in die
Kamera winkenden Feuerwehrmann bewusst gemacht? Dass durch diese Betonung
der Künstlichkeit dem Betrachter eine kritische Distanz zum Gesehenen ermöglicht
werden soll, ist kaum zu vermuten. Die Sequenzen sind mehr auf suggestive
Wirkungen hin inszeniert. Sie sind darauf angelegt, den Zuschauer ins Filmgeschehen
zu involvieren (vgl. Felix / 2, 2002, S.170).
Postmodern ist die Künstlichkeit, weil die Partizipation des Zuschauers sich in Folge
dessen nicht mehr auf die erzählte Geschichte oder auf seine Identifizierung mit
einzelnen Charakteren richtet. Und da grundlegend betrachtet, die erzählten
Geschichten von den Grundthemen stets dieselben sind, steht heute sowieso eher die
technisch modifizierte Wiederholung von Bekannten, also das Wie, im Vordergrund
(vgl. Kamp, 1996, S.59).
1.1.5 Überwältigung der Sinne
,,Postmodernes Kino ist ein Kino gesteigerter Lustintensitäten, einer Lust an der
Überwältigung der Sinne, einer Überwältigung, die keiner begrifflichen Logik gehorcht"
(Schreckenberg, 1998, S.123).

14
Drehli Robnik unterscheidet des genießende Subjekt eines klassischen und eines
postklassischen Films. ,,Die Überwältigung der Sinne" beschreibt er als das Resultat
einiger Unzufriedenheiten:
,,Es [das postmoderne Kino] erfreut sich nicht mehr an der rituell zu vollziehenden
Versöhnung zwischen seiner Erbärmlichkeit und der Erhabenheit der Apparatur, ihrer
Gesetze, ihrer überragenden Stars und Welten; es erfreut sich nicht daran, dass es um den
Preis diverser Verleugnungen teilnehmen kann an der Feier einer alles integrierenden
symbolischen Ordnung, sondern es frönt gerade dem, was sich der Symbolisierung
entzieht" (Robnik, 1995, S.65 f.).
Postmodernes Kino will emotionale Hochstimmungen erzeugen, die nicht so sehr
aus einem stimmigen erzählerischen Zusammenhang heraus entwickelt werden,
sondern durchaus ein Eigenleben entwickeln (vgl. Schreckenberg, 1998, S.123 f.). Ein
anderes Beispiel für die ,,Überwältigung der Sinne" aus dem Bereich Fernsehen sind
die sogenannten Blockbuster-Filme. Trotz ihrer astronomischen Budgets und der
Ausrichtung auf alle Weltkonsumenten (und die damit verbundenen Möglichkeiten
des Films) fordert das heutige Publikum wenig Involvierung in Plots und Charaktere
und begeistert sich mehr für spektakuläre Reize, sogenannte ,,special effects" (vgl.
Robnik, 1995, S. 68).
Die filmischen Mittel, mit denen Lynch die Überwältigung produziert, sind u.a.:
Attraktionsmontage, übersteuerter Ton, dramatisierende und kontrastierende
Musikeffekte, extreme Kameraperspektiven und antinaturalistische Farbwechsel. Und
durch die fehlende Identifizierung mit den Charakteren, auf die postmoderne Filme
nicht setzen, können wir, während wir eine Szene verfolgen, den Schock, den wir
erfahren, wie einen Fremdkörper begutachten. Andreas Kilb meint dazu: ,,Lynch
überwältigt uns nicht nur, er macht uns zu Zeugen unserer Überwältigung" (zit. aus
Kreimeier, 2002, S.182).
Die Lust an der Überwältigung der Sinne, Spektakel, auffällige Ausstattung, bizarre
Schauplätze und Schockeffekte, sind ein Merkmal postmodernen Kinos und wer in
diesem Stil Filme macht, arbeitet mit Bildern, die in ihrer emotionalen Intensität und
Schockwirkung tieferliegende Bewusstseinsschichten ansprechen (vgl.
Schreckenberg, 1998, S.121 f.).

15
1.1.6 Autonomie der synästhetischen Reize oder
Hierarchieschwund
Das postmoderne Kino ist ein Konstrukt aus Farben, Formen, Bewegungen und
Schnitten, die sich gegenüber dem eigentlichen Geschehen verselbstständigen und
eine eigene ,,Choreographie" zu entwickeln vermögen. Die traditionelle Hierarchie,
die eigentlich üblichen Beziehungen zwischen den Objekten scheint nicht mehr
existent zu sein. Das führt uns z.B. die alternierende Montage zwischen Operngesang
und Schlägerei hinter den Kulissen zum Showdown in Luc Bessons THE FIFTH
ELEMENT (DAS FÜNFTE ELEMENT, 1997) vor (vgl. Schreckenberg, 1998,
S.125). Bei David Lynch, der dem Ton schon seit seinen frühesten Kurzfilmen
besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, sind Bild und Ton gleichwertige
Stilelemente. Er macht Collagen aus verschiedensten, seltsamen Tönen, um damit
eine bestimmte Atmosphäre zu erzielen und meint dazu, dass der Sound für ihn
gleichgestellt mit dem Bild sei, da er einen großen Einfluss auf das Unterbewusstsein
ausübe (vgl. Wilckens, 1996, S.63 f.). Georg Seeßlen charakterisiert die Autonomie
des Tons:
,,Von Beginn an hat der Ton bei Lynch eine enorme Gewichtung als autonomes Element
der Darstellung, das keineswegs dazu verurteilt scheint, wirkliche ,Ganzheit' zu
simulieren. (...) Sie (die Töne, S. H.) haben keine konventionalisierende Wirkung; sie
begleiten nicht die Bewegung von Persone und Objekten" (Höltgen, 2001, S.20).
Die dramaturgische Autonomie der synästhetischen Reize ist eines der Merkmale
postmodernen Kinos an dem sich die Geister scheiden, da visuelle oder akustische
Einflüsse nicht mehr der Erzählstruktur unterliegen sondern ihr Eigenleben
entwickeln.
,,Die Hierarchien der Wahrnehmung sind aufgelöst. Das wichtige und das unwichtige, das
schwere und das leichte Zeichen vertauschen die Rollen. Das Entflammen eines
Streichholzes ist mindestens ebenso dramatisch wie ein Mord" (Seeßlen, 1998, S.116 f.).
Die Filmstruktur der Filme David Lynchs, sie verweigert die Rationalität von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder anders gesagt: Wirklichkeit und Traum
werden zu freien Elementen der Komposition, weil sie sich den traditionellen

16
Ordnungen und Unterordnungen von Sinnbild und Abbild entzogen haben (vgl.
Seeßlen, 1998, S.111). Nach Meinung von Ernst Schreckenberg entsprechen Lynchs
Filme sogar der Logik eines Traumes, welche seine Bilderwelten prägt und
Filmstruktur beeinflusst. Das betrifft auch Filme wie PROSPERO`S BOOKS
(PROSPEROS BÜCHER, 1991) von Peter Greenaway oder LES AMANTS DU
PONT-NEUF (DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF, 1991) von Léos Carax.
Nicht die Themenwahl unterscheidet postmoderne Filme von ihren Vorgängern,
sondern die spezifische Art der ,,ästhetischen Verzerrung", was die Autonomie meint
(vgl. Schreckenberg, 1998, S.124 f.). Und die Diskussion um die Zulässigkeit neuer,
extremer Formen der Gewaltdarstellung, bezieht sich gerade auf die Filme, deren
Schocks und grelle Gewaltspektakel sich nicht mehr aus einem plausiblen
erzählerischen Zusammenhang heraus legitimieren lassen (vgl. Schreckenberg, 1998,
S.122).
Die von mir beschriebenen Merkmale des postmodernen Films sind letztendlich nur
ein Ausschnitt eines weiten Spektrums, der in diesem Rahmen und als
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ausreichen sollte. Im weiteren Text
werde ich mich nun mit dem modernen Kino beschäftigen, um eine Abgrenzung
vom zeitgenössischen Film vorzunehmen. Sind die Werke der Moderne und
Postmoderne zu unterscheiden, oder führen aktuelle Filme die avantgardistischen
Gedanken mit Veränderungen weiter? Der Hauptaugenmerk liegt auf dem Vergleich
von modernen und postmodernen Filmstrukturen und der Frage, ob die Merkmale
eines postmodernen Films nicht schon seit jeher Bestandteile von vielen Filmen sind.
1.2 Der Film der Moderne
1.2.1 Die Avantgarde (der 20er Jahre) ­ Eine zeitliche
Einordnung
Die Moderne - sie wird als das Projekt der Neuzeit beschrieben. In den Künsten
steht die moderne Ästhetik für ein ständiges Erobern neuer Räume und neuer
Formen, den Bruch mit dem Althergebrachten in immer neuen Revolten (vgl.
Seeßlen, 2000, S.126). Zunächst waren Fotografie und Film ein Teil des Projekts der
Moderne im 19. Jahrhundert, das anfangs noch in eine Jahrmarktkultur ausgegrenzt
war. Nach dem Ersten Weltkrieg institutionalisierte sich der moderne Film als
Kunstfilm . Der Begriff ,,Avantgarde" definierte sich aus dem Anspruch des Films,
dass er Kunst sei (vgl. Paech, 1992, S.48). Laut Definition beschreibt sich die

17
Avantgarde als vorderste Gruppe in einem bestimmten Bereich. Im künstlerischen
oder musikalischen Bereich wendet sie sich gegen den Grossteil der künstlerischen
Produktion. Der Begriff ,,Avantgarde" wurde in den zwanziger Jahren aus den
bildenden Künsten auf die Filme übertragen. Die standen von Beginn an in
Opposition zu kommerziellen Produktionssystemen und bemühten sich, mit dem
Medium Film neue Seherfahrungen zu machen (vgl. Gregor, 1989, S.8 f.). Durch die
Entwicklung des Tonfilms (viele denken dabei an die nicht realisierten Projekte) und
Massenunterhaltung Hollywoods konnte die Avantgarde nicht mehr den Standpunkt
einer Opposition gegen die gewaltige Kulturindustrie gewährleisten. Der
Widerspruch zwischen Avantgarde und Moderne löste sich auf, d.h., die
avantgardistische Kunst wurde (u.a. durch die Verbesserung der
Verbreitungsmöglichkeiten) verkommerzialisiert (vgl. Paech, 1992, S.48).
Ernst Schreckenberg spricht davon, dass der moderne Film die Avantgarde, durch
die Übernahme derer Strömungen, zu einer institutionalisierten Revolte degradierte
(vgl. Höltgen, 2001, S.14). Wenn ich hier des weiteren moderne oder
avantgardistische Filme charakterisiere, betrachte ich hauptsächlich deren Bedeutung
in bezug auf den Bruch mit der klassischen Filmnarration und werde keine weitere
Differenzierung vornehmen. Weiter schließe ich mich der Darstellung von Peter
Weiss an. Er verwendet eine weiter gefasste Bedeutung des modernen
Avantgardefilms und nimmt eine Zusammenfassung des modernen und
avantgardistischen Films vor. Diese Filme
,,umschließen eine Auswahl von Werken aus verschiedenen Perioden, von den Anfängen
des Films bis in unsere Zeit, experimentellen Werken, die den Film als eine eigenständige
Kunstform haben" (Weiss, 1995, S.7).
Vertreter/innen des Avantgardefilms der 20er Jahre sind unter anderem: Germaine
Dulac, Marcel Duchamp, René Clair, Oskar Fischinger, Hans Richter, Viking
Eggeling, Lotte Reiniger, Luis Bunuel (vgl. Hahne, 1989, S.64).
1.2.2 Charakterisierung eines Films der Moderne
Der moderne Film wird nicht mehr gemäß literarisch-theatralischen Konventionen
inszeniert. Vielmehr wird mit den formalen Möglichkeiten des Mediums Film
experimentiert. Teilweise mit einer äußerst einfachen Technik teilweise mit allen
Möglichkeiten der Kamera arbeitend, wollen die Werke eine rein filmische Sprache

18
schaffen (vgl. Weiss, 1995, S.7 f.). Und als Opposition beruft sich dieses Kino nicht
auf Anfang, Ende, Ursprung und Schluss fixierte Erzählformen, wie das beim
Hollywoodkino stets der Fall ist (vgl. Elsaesser, 1997, S.318). Der sowjetische
Avantgardist Dsiga Wertow wandte sich beginnend mit seinem Manifest von 1919
gegen den erzählenden Film und erklärte sich an der psychologischen Erforschung
von Charakteren nicht interessiert. Wertow:
,,Nieder mit den bürgerlichen Märchengeschichten und Szenarien ­ lang lebe das Leben,
wie es ist" (zit. aus Vogel, 1997, S.42)!
Moderne Filme wollen immer wieder neue Sehweisen aufzeigen, sie enthalten neue
Relationen zwischen dem Menschen und den Dingen, zwischen Wirklichkeit und
Traum, neue Formen von Bewegungen und Rhythmen (vgl. Weiss, 1995, S.7). Man
erkannte die Bedeutsamkeit der einzelnen Bildkader, ,,Erfahrungen mit dem Bild
(Bildfläche) wurden auf den Film (Kinoleinwand) übertragen" (Jameson, 2002, S.21
f.). Jürgen Felix meint, dass der Künstler in seinem Filmen Gedanken und Probleme,
so abstrakt sie auch seien, formulieren kann, und äußert sich hinsichtlich des Bruchs
mit der klassischen Erzählweise:
,,Das kann, muss aber keineswegs zwangsläufig zur Dominanz der Form gegenüber dem
Inhalt, zum Abschied vom Narrativen und schließlich zum ,abstrakten' Film führen"
(Jameson, 2002, S.22).
Zur Verdeutlichung moderner Vorgehensweisen folgen Erklärungen zur
Attraktionsmontage bei Sergej M. Eisenstein und zur assoziativ angelegten
Erzählstruktur von Luis Bunuels UN CHIEN ANADLOU (DER
ANADALUSISCHE HUND, 1928).
1.2.2.1 Die sowjetische Avantgarde und Sergej M. Eisenstein
Die grundlegenden politischen und ästhetischen Maximen des frühen sowjetischen
Films lassen sich zusammenfassen als ein fundamentaler Umsturz filmischer Inhalte
und Formen. In der Form offenbarte der Film eine aggressive Ablehnung der
konventionellen Methoden und Systeme sowie eine gründliche Auseinandersetzung

19
mit Theorie und Sprache des Films (vgl. Vogel, 1997, S.32). Ein Theoretiker und
Regisseur des sowjetischen Revolutionskinos war Sergej M. Eisenstein. Er brachte
das Aufbrechen ererbter Erzählformen mit einer Ästhetik der Großaufnahme zum
Ausdruck (vgl. Barg, 1997, S.241). In seiner ersten Theorieschrift ,,Die Montage der
Attraktionen" aus dem Jahre 1923 ging es zunächst darum, ästhetisch genau
komponierte Einheiten zu schaffen, die den Rezipienten emotional ansprechen
sollen. Diese Gefühlseinheiten, ,,Attraktionen" genannt, werden so
zusammengestellt, dass beim Zuschauer ein intellektueller Effekt entsteht. In seinem
Film OKTJABR (OKTOBER, 1927) setzte er eine solche intelligente Montage ein.
Die genau komponierten Großaufnahmen wirken stark emotional. In ihrer
Gesamtheit bilden sie den Oberbegriff ,,Revolution", so wie ihn Eisenstein aus der
parteilichen Sicht eine KP-Propagandisten sehen wollte (vgl. Barg, 1997, S.246).
,,Leider traf sein Film schon bei der Moskauer Premiere auf ein nur wenig
kulturrevolutionär gestimmtes Publikum. Es quittierte Eisensteins Spiel mit
signalhaften Bild-Symbolen, dargeboten in einem sich verselbständigenden und den
Handlungsfaden zerreißenden Montagerhythmus, mit Irritation, später sogar mit dem
simplen Vorwurf des ,,Formalismus" (Barg, 1997, S.241).
Es könnte sein, dass OKTOBER den von seinen Auftraggebern intentierten
Propagandaeffekt auch deshalb verfehlt hat, weil vielen Zuschauern die intelligenten
Attraktionsmontagen rätselhaft blieben
(vgl. Barg, 1997, S.247). Auch als avantgardistische Revolte gegen das System
Sowjetrussland gilt Eisenstein als gescheitert. Er strebte als primäres Ziel seines
praktischen und theoretischen Wirkens eine Bewusstseinsformung an. Er hatte zwar
den Begriff ,,Einwirkung" eingeführt, gelangte aber nie in Sphären, in denen diese
kühnen Visionen real werden konnten (vgl. Beller, 1993, S.50 f.).
Für Cineasten und filmgeschichtlich betrachtet sind Sergej M. Eisenstein und seine
Filmkunst heute unverzichtbar und falls noch erhalten (die meisten seiner Filme sind
es nicht), ideal zum Verständnis seiner Theorien hinsichtlich des Aufbruchs der
klassischen Narration.
1.2.2.2 Un Chien Andalou von Luis Bunuel
Ein weiteres Paradigma der frühen Moderne ist Bunuels Meisterwerk UN CHIEN
ANDALOU (Der Andalusische Hund, 1928). Bunuel beschäftigte sich nicht im
herkömmlichen Sinne mit der Bildkomposition, Montage und Rhythmus, er

20
strukturierte seine Filme durch den emotionalen Gehalt (vgl. Weiss, 1995, S.40).
Deshalb lässt sich in UN CHIEN ANDALOU kein Handlungsstrang sondern nur
Anspielungen finden. Es gibt keine Logik, die Wirklichkeit ist die Welt des
Unbewussten (vgl. Vogel, 1997, S.61). UN CHIEN ANDALOU ist nach den
Prinzipien der Traumarbeit aufgebaut (vgl. Weiss, 1995, S.40). Und wenn Luis
Bunuel in der ersten Sequenz seines ersten Films ein Mädchenauge mit einem
Rasiermesser aufschlitzt, warnt er uns vor seinen Absichten: er will unser
Bewusstsein verändern (vgl. Vogel, 1997, S.64).
,,Doch der Traum wurde nicht als ein unwirklicher Zustand hingestellt, als ein Kontrast
zur äußerlichen Wirklichkeit, sondern Traum und Wirklichkeit waren eins. Der Film
erzeugte Wirklichkeit mit den Mitteln des Traums" (Weiss, 1995, S.40)
Traum und Wirklichkeit treten in seinem Film durchmischt auf, Bunuel arbeitet nach
den Prinzipien des Surrealismus (Thematisierung der Behinderung des Trieblebens
durch die Normen der Tradition und Konvention). Der Surrealismus beruht weiter
auf der Vorstellung, dass das Unbewusste, das Verdrängte bedeutungsvoller ist als
das uns Bewusste. Gemäß dieser Idee sammelte Bunuel in Zusammenarbeit mit
Salvador Dali ein Feld von Assoziationen rund um das Thema: die Beziehung
zwischen einem jungen Mann und einer Frau. Aus dem Material wurde bewusst eine
Auswahl getroffen. Alles, was nicht von zentraler Bedeutung schien, wurde
weggelassen (vgl. Weiss, 1995, S.40). Wir können UN CHIEN ANDALOU nur mit
einem intuitiven, assoziativen Verständnis nahe kommen, denn er soll nicht rational
verstanden werden. Seine rein visuelle Sprache wendet sich gegen jegliche verbale
Auslegungen. Nichts im Film hat mit Literatur, Schauspiel, Bildkunst und klassischen
Erzählformen zu tun. Empfindungen nehmen visionäre Gestalt an, der Zuschauer
wird in Schrecken und Aufruhr versetzt. Der Film duldet keine Analyse und kein
Ordnungsschema (vgl. Weiss, 1995, S.48). Vom Gesichtspunkt der Logik und des
klassischen Empfindens ist die ,,Handlung" nur schwer fassbar.
,,Doch wenn man empfänglich ist für diesen unaufhörlichen Strom von Gefühlen, wie er
von den Bildern vermittelt wird, folgt man der Entwicklung einer Liebesbeziehung, oder
vielmehr deren Verhinderung durch verzehrende und zersetzende Kräfte" (Weiss, 1995,
S.47).

21
1.2.3 Die Amerikanische Avantgarde als Erbe der Zwanziger
Das, was schon die Dreißiger für die Filmkunst in Europa hätten sein können, wurde
durch den Faschismus zurückgedrängt (vgl. Jansen, 2002, S.21). Doch bildeten die
Entwicklungen des modernen europäischen Films einen ideologischen und
künstlerischen Grundstock für die sich später in Amerika entwickelnde Avantgarde
im Film (vgl. Petzke, 1989, S.64). In dem Buch ,,A History of the American Avant-
Garde Cinema" (1976) werden Murneaus DAS CABINET DES DR. CALIGARI
(1919) und die Regisseure Hans Richter, Dsiga Wertov und Luis Bunuel als
Einflüsse auf die Entwicklungen in Amerika genannt. Der Zeitpunkt sind die frühen
vierziger Jahre. Zahlreiche Institutionen in den USA, ,,Workshop 20", ,,Cinema 16"
oder die Filmbibliothek im Museum of Modern Art in New York sind Initiatoren
dieser Bewegung (vgl. Weiss, 1995, S.104). Ihre filmischen Ausdrucksmittel sind
gewaltsam und brutal, und das Ziel ist die Sprengung der Normen der äußerlichen
Wirklichkeit. Revoltierenden Filmen kommt in einer unterdrückenden und
tabubeladenen Gesellschaftsstruktur wie der amerikanischen eine besondere
Bedeutung zu. Deren Leitmotiv war:
,,Die Zerstörung der gängigen Formen ist ein Weg zur Entdeckung neuer Lebensmuster"
(Weiss, 1995, S.104).
Maya Deren, Pionierin der amerikanischen Avantgardebewegung, setzt in ihren
Filmen eine andere Filmsprache ein (vgl. Hahne, 1989, S.66). In ihrem Film
MESHES OF THE ATFERNOON (1943, S/W, 12 Min.) sind Vergangenheit und
Gegenwart, Zeit und Raum, Wirklichkeit und Einbildung verzerrt und
ineinandergemengt (vgl. Vogel, 1997, S.78).
Inhalt: Die Hauptdarstellerin Maya Deren schläft, während sie sich gleichzeitig an
einem Tisch gegenübersitzt. Als sie aus dem Fenster schaut, sieht sie sich selbst einer
schwarzen Gestalt nachlaufen, die hinter einer Wegbiegung verschwindet. Als sie der
Figur folgt, dreht diese sich um. Das Gesicht dieser Person ist ein Spiegel, ein
Reflektor des eigenen Ichs, der später im Film zerbrochen wird.
Der Film fasziniert durch die Kraft des visuellen Bildes, durch seine Symbolsprache
und durch die Schilderung des Gespaltenseins in der mehrfachen Personifizierung
(vgl. Hahne, 1989, S.66). Peter Weiss beschreibt die Sprache des Films als melodiös
natürlich-spontan, er vergleicht sie mit der Poesie von Anais Nin (vgl. Weiss, 1995,
S.104).

22
Weiter enthält MESHES OF THE AFTERNOON Kamera- und Schnitttechniken,
die im konventionellen narrativen Film als ,,Special Effects" benannt werden. Zur
Bedeutung der Filme Maya Derens meinen Marcia Bronstein und Silke Grossmann
in der deutschen Filmzeitschrift ,,Frauen und Film":
,,Es muss betont werden, ,,dass ihre Filme keineswegs pures technisches Interesse sind,
dass aber die Erforschung und der bewusste Gebrauch filmischer Mittel die materielle
Grundlage bilden, auf der sich neue Erfahrungen konstituieren können" (zit. aus Hahne,
1989, S.66).
1.2.4 Die zweite Blüte des Europäischen Avantgardefilms
Es dauerte fast anderthalb Jahrzehnte der psychischen und intellektuellen sowie
künstlerischen Verarbeitung des zweiten Weltrieges ehe sich ein neues eurpäisches
Kino entwickelte.
Sicher gab es immer vereinzelt Filme, die beeindruckten, aber Filme von
beispielsweise Rossellini waren damals eher Seltenheiten. Zu sich selber und zu
einer neuen Sprache fand das Kino erst in den sechziger Jahren und wurde ,,zu einer
Epoche der größten Blüte und reichsten Ernte des europäischen Kinos" (vgl. Jansen,
2002, S.21 f.). Sicherlich hat das erneute Interesse am Avantgardefilm auch viel damit
zu tun, dass Hollywood sich gerade in einer schweren Produktions- und Absatzkrise
befand (vgl. Elsaesser, 1997, S.304). Die Regisseure der sechziger und siebziger Jahre
wie Godard, Kurosawa, Straub/Huillet wollten durch die Entwicklung neuer
Techniken die Konventionen des realistischen Erzählfilms offen legen. Damit
bemühten sie sich um die Wiederentdeckung der formalen, experimentellen, der
nichtnarrativen Techniken der 20er Jahre (vgl. Winter, 1992, S.104). Godard
übernahm in seinen Filmen der sechziger Jahre die karnevaleske Darstellungsweise
Dalis und Bunuels und lässt in LE PETIT SOLDAT (DER KLEINE SOLDAT,
1960) einen Protagonisten in einem Niemandsland zwischen den Diskursen
herumtappen (vgl. Vogel, 1997, S.32) (Der Hauptdarsteller trifft während er
umherläuft auf Personen aus verschiedenen Kultur- und Zeitepochen.). Ein weiterer
Bezugspunkt zur Geschichte ist die revolutionäre Position der Avantgarde in den
20er Jahren, wo Kunst und Kultur eine offensichtlich politische Funktion hatten.
Der neue moderne Film übernimmt dieses Leitmotiv in seinen Kampf gegen das
Mainstreamkino. Es ging wie damals darum, ein bewusstes Gegenkino zu Hollywood
aufzubauen, die ökonomische Vormachtstellung Hollywoods auf den Kinomärkten

23
der westlichen Welt zu unterlaufen. Nichts weniger als ein antiimperialistischer
Kampf gegen die Massenmedien stand an der Tagesordnung (vgl. Elsaesser, 1997,
S.302 ff.). Jean-Luc Godard meint hinsichtlich der Bedeutung des modernen Films:
,,Fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution herrscht das amerikanische Kino überall auf
der Welt. Dieser Tatsache ist wenig hinzuzufügen. Dennoch sollten wir, je nach unseren
Kräften, zwei oder drei Vietnams anfangen, im Herzen des immensen Hollywood-
Mosfilm-Cinecittà-Pinewood-Imperiums. Ökonomisch und ästhetisch, an zwei Fronten
also, müssen wir für nationale Kinos kämpfen, frei, brüderlich als Genossen und vereint
in Freundschaft" (vgl. Elsaesser, 1997, S.302).
1.2.5 Das Neue des modernen Filmes
Das Charakteristische des Avantgardefilms der sechziger Jahre fasst Peter Wollen
(1981) zusammen, indem er den realistischen Mainstreamfilm mit dem Gegenkino
vergleicht. Er belegt das Neue folgendermaßen:
1.
Der Handlungsfluss wird durch Unterbrechungen, Abschweifungen und
durch das Fehlen unmittelbar einsichtiger Verbindungen gestört. Dem
Zuschauer werden so gewohnte emotionale Stützen entzogen während
im realistischen Mainstreamkino die Erzählung einem linearen
Entwicklungsmuster folgt.
,,Der kontinuierlichen Inszenierung einer illusorischen Realität setzt Godard eine
diskontinuierliche Abfolge von Bildern, Tönen, Buchstaben entgegen. Der Film wird
nicht länger als Organismus konzipiert, sondern als ein ausufernder Fluss verschiedener
Ausdrucksformen" (Winter, 1992, S.103).
2.
Im modernen Kino wird der Prozess der Identifikation auf mancherlei
Art gestört. So führen sich z.B. die Schauspieler persönlich oder in ihrer
Rolle im Film ein, indem sie das Publikum direkt ansprechen. Im Verlauf
des Films richten sie an die Zuschauer Fragen wie: ,,Warum ist das jetzt
passiert?" oder ,,Was passiert als nächstes?".
3.
Die einheitliche, in einem konsistenten Raum- und Zeitgefüge spielende
Hollywooderzählung wird im modernen Film durch eine
zusammengesetzte Pluralität von Erzählungen ersetzt. In Godards

24
WEEK-END (WEEKEND, 1967) wird die Zeitchronologie
aufgebrochen, indem Personen aus unterschiedlichen Epochen und
Kulturen in die Handlung eingeführt werden.
4.
Die Aufmerksamkeit wird in avantgardistischen Werken auf die
Bedeutungsproduktion gelenkt, um so die Filmbedeutung zu
dekonstruieren, während im Mainstreamkino die Zeichenpraxis des Films
verborgen wird, um den Wirklichkeitseindruck zu steigern. Grund für die
Aufdeckung der Zeichenpraxis ist die Denaturalisierung des klassischen
Films. Auf diese Weise wird herausgestellt, dass die gewohnte Sprache
des Mainstreamkinos nicht die einzig verfügbare Sprache ist (vgl. Winter,
1992, S.104 ff.).
1.2.6 Der Niedergang der Moderne
,,Die Crux der Moderne ist ihr Glaube an das Neue. So entsteht die moderne Ästhetik als
eine Folge von Grenzüberschreitungen und Tabuverstößen. Dabei verbraucht sie
allerdings die Gegenmatrix, das Verbotene oder Unmögliche, der Kampf um den Skandal
wird immer mehr identisch mit dem Kampf um Sinn" (Höltgen, 2001, S.14).
Die Revolte des modernen Films richtete sich gegen den klassischen Erzählfilm. Sie
unterwirft das Unmoderne seinen Regeln der Entwertung und wuchs so langsam in
die Rolle einer institutionalisierten Revolte. Nach der Ansicht von Georg Seeßlen
hängt Ihr Niedergang mit mehreren Entwicklungen zusammen.
1.
Wenn sich in einer Gesellschaft das Hauptaugenmerk von der
Warenproduktion auf die Sinnproduktion (dazu: von der Funktion aufs
Design, vom Gebrauchswert auf den Tauschwert etc.) verlagert, so wird der
Katalog der Sinnangebote so breit gefächert sein, dass die Avantgarde keine
Alternative, sondern nur Segment der Kultur sein kann.
2.
Wenn der Widerstand der Gesellschaft gegen die ästhetische Modernisierung
gegen Null gegangen ist, weil die Skandale sich in ihrer ritualisierten Form zu
erkennen geben, dann wird das Ziel der Moderne zu einer leeren Pose.
3.
Der Nullpunkt der Modernität wäre schließlich erreicht, wenn alles möglich
produziert ist und wenn alle technischen Verbesserungen der Welt
durchgeführt sind. Wenn nichts mit nichts mehr gesagt werden kann, ist der
Nullpunkt der modernen Kunst erreicht.

25
Jenseits dieses Nullpunktes müsste postmoderne Ästhetik beginnen. Der Weg geht
jetzt zurück und zugleich nach vorn. Wenn die Negation der Moderne (als
Forcierung der Innovation) aufgehoben ist, wird die Bewegung möglich.
Wiederholung und Imitation sind möglich, aber nicht mehr als Nacheiferung eines
Ideals, sondern als ironisches Spiel (vgl. Seeßlen, 2000, S.126 f.). Der Niedergang der
Moderne steht noch mit der Medienentwicklung in Verbindung. Der Einzug der
Medien in unser Leben hat die Distributions- und Rezeptionsstruktur des Kinofilms
entschieden verändert. Kinofilme sind jetzt gleichauf mit Angeboten des Fernsehens
(später zusätzlich noch mit dem Videovertrieb). Im Kino einen Film zu schauen ist
anders. Hier ist der Zuschauer an seinen Platz vor der Leinwand fixiert. In einem
dunklen Raum ist er auf das bewegte Bild konzentriert. In der Regel passiert nichts
anderes als das Starren auf eine Leinwand mit Schattenspielen und akustischen
Mitteilungen. Während hier die äußerliche Situation klar ist, hat sich vor dem
Fernsehgerät die Rezeptionssituation grundlegend geändert. Der radikale Bruch hat
sich letztendlich nach der Einführung und Verbreitung des Home-Video-Recorders
vollzogen. Es kann resümierend gesagt werden, dass die verlorenen Ziele der
Moderne und das Fernsehen die Produktion von Filmen so stark beeinflussten, dass
sich ihre ästhetische Struktur hinsichtlich der neuen Gebrauchsweise verändern
musste. Für Joachim Paech und Georg Seeßlen bringt dieser Einschnitt in die
Filmgeschichte eine neue Filmästhetik, den Nullpunkt des postmodernen Films, mit
sich (vgl. Paech, 1992, S.51 f.).
1.3 Ist die Moderne von der Postmoderne
abgrenzbar?
Avantgarde und Popular Culture, Massengeschmack und Hochkultur bewegen sich
seit den späten sechziger und frühen siebziger Jahren stetig aufeinander zu (vgl.
Horst, 1998, S.153). Andreas Kilb nennt den postmodernen Film eine
nachavantgardistische Kunst (vgl. Kilb, 1992, S.85). Schon dem modernen Film ging
es um die Annäherung von Kinofilm und Fernsehen. In den sechziger Jahren wie
heute stellten die Wirkungsmöglichkeiten des Fernsehens den Angelpunkt einer
intermedialen Reflexion dar (vgl. Roloff, 1997, S.129). Und gerade die Struktur
postmoderner Werke erinnert an die Werke der Nouvelle Vague. Maurin Turim
brachte 1991 den Verdacht der Unbrauchbarkeit eines postmodernen Begriffes.
Anhand bestimmter Merkmale wies sie nach, ,,that some of the film´s modernism
were already like postmodernism" (Rost, 1998, S.22). Als Beweis dient ihr Jean-Luc

26
Godards Mischung aus unterschiedlichen (nicht nur) filmischen Diskursen, Genres,
Stillagen und seine Verwendung von Film-Zitaten, der Fragmentierung und der
Selbstreflexivität (vgl. Rost, 1998, S.22). Damals kam kaum ein Film an Godard
vorbei und heute lassen sich seine Spuren in Italien, in England, Deutschland oder in
der Tschechoslowakei finden. A BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1959)
zeigt sowohl Merkmale der Moderne als auch Merkmale eines postmodernen Films
auf. Gemäß modernen Vorstellungen sind Jean-Luc Godards Werke so strukturiert,
dass die Mitarbeit des Zuschauers notwendig ist. Postmodern ist A BOUT DE
SOUFFLE in dem Sinne, weil sich hinter dem Zeichen ein anderes, und nicht mehr
die Realität, befindet. Damit wird das Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination
problematisiert.
Drehli Robnik vergleicht das postklassische mit dem modernen Kino, er spricht von
engen Beziehungen zwischen den beiden Kategorisierungen (Robnik, 1995, S.60).
Maya Deren setzte 1944 postmoderne Stilmittel in ihrem Film AT LAND ein, wenn
sie Vergangenenheit, Gegenwart und Vorstellung durchmischt. Sie löste die übliche
Raumkonstruktion zugunsten einer flüssigen Darstellung der Bewegung auf.
Vordergründig ist es die Geschichte einer Frau, die aus dem Meer kommt und zum
Meer wieder zurückkehrt. Durch den Schnitt der Bewegung zeigt Maya Deren die
kontinuierlich erscheinende Laufbewegung der Frau, während die Umgebung, in
welcher sie sich gerade befindet, immerzu wechselt vom Strand zum Wald zum
Zimmer. Das zentrale Thema ihres avantgardistischen Films ist die Überwindung
von Zeit und Raum zugunsten der Bewegung (vgl. Hahne, 1989, S.66).
In postmodernen Werken ist die konventionelle Hierarchie aufgelöst, um
beispielsweise das Format des Fernsehens zu zitieren. Und wenn David Lynch die
Struktur eines Traumes auf seine Filme überträgt (z.B. in BLUE VELVET oder
MULHOLLAND DRIVE) verschwinden auch die gewöhnlichen Beziehungen
zwischen den Ebenen. Francois Truffaut setzte in seinem Film TIREZ SUR LE
PIANISTE (SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN, 1959/60) alte
Stummfilmmittel ein, er weckt mit der Bildkomposition Erinnerungen an Abel
Gance . Er teilt das Bild in drei Teile und in jedem ist das Gesicht des Verbrechers
mit einem anderen Ausdruck zu sehen (Aussage: auch Verbrecher haben mehrere
Gesichter). In der Postmoderne wird es Doppelcodierung genannt, eingesetzt wurde
es aber schon in der Moderne. Karel Reisz meint, dass die Doppelcodierung als
Hommage zu verstehen ist. Truffaut macht sie an den Stummfilm. Orson Welles
macht sie in TOUCH OF EVIL (IM ZEICHEN DES BÖSEN, 1957) an den Film
Noir und David Lynch macht sie in BLUE VELVET an Luis Bunuel (vgl.
Reisz/Millar, 1988, S.219). Durch ihr großes filmgeschichtliches Wissen hatten
Regisseure wie Francois Truffaut, Louis Malle, Claude Chabrol und Godard aber eine

27
Vorreiterrolle in der Filmavantgarde . Lange bevor sie selbst Filme drehten, waren sie
bei der französischen Fachzeitschrift ,,Cahiers du cinema" als Filmkritiker tätig
gewesen. Durch ihre umfassenden Kenntnisse konnten sie zu einer Tradition des
Spielfilms und anderer Massenmedien bezug nehmen und sich damit
auseinandersetzen (vgl. Jansen, 2002, S.22).
Was moderne und postmoderne Werke letztendlich unterscheidet sind ihre Ideale.
Während die Avantgarde der Doktrin einer Gegenkultur unterlag ( mit dem Ziel des
Durchschaubarmachens der sich entwickelnden Medien), gibt es in der Postmoderne
weder ein ästhetisches Programm noch ein Manifest (vgl. Schreckenberg, 1998, S.123
f.). Die Erzählstruktur (post)moderner Werke und der Bruch mit der Identifikation
belegen, dass die Unterschiede zwischen Avantgarde und Postmoderne nur ein
Zeichen der Zeit sind. Die Filme, die wir sehen sind zwar unter verschiedenen
Kategorisierungen eingeordnet, brechen aber beide mit dem klassischen Erzählfilm
und das von Anfang an.
1.3.1 Postmoderne Moderne - Gemeinsamkeiten
1.3.1.1 Die fragmentierte Erzählstruuktur
Das Gefühl für das ,,Korrekte" im narrativen Film änderte sich nicht erst in der
Postmoderne sondern seitdem uns eine Fülle von dokumentarischen Filmen den
Rhythmus realer Zeit einimpfte (vgl. Monaco, 1995, S.334). Die Moderne spiegelt
sich im Film in einer Vielstimmigkeit der Erzählung. Dokumentarische Elemente
werden in den ästhetischen Text aufgenommen, es kann parallele Handlungsstränge
geben (vgl. Tab. 7.1). Die Geschichte wirkt dadurch sprunghaft, unabgeschlossen
und in sich widersprüchlich (vgl. Horst, 1998, S.155). Die moderne Filmsprache
ähnelt der heutigen (postmodernen) Vorstellung, dass unser Verlangen, die Welt als
ganzes zu verstehen, zerbrochen sei. Auf die zunehmende Flut von Informationen
und Sinneseindrücke reagieren die Filme, indem sie sich wie ein sinnloses
Kaleidoskop strukturieren (vgl. Reisz/Millar, 1988, S.236). Amos Vogel beschreibt,
weshalb moderne Filmemacher sich gegen die klassische Narration wandten:
,,Die vorherrschende Tendenz in der zeitgenössischen Kunst ist die Verwässerung oder
Ablehnung der konventionellen Fabel und des simplen Realismus. Die vielseitige,
fließende Natur der Realität, wie sie jetzt verstanden wird, lässt sich nicht länger in die
linearen erzählerischen Strukturen einordnen" (Vogel, 1997, S.83).

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Godards 1966 abgeschlossener Film MASULIN FEMINIM (MASULIN FEMINIM
ODER : DIE KINDER VON MARX UND COCA-COLA) reflektiert die
zerbrochene Weltvorstellung und führt uns das Scheitern von
Kommunikationsversuchen vor Augen. Er ist mit einer soziologischen Studie
vergleichbar. Avantgardistische Regisseure wollten so verdeutlichen, das die
Erzählweise, wie auch alles andere, auf Konventionen basiert. Eine Geschichte muss
trotz Fehlens eines logischen Handlungsfadens nicht sinnlos sein (vgl. Vogel, 1997,
S.83). Ihr Ziel, die Seh- und Produktionsweise des Hollywoodfilms in Frage zu
stellen, erreichten sie nicht. Für den größten Teil der Zuschauer war der
Avantga rdefilm wegen seiner intellektuellen Anforderung und in seiner Bedeutung
kaum verständlich. Nur wenige waren bereit das emotionale Vergnügen gegen ein
intellektuelles Unbehagen einzutauschen (vgl. Winter, 1992, S.106). Das neue
Publikum der sechziger Jahre, welches das Kino gerade wiederentdeckte, über Filme
Erfahrungen machen und den Geschichts- und Weltverlust so kompensieren wollte,
eignete sich nicht sehr für ein Kino dieser Art (vgl. Elsaesser, 1997, S.304). Es kann
gesagt werden, das Nichtlineare oder die Fragmentation sind Merkmale eines
modernen und postmodernen Kinos. Beide reflektieren sie die jeweilige Entwicklung
der Medien. Die Filmstruktur von David Lynchs WILD AT HEART, die als ein
oberflächliches Gerüst beschrieben wurde, weist genauso Merkmale des
Avantgardefilms auf wie zahlreiche Werke Jean-Luc Godards postmodern sind.
Was Karel Reisz zu modernen Werken der sechziger Jahre meint, klingt wie eine
Erklärung zur Erzählstruktur von MULHOLLAND DRIVE:
,,Wie in einem Traum wird diese Welt beschrieben durch das ,Nebeneinander' von
Dingen, die nicht unbedingt zusammenpassen" (Reisz/Millar, 1988, S.236).
Was die Werke unterscheidet ist letztendlich der Kampf der Avantgarde gegen den
Hollywoodfilm und der postmoderne Film als eins von vielen Kultursegmenten.
1.3.1.2 FEHLENDE IDENTIFIKATION
Im konventionellen ist die Identifizierung eine Gleichsetzung des Zuschauers mit
dem Kameraauge. In der Moderne ist der Zuschauer nun bestürzt und besorgt, der
Ausgang der Bilder ist ungewiss (vgl. Vogel, 1997, S.99). Jean-Luc Godards

29
unkonventioneller Stil brachte ihm in den sechziger Jahren wütende Kritiken von
Leuten ein, die meinten, A BOUT DE SOUFFLE sei gegen alle Regeln der
Filmsprache und ohne Rücksicht auf das Publikum gemacht. Wie Godard in seinen
Filmen die Identifikation zerstört erläutern die nächsten zwei Beispiele.
In seinem Debütfilm A BOUT DE SOUFFLE arbeitet er häufig mit sprunghaften
Anschlüssen, jump cuts genannt. Er schneidet zwei unzusammenhängende Passagen
einer durchgehenden Handlung hintereinander ohne die Kameraposition zu
verändern, d.h. er schneidet von einer Einstellung in die andere, ohne dass er
versucht, den Schnitt zu glätten. Karel Reisz meint dazu:
,,Sein rüder Umgang mit Handlungspassagen, die ihn nicht interessieren, ist radikaler als
alles, was es im Kino je gegeben hat. Er macht keinerlei Konzessionen an das Publikum,
das dankbar wäre für eine Überblendung, die einen Zeit- oder Ortswechsel anzeigte. Er
lässt sich auf keine Regel über Totale, Halbtotale und Nahaufnahme ein" (Reisz/Millar,
1988, S.229).
Er irritiert das Publikum weiter, wenn die Darsteller seiner Filme keine feste Identität
haben, sondern ihre Identität jeweils aus dem Augenblick heraus schaffen. Es ist
schwer, dieser Logik und dem ständigen Wechsel des Tempos und der Stimmungen
zu folgen (vgl. Reisz/Millar, 1988, S.229). In Godards UNE FEMME MARIEÈ
(EINE VERHEIRATETE FRAU, 1964) wird die Identifikation mit dem
Protagonisten verhindert, indem die Liebesszenen nicht wie sonst bekannt dargestellt
sondern zerstückelt werden. Die Wirkung dieser Vorgehensweise ist nur noch
Verfremdung (vgl. Vogel, 1997, S.85 f.). Wie schon beschrieben, richtet sich das
Augenmerk eines postmodernen Films auch nicht mehr auf die Partizipation des
Zuschauers. Durch die Erprobung neuer Techniken liegt die Stärke des Films darin,
wie er gemacht ist. Und somit ist Godard postmodern, denn auch bei ihm ist die Art
und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, wichtiger als die Vermittlung von Inhalt,
Botschaften und Thesen oder der Einbindung des Zuschauers in die Geschichte. Das
Prinzip der Konfusion und Irritation des Zuschauers erhält er sich in allen seinen
Werken (vgl. Roloff, 1997, S.123).
1.3.2 Unterschiedliche Vorstellungen
Die Unterschiede zwischen modernen und postmodernen Filmen ist rein ideeller
Natur, speziell in der für mich relevanten Filmnarration differenzieren sich deren

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Werke nicht. Beide verwenden dokumentarische Elemente, codieren ihre Filme und
lassen beispielsweise mehrere Handlungsstränge in einer Geschichte parallel laufen.
Diese Vielstimmigkeit der Erzählung, der damit verbundene Pluralismus von Stilen
und Techniken stellt in der Moderne aber eine Innovation und heute ein Pastiche dar
(vgl. Winter, 1992, S.106). Postmoderne Filme wollen nicht mehr neu sein (Vgl. Tab.
7.2). Zu Beginn war der Kinofilm modern, erst als Technik, später als Filmware und
ästhetisches Kino-Ereignis. Das Pastiche, das Remake oder das Klischee stehen jetzt
für den Verzicht auf die Neuheit der Ware Film. Postmoderne Filme haben sich von
utopischen und aufklärerischen Zielsetzungen des modernen Films verabschiedet. Sie
wollen nicht mehr auf das Klischee hinaus sondern bestehen aus ihm (vgl. Seeßlen,
2000, S.127). Während in avantgardistischen Werke die Zeichenpraxis
problematisiert wird, wird z.B. in Filmen von Cronenberg und Lynch die
Wirklichkeit problematisiert (vgl. Winter, 1992, S.106). Laut Seeßlen meint in der
Moderne das filmische Zeichen zunächst sich selbst, in der Postmoderne kann hinter
dem Zeichen etwas anderes stehen. Ein noch zu erwähnender Unterschied betrifft
den Begriff des Hässlichen oder anders formuliert, die Verlagerung der Akzente in
der Ästhetik führte vom Schönen zum Erhabenen. Die Thematisierung des Bösen
gewinnt ,,mit der Erfahrung von Chaos und Schrecken, von Gefahr und Geheimnis,
von Gewalt und von überwältigenden Naturereignissen" eine neue Aktualität (Lesch,
1993, S.360). In der klassischen Avantgarde steht das Kino für eine Einheit des
Schönen, Guten und Wahren, das Hässliche ist Medium von Provokation und
Erkenntnis. In zeitgenössischen Filmen ist es ein selbstverständlicher Teil der
Komposition, denn der Fundus der Filmgeschichte ist nicht die Verpflichtung zur
Weiterentwicklung, sondern Steinbruch der Möglichkeiten (vgl. Seeßlen, 2000,
S.127).
1.3.3 Ist die Postmoderne neu?
Die vorausgegangene Beispiele moderne Regisseure, und in welcher Art sie Filme
machen, gleichen postmodernen Werken und sind ein Beleg dafür, dass die
Postmoderne keine neue Epoche ist. Postmodernes Denken tritt nicht mit dem
Anspruch auf, alte Inhalte durch radikal neue zu ersetzen um so die Widersprüche
oder Probleme der Moderne mit einem Schlage aufzulösen. Mike Sandbothe erklärt:

31
,,Gerade gegen diese Vorstellung von einer einheitlichen Lösung, von einem radikalen
Neuanfang und universalen Umbruch wendet sich das postmoderne Denken mit aller
Entschiedenheit" (Sandbothe, 1998, S.44 f.).
Postmoderne Filme haben kein feststehendes Endziel. An deren Stelle tritt ein
offener Umgang mit den kleinen Zeiten des Alltags, mit den ,,Eigenzeiten" der
Dinge, der Menschen und der Natur sowie mit den heterogenen Zeitauffassungen
anderer Kulturen (vgl. Sandbothe, 1998, S.45). Jean-Francois Lyotard spricht davon,
dass die Postmoderne sich im Inneren der Moderne bewege. Das Neue an der
Postmoderne wird als der Hauch eines anderen Akzents oder die Nuance eines neu
modulierten Tons, als eine vorsichtige Verschiebung der Perspektive beschrieben.
Lyotard:
,,Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge,
die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung,
ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die
Wissenschaft und Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist schon seit langem
in der Moderne selbst am Werk" (Sandbothe, 1998, S.46).
Von Eisenstein über Andy Warhol bis David Lynch, vom surrealistischen Film über
das moderne Undergroundkino bis hin zu postmodernistischen Filmen, ob nun
modern oder postmodern, sie alle sind eine selbstreflexive Erkundung der
künstlerischen Logik des Mediums Film. Und sie sind eine radikale Absage an den
kommerziellen Spielfilm, samt seiner literarisch theatralischen Konventionen und
seiner Vorstellung vom Zuschauer als Konsumenten (vgl. Jameson, 2002, S.22).
2 Die Subversion des unkonventionellen
Kinos
2.1 Nichtlineare Filme und ihr Umgang mit Zeit,
Raum und Rezipienten
Während im klassischen Hollywoodfilm die Zeit linear verläuft, das Raumverständnis
auf Konventionen beruht und die Identifikation mit dem Zuschauer im Zentrum des
Interesses steht, gelten die alten Begriffe von Zeit und Raum als getrennte und

32
absolute Kategorien in (post)modernen Werken nicht mehr. Im konventionellen ist
die Darstellung des Raumes und der Zeit dem Erzählfluss untergeordnet. Filme mit
geradliniger Handlung und klaren Ablauf erfordern den Zusammenhang von Zeit
und Raum im Dienste der Kausalität. Wenn also eine Zeitverdichtung oder
Zeitaufhebung (z.B. bei einer Überblendung) angewandt wird, dann nur bei sich
zuspitzenden Situationen oder um den linearen Ablauf der Handlung
voranzubringen. In unkonventionellen Filmen geht die Zeit nicht mehr vorüber, sie
vollendet nichts mehr. Amos Vogel zum Zeitempfinden moderner Werke:
,,In den Zusammenhangslosigkeiten und Unvereinbarkeiten des modernen Films nähert
sich die Zeit im Film wieder dem Traum und der Erinnerung; denn Erinnerung ist, wie
Grobbe-Grillet erklärt, niemals chronologisch" (Vogel, 1997, S.100).
Er ordnet den Umschwung in die frühen sechziger Jahre ein und bezeichnet das
Aufbegehren gegen Zeit-Raum und Erzählweise bis zu diesem Zeitpunkt als
subjektive, poetische Erkundungen des Unterbewussten (vgl. Vogel, 1997, S.100).
Der bisher nur vereinzelt aufblitzende Bezug des Kinos zu seinen Bildern setzt nun
markante Signale und wandelt gängige Ordnungen um. Die Filmzeit beginnt in der
Moderne erstmals damit, als eigenständiges Element aufzuscheinen. Sie tritt in den
Bildern auf und dadurch beginnen die Handlungsabläufe, die in den Lauf der Zeit
gebettet sind, brüchig zu werden. Die zersplitterten Räume, in denen kein
einheitliches Handlungsgerüst mehr greifen kann, weisen die Konzepte von linear
verketteten Bildern zurück. Bilder werden nicht mehr gemäss einer Psychologie der
Emotion oder der Physik der Aktion aneinandergereiht (vgl. Büttner, 1999, S.24 f.).
Auch David Lynch löst die gewohnte Struktur der Darstellung auf. Die Auflösung
betrifft bei ihm speziell den Raum, die Zeit und die Personen (vgl. Seeßlen, 1998,
S.111).
2.1.1 Neue Filmzeit
Im klassischen Kino werden Ursache und Wirkung, Zusammenhänge und Lücken,
Wissen und Tiefe sowie sämtliche Informationen über die Erzählung für den
Zuschauer in einen zeitlichen Zusammenhang gebracht. In narrativen Filmen sind
drei Aspekte entscheidend: die Ordnung der Ereignisse, ihre Frequenz und ihre
Dauer. Meistens wird die Ordnung der Geschichte durch die verbale Schilderung
von früheren Ereignissen umgestellt. Beispielsweise erzählt eine Figur ein Erlebnis

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832483203
ISBN (Paperback)
9783838683201
DOI
10.3239/9783832483203
Dateigröße
844 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Ilmenau – Mathematik und Naturwissenschaften
Erscheinungsdatum
2004 (Oktober)
Note
2,2
Schlagworte
film abgrenzung narration codierung filmanalyse
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Titel: Die nichtlineare Erzählstruktur des postmodernen Films am Beispiel "Mulholland Drive" von David Lynch
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