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Umweltbewusstsein - Kritik und Perspektiven

Ein Forschungskonzept auf dem Prüfstand

©2003 Diplomarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Diplomarbeit bemüht sich um eine genuin kritisch-soziologische Diskussion des traditionell zwischen Psychologie und Soziologie aufgeteilten Feldes der Umweltbewusstseins-Forschung. Der wuchernden Vielfalt der UB-Dimensionen und Typologien wird dabei heuristisch das Gegenbild eines konzisen, eindimensionalen, die Vergleichbarkeit zwischen „mehr“ und „weniger“ Umweltbewusstsein ermöglichenden Begriffes entgegengehalten.
Umweltbewusstseinsforschung, so das Fazit der Kritik, bringt bisher nur einzelne interessante Befunde hervor, deren theoretische Einbettung und gesellschaftliche Aussagekraft gering sind. Was in der Öffentlichkeit davon ankommt, sind oft nur Platitüden, ja Unsinn. Ansätze aus der Moralforschung, welche auf eine Untersuchung von Qualitätsstufen des Umweltbewusstseins abheben, sind weiterzuentwickeln. Repräsentationen von Gesellschaft als entscheidender Seite des im Begriff „Umwelt“ implizierten Wechselwirkungszusammenhanges, verdienen größere systematische Beachtung. Dazu sowie zur Vermeidung einiger sehr grober methodischer Fehler der gängigen Forschung gibt die Diplomarbeit Anhaltspunkte.
Damit ist die grundsätzliche Stoßrichtung der Arbeit bezeichnet. Ausformuliert wird sie bereits im ersten, dem Grundlagen-Abschnitt; die dort erarbeiteten Begriffe werden im vierten Abschnitt aufgenommen und verwendet. Der zweite Abschnitt, ein Resümee der Forschungstradition, ist keine neutrale Bestandsaufnahme, sondern bereits durchsetzt mit Anmerkungen, die sich im dritten Abschnitt zu so etwas wie Systematik verdichten; daher trägt dieser den Titel Kritik, was nicht darüber hinwegtäuschen wird, dass auch die anderen Abschnitte ein „kritisches Geschäft“ betreiben. Die danach fällige Positivleistung, welcher der Neuansatz betitelte Schlussabschnitt gewidmet ist, mag kurz gekommen erscheinen; ihr Ausbau würde jedoch den Rahmen der Arbeit sprengen.


Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG3
I.GRUNDLAGEN7
1.1Was ist „Umwelt“?7
1.2Was ist „Bewusstsein“?12
1.3Warum ist „Umweltbewusstsein“ ein Gegenstand der Umweltsoziologie?20
II.FORSCHUNGSTRADITION26
2.1Die „Multidimensionalität“ des Umweltbewusstseins26
2.2New Ecological Paradigm und Wertewandelforschung31
2.3Das ‚Sonderproblem’ Umweltverhalten35
2.4Einige Ergebnisse: das Umweltbewusstsein der Deutschen40
III.KRITIK47
3.1Theoretischer Eklektizismus47
3.2Dekontextualisierung des Umweltthemas56
IV.NEUANSATZ66
4.1Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8180
Rivera, Manuel: Umweltbewusstsein - Kritik und Perspektiven - Ein Forschungskonzept
auf dem Prüfstand
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Freie Universität Berlin, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

2
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG 3
I. GRUNDLAGEN
7
1.1. Was ist ,,Umwelt"?
7
1.2. Was ist ,,Bewusstsein"?
12
1.3. Warum ist ,,Umweltbewusstsein" ein Gegenstand der Umweltsoziologie?
20
II. FORSCHUNGSTRADITION
26
2.1. Die ,,Multidimensionalität" des Umweltbewusstseins
26
2.2. New Ecological Paradigm und Wertewandelforschung
31
2.3. Das ,Sonderproblem' Umweltverhalten
35
2.4. Einige Ergebnisse: das Umweltbewusstsein der Deutschen
40
III. KRITIK
47
3.1. Theoretischer Eklektizismus
47
3.2. Dekontextualisierung des Umweltthemas
56
IV. NEUANSATZ
66
4.1. Die Autonomie der Begründung
66
4.2. Das Verhältnis zur politischen Sphäre
69
4.3. Umweltbewusstsein als Zusammenhangsdenken
75
4.4. Einige methodologische Anregungen
80
SCHLUSSBEMERKUNG 89
QUELLENVERZEICHNIS 90

3
Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit ist in gewissem Grad ikonoklastisch. Sie
rennt an gegen eine respektable, mit beachtlichen empirischen Ergebnissen
aufwartende Abteilung der Umweltsoziologie: die Umweltbewusstseinsfor-
schung, indem sie ihr vorwirft, den Intuitionen des Alltagssprachgebrauchs
genauso viel schuldig zu bleiben wie den Ansprüchen der Wissenschaft.
Dabei sollen die Funde und Gedanken der betroffenen Forscher freilich
nicht pauschal abgewertet, sondern kritisch durchforstet werden, so dass
Lichtungen entstehen für einen neuen, tauglichen Ansatz. Insofern handelt
es sich dann doch ­ hoffentlich ­ um einen konstruktiven Beitrag zur For-
schung.
Natürlich liegen dieser Arbeit Überzeugungen zugrunde. In keiner Weise
wird zu verheimlichen sein, dass sehr spezifische Präferenzen mich dazu
bewogen haben, bei der Rekonstruktion des Umweltbewusstseins-Begriffes
und den Vorschlägen für eine auf diesen Begriff aufbauende, erneuerte For-
schungspraxis diesen Weg statt eines andern einzuschlagen; diese statt jener
Option zu bevorzugen, auszuwählen, zu betonen. Diese Strategien zu be-
glaubigen, muss zunächst der argumentativen Überzeugungskraft jedes ein-
zelnen Abschnitts, dann aber auch ihrem Zusammenwirken anheim gegeben
werden, und mancher hermeneutische Zirkel wird dabei nicht zu vermeiden
sein.
Vor allem aber gibt es eine Überzeugung, die dieser Arbeit zugrunde liegt,
und die explizit zu machen Sache der Einleitung sein muss, denn sie ist für
viele ein ob seiner ,Trivialität' gern vergessener Gemeinplatz: nämlich, dass
es keine sinnvolle Forschung geben kann ohne klare Begriffe, die ihr
zugrunde liegen, bzw. dass empirische Arbeit nur dann zu Erkenntniszu-
wachs beiträgt, wenn sie ihren Gegenstandsbereich vorher genau abgegrenzt
hat. Diese Schul-Weisheit, ohne Frage gültig für soziologische Grundbegrif-
fe wie ,,Macht" oder für einfache Konstrukte wie ,,Konsumpräferenzen",
scheint beim ,,Umweltbewusstsein" mittlerweile vergessen:
,,In der Alltagssprache wird der Begriff des Umweltbewusstseins sehr vielschichtig
gebraucht und bleibt damit in hohem Maß offen und unbestimmt. Dies ist nicht
grundlegend anders im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ... Einigkeit besteht inso-

4
weit, dass es wenig Sinn macht, immer neue Definitionen vorzuschlagen, die dann
doch nicht allgemein anerkannt werden. Was im Zuge der theoretischen Diskussion
und der begleitenden empirischen Forschung erreicht wurde, ist, dass die verschiede-
nen Teilaspekte des Umweltbewusstseinsbegriffs Schritt für Schritt herausgearbeitet
und ,auseinander dividert' wurden. Diese Zerlegung in Teilaspekte eröffnet dann die
Möglichkeit, Vorschläge anzubieten, welche Aspekte zu den Kernelementen des Um-
weltbewusstseins gehören und welche Aspekte eher am Rande liegen." (D
IEKMANN
&
P
REISENDÖRFER
: 101.)
Die achselzuckende Resignation vor dem Primat des Daten-Sammelns, wie
sie in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, erscheint im Licht der oben ange-
führten Grundüberzeugung nicht nur nicht hinnehmbar; sie wird geradezu
skandalös wenn man die ,Folgerung' betrachtet, die die Autoren aus ihr zu
gewinnen streben: Wenn man keinen Begriff hat, dann forscht man eben
drauflos und hofft, dass der Begriff sich ,nebenbei' sozusagen von selber
,aufhellt'. Analyse (,,Zerlegung [wovon?] in Teilaspekte") soll dabei als
Vorstufe von Begriffsbildung dienen: ein wissenschaftstheoretisch höchst
fragwürdiges Vorgehen.
Dass eine gewisse ,enge', missionarische Vorstellung von Umweltbewusst-
sein sich mit einer völlig anders gearteten Realität konfrontiert sah, legt kei-
neswegs zwingend die Schlussfolgerung nahe, ,,dass über ... zu eng gefasste
Definitionen von ... Umweltbewusstsein ... hinausgegangen werden
muss"
1
, sondern eher die, dass über ungenügende Definitionen hinausge-
gangen werden muss. Wenn sozialwissenschaftliche Forschung normative
Modelle vorgibt, macht sie das u. U. nämlich nicht blind sondern hellsich-
tig: sie kann die Realität in der Perspektive dieser Modelle dann scharf stel-
len. In genau diesem Sinne heuristischen Mehrwerts will diese Arbeit ein
Konzept von Umweltbewusstsein vorschlagen, das auf Idealisierungen nicht
verzichtet, sondern sie sich forschungstechnisch zunutze macht.
2
Damit ist die grundsätzliche Stoßrichtung der Arbeit bezeichnet. Ausformu-
liert wird sie bereits im ersten, dem Grundlagen-Abschnitt; die dort erar-
beiteten Begriffe werden im vierten Abschnitt aufgenommen und verwen-
1
P
OFERL
/ S
CHILLING
/ B
RAND
, S. 62; Herv. M. R. ­ Die Autoren argumentieren damit zu-
gunsten einer ,,konstruktivistisch-pragmatischen" Forschungsperspektive (S. 78), wozu in
Kapitel 1.3. einiges zu sagen sein wird.
2
Über gewisse Hintergrundüberzeugungen bezüglich des kritischen Anspruchs von Sozi-
alwissenschaft hinaus haben mich in dieser Auffassung die (ein anderes thematisches Feld
bearbeitenden und daher bloß analogen) Argumentationen von Bernhard Peters und Fried-
helm Neidhardt zugunsten normativer Modelle bestärkt; konkret geht es dort um das Kon-
strukt ,,Öffentlichkeit" (vgl. N
EIDHARDT
[H
G
.], S. 37f.; S.70ff.).

5
det. Der zweite Abschnitt, ein Resümee der Forschungstradition, ist keine
neutrale Bestandsaufnahme sondern bereits durchsetzt mit Anmerkungen,
die sich im dritten Abschnitt zu so etwas wie Systematik verdichten; daher
trägt dieser den Titel Kritik, was nicht darüber hinwegtäuschen wird dass
auch die anderen Abschnitte ein ,,kritisches Geschäft" betreiben. Die danach
fällige Positivleistung, welcher der Neuansatz betitelte Schlussabschnitt
gewidmet ist, mag kurz gekommen erscheinen; ihr Ausbau würde jedoch
den Rahmen der Arbeit sprengen.
Eine weitere inhaltliche Vorbemerkung sei gestattet. Wenn auf diesen Sei-
ten fortwährend von ,,ökologischer Frage" statt von ,,Problemen nachhalti-
ger Entwicklung", von ,,Umweltbewusstsein" statt von ,,Nachhaltigkeitsbe-
wusstsein" die Rede ist, dann ist das nicht in erster Linie dem Umstand ge-
schuldet dass etwa letzterer Begriff sich in keiner Weise eingebürgert hat
und daher gewaltsam wirken müsste. Auch die Scheu, ein von Definitions-
kämpfen geradezu verwüstetes Begriffsfeld zu betreten
3
, ist offenbar nicht
der Grund der Zurückhaltung, führt man sich den Status des zentralen Beg-
riffes der Arbeit selber vor Augen. Vielmehr steht dahinter die stillschwei-
gende Überzeugung, dass ein wahrhaft politisches Verständnis der ökologi-
schen Frage die entscheidenden ,Zusatz'-Dimensionen der Nachhaltigkeit
ohne weiteres einschließt, und dass es daher zunächst ausreichend ist,
,,Umweltbewusstsein" im hier behandelten Sinne in den Mittelpunkt der Be-
trachtungen zu stellen. Diese Überzeugung aber ist ,,stillschweigend" des-
halb, weil sie zu begründen Gegenstand einer eigenen, hier nicht beabsich-
tigten Begriffsstudie wäre. ­
Unter der herangezogenen Literatur sind zwei Titel bzw. Titelserien, die be-
sondere Erwähnung verdienen: Oskar Brillings Dissertation Kritik des Um-
weltbewusstseins zunächst deshalb, weil sie auf ihren 700 Seiten Punkte
enthält, die mit einigen der hier aufgeführten übereinstimmen ­ ohne dass
dies in jedem Fall nachgewiesen wäre ­; vor allem aber weil sie in ihren
Hauptintentionen nicht nur nichts mit dieser Arbeit zu tun hat, sondern ge-
radezu gegensätzlich zu nennen ist. Und die Publikationen von Ernst Hoff
3
Vgl. dazu T
REMMEL
, der selbst im engeren Kreis der Wissenschaft ca. 50 verschiedene
Definitonen ausmacht (S. 100ff.), und diesen ,,analytischen" Definitionen noch die ,,politi-
schen" der verschiedenen pressure groups gegenüberstellt.

6
und Thomas Lecher deswegen, weil sie während des Schreibens der Arbeit
so ziemlich der einzige wirklich produktive ,Lichtblick' waren, den ich
beim Sichten der Umweltbewusstseinsliteratur erhaschen konnte.
4
Auch auf eigene Vorarbeiten ist vereinzelt Bezug genommen: es handelt
sich dabei um fünfzehn halbstrukturierte Interviews, die ich 1999 mit chile-
nischen, sowie zehn narrative Interviews, die ich 2001 mit argentinischen
Jugendlichen über ihr ,Umweltbewusstsein' geführt habe. Die Darstellung
der ersteren ist in einer Broschüre des Soziologischen Instituts über Jugend
und Politik in Chile veröffentlicht worden; die zweite nur in einem internen
Bericht der Universidad Nacional de Buenos Aires. Sie spielen indes für die
in erster Linie ,meta-theoretischen', hinter den Gegenstandsbereich gewis-
sermaßen zurücktretenden Überlegungen dieser Arbeit keine zentrale Rolle.
Zitate aus englisch- und spanischsprachigen Quellen, wie sie hier hin und
wieder verwendet werden, sind zugunsten des Textflusses ins Deutsche ü-
bertragen worden. Die Quellennachweise sind ,amerikanisch' ausgeführt mit
der Einschränkung, dass die Jahreszahl bei den Kürzeln entfällt. Haupt-
grund dafür ist der pseudo-informative Effekt, dem Zitate gerade von Klas-
sikern, aber im Grunde aus jeder Nicht-Originalausgabe ausgesetzt werden,
wenn man sie mit Angaben wie ,,Durkheim 1988" versieht. Aber auch das
Motiv der Schriftbildeleganz hat hier erneut eine Rolle gespielt. Im Fall von
mehreren zitierten Titeln eines Autors sind diese mit Indizes (in Parenthe-
sen) versehen worden.
4
Auf die Arbeiten dieser Forschungsgruppe ist hier nur bis zu einem gewissen Punkt ­ dem
Zwischenbericht von 1995 ­ Bezug genommen. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist das
Projekt laut Auskunft von Herrn Prof. Hoff tatsächlich nicht weiter gefördert worden
(Drittmittelprobleme); zum anderen habe ich nach 1995 Publiziertes erst kurz vor Ab-
schluss der Arbeit überhaupt in Erfahrung bringen und es daher nicht mehr berücksichtigen
können.

7
I. Grundlagen
1.1. Was ist ,,Umwelt"?
Die Begriffe ,,Umwelt" und ,,Umweltkrise" wurden in den letzten 30 Jahren
so inflationär gebraucht, dass sie zu gedankenlosen Gemeinplätzen bzw. so-
gar in Gefahr gerieten, mit ,,Natur" bzw. ,,Naturkrise" ineins gesetzt zu wer-
den. Auf Seiten der polit- und der ,,tiefen"ökologischen Denker hat das den
Affekt einer rotunden Ablehnung des Wortes hervorgerufen.
5
Aber auch bei
weniger radikalen Zeitgenossen hat sich schon lange die pragmatische Ein-
sicht breit gemacht, ,,dass Umweltpolitik nicht nur technologischer, sondern
auch sozialer Innovationen bedarf" (R
INDERSPACHER
: 57, Herv. M.R.), und
damit, wenn auch oft bloß implizit, eine sozialwissenschaftliche Auffassung
des Umwelt-Begriffes.
Denn Umwelt ist nicht Natur. Selbst äußerst großskaliert arbeitende natur-
wissenschaftliche Untersuchungen, wie die weltraumgestützte Beobachtung
von Klimaveränderungen, können nicht umhin, beim Heruntersteigen auf
das Niveau z. B. des Phänomens ,,Wasserhaushalt" die anthropogenen Fak-
toren mitzubeschreiben: Abholzung, Überweidung, Kanalisierung (B
OLLE
:
25ff.). Es liegt nahe, hier dem Biologen Hans Mohr zu folgen, der Umwelt
,,als die für menschliche Zwecke und nach menschlichen Plänen gestaltete
Natur" versteht
6
. Wobei damit natürlich die soziale ,,Umwelt" aus dem Beg-
riff abgesondert und dieser auf die natürliche Umwelt verengt wird.
7
Gegen letzteres ist nichts einzuwenden. Denn mit der Beibehaltung des
Schwerpunkts ,,natürliche Umwelt" wird nicht nur ein Ausfransen des Um-
5
Vgl. prominent dazu den Titel des Buches von B
AHRO
. Die Wendung bei ihm zielt freilich
übers Gesellschaftliche noch hinaus, zum ,,Wesen" menschlicher Subjektivität (cf. ebd., S.
18 f.); mit dieser Denkbewegung kann Soziologie, will sie sich denn noch als solche ver-
stehen, nicht mitgehen.
6
So paraphrasiert ihn Ortwin R
ENN
([1], S. 31).
7
Ansonsten müsste man dem phänomenologischen Umwelt-Begriff von Alfred Schütz fol-
gen, der durch die Interaktion mit ,,Mitmenschen" konstituiert und von der ,,Mitwelt" der
,,Nebenmenschen" unterschieden wird (siehe H
ILLMANN
: 888). Dies ist jedoch für den
hier einschlägigen Kontext unangebracht. Von den vier Ebenen, die beispielsweise P
ON-
GRATZ
als durch den Begriff ,,Umweltbewusstsein" berührt ansieht, ist demzufolge nicht
nur das schlichte ,,Naturbewusstsein" aus dem Forschungskonzept abzusondern, sondern v.
a. auch und in erster Linie das ,,Außenweltbewusstsein" (siehe dort, S. 29).

8
weltbegriffs ins Allgemeine vermieden
8
, sondern auch ein Anschluss ge-
wahrt an die Debatte, welche seine alltagssprachliche und sozialwissen-
schaftliche Prominenz schließlich ermöglicht hat. Ein inflationärer Umwelt-
Begriff hingegen, wie ihn die Systemtheorie Luhmannscher Prägung, von
der Selbstabgrenzung des ,,autopoietischen Kommunikationszusammen-
hangs" ausgehend, allen gesellschaftlichen Code-Unterscheidungen glei-
chermaßen zugrundelegt, scheint wenig geeignet, seinem primitiven Wider-
part, der Gleichsetzung Umwelt-Natur, eine in Bezug auf das ,,Umweltthe-
ma" relevante Konkurrenz zu machen. Dazu einige Worte mehr.
9
Luhmanns Strategie, im Anschluss an Bertalanffy und andere dasjenige als
,,Umwelt" zu definieren, was ein beliebiges soziales System qua kommuni-
kativem Ausschluss als sein ,Anderes' konstituiert, ist ambivalent in einem
zugleich fruchtbaren wie problematischen Sinne. Zum einen ermöglicht sie
es, die System-Umwelt-Differenzierung als ,,Reflexionsinstrument des Sys-
tems" zu betrachten (L
UHMANN
[1] : 24), d. h. sie rückt die Umwelt in ihrer
Abhängigkeit von sozialen Definitionen ins Blickfeld. Dieser konstruktivis-
tische Ansatz ist für die Frage ,,Wie wird ­ gesellschaftlich ­ ,Umwelt' beg-
riffen?" recht aufschlussreich, zeigt jedoch seine Kehrseite, sobald er seine
eigene ­ notabene selber dem Wissenschaftssystem zugehörige, d. h. Wahr-
heit beanspruchende! ­ Unterscheidung verabsolutiert und damit epistemo-
logisch alle anderen intra-sozialen Definitionen nivelliert. Denn Umwelt so-
ziologisch bloß als ,das Kommunizierte, nicht aber Kommunizierende' zu
begreifen, fällt ja wieder hinter den bereits erreichten Erkenntnisstand der
Wissenschaft Ökologie zurück und verbannt die Diskussion um Gefährdun-
gen ins Reich bloß zu beobachtender, letztlich sich jeder realistischen Be-
wertung entziehender ,,Kommunikation". Dieser unendliche Regress ins
Deskriptive, den Luhmanns Umwelt-Begriff ermöglicht und fordert, lässt
mit der Relativierung des naturwissenschaftliches Diskurses einen mögli-
chen, ja den sich als einzig möglich aufdrängenden Maßstab einer normati-
ven Beschreibung der ,,Umweltkrise" fallen:
8
Womit er dann eigentlich jedem Forschungsthema zugrunde gelegt werden könnte; in be-
zug auf die Techniksoziologie vgl. etwa den klassischen Aufsatz von O
GBURN
.
9
Der folgende Absatz orientiert sich, auch wo er nicht explizit auf Stellen daraus verweist,
an Niklas Luhmanns Buch Ökologische Kommunikation.

9
,,Selbstverständlich kann gesellschaftliche Rationalität weder in der Rationalitätspro-
jektion einzelner Funktionssysteme (und sei es: der Wissenschaft) liegen noch in ihrer
Gesamtablehnung als unvernünftig. Sie muss gewissermaßen standortfrei gedacht
sein ­ also als Unterscheidung, die unterschiedlich realisiert werden kann." (ebd.: 254)
Dieser Relativismus ist nicht nur ,unkritisch': er macht jede Unterscheidung
zwischen dem Problem und seiner Wahrnehmung unmöglich. Von der Um-
weltsoziologie ,,erwartet man" aber zu Recht ,,Aussagen darüber, ob das
Sensorium der Gesellschaft für ökologische Probleme ausreichend ist und
wo ... die soziale Konstruktion der Probleme die Wirklichkeit der Probleme
verfehlt" (
VAN DEN
D
AELE
: 422).
Doch um nicht bereits allzuweit auf das Problem ,,Umweltsoziologie" vor-
zugreifen, sei die Kritik an Luhmann noch einmal rückbezogen auf seinen
,,Umwelt"-Begriff: So wie sich sagen lässt, dass seine Beobachtung ,,ökolo-
gischer Kommunikation" nicht zwischen verschiedenen Qualitäten des
Kommunizierten zu diskriminieren vermag, also ein Problem verwischt
10
,
so gilt auf der basaleren Ebene der Frage ,,Was ist Umwelt?", dass die Sys-
temtheorie nicht unterscheidet zwischen dem, was das Gesellschaftssystem
als seine Umwelt setzt (,,ausdifferenziert"), und dem was seine Umwelt ist.
Hier braucht es eine realistischere Definition.
Dem Aspekt trägt der in der weiter oben angeführten Mohr-Paraphrase skiz-
zierte Ansatz Rechnung. Biologen nämlich gehen durchaus von dem
,naiven' Standpunkt aus, dass ,,allgemein und abstrakt gesprochen, die Um-
welt des Systems als ein weiteres System definiert werden kann, dass auf
das betrachtete System einwirkt und dem Einfluss desselben ausgesetzt ist"
(G
ALLOPIN
: 206). Damit ist freilich keine scharfe Grenze gezogen zu indi-
rekt oder vermittelt einwirkenden Faktoren, die durchaus entscheidend sein
können, das Umwelt-Konzept aber ins Uferlose auswachsen lassen würden.
Gallopin von seinem Ökologen-Standpunkt aus schlägt deshalb vor, die
Umwelt eines Systems ,,zu definieren als Gesamtheit nicht-
systemzugehöriger Variablen oder Faktoren, die an Elemente oder Subsys-
teme des jeweiligen Systems gekoppelt sind" (ebd. : 208; Herv. M. R.), und
10
In diese Richtung geht auch die Kritik von Christian Sigrist (in B
AHRO
: 214ff.), der
Luhmanns Umweltbegriff ,,mehrdeutig" nennt. Seinem Vorwurf an Luhmanns Soziologie,
das diagnostizierte Telos der ,,Systemerhaltung" zu ihrem eigenen zu machen, ist freilich
nicht ohne weiteres zu folgen; die Handhabung des Begriffs ,,Systemerhaltung" durch
Sigrist selbst scheint hier ideologisch und mit unaufgelösten, protomarxistischen Konnota-
tionen des Wortes ,,System" aufgeladen.

10
unterscheidet innerhalb dieser Gesamtheit einen ,,bloß einflussnehmenden",
einen ,,bloß beeinflussten" und einen ,,sowohl beeinflussenden wie beein-
flussten" Umweltbereich (ebd. : 209f.). Ein Beispiel für ersteren wäre, gül-
tig in Bezug auf die ganze Biosphäre, die Regulierung der Sonneneinfalls-
winkel durch die Planetenrotation; der zweite Bereich wäre z. B. durch die
Auswilderung von Pflanzen via Windbestäubung illustriert. Das Gros der
Faktoren aber gehört dem dritten Bereich an.
An dieser Stelle soll vorgeschlagen werden, diesen Bereich der ,,sowohl be-
einflussenden wie beeinflussten Faktoren" zur engeren Anwendung des
Begriffes ,,Umwelt" auszuzeichnen. Denn wenn man den Schritt von der
Betrachtung von Biosystemen und ihren Umwelten hin zur ,,Gesellschaft
und ihrer Umwelt" tut, scheiden die bloß beeinflussten Komponenten, so es
sie auf dieser Ebene denn überhaupt gibt, aus ,epistemologischen' Erwä-
gungen aus ­ dieses Zugeständnis immerhin ist Luhmann zu machen ­,
während die bloß beeinflussenden Faktoren schwerlich zum Umweltkrisen-
Diskurs hinzuzurechnen sind.
11
Damit avanciert die Wechselwirkung zur
entscheidenden Kategorie.
12
Umwelt ist nicht nur die vom Menschen ­ und
sagen wir lieber gleich: von der Gesellschaft ­ gestaltete, sondern auch die
auf ihn / sie zurückwirkende Natur. Sie ist freilich zugleich ein begrenzen-
der Faktor, dessen analytischer ­ oder ,,prä-analytischer" ­ Ausschluss aus
den Sozialwissenschaften
13
zu verheerenden blinden Flecken in der Betrach-
tung gesellschaftlicher Dynamik geführt hat. Aber auch dies, so basal es
sein mag, ist nur eine inhaltliche Spezifikation des formalen Konzeptes, um
11
Beispiele wären die Spekulationen über ein Erlahmen der Rotation des Erdkerns und ein
Schwinden des durch sie erzeugten Magnetfeldes, über Meteoriten, neue Eiszeiten etc., aber
auch über Langfrist-Tektonik und Erdbebendynamik. Bei all diesen Phänomenen entfällt
das Element gesellschaftlicher Zuschreibungs- bzw. Verantwortlichkeitsdiskussionen völ-
lig.
12
Das ist letztlich auch eine Pointe des zitierten Aufsatzes von Gallopin; nur widmet sich
dieser nicht der Frage nach der Umwelt der ,,Gesellschaft", sondern nach der ,,des Men-
schen", in diesem Sinne wie Mohr (vgl. R
ENN
[1], a. a. O.) den Begriff auf intrasoziale,
technologische, kulturelle Umwelten ausdehnend. Dieser humanökologische Ansatz, der
auf der ,,Spannung zwischen der leiblichen Existenz der Menschen, durch die sie in ökolo-
gische Zusammenhänge eingebunden sind, und ihrem geistigen Potenzial, durch das sie
sich in normativen Zusammenhängen verorten", beruht (D
IEKMANN
& J
AEGER
: 22), soll
hier keineswegs in Frage gestellt oder ,beiseite geschoben' werden; man muss aber dass er
zur Realität des seit 1970 virulenten Umwelt-Diskurses insofern quer liegt, als er ,,Umwelt"
gleichzeitig zu weit (als Gesamtheit der die Lebensqualität und -dynamik von Menschen
beeinflussenden Faktoren) und zu eng fasst (als lokales, gewissermaßen durchs Brennglas
der ,,beeinflussenden" Perspektive gesehenes Phänomen).
13
Für den Ausdruck ,,prä-analytisch" und das zentrale Beispiel der Ökonomie vgl. D
ALY
:
71ff.

11
das es an dieser Stelle geht; es ist bereits eine bestimmte Erkenntnis über
,,Umwelt".
Halten wir also als Summe aus den hier angestellten Überlegungen fest: Die
Umwelt der Gesellschaft ist die mit ihr funktional gekoppelte und sol-
cherart mit ihr in Wechselwirkung stehende Natur. Aus dieser Definiti-
on folgt unter anderem ­ eine simple Semantik des Wortes ,,Problem" hin-
zugerechnet ­, dass Umweltprobleme alle gesellschaftlich unerwünschten
Wechselwirkungen mit der Natur genannt werden können, während die
Umweltkrise dann der Kumulationsgrad von Umweltproblemen wäre, den
die Gesellschaft als intolerabel ansieht. Der konstruktivistische Aspekt sozi-
aler Interpretationen wird also, die Wörter ,,unerwünscht" und ,,intolerabel"
suggerieren es, für eine Betrachtung von ,,Umweltbewusstsein" durchaus
zentral bleiben. Gleichzeitig aber soll die genannte realistische Umwelt-
Definition eine hinreichend flexible und zugleich präzise Grundlage dafür
abgeben, der Umweltbewusstseins-Forschung taugliche Bezugspunkte zu
liefern. Und: sie soll ihr den Anschluss an die immer wieder mit wissen-
schaftlichen Argumenten geführte politische Umweltdebatte nicht verbau-
en.
14
14
Damit scheinen die Ansprüche an eine wissenschaftliche ,,Nominaldefinition" genauso
befriedigt wie die mit dem unpräzisen Konzept ,,Realdefinition" verbundenen claims, ein
wissenschaftliches Konzept möge ,wesentlich' oder ,relevant' sein (cf. K
ROMREY
: 149-
163). Letztlich liegt ja auch in diesen claims ­ und das eingestehend, wendet man sich ge-
gen eine die ,,Wertfreiheit" hochhaltende wissenschaftstheoretische Skepsis ­ insofern eine
gewisse Berechtigung, als die Option für eine bestimmte Definition, die ja letztlich stattha-
ben muss, nicht nur von der Willkür des Forschers diktiert sein darf. Der Anschluss an eine
als ,kanonisch' verstandene Bedeutungsgeschichte ­ in obigem Falle der an den Nukleus
des wissenschaftlich-politischen Diskurses der letzten Jahrzehnte ­ scheint diesen Kom-
promiss zwischen Willkür und Notwendigkeit zu ermöglichen; freilich steckt darin auch
das Bekenntnis zu einem kritischen ,,Zeitkern" aller Theorie. In diesem Sinne ist auch die
Begriffsexplikation und -einengung des nächsten Kapitels zu verstehen.

12
1.2. Was ist ,,Bewusstsein"?
Bedenklicher als beim Thema Umwelt wird die Interferenz verschiedener
Disziplinen bei dem Versuch, Bewusstsein sinnvoll zu definieren. Hier geht
es nicht bloß um eine Frage der graduellen Einengung, auch nicht nur um
eine Realismus-Konstruktivismus-Entscheidung. Denn Kognitionspsycho-
logie, Neurobiologie und Philosophie haben je ihr Wörtchen mitzureden bei
der Klärung eines Begriffes, von dem schon lange nicht klar ist ob er nicht
vielleicht lieber gleich aus der wissenschaftlichen Sprache ausrangiert wer-
den sollte
15
.
Zunächst ist da ­ wir schreiben das Jahr 2003 ­ die in vollem Aufstieg be-
griffene Disziplin der Hirnforschung mit ihren Versuchen, dem ,,Beobachter
im Gehirn" (S
INGER
) qua Analyse von Synapsen und Elektronenaustausch
beizukommen; der Verdacht drängt sich auf, dass jeder biophysikalische
Laie (also auch der Sozialwissenschaftler) am Stand einer Forschung vorbei
redet, der er die Definitionsmacht für den fraglichen Begriff letztlich über-
lassen muss. Obgleich diese Forschung noch keineswegs zu einem Konsens
gekommen ist, gibt es kleinste gemeinsame Nenner wie den, ,,... dass das
Auftreten von Bewusstsein wesentlich mit dem Zustand der Neuverknüp-
fung von Nervennetzen verbunden ist. Je mehr Verknüpfungsaufwand ge-
trieben wird, desto bewusster wird ein Vorgang" (R
OTH
: 233). Aber: ist
Bewusstsein denn dieses Mehr an Verknüpfung? Oder wird es vielmehr nur
von ihm begleitet? Manche Forscher, wie Roth, versuchen diese Frage ge-
wissermaßen zu unterlaufen, indem sie auf eine funktionalistische Beschrei-
bung ausweichen:
,,Immer dann, wenn eine Person Bewusstseinszustände hat, laufen in seinem [sic] Ge-
hirn bestimmte Prozesse der Interaktion corticaler und subcorticaler Zentren ab, und
zwar im Zusammenhang mit der Bewältigung von Aufgaben kognitiver oder motori-
scher Art, für die es noch keine fertigen neuronalen Netzwerke gibt. Die Empfindung
dieses Zustands als Bewusstsein ist das Eigensignal des Gehirns für diesen Zustand."
(R
OTH
: 247)
15
Vgl. dazu bereits M
AUTHNER
, S. 103. Aber auch neuere Autoren wie Kathleen Wilkes
argumentieren für eine Eliminierung des Bewusstseins-Begriffes: vgl. K
RÄMER
, S. 45. Sy-
bille Krämer selber macht sich für eine Neu-Interpretation des Terminus als ,,regulative I-
dee" im Kantischen Sinne stark, ein Ansatz, der von dem in dieser Arbeit verfolgten nicht
so verschieden ist.

13
Obgleich dieses Zitat mit seiner impliziten Betonung des Zusammenhangs
von Lernen und Bewusstsein durchaus nicht uninteressant ist, liefert es ganz
offenbar keinen substanziellen Beitrag zur hier interessierenden Definitions-
frage. Aber ­ und damit ist der entscheidende Punkt berührt ­ kann die Neu-
robiologie diesen Beitrag denn überhaupt leisten?
Gerade für einen Kernteil des mit ,,Bewusstsein" konnotierten Bedeutungs-
hofes, das Ich- oder Selbstbewusstsein, wird diese Frage von anerkannten
Fachleuten mittlerweile verneint, denn auch ihnen drängt sich der Gedanke
auf, ,,dass diese höchsten Hervorbringungen unserer Gehirne, jene, die uns
die Erfahrung vermitteln, autonome, selbstbestimmte Agenten zu sein, ver-
mutlich kulturelle Konstrukte sind und deshalb der neurobiologischen Er-
klärung nicht direkt zugänglich" (S
INGER
: 62). ,,Soziale Zuschreibungen",
die ,,dem Dialog zwischen Gehirnen erwuchsen", sind in der Wissenschafts-
sprache einer der Analyse einzelner Gehirne verpflichteten Disziplin nicht
hinlänglich zu reformulieren; sie haben einen anderen, ,,den ontologischen
Status einer sozialen Realität" (ebd. : 73). Der Ball geht also von der Neu-
rowissenschaft zunächst an die Psychologie zurück, aus besten Gründen der
Methodenlehre:
,,Da jedem reduktionistischen Ansatz die Definition der Explananda vorausgehen
muss, sind hier zunächst Verhaltensforschung und Psychologie gefordert." (Singer :
25)
16
Aber welche Strömung der Psychologie? Das ,,kognitivistische Paradigma"
(M
ESSING
: 33) krankt offenbar ebenso wie der Behaviorismus daran, dass
der Mensch als primär inaktiv, als einer physikalistisch begriffenen Objekt-
welt gegenüber stehend aufgefasst wird, auch wenn von den Psychologen
dieser Strömung ­ in Opposition zum Behaviorismus ­ gewisse Konstanten
oder gar Universalien der Wahrnehmung ins Visier genommen werden. Die
Fokussierung auf die bloße Verarbeitung einer ,,Reizumwelt" unter Ver-
nachlässigung interaktionistischer Ansätze ist ganz offenbar nicht dazu an-
getan, menschliches Bewusstsein befriedigend zu erklären, schon gar nicht
für den soziologisch interessierten Frager (vgl. ebd. : 17ff.).
16
Zu diesem speziellen Fall eines Primats des begrifflichen Verstehens vor dem naturwis-
senschaftlichen Erklären vgl. auch bündig M
ESSING
: 12f.

14
Kritische Psychologen, sofern sie das Problem des Bewusstseins systema-
tisch angingen, sind hingegen schon immer von dem aktiven Moment im
Bewusstsein ausgegangen: ,,Bewusst sein, das heißt die Partikularität der ei-
genen Erfahrung leben und sie zugleich ins Allgemeine des eigenen Wissens
einordnen." (E
Y
: 7, Herv. im Orig.) Damit haben sie der alten Idee der In-
tentionaliät Rechnung getragen, die als ,,Gegenstands- oder Weltbezogen-
heit" seit jeher einen der beiden Pole des denotativen Feldes von ,,Bewusst-
sein" bildet (vgl. D
IEMER
: 888). Wie die zitierte Formulierung von Henri
Ey dabei zeigt, werden dieser Weltbezogenheit ihrerseits ein dynamischer
und ein statischer Aspekt zugeschrieben, d. h. Intentionalität ist sowohl
Zugriff als auch Latenz (letztere bezeichnet mit dem Begriff des ,,Wissens").
Darauf werden wir zurückkommen müssen. Festzuhalten aber ist erst ein-
mal, dass einer phänomenologisch informierten Psychologie ,,nichts fremder
[ist] als die radikale Subjektivität des Bewusstseins" (E
Y
: 9), und das heißt:
Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas.
Informativ wird dies allerdings erst, wenn die Frage nach der Struktur dieser
Weltbezogenheit gestellt und beantwortet wird. Als ,,Ordnungsgefüge" des
Innenlebens (ebd : 29f.) lässt sich Bewusstsein nämlich nur dann beschrei-
ben, wenn man die funktionelle Sichtweise aufgibt, welche den Begriff in
Subphänomene wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Wissen, Intelligenz, Ich,
Selbstbewusstsein aufspaltet und diese separat analysiert; unter solchem
Blick wäre Bewusstsein alles und nichts. Will man den Begriff retten, muss
man die bereits angesprochene Doppelstruktur betonen und nicht nur als
Einheit von Wissen und Lernen explizieren, sondern fundamentaler noch als
die von Selbstbewusstsein und aktuell gelebter Erfahrung
17
. Damit aber ver-
lassen wir den Bereich der empirischen Psychologie und betreten altes phi-
losophisches Terrain.
Der Sprachkritiker Fritz Mauthner fand bei seiner Lektüre des philosophi-
schen Kanons drei ,,Gebräuche" des Begriffs Bewusstsein: ,,Ichgefühl",
17
Vgl. E
Y
, S. 32. ­ Zu den philosophischen Vorläufern zählt ein englischer Autor (,,May-
ne") des frühen 18. Jahrhunderts; vgl. B
RANDT
, insb. S. 65 (,,Das Bewusstsein des Geistes
von sich selbst und von seinem eigenen Vermögen hängt von seinem Handeln ab..." usw.)

15
,,Aufmerksamkeit" und ,,Reflexion" (M
AUTHNER
: 107f.).
18
Während er die
ersten zwei für gut genug hielt, den Bewusstseins-Terminus restlos zu erset-
zen, misstraute er der dritten Bedeutung als einem cartesianischen Trick, der
die falsche Substantivierung der Zustände von ,,bewusst sein" durch eine
neue Über-Instanz rechtfertigen sollte. Die aber hielt er für eine Chimäre,
denn ,,... es gibt nicht ein Bewusstsein, noch einmal, neben den Akten des
Bewusstseins" (ebd. : 104). ­ Solche Eliminierung des Begriffs kann vorlie-
gende Arbeit schon deshalb nicht akzeptieren, weil ihr damit jede empiri-
sche Bewusstseins-Forschung zur Registrierung von bloß situativen Akten
zergehen würde, sie also eigentlich keinen theoretisch relevanten Gegens-
tand hätte. Was aber ist die Alternative?
Offenbar ist die mit dem Begriff Reflexion angesprochene ,,Sekundärleis-
tung" (K
RÄMER
: 40), dieses ,,ich weiß, dass ich weiß" ein entscheidender
Punkt. Gegenüber dem Ansatz, Bewusstsein als eine ,,Eigenschaft" zu be-
trachten, hat diese ,,relationale" Auffassung den Vorzug, nicht auf eine ok-
kulte ,,Spürens- und Erlebensdimension" (ebd. : 44) abzuheben, sondern auf
ein Verhältnis des Thematisch-Machens, das klar durch seine Mitteilbarkeit
bestimmt ist. Das Erhöhen der Reflexionsgrade, das Zurückbiegen der Ge-
danken auf sich selber, führt zu einer Potenzierung von Sinn, die identisch
ist mit einem Komplexerwerden der mitgeteilten Syntax. Dabei ist, folgen
wir etwa Thomas von Aquin, das oben reklamierte Moment der Aktivität
schon einbegriffen:
,,... conscientia bedeutet nämlich dem eigentlichen Sinn des Wortes nach die Hinord-
nung des Wissens auf etwas Bestimmtes. Denn conscientia besagt mit anderem verbun-
denes Wissen. Die Anordnung eines Wissens auf etwas geschieht aber durch eine Tä-
tigkeit." (Zitiert in D
IEMER
, S. 890.)
Abgesehen davon, dass in dieser Figur die Intentionalität mit ihrem Gegen-
pol, der Selbstbezogenheit oder Reflexivität, gewissermaßen zusammenge-
dacht ist, drängt sich natürlich dem analytischen Blick eine Anschluss-
Alternative auf, die wieder, wenn auch diesmal anders, auf eine Elimnierung
des Begriffs Bewusstsein hinausläuft: nämlich seine Gleichsetzung mit
Sprache. In der Tat kann etwa der Philosoph Hubert Schleichert starke Ar-
gumente dafür anführen, dass der seit dem linguistic turn ­ genauer gesagt
18
Dies ist bereits eine analytische Reduktion der in der Philosophie herrschenden Sprach-
vielfalt; ein naiveres Auge wie das von E
RPENBECK
(27f.) stößt zunächst auf neun ver-
schiedene Belegungen des Begriffes Bewusstsein.

16
seit Gilbert Ryles ,,Concept of Mind" ­ als gehirnakrobatisch und ,,paraop-
tisch" ridikülisierte Topos der sich selbst reflektierenden Reflexion
19
genau
dann befriedigend zu entmystifizieren und auf einen unproblematischen Be-
griff zu bringen ist, wenn das ,,Wissens des Wissens" durch ein ,,Sagen des
Sagens" ersetzt und so die Reflexionsgrade in Grade höherer Syntax ü-
berführt werden (vgl. S
CHLEICHERT
: 188 ff.). Im großen Ganzen werden
durch Schleicherts ,,Identitätsthese" nicht nur altbekannte Bewusstseins-
Phänomene auf neue Art plausibel gemacht ­ etwa die ,,Enge des Bewusst-
seins" als Verwiesensein der Sprechakte aufs zeitliche Hintereinander, oder
der ,,Bewusstseinsstrom" als Kontinuum des inneren Dialogs (ebd. : 119ff.)
­, sondern es wird auch der lang diskutierte Punkt, dass Bewusstsein etwas
unabdingbar Menschliches sei, mithilfe rein logischer Äquivalenzen zur
kommunikativen Kompetenz umdefiniert und damit seines problematischen
Charakters entkleidet. Trotzdem lässt uns die Identitätsthese auf eine nach-
haltige Weise unbefriedigt. Denn wenn Bewusstsein tatsächlich ,,nichts an-
deres als das jeweils ablaufende laute oder ,innere' Sprechen" wäre (ebd. :
111), dann würde es sich in bloß situative Gegebenheiten auflösen ­ das Er-
gebnis wäre also im Grunde das gleich wie bei Mauthners Begriffs-
Eliminierung ­; Erforschung von Bewusstsein wäre bloßes Stimulieren von
je augenblickhaften ,Dialogfetzen'. Umweltbewusstsein z. B. wäre dann
,,Sprechen / Nachdenken von A zum Zeitpunkt t über Umweltprobleme",
die Befragung ein bloßes Reiz-Reaktions-Experiment.
20
Schleicherts Rekonstruktion der ,,kanonischen Phraseologie"
21
zum Thema
Bewusstsein vernachlässigt einen wichtigen Teil des mit ,,Bewusstsein"
konnotierten Bedeutungsfeldes: seine Latenz. Das Bewusstsein ist mehr als
eine Präsentationsoberfläche:
,,[Seine] Inhalte ... stehen schnell wechselnd offen im Vordergrund des Bewusstseins.
Dieser schnelle Wechsel erinnert an die die Vorgänge auf einem Radarschirm, die nur
kurzfristig zur Verfügung stehen und dann verschwinden. Was bei einem Radar-
schirm aber nicht auftritt, ist die Verdichtung dieser schnell wechselnden Vorgänge
19
Der allerdings auf einem naturwissenschaftlich-deskriptivem Niveau von der neueren
Hirnforschung reformuliert zu werden scheint; vgl. dazu allein den Titel von S
INGER
.
20
In der Tat ist diese Bezeichnung als Extremfall eine immer gegenwärtige Möglichkeit
(oder Gefahr) sozialwissenschaftlicher Befragungen; der pointierte Ausdruck ,,Reaktions-
experiment" wurde von Noelle-Neumann und Petersen verwendet (zit. in K
ROMREY
: 340).
Aber auch diese sprechen von zugrunde liegenden ,,Dispositionen", die es mithilfe der
spontanen ,,Reaktionen" zutage zu fördern gelte.
21
Zu diesem Begriff vgl. S
CHLEICHERT
, S. 92ff.; siehe auch Fußnote 9 vorliegender Arbeit.

17
zu zeitlich stabilen Inhalten, die einen aufrufbaren Bewusstseins-Hintergrund
...bilden." (R
OEHLE
: 24; Herv. im Orig.)
Um diesen Hintergrund muss es einer Bewusstseins-Forschung gehen. Die
weiter oben mit Henri Ey bereits angesprochenen Doppelstruktur von Be-
wusstsein wird, da sie immer nur von ihrer dynamischen Seite her angegan-
gen werden kann, nach ihrer statischen Seite hin gedacht. Im Prinzip scheint
dies Piagets ontogenetische Theorie einer sich ,,organisierenden" Intelligenz
zu leisten.
Der Rückgriff auf Piaget im Zusammenhang mit ,,Bewusstsein" mag auf
den ersten Blick verfehlt erscheinen. Scheint er doch einen Topos, der je-
dem Menschen in gleicher Weise zugestanden wird, mit einem bekannter-
maßen weitaus problematischeren, Abstufungs- und Klassifikationsdebatten
ausgesetzten Begriff zu konfundieren.
22
Indes war es ja gerade Absicht der
bisherigen Ausführungen, das ,,phänomenale" gegenüber dem ,,relationalen"
Bewusstsein in den Hintergrund zu stellen. Und eben den letzteren Aspekt
betont Jean Piaget ­ der nicht von Bewusstsein spricht ­ mit seinem Theo-
rem der ,,Dezentrierung", des Reflexiver-Werdens der geistigen Leistungen
im Fortschreiten von den sensomotorischen über die symbolische Intelli-
genz hin zur Ausbildung der ,,konkreten" und schließlich der ,,formalen"
Operationen (cf. P
IAGET
[2] : 135-170).
Dabei ist zwei Missverständnissen vorzubeugen. Erstens hat schon Piaget
mit ,,Intelligenz" keine emotionsfreie, rein kognitive Größe bezeichnet
23
,
und auch diese Arbeit beabsichtigt nicht, ,,Bewusstsein" auf seine intellek-
22
Interessant ist, dass gerade Schleichert eine ganz bestimmte mit dem Alltagsbegriff ,,Be-
wusstsein" assoziierte Bedeutung verwirft, weil sie ihm zu anspruchsvoll ist: die, welche
dem Satz ,,Bist du dir eigentlich dessen bewusst, was du da sagst?" seinen Sinn gibt.
Schleicher argumentiert für die Exklusion dieser Nebenbedeutung folgendermaßen: ,,Etwas
mit vollem Bewusstsein sagen bedeutet, dass man die Konsequenzen des Gesagten über-
blickt. Das ist eine intellektuelle Leistung, die schwer zu definieren und offenbar der Abstu-
fung fähig ist. Sie hängt sicher mit der Höhe der Intelligenz zusammen. Der ... Bewusst-
seinsbegriff ... soll aber so erklärt werden, dass er allen gesunden, wachen Menschen zuge-
schrieben werden kann, nicht bloß den besonders intelligenten." (S
CHLEICHERT
: 109.) Mit
der Einschränkung, dass Bewusstsein mit Intelligenz nicht in eins fällt, sobald man beide
verknüpft ­ was Schleicherts polemische Schlusswendung nahe legt ­ möchte vorliegendes
Kapitel die in den ersten Sätzen des Zitats angedeuteten Punkte gerade stark machen, um
aus ihnen die umgekehrte Konsequenz zu ziehen.
23
Vgl. dazu Hans Aebli: ,,Während sich der deutsche Begriff fast vollständig auf die Be-
zeichnung eines ,Vermögens' der Seele oder einer ,Funktion' des Verhaltens eingeengt hat,
bezeichnet der französische Begriff der Intelligenz das Besitzen von Einsicht und Kenntnis
über ein Stück Wirklichkeit, ja sogar noch viel ursprünglicher den Vorgang des Erkennens
und Verstehens dieser Wirklichkeit." (In P
IAGET
[2] : IX)

18
tuelle Komponente zu reduzieren.
24
Anvisiert ist keine Verengung des Be-
wusstseins auf (totes) Wissen, sondern seine kriteriale Fassung in eine ,wis-
sensförmige', d. h. reflexiv bewegliche und zugängliche Organisation
25
. Nur
so lässt sich die mit ,,Bewusstsein" untrennbar verknüpfte Grundfigur der
Reflexivität in einen forschungstauglichen Begriff hinüberretten. ­ Zweitens
liegt, wenn hier ,,die Richtung der zunehmenden Strukturiertheit, Beweg-
lichkeit und Anwendbarkeit"
26
zum Gradmesser eines ,Mehr an Bewusst-
sein' gemacht wird, eine bloße Analogie vor zu Piagets, wie gesagt, ontoge-
netischer Beschreibung. Schließlich kann es bei der Bewusstseinsfrage nicht
um die Beschreibung eines ,,Erwachsenwerdens" in strengem Sinne gehen.
Wohl aber in einem metaphorischen Sinne ­ und eben darin bewährt sich
die Analogie ­, nämlich in dem einer gut aufklärerisch verstandenen
,Mündigkeit'. Diese ist nach Kant bekanntermaßen nicht mehr als die Fä-
higkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wobei nicht nur das
Selbstdenken als ,,Maxime der vorurteilsfreien Denkungsart" das Aus-
schlaggebende ist sondern auch das ,,An der Stelle jedes anderen denken",
als ,,Maxime der erweiterten Denkungsart", also eben die Dezentrierung, die
wir von Piaget übernehmen.
27
Und noch ein Drittes gesellt sich, Kant weiter folgend, hinzu: das Kriterium
der Konsistenz. Man mag diese wie Kant (normativ) am Ideal der Wider-
24
Vgl. dazu sehr schön E
Y
: ,,Zweifellos ist die Modalität des Affiziert-seins eine Grundver-
fassung des Bewusstseins, ... eine sinnliche Erfahrung, die derart in das Bewusst-sein ver-
woben ist, dass keine Weise des Bewusstseins ohne Fühlen oder Sinnlichkeit möglich ist.
[...] Keine Analyse des reflexiven Denkens, welche dieser Basalstruktur einen Überbau an
Idealität hinzufügt, kann diese Sinngebung leugnen, die mehr oder minder unmittelbar eine
Gabe der Sinne ist. Bewusst-sein heißt in der Tat ­ nenne man es nun so oder anders -
Empfindungen haben, die den Leib oder ihn durchdringend seinen Träger angehen. Es
heißt: Empfindungen geben oder sie empfangen, sie erinnern oder vorstellen, alles das in
einem Betroffensein des Gemütes. Bewusst-sein bedeutet fühlen, dies nicht im Sinne eines
Bewusstseins-Zustandes, sondern einer Bewusstseins-Struktur, welche quer zur aktuellen
Erfahrung und der in ihr erlebten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen steht." (S. 16; Herv.
im Orig.)
25
Analog definiert Piaget Intelligenz ,,durch die Richtung, in die ihre Entwicklung geht"
und beschreibt diese Richtung bündig als die ,,einer reversiblen Beweglichkeit" (P
IAGET
:
13f.) Die Alternativen sind ihm zufolge die Wahl ,,einer funktionellen Definition, auf die
Gefahr hin, beinahe die Gesamtheit aller kognitiven Strukturen in diese Definition mit ein-
zubeziehen", sowie das Festhalten eines Qualitätsunterschiedes z. B. in Abgrenzung zur
,,Dressur", ,,wobei aber diese Wahl immer eine Konvention bleiben wird, welche Gefahr
läuft, die wirkliche Kontinuität zu übersehen". Obgleich wir bei unserer Bewusstseins-
Definition natürlich Gebrauch von einer Abgrenzung gemacht haben ­ nämlich zum Nicht-
Sprachfähigen, Unbewussten ­ ist mit der Hereinnahme des Piagetschen Elements eben die
Bewahrung des Kontinuität-Aspekts beabsichtigt.
26
So zusammenfassend Hans Aebli in P
IAGET
, S. XIV.
27
Vgl. zu diesem und zum folgenden Absatz K
ANT
, §40, S. 145f.

19
spruchsfreiheit orientiert sehen oder wie Piaget (deskriptiv) von einem or-
ganischen ,,Gleichgewicht" sprechen, dem die geistigen Operationen im-
merfort zustreben (vgl. P
IAGET
[2] : 55f.; 170), das Kriterium bleibt dassel-
be. Erst diese dritte Maxime des ,,Mit sich selbst einstimmig Denkens", die
der ,,konsequenten" Denkungsart, vervollständigt die Struktur des Bewusst-
seins.
Die Bedeutung der Piagetschen Theorie haben auch die sonst eher ,situatio-
nell' orientierten Phänomenologen erkannt (cf. G
URWITSCH
: 33ff.). Stärker
noch als dieser haben sie indessen das Phänomen des Zusammenhangs be-
tont und darum gestritten. Gab es aufgrund der erwähnten Orientierung zu-
nächst in der phänomenologisch orientierten Psychologie die Tendenz (etwa
bei William James) Zusammenhang als bloße ,,Kopräsenz" thematischer In-
halte zu verstehen, so geht Aron Gurwitschs Vorschlag stärker in die Kanti-
anische, im Sinne der Phänomenologie ,,noematische" Richtung:
,,Eben weil diese Beziehung [des Zusammenhangs] das angeht, was zugleich erfahren
ist, und nicht die bloße Gleichzeitigkeit des Erfahrens, stellt sie eine innere Beziehung
dar. Gegebenheiten, zwischen denen eine Beziehung dieser Art besteht, sind nicht ein-
fach zusammen, sozusagen nebeneinander da, sondern eine spezifische Einheit, die
wir Einheit durch Relevanz nennen wollen, stellt sich zwischen ihnen her. Ein Thema
bietet sich als einem bestimmten thematischen Feld zugehörig dar, weil (vermöge der
Beziehung zwischen dem sachlichen Gehalt des Themas und demjenigen der Bestände
des thematischen Feldes) diese Bestände und das Thema aufeinander verweisen und
in dieser wechselseitigen Verweisung als zueinander gehörig erscheinen." (G
URWITSCH
: 275)
Die Fähigkeit, durch den Aufbau solcher Verweisungsstrukturen (in Piagets
Terminologie: durch die fortwährende Assimiliation von Objektbereichen
und die Akkomodation von Schemata) ,,Bedeutungsfelder" herzustellen (cf.
G
URWITSCH
: 263), wird als zentral für die Konstitution von Bewusstsein er-
kannt.
Der Vorschlag, den wir aus diesen synthetisierenden Betrachtungen ableiten
können, lautet also: Bewusstsein von etwas ist dessen mentale, begrifflich
strukturierte und bewegliche Repräsentation. Dabei ist die Zahl der
Anschlussmöglichkeiten an andere, relevante Themen der Gradmesser
für Kohärenz, die interne Widerspruchsfreiheit der emergenten Be-
trachtungen das Kriterium für Konsistenz des Bewusstseins. In diesem
Sinne ist das Bewusstsein von einem Thema umso ,,größer", je mehr
Kohärenz und Konsistenz es aufweist.

20
1.3. Warum ist ,,Umweltbewusstsein" ein Gegenstand
der Umweltsoziologie?
Obgleich ihre ,,Vorläufer" wie Humanökologie und Technikfolgenabschät-
zung eine gewisse Tradition haben
28
, ist die Umweltsoziologie im engeren
Sinne eine junge Disziplin, die sich in chaotischer Eile als Antwort auf die
ökologischen Krisendiskurse der späten Sechziger- und vor allem frühen
Siebzigerjahre formiert hat. Das theoretische ,,Unvorbereitetsein" (cf. L
UH-
MANN
[1]: 12) der Soziologie auf den Blick über den gesellschaftlichen Tel-
lerrand ist bis heute nicht kompensiert, es sei denn in Gestalt eines theoreti-
schen Eklektizismus, den einige zwar als ,,Pluralität der Perspektiven" be-
grüßen
29
, andere aber mit dem Hinweis auf die Gefahr von Beliebigkeit und
Ad-hoc-Konstruktionen bedenklich finden (cf. R
ENN
[1] : 48). Vorliegende
Arbeit prätendiert in keiner Weise, einen Beitrag zu einer neuen
,Vereinheitlichung' dieser soziologischen Teildisziplin zu leisten, erlaubt
sich aber, die Frage danach, inwieweit Umweltbewusstsein als Forschungs-
gegenstand soziologisch gerechtfertigt werden kann, mit gewisser theoreti-
scher Schärfe zu stellen.
Denn angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil der Umweltbewusst-
seins-Forschung an den psychologischen Fakultäten angesiedelt ist
30
, und
der Beschäftigung mit (Umwelt-) Affekten, Kognitionen und Dispositionen,
ist es durchaus nicht evident, was Soziologie mit dem Thema eigentlich zu
schaffen hat. M
ÜLLER
-R
OMMEL
verortet beide Disziplinen, Umweltpsycho-
logie wie -soziologie, auf der ,,Mikroebene" sozialwissenschaftlicher Um-
weltforschung (siehe S. 7ff.); dabei gilt als Abgrenzungskriterium zur Me-
soebene ­ die der Autor mit Umweltplanung und -politologie besetzt ­, dass
,,die Forschungsfelder der Mikroebene Individualdaten erheben und
.
R.). Doch welche Aufgabenteilung zwischen
bearbeiten" (ebd. : 9; Herv. M
28
Vgl. dazu die Darstellungen bei H
ÄUßERMANN
(S. 517ff.), J
AEGER
(S. 166ff.) und, sehr
detailliert,
DEL
A
CEBO
I
BÁÑEZ
(S. 115-133).
29
So etwa D
IEKMANN
J
AEGER
(S. 23f.), die übrigens vier theoretische Hauptperspektiven
der Umweltsoziologie ausmachen: Rational Choice, Systemtheorie, Humanökologie und
Modernisierungstheorie.
30
D
E
H
AAN
K
UCKARTZ
[2] listen 18 Forschergruppen in Deutschland auf, die sich konti-
nuierlich mit dem Umweltbewusstsein beschäftigen (S. 20); der Psychologie rechnen sie
acht, der Soziologie sieben davon zu. (Der Rest ist bei interdisziplinären
,,Sozialforschungsinstituten" angesiedelt.) Deutlicher war der Überhang von
psychologischen Forschungsprojekten in der Ersten Phase des DFG-
Schwerpunktprogramms ,,Mensch und globale Umweltveränderungen ­ sozial- und
verhaltenswissenschaftliche Dimensionen": hier rechnen die Autoren neun von elf
Projekten der Psychologie zu (ebd., S. 25).

21
beiten" (ebd. : 9; Herv. M. R.). Doch welche Aufgabenteilung zwischen die-
sen beiden Disziplinen der Mikroebene statthat ­ ,,Individualdaten" erhebt,
wie gesagt, auch die Psychologie ­, darauf finden wir bei Müller-Rommel
keine Antwort.
Nun ist eine Definition der Aufgaben von Umweltsoziologie durchaus keine
überkomplexe Angelegenheit. Konsens- und im wahrsten Sinne des Wortes
,,lehrbuch"fähig sind Formulierungen wie die folgende:
,,Die Umweltsoziologie untersucht die Frage, wie soziale und kulturelle Strukturen die
Art der Wahrnehmung, Nutzung und Umgestaltung von Natur prägen und wie die
Folgen dieser Nutzung wieder auf Gesellschaften und ihre Institutionen zurückwir-
ken. Zentraler Fokus der Umweltsoziologie ist der gesellschaftliche Umgang mit der
ökologischen Problematik." (B
RAND
R
EUSSWIG
: 573)
31
Auf ,,Umweltbewusstsein" heruntergebrochen heißt das, dass dessen Be-
dingtheit durch ,,soziale Strukturen" untersucht werden müsste
32
: seine Ab-
hängigkeit von (seine Wechselwirkung mit) Diskursen, Normen, Wertvor-
stellungen. Nur dies im Blick behaltend, kann man der Lehrbuchdefinition
genüge tun und, notabene, nicht hinter die epistemologische Position der
,Gründungsakten' der Soziologie zurückfallen.
Denn dass die Durkheimsche Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften,
der analytische Ausschluss des ,,Anderen" der Gesellschaft, einer Themati-
sierung der Umweltkrise durch die Soziologie so lange abträglich war
33
,
kann ja nun nicht den Umkehrschluss bewirken, die Gründe, welche die so-
ziologische Klassik zu diesem Ausschluss bewogen, ohne weiteres zu
,vergessen' und fröhliche transdisziplinäre Urständ zu feiern. Erinnern wir
uns kurz an die Problematik, vor welche sich Soziologie gestellt sah, wollte
sie sich als Wissenschaft legitimieren:
,,Da man sich [zunächst ­ M. R.] zum Bewusstsein brachte, dass alles menschliche
Tun innerhalb der Gesellschaft verläuft und keines sich ihrem Einfluss entziehen
kann, so musste alles, was nicht Wissenschaft von der äußeren Natur war, Wissen-
schaft von der Gesellschaft sein. Sie erschien als das allumfassende Gebiet, in dem sich
31
Vgl. auch die klassische Definition von Catton und Dunlap, zit. in D
UNLAP
, S. 331.
32
,,müsste", denn ein Großteil dieser Diplomarbeit wird darin bestehen aufzuzeigen, wo
überall dies nicht geschieht.
33
Vgl. das Zitat von Catton und Dunlap bei R
ENN
[1], S. 35. Der dort herangezogene Auf-
satz von 1978 wurde seiner Zeit als Generalangriff auf die das Natürliche ausschließenden
Klassiker angesehen (cf. B
UTTEL
: 37f.), und ,,die Behauptung, die klassische Tradition sei
irrelevant für die Umweltsoziologie, blieb ein Glaubensartikel innerhalb der nordamerika-
nischen (und in einem beträchtlichen, wiewohl geringeren Umfang innerhalb der europäi-
schen) Umweltsoziologenkreise" (ebd.: 38).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832481803
ISBN (Paperback)
9783838681801
Dateigröße
841 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Politik- und Sozialwissenschaften
Note
1,3
Schlagworte
ökologie wertewandel kognition forschungsdesign sozialpsychologie
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Titel: Umweltbewusstsein - Kritik und Perspektiven
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