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Heiliger Ort im Mehrzweckraum

Der Gemeinderaum als Gottesdienstraum

©2004 Examensarbeit 43 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Menschliche Identität konstituiert sich durch Geschichten, Ereignisse und Erlebnisse: Momente der Freude, des Glücks, der Krise: eine Liebesgeschichte, eine Prüfung, eine Krankheit.
Menschliche Identität konstituiert sich aber auch durch Räume und Orte: An dieser Stelle haben wir etwas besonderes erlebt. An diesem Ort sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Dort habe ich studiert. Hier haben wir uns verlobt.
Orte spielen im Leben des Menschen eine wichtige Rolle. Angesichts zunehmender Mobilität wird die Sehnsucht nach festen Orten, Wurzeln und Verankerungen immer größer.
Während meines Vikariats im Pfarrbereich Hohenthurm besonders in der Gemeinde Niemberg stellte sich mir folgendes Problem: Mit Beginn der kalten Jahreszeit sollte der sonntägliche Gottesdienst auf Wunsch des Gemeindekirchenrates mit der Begründung, daß die Heizkosten zu hoch seien, nicht mehr in der St. Ursula Kirche stattfinden, sondern in einem Raum des vor wenigen Jahren frisch renovierten Lutherheims; der Kategorie nach einem Gemeindezentrum der evangelischen Kirchengemeinde Niemberg. Dieser Raum wird vielfältig genutzt, u.a. regelmäßig vom Seniorenkreis, der Christenlehre und der Jungen Gemeinde. Zugleich besteht auch für Bewohner des Ortes die Möglichkeit, den Raum für Familienfeiern wie Konfirmation, Jugendweihe, Jubiläumsgeburtstage oder anderes zu nutzen.
Ich hatte im ersten Vikariatsjahr eingewilligt, den Gottesdienst in diesem Mehrzweckraum zu feiern, ersuchte aber im folgenden Jahr den Gemeindekirchenrat, auch im Winterhalbjahr die Kirche zu nutzen. Dies vor allem, weil ich den Raum des Lutherheims auch während des Gottesdienstes eher als einen Mehrzweckraum als einen heiligen Raum erlebte.
Ausgehend von diesem Problem und angesichts der Tatsache, daß sich Menschen identitätsstiftende Räume und Orte ersehnen, stellt sich mir die Frage nach Kriterien und Anhaltspunkten für heilige Räume. In dieser Hausarbeit für das Zweite Theologische Examen beschäftige ich mich eingehender mit dieser Thematik, um letztlich handlungsleitende Erkenntnisse innerhalb der Diskussion um heilige Räume und Orte für meine zukünftige Arbeit in anderen Kirchengemeinden zu gewinnen.
Die vorliegende Arbeit teilt sich in zwei große Teile. Im ersten Teil werden zunächst für das Vorverständnis nötige Aspekte wie die Wesensbestimmung des Heiligen, die Historie gottesdienstlicher Räume und die Entstehungsgeschichte des Mehrzweckraums geklärt. Im zweiten Teil […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8133
Stengel, Sara: Heiliger Ort im Mehrzweckraum - Der Gemeinderaum als Gottesdienstraum
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Staatsexamensarbeit, 2004
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkungen________________________________________________ 3
2. Heilige Räume__________________________________________________ 4
2.1 Heilige Orte in der biblischen Tradition _______________________________4
2.1.1 Altes Testament ______________________________________________________ 4
2.1.2 Neues Testament _____________________________________________________ 5
2.3 Systematisch-theologische Besinnung _________________________________6
3. Entwicklung und Verständnis heiliger Räume im Christentum___________ 7
3.1 Die Anfänge des heiligen Raumes und seine Weiterentwicklung ___________7
3.2 Die Reformation und Luthers neues Verständnis heiliger Räume __________8
3.3 Heilige Räume in moderner und postmoderner Zeit ­ verschiedene Aspekte 10
3.4.1 Kirchenräume - gottesdienstliche Räume ____________________________11
3.4.2 Gemeindekonzept der KPS _______________________________________11
3.5 Besondere Formen von gottesdienstlichen Räumen seit dem 19. Jahrhundert
___________________________________________________________________12
3.5.1 Das Gemeindezentrum ________________________________________________ 12
3.5.2 Der Mehrzweckraum _________________________________________________ 14
3.5.3 Gemeindezentrum Niemberg ___________________________________________ 15
3.6 Gesetzliche Bestimmungen zum Ort des Gottesdienstes _________________16
1) Ordnung der EKU______________________________________________________ 17
2) Recht der Evangelischen Kirche der KPS____________________________________ 17
3) Agendarische Verfügungen ______________________________________________ 18
4) Wolfenbüttler Empfehlungen _____________________________________________ 18
3.6.1 Resümee ___________________________________________________ 19
4. Mensch ­ Raum ­ Liturgie _______________________________________ 19
4.1 Anthropologische (und phänomenologische) Gesichtspunkte _____________20
4.1.1 Raumbezogenheit als Grundbefindlichkeit ________________________________ 20
4.1.2 Identifikation _______________________________________________________ 20
4.2 Theologische Gesichtspunkte _______________________________________21
4.2.1 Kirchliche Gebäude und Gottesdiensträume als Orientierung in säkularer Welt ____ 21

2
4.2.2 Funktionalität versus Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott__________________ 22
4.3 Semiotische Gesichtspunkte ________________________________________23
4.3.1 Raumcodes _________________________________________________________ 24
4.3.2 Räume als Texte- Auslöser von Kommunikation____________________________ 24
4.4 Ästhetische Gesichtspunkte_________________________________________25
4.5 Zusammenfassung ________________________________________________26
5. Heiliger Ort im Mehrzweckraum? Ein Fazit. ________________________ 26
5.1 Exemplarisch handlungsleitende Kriterien ____________________________27
5.1.1 Vorhandenes Gemeindezentrum ________________________________________ 28
5.1.2 Neubau eines Gemeindezentrums _______________________________________ 28
5.1.3 Der gottesdienstliche Raum im Gemeindezentrum __________________________ 29
5.1.4 Aspekte des katholischen Verständnisses _________________________________ 29
5.2 Anwendung auf das Lutherheim in Niemberg _________________________30
5.2.1 Anthropologisch_____________________________________________________ 30
5.2.2 Theologisch- rechtlich ________________________________________________ 30
5.2.3 Semiotisch _________________________________________________________ 31
5.2.4 Ästhetisch__________________________________________________________ 31
6. Anhang ______________________________________________________ 33
7. Literaturverzeichnis ____________________________________________ 36

3
1. Vorbemerkungen
Menschliche Identität konstituiert sich durch Geschichten, Ereignisse und Erleb-
nisse: Momente der Freude, des Glücks, der Krise: eine Liebesgeschichte, eine
Prüfung, eine Krankheit.
Menschliche Identität konstituiert sich aber auch durch Räume und Orte: An die-
ser Stelle haben wir etwas besonderes erlebt. An diesem Ort sind wir uns zum
ersten Mal begegnet. Dort habe ich studiert. Hier haben wir uns verlobt.
Orte spielen im Leben des Menschen eine wichtige Rolle. Angesichts zunehmen-
der Mobilität wird die Sehnsucht nach festen Orten, Wurzeln und Verankerungen
immer größer.
1
Während meines Vikariats im Pfarrbereich Hohenthurm besonders in der Ge-
meinde Niemberg stellte sich mir folgendes Problem: Mit Beginn der kalten Jah-
reszeit sollte der sonntägliche Gottesdienst auf Wunsch des Gemeindekirchenrates
mit der Begründung, daß die Heizkosten zu hoch seien, nicht mehr in der St. Ur-
sula Kirche stattfinden, sondern in einem Raum des vor wenigen Jahren frisch
renovierten Lutherheims; der Kategorie nach einem Gemeindezentrum der
evangelischen Kirchengemeinde Niemberg. Dieser Raum wird vielfältig genutzt,
u.a. regelmäßig vom Seniorenkreis, der Christenlehre und der Jungen Gemeinde.
Zugleich besteht auch für Bewohner des Ortes die Möglichkeit, den Raum für
Familienfeiern wie Konfirmation, Jugendweihe, Jubiläumsgeburtstage oder ande-
res zu nutzen.
Ich hatte im ersten Vikariatsjahr eingewilligt, den Gottesdienst in diesem Mehr-
zweckraum zu feiern, ersuchte aber im folgenden Jahr den Gemeindekirchenrat,
auch im Winterhalbjahr die Kirche zu nutzen. Dies vor allem, weil ich den Raum
des Lutherheims auch während des Gottesdienstes eher als einen Mehrzweckraum
als einen heiligen Raum erlebte.
Ausgehend von diesem Problem und angesichts der Tatsache, daß sich Menschen
identitätsstiftende Räume und Orte ersehnen, stellt sich mir die Frage nach Krite-
rien und Anhaltspunkten für heilige Räume. In dieser Hausarbeit für das Zweite
Theologische Examen beschäftige ich mich eingehender mit dieser Thematik, um
letztlich handlungsleitende Erkenntnisse innerhalb der Diskussion um heilige
Räume und Orte für meine zukünftige Arbeit in anderen Kirchengemeinden zu
gewinnen.
Die vorliegende Arbeit teilt sich in zwei große Teile. Im ersten Teil werden zu-
nächst für das Vorverständnis nötige Aspekte wie die Wesensbestimmung des
Heiligen, die Historie gottesdienstlicher Räume und die Entstehungsgeschichte
1
Vgl. Nagorni, K., Heiliges Zelt oder heiliges Haus, 9.

4
des Mehrzweckraums geklärt. Im zweiten Teil werden Mensch, Raum und Litur-
gie in anthropologischer, theologischer, ästhetischer und semiotischer Hinsicht
aufeinander bezogen. Die Arbeit schließt mit einer Konkretisierung der gewonne-
nen Erkenntnisse in Anwendung auf die Problematik und andere mögliche Fälle.
2. Heilige Räume
2.1 Heilige Orte in der biblischen Tradition
Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du
stehst, ist heiliges Land! (Ex 3,5)
2.1.1 Altes Testament
Der Ort, an dem ein gläubiger Mensch Gott begegnet, wird im Alten Testament
als heilig bezeichnet. Man nahm einerseits an, daß die Anwesenheit Gottes einen
Ort zu einem heiligen verwandelte. Andererseits vermutete man an
geheimnisvollen Orten die Anwesenheit Gottes.
2
Der herausgehobene Charakter
eines Ortes wurde betont, indem dieser eingegrenzt wurde. Die Heilig-
tumslegenden im Alten Testament erzählen von heiligen Orten und ihrem Ur-
sprung. Eine heilige Stätte wird grundsätzlich als solche vorgefunden, beispiels-
weise an einem Baum (Gen 18), einem Stein (Gen 28,10ff) oder einem Brunnen,
und nicht gegründet. An diesem Ort ereignete sich eine Theophanie, die der
Mensch mit einem Kultbau oder mit der Umwidmung des Kultortes für eine neue
Gottheit (Gen28,19) beantwortete.
3
,,Die besondere Bedeutung spezieller Orte ist
im Alten Testament allein dadurch gegeben, daß Gott sie auserwählte."
4
So
wurden aus diesen Orten Brücken zwischen Himmel und Erde.
5
Um zu erklären,
wie es zu der jeweiligen heiligen Stätte gekommen ist, gibt es die Heilig-
tumslegende.
6
Die wichtigsten dieser ausgesonderten Orte sind: Sichem (Gen 12,6), Bethel (Gen
28, 10-22), Mamre (Gen 13,18), Beerseba (Gen 21,14-19) und Penuel (Gen 32,
25-32). Während des Exodus werden zwei heilige Orte besonders betont: Kadesch
und der Sinai. Zahlreiche Begebenheiten der Wüstenwanderung sind mit Kadesch
verbunden (Num 13, 26), die Bedeutung des Heiligtums tritt aber später in den
2
Vgl. Emminghaus, J.H., Der gottesdienstliche Raum und seine Ausstattung, 355.
3
Vgl. Schmidt, W.H., Alttestamentlicher Glaube, 45.
4
Vgl. Grethlein, C., Grundfragen der Liturgik, 148.
5
Vgl. Emminghaus, J.H., Gottesdienstliche Raum, 355.
6
Vgl. Schmidt, W.H., 45f.

5
Hintergrund.
7
Der Sinai jedoch bleibt als die Stätte der Offenbarung Gottes immer
im Gedächtnis des Volkes Israel.
Auf der Wanderung in das gelobte Land treten die Wanderheiligtümer Lade und
Zelt als Zeichen der Gegenwart und Anwesenheit Jahwes in den Vordergrund. Die
Wanderheiligtümer zeigen, daß sich der HERR nicht an einen speziellen Kultort
bindet, sondern sich offenbart, wann, wo und wie er will. Das Zelt steht dabei
besonders für die Begegnung von Gott und Mensch und nicht nur als Wohnstätte
des HERRN.
8
Zugleich finden sich in vorstaatlicher Zeit zahlreiche
Jahweheiligtümer, wie z.B.: Gilgal, Mizpa, Hebron oder der Berg Tabor. Silo ist
das erste JHWE-heiligtum, für das ein Tempel bezeugt ist (1Sam 1-3).
Es gibt weitere Kultorte abseits von den bekannten, von diesen sind aber oft nur
die Namen und keine weiteren Nachrichten bekannt. Während der Königszeit
befanden sich die wichtigsten heiligen Stätten bereits zentral in Jerusalem, bzw.
für das Nordreich in Dan und Bethel. Nach dem Untergang des Nordreiches kon-
zentrierte sich der Kult in Jerusalem als dem Zentralheiligtum und damit der ein-
zigen legitimen Kultstätte im Land.
9
Aus alttestamentlicher Zeit erfahren wir einiges über den Tempelbau in Jerusalem
(1Kön 5-8) und die Vorstellungen für den neuen Tempel (Ez 40). Mit dem Bau
des salomonischen Tempels hatte Israel einen kultischen Ort geschaffen, an dem
eine besondere Verbindung zu Gott hergestellt werden konnte. Durch die Kata-
strophe des Jahres 587 war Israel der Tempel genommen worden. Erst 60 Jahre
nach der Tempelzerstörung durch Nebukadnezar (2 Kön 24/25) wurde der Tempel
wieder aufgebaut (Haggai, Esra und Nehemia). In nachexilischer Zeit wurden vor
allem für die in der Diaspora lebenden Juden Jerusalem und der Tempel
bedeutungsvoll.
Hier zeigt sich also, daß im Alten Testament der heilige Ort mit der Anwesenheit
Gottes und der möglichen Begegnung mit ihm in Verbindung gebracht wird.
2.1.2 Neues Testament
Die frühen urchristlichen Gemeinden aus neutestamentlicher Zeit entwickelten
weniger Sinn für Räumlichkeiten. Vielmehr waren sie Gemeinden, die noch in
den Gründungsjahren steckten, zum Teil verfolgt wurden oder sich im Untergrund
trafen.
Nach neutestamenlichem Befund bezeichnet Jesus den Tempel als das ,,Haus sei-
nes Vaters" (Lk 2,49), dessen Mißbrauch durch Handel und Wandel er später
stark kritisiert (Mk11, 15-17). Im Johannesevangelium benutzt Jesus den Tempel
7
Vgl. Kellermann, D., Heilige Stätten, TRE XIV, 678.
8
Ebd.

6
als ein Bild für seinen Leib (Joh 2,18-21), womit ein grundlegender Sachverhalt
zum Ausruck kommt: ,,Gottes Gegenwart ist in Jesu Gegenwart erfahrbar und
deshalb werden - wie Paulus entfaltet - die an Jesus als den Christus Glaubenden
zum Tempel Gottes (1Kor 3,11, 15-17)."
10
Die Bedeutung eines jeden Raumes,
bzw. des Tempels geriet eher in den Hintergrund.
In neutestamentlicher Zeit kommen also bauliche Bilder eher im Kontext der We-
sensbestimmung der christlichen Gemeinde zu Wort.
2.3 Systematisch-theologische Besinnung
Die Begriffe ,,heilig" und ,,Heiligkeit" werden heutzutage selten verwendet. Um-
gangssprachlich finden sich Formulierungen wie: ,,Dem ist nichts heilig" oder ,,
Heiligs` Blechle". Gelegentlich wird das Wort ,,heilig" im Zusammenhang mit
einer besonderen Qualifikation gebraucht: dieses oder jenes ist jemandem ,,hei-
lig", also besonders wichtig, herausgehoben aus dem Normalen und Gewöhnli-
chen, unumstößlich gar.
,,In der Welt ist nicht alles gleich, es ist nicht alles profan, sondern aus dem Meer
des Gewöhnlichen und Verfügbaren ragt das Besondere, das Ausgesonderte, das
Unberechenbare, das Unverfügbare, also das Heilige heraus."
11
Das Heilige ist
das ganz Andere. Es führt über den Sinnbezirk des Alltags hinaus und reißt aus
dem Gewohnten. Zugleich kann es sich in allen irdischen Erfahrungen manifestie-
ren.
In der biblischen Tradition geht Heiligkeit allein von Gott aus, er allein ist heilig.
Die Heiligkeit bestimmter Orte und Räume geht einzig von ihm aus. Nur durch
die Zugehörigkeit zur heiligen Macht werden Orte zu heiligen Orten. Heilige
Stätten befinden sich zwar in der natürlichen Welt, sie sind aber durch ihren sa-
kralen Charakter von dieser abgehoben und ausgesondert. Heilige oder sakrale
Räume sind also Räume, die vom Profanen abgetrennt sind. Indem sie in
Verbindung mit einer heiligen Macht assoziiert werden, werden sie als heilig
qualifiziert. Heilige Orte vermitteln eine eigene Atmosphäre. Sie sind gerade
durch ihre Fremdheit attraktiv. Sie können beides: faszinieren, aber auch eine
verunsichernde Stimmung, die ins Furchteinflößende umschlagen kann,
9
A.a.O.
10
Vgl. Grethlein, C., Grundfragen, 149.
11
Barth, H., Wie heilig sind unsere Kirchenräume, 40f.

7
transportieren.
12
Indem das Heilige an diesen Orten offenbar wird, wirken heilige
Orte orientierend in einer vom Chaos bedrohten Welt.
13
Religionsphänomenologisch variieren die Deutungen des heiligen Raums als
Machtraum, Erlebnisraum, Begegnungsraum oder Kultraum.
14
Heilig sind Räume,
wenn dort zwischen Himmel und Erde kommuniziert wird, wenn die Begegnung
mit dem Göttlichen stattfindet. Heilig sind Räume als Nahtstellen bzw. Über-
gangsräume zwischen Transzendenz und Immanenz, Irdischem und Überirdi-
schem. Damit sind sie eindeutig von anderen Orten und Räumen unterschieden.
Kirchenräume sind durch die Bezogenheit auf den heiligen Gott in Liturgie, Wort
und Sakrament heilige Räume.
15
In der vorliegenden Hausarbeit wird von heiligen
Räumen in dieser begrifflichen Akzentuierung die Rede sein.
3. Entwicklung und Verständnis heiliger Räume im
Christentum
3.1 Die Anfänge des heiligen Raumes und seine Weiterentwicklung
,,...und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit
Freude und lauterem Herzen." (Apg 2, 46)
Die Christen der urchristlichen Gemeinde trafen sich für die gottesdienstlichen
Versammlungen in ihren Häusern.
16
Ein besonderer Raum spielte in dieser Zeit
zwar keine Rolle, dennoch war der Gottesdienst oft formal an einen Raum gebun-
den. Man denke an das letzte Abendmahl Jesu im ,Obergemach` (Lk 22,12) und
den Häuserbezug in der Apostelgeschichte
17
.
Wenn allerdings vom ,,Tempel Gottes" die Rede ist, wird allein die Gemeinde in
den Blick genommen (1Kor, 3, 16f), wenn von Auferbauung die Rede ist (Röm
14,19), steht die Auferbauung der Gemeinde im Vordergrund.
18
Wird der Eckstein
erwähnt, ist damit Christus gemeint (Matth 21, 42). Bauliche Metaphern werden
demzufolge oft nur verwendet, um den Charakter der frühchristlichen Gemeinde
zu beschreiben.
19
Denn Gott wohnt nicht in einem Tempel, sondern in seiner Ge-
12
Vgl. Otto, R., Das Heilige.
13
Vgl. Eliade, M., Das Heilige und das Profane, 9.
14
Vgl. Sick, A., Zur Qualität sakraler Räume, 29.
15
Gegen Wendland, G., welcher darauf beharrt, daß ein Raum nichts Heiliges beherbergen kann,
der Kultraum bleibe Versammlungssaal, vgl. Wendland, G., 360.
16
Vgl. Richter, K., Kirchenräume und Kirchenträume, 50.
17
Vgl. Emminghaus, J.H., Gottesdienstliche Raum, 357.
18
Vgl. Schwebel, H., Evangelium und Raumgestalt, 33.
19
Vgl. Schwebel, H., Die Kirche und ihr Raum, 12f.

8
meinde als einem lebendigen Bau. Die Offenbarung des lebendigen Christus ist
nicht an einen heiligen Ort oder kultgesetzliche Handlungen gebunden. Das
schließt zwar nicht das Wesensmerkmal der Heiligkeit aus; jedoch nicht der Bau,
der Raum, die Geräte oder die Bilder implizieren die Heiligkeit, sondern ,,allein
der lebendige Christus in seinem personalen Wirkbereich".
20
Nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Konstantin
begann die Erbauung von öffentlichen Kirchengebäuden, die aber im Westen
nicht an die griechische Tempelform anknüpften, sondern an die Form einer Ba-
silika, einen für vielfältige Belange zur Verfügung stehenden Bautyp der profanen
Baukunst.
21
Ihr Name geht auf die ursprünglichen Königshallen zurück, doch
wurde dieses Gebäude in verschiedener Weise, etwa als Markthalle oder auch für
Gerichtssitzungen genutzt.
22
,,Ihr Hauptkennzeichen ist die dominierende Längs-
achse des Mittelschiffs, an das sich niedrigere Seitenschiffe anschließen, so daß
sie drei-, fünft- oder gar siebenschiffig sein kann. Die dem Eingang gegenüberlie-
gende Schmalseite wird durch eine halbkreisförmige Ausbuchtung der Apsis ab-
geschlossen. Es handelt sich also um einen längsgerichteten Raum."
23
In der Ap-
sis befand sich der Bischofssitz, der von den Stühlen für das Presbyterium umge-
ben ist.
24
Obwohl der Bautyp der Basilika noch einige Änderungen durchlebte, blieb er
doch dem christlichen Westen als solcher erhalten.
Das Christentum entwickelte im Laufe seiner Geschichte Stätten, denen Heiligkeit
zugesprochen wurde. An diesen Orten erhoffte man sich eine Begegnung mit dem
Heiligen und das Entstehen einer besonderen Beziehung zu Gott und daraus re-
sultierend zu sich selbst. In den Kirchenbauten wurden liturgische Feiern und
Gottesdienste zelebriert.
3.2 Die Reformation und Luthers neues Verständnis heiliger Räume
Seit der Reformation wurde angestrebt, den gesamten Raum als ein liturgisches
Zentrum anzusehen, durchgehende Bänke im Mittelschiff, gruppiert um die Kan-
zeln, sind den Kirchen römischen Ritus` zu verdanken, damit das Volk ohne Stö-
20
Kahlefeld, H., Theologische Bemerkungen zum Kirchenbau, 20; so auch: Soeffner, H.G.,
Kirchliche Gebäude, 128. In den Evangelien ist zudem eine Konzentration auf geographische
Gegebenheiten zu beobachten.
21
Ausführliche Informationen zur Basilika in: Emminghaus, J.H., Gottesdienstliche Raum, 377ff.
­ Zeitgleich mit der Basilika entwickelten sich die oktogonalen Kirchen, die sich aber vor allem in
der griechisch- orthodoxen Kirche durchsetzten, während die Westkirche bei dem Bautyp Basilika
bleibt.
22
Vgl. Richter, K., 55.
23
Ebd.
24
Vgl. Schwebel, H., Kirchenbau-Raum-Gemeinde, 134.

9
rungen in den Altarraum sehen konnte. Vorheriges ungezwungenes Bewegen im
Kirchenraum, wie knien, stehen oder umhergehen war nun nicht mehr möglich.
25
,,Kirchen müssen Räume sein, in denen uns Wort und Sakrament vermittelt wer-
den."
26
(Strasser) Martin Luther benennt drei Dinge, die den Bau einer Kirche
begründen: das Zusammenkommen der Christen, das Hören auf Gottes Wort und
die Antwort der Gemeinde in Gebet und Danksagung. Für Luther gibt es kein
Gebäude, das als Bauwerk heilig wäre. Seinen Wert erhält das Kirchengebäude
erst durch das, was darin geschieht. Im ,,Sermon von den guten Werken" aus dem
Jahr 1520, in dem es um die Darstellung der Kraft des Gebetes geht, betont Lu-
ther, daß dieses Gebet unabhängig von einem heiligen Raum, einem Kirchenraum
oder einem anderen Alltagsgebäude, die gleiche Kraft hat, bzw. eine ungleich
höhere als das unaufrichtige Gebet in einem Kirchenraum.
27
In der Einweihungs-
predigt für die Schloßkapelle von Torgau (1544) begründet Luther, warum Kir-
chen erbaut werden sollten.
28
Kirchen sollen zu dem Zweck errichtet werden, ,,daß
nichts anders darum geschehe, denn das unser lieber Herr selbst mit uns rede
durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit jm reden durch Gebet und Lobge-
sang".
29
Kirchengebäude sind Gebäude wie jedes andere Haus. Sie sind zweck-
dienlich, und wenn sie diesen Zweck nicht mehr erfüllen, erscheint es legitim, sie
abzureißen (wie man es auch mit anderen Häusern tut). Hier zeigt sich die Sorge
Luthers, daß Kirchengebäuden außerhalb der Verkündigung und der Versamm-
lung eine besondere Sakralität zugesprochen werden könnte. Kirchengebäude aber
sollen ihrem Zweck, die Predigt zu hören, Christus zu begegnen und die Sakra-
mente zu empfangen, treu bleiben.
30
Gott liegt nicht an einem schönen Haus, ihm
liegt allein daran, daß sein Wort gepredigt und gehört wird. Es ist für Luther ein-
sichtig, daß um Predigt und Sakrament auch ein Haus gebaut wird, dennoch ist die
Reihenfolge entscheidend. Es geht erst um die Verkündigung des Evangeliums,
welche sichergestellt werden muß, dann kann das jeweilige Haus gebaut werden.
Zwar wird der Raum benötigt, um eine Gottesbeziehung zu ermöglichen, jedoch
gewährt er keine besondere Nähe zu Gott außerhalb der Verkündigung.
31
Luther geht es hauptsächlich um die alltägliche Dimension des Gottesdienstes, die
Durchdringung des Alltags mit dem Gottesdienst, die eine Aufwertung Leben
nach sich zieht. Das Allerheiligste ist der Ort, zu dem sich die christliche
Gemeinde auch in ihrem Alltag immer wieder hinbewegen muß, im Hin und Her
25
Vgl. Grethlein, C., Grundfragen, 154.
26
Zitiert nach: Werner, C.M., Das Ende des ,Kirchen`- Baus, 192.
27
Vgl. Raschzok, K.,,,...an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden"(Martin Luther), 100f.
28
Vgl. Koch, E., Wirkungsgeschichte der Reformation für den Kirchenbau, 202ff.
29
WA 49, 588.
30
Vgl. Raschzok, K., Martin Luther, 102.
31
Vgl. Schwebel, H., Kirchenbau-Raum-Gemeinde, 136.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832481339
Dateigröße
338 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Kirchenprovinz Sachsen – unbekannt
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
3
Schlagworte
theologie ästhetik raumfragen semiotik anthropologie
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