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Umgang mit geistig Behinderten in der Gesellschaft

©2003 Magisterarbeit 94 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Wo trifft man in der heutigen Zeit Menschen mit einer geistigen Behinderung? In der Schule oder im Arbeitsalltag? Beim Einkaufen, in der Arztpraxis, im Schwimmbad oder im Fitnessclub? Oder vielleicht im Kino?
Man muss sich in unserer Gesellschaft ganz bewusst vornehmen, in Kontakt mit „andersartigen Menschen“ zu kommen. Für einen solchen Schritt müssen Hemmungen, Vorurteile und nicht selten Ängste vor dem Fremden überwunden werden. Warum aber sollte man sich dazu entschließen? Wer würde sich freiwillig den erwarteten Unannehmlichkeiten und - für viele Menschen sogar peinlichen - Konfrontationen aussetzen? Wird man sich als „normaler Mensch“ in eine Anstalt, eine betreute Wohngemeinschaft oder eine Behindertenwerkstatt begeben? Wohl kaum. In den Köpfen wie auch in der Realität wird das Andersartige und damit scheinbar Unbequeme gemieden und verdrängt.
Und doch gibt es sie, die geistig Behinderten, in unserer Umgebung und sie haben ein gesetzlich festgelegtes Recht auf ein menschenwürdiges, also normales, Leben. Deswegen geht es um die Normalisierung der Verhältnisse, darum, dass geistig Behinderte ganz einfach ein Stück des Lebensumfeldes sind. An dieser Stelle setzen integrative Projekte an. So gibt es beispielsweise kunstgewerbliche Werkstätten in denen mit Ton, Leinwand und vielen anderen Materialien gearbeitet wird. Die dort gefertigten Produkte sind professionelle künstlerische Arbeiten und werden auch als solche verkauft. Man findet Musikgruppen, Fotoprojekte, Workshops und ganze Festivals, die eine breite Öffentlichkeit ansprechen und so auch Aufmerksamkeit in den Medien erregen. Bei diesen Aktivitäten spielt natürlich der Therapieeffekt für die Behinderten eine Rolle. Aber gleichzeitig geht es um Brücken zu jenen Menschen, deren Bewusstsein „das Fremde“ gern ausblendet, weil es unbequem ist.
Und so gibt es Theater, welche die Innenwelt ihrer Protagonisten auf die Bühne bringen und eine erste Bewegung aufeinander zu ermöglichen. Im Theater befindet sich der Zuschauer in der aufnehmenden Position und erhält einen bewegenden Einblick in die Probleme dieser Menschen. Er wird auch über das Theatererlebnis hinaus zur Auseinandersetzung mit der Lebenswelt geistig Behinderter angeregt.
Eine solche, vor allen Dingen emotionale, Beschäftigung mit dieser „anderen Welt“ fordert die Theatergruppe „RAMBA ZAMBA“ mit ihren aufrüttelnden Stücken heraus. Mit expressiven Themen und rasanten Inszenierungen schaffen es die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Zur Etymologie des Begriffs Geistige Behinderung
1.1 Definition des Begriffs Behinderung
1.2 Verbale Kennzeichnung Geistiger Behinderung

2. Zur Geschichte des Umgangs mit geistig Behinderten im europäischen Kulturkreis
2.1 Die Urzeit
2.2 Mesopotamien
2.3 Das Alte Ägypten
2.4 Griechische Antike
2.5 Römisches Reich
2.6 Frühes Christentum
2.7 Das Mittelalter
2.8 Renaissance
2.9 Aufklärung
2.10 Industrialisierung
2.11 20. Jahrhundert

3. Die Anderen und das Anderssein Über den Umgang mit geistig Behinderten in verschiedenen Religionen und Ethnien
3.1 Afrika
3.1.2 Beispiel Senegal
3.2 Amerika
3.2.1 Indianische Kulturen
3.3 Asien
3.3.1 Hinduismus am Beispiel Indien
3.3.2 Buddhismus
3.3.3 Buddhisten, Christen und Konfuzianer in Süd-Korea
3.3.4 Judentum
3.3.5 Islam – angesiedelt sowohl in Asien als auch in Nordafrika
3.4 Australien
3.4.1 Polynesische Kulturen am Beispiel Tonga
3.4.2 Polynesische Kulturen am Beispiel Samoa
3.5 Zusammenfassung

4. Zum Umgang mit Geistiger Behinderung heute Einstellungen und Verhalten gegenüber geistig Behinderten in der westlichen Kultur

5. Zur Situation geistig Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland
5.1 Geistig behinderte Kinder
5.1.1 Der Elementarbereich
5.1.2 Während der Schulzeit
5.2 Geistig behinderte Jugendliche und Erwachsene
5.2.1 Zur Wohnsituation
5.2.2 Das Arbeitsleben
5.2.3 Freizeit im Leben geistig behinderter Menschen

6. Erfahrungen: Der Blick von Innen
6.1 Kreative Freizeitgestaltung
Produktives Reisen
Texte und Bilder

Fazit

Abbildungsnachweis

Literatur

„Dabei erkenne ich keinen Unterschied an zwischen Menschen und anderen natürlichen Individuen, auch nicht zwischen vernunftbegabten Menschen und anderen, die die wahre Vernunft nicht kennen, noch zwischen Blödsinnigen und Geisteskranken und geistig Gesunden. Denn was jedes Ding nach den Gesetzen der Natur tut, das tut es mit höchstem Recht, weil es nämlich handelt wie es von der Natur bestimmt ist.“

(aus: Baruch de Spinoza, „Theologisch-Politischer Traktat“)[1]

EINLEITUNG

Wo trifft man in der heutigen Zeit Menschen mit einer geistigen Behinderung? In der Schule oder im Arbeitsalltag? Beim Einkaufen, in der Arztpraxis, im Schwimmbad oder im Fitnessclub? Oder vielleicht im Kino?

Man muss sich in unserer Gesellschaft ganz bewusst vornehmen, in Kontakt mit „andersartigen Menschen“ zu kommen. Für einen solchen Schritt müssen Hemmungen, Vorurteile und nicht selten Ängste vor dem Fremden überwunden werden. Warum aber sollte man sich dazu entschließen? Wer würde sich freiwillig den erwarteten Unannehmlichkeiten und - für viele Menschen sogar peinlichen - Konfrontationen aussetzen? Wird man sich als „normaler Mensch“ in eine Anstalt, eine betreute Wohngemeinschaft oder eine Behindertenwerkstatt begeben? Wohl kaum. In den Köpfen wie auch in der Realität wird das Andersartige und damit scheinbar Unbequeme gemieden und verdrängt.

Und doch gibt es sie, die geistig Behinderten, in unserer Umgebung und sie haben ein gesetzlich festgelegtes Recht auf ein menschenwürdiges, also normales, Leben. Deswegen geht es um die Normalisierung der Verhältnisse, darum, dass geistig Behinderte ganz einfach ein Stück des Lebensumfeldes sind. An dieser Stelle setzen integrative Projekte an. So gibt es beispielsweise kunstgewerbliche Werkstätten in denen mit Ton, Leinwand und vielen anderen Materialien gearbeitet wird. Die dort gefertigten Produkte sind professionelle künstlerische Arbeiten und werden auch als solche verkauft. Man findet Musikgruppen, Fotoprojekte, Workshops und ganze Festivals, die eine breite Öffentlichkeit ansprechen und so auch Aufmerksamkeit in den Medien erregen. Bei diesen Aktivitäten spielt natürlich der Therapieeffekt für die Behinderten eine Rolle. Aber gleichzeitig geht es um Brücken zu jenen Menschen, deren Bewusstsein „das Fremde“ gern ausblendet, weil es unbequem ist.

Und so gibt es Theater, welche die Innenwelt ihrer Protagonisten auf die Bühne bringen und eine erste Bewegung aufeinander zu ermöglichen. Im Theater befindet sich der Zuschauer in der aufnehmenden Position und erhält einen bewegenden Einblick in die Probleme dieser Menschen. Er wird auch über das Theatererlebnis hinaus zur Auseinandersetzung mit der Lebenswelt geistig Behinderter angeregt.

Eine solche, vor allen Dingen emotionale, Beschäftigung mit dieser „anderen Welt“ fordert die Theatergruppe „RAMBA ZAMBA“ mit ihren aufrüttelnden Stücken heraus. Mit expressiven Themen und rasanten Inszenierungen schaffen es die Schauspieler und Musiker dieser Gruppe, Verbindungen zwischen ihrer Wirklichkeit und der Erlebniswelt der Rezipienten herzustellen.

Das persönliche Theatererlebnis hat für mich eindringlich die Bedeutung solcher Initiativen im Bemühen um eine Normalisierung gezeigt. Nach wiederholten Aufführungsbesuchen und der ersten Kontaktaufnahme sind menschliche Beziehungen zu den Betroffenen und ihren Bezugspersonen entstanden, die zum Hintergrund meiner theoretischen Beschäftigung gehören und meine Arbeit begleitet haben. Um einen lebendigen Einblick in den Theateralltag der Schauspieler und Musiker von „RAMBA ZAMBA“ zu geben, besteht ein Teil der Magisterarbeit aus einer Videodokumentation. Dieser Film spricht für sich selbst und bedarf daher keiner gesonderten Einleitung.

Im schriftlich-theoretischen Teil befasse ich mich mit der Frage nach der Position geistig behinderter Menschen im sozialen Gefüge. Bis heute wurde zur Stellung Behinderter allgemein schon sehr viel geforscht.[2] Was mir fehlte, war ein historischer Überblick und eine Zusammenstellung von Aspekten des heutigen Umgangs mit geistig Behinderten. Außerdem ist es mir wichtig, diesen Blick „von außen“ in Beziehung zum Erleben der Betroffenen zu setzen. Bisher wurden beide Bereiche zumeist getrennt voneinander besprochen. Aus diesem Grund habe ich den Text wie folgt gegliedert:

Die Geschichte des Umgangs mit geistiger Behinderung ist auch eine Geschichte ihrer Interpretation. Zur Verdeutlichung dieser Tatsache stelle ich am Anfang der Arbeit Gesichtspunkte zu einem historischen Überblick zusammen. Die ersten beiden Kapitel setzen sich unter anthropologischen Gesichtspunkten mit dem Phänomen geistige Behinderung auseinander. Dabei geht es zunächst um den Wandel der Bezeichnungen, mit denen geistige Behinderung umschrieben wurde und wird. An dieser Stelle werde ich auf die Diskussion um die moralisch richtige Verwendung der Termini eingehen. Im Anschluss daran sollen Textbeispiele aus der philosophischen Literatur und Beschreibungen von Zeitzeugen eine Annäherung an das Bild von der geistigen Behinderung durch die Jahrhunderte ermöglichen. Dabei werde ich jene Kulturen und sozialen Systeme berücksichtigen, auf die sich unsere Gesellschaft beruft.

Um den Umgang mit geistig Behinderten in verschiedenen Ethnien zu erläutern, habe ich im dritten Kapitel Beispiele für Modelle und gesellschaftliche Konstruktionen in archaischen Kulturen und in nichtchristlichen Religionen zusammengetragen.

Im Vergleich dazu lassen sich Reaktionen und Verhaltensweisen gegenüber geistig Behinderten in unserer heutigen Kultur einordnen. So benenne ich im vierten Teil gesellschaftstheoretische Definitionen. Außerdem werde ich Erklärungsmuster für den Umgang mit geistig Behinderten und Prinzipien der Kategorisierung vorstellen. Daran schließt sich fünftens eine Darstellung der tatsächlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland an. Der Focus dieses Kapitels liegt auf den Lebensumständen geistig behinderter Menschen. Hier berufe ich mich auf die neuesten Quellen zum Thema.[3] Die Darstellung der Sachlage aus der Sicht der Pädagogen, Betreuer und Wissenschaftler bildet ein Gegengewicht zu den eigenen Ansichten der eingeschlossenen Menschen.

So besteht der sechste Teil der Arbeit hauptsächlich aus Beispielen. Es geht um die Innensicht der Betroffenen. In Form von Interviews und literarischen Quellen kommen hier geistig Behinderte mit ihrer ganz persönlichen Sicht zu Wort.

Im siebten und letzten Teil werde ich die aufgestellten Thesen mit den gewonnenen Eindrücken vergleichen. Aus der Zusammenstellung der Arbeit ergeben sich die wichtigsten Leitfragen. Der historische Hintergrund bietet eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Thema. Hier stellt sich die Frage nach dem Wandel der Bezeichnungen und nach dem Umgang mit geistig Behinderten durch die Jahrhunderte. Den zusammengetragenen Beispielen und der daraus gewonnenen Quintessenz stehen Umgangsformen aus jenen Kulturen gegenüber, die nur wenig von den monotheistischen Weltreligionen geprägt worden sind. Gibt es heute Rückkopplungen zwischen den Gesellschaftssystemen? Zu guter Letzt möchte ich die Außensicht der Betreuer und Forscher mit den Reflektionen der Betroffenen in Beziehung setzen.

Die Beantwortung der Leitfragen schlägt den Bogen zum filmischen Beispiel dieser Arbeit, dem Porträt der Theatergruppe „RAMBA ZAMBA“.

„Einen Anderen aber als Menschen zu nehmen heißt zunächst, ihn als Menschen wie sich selbst anzuerkennen“

(aus: Franz Fühmann: „Was für eine Insel in was für einem Meer“)[4]

1. Zur Etymologie des Begriffs Geistige Behinderung

Vorangestellt sei an dieser Stelle, dass die folgenden Definitionen auf dem westlichen Kulturverständnis beruhen. Durch die Jahrtausende finden sich in verschiedenen Sprachen regelmäßig neue Bezeichnungen für die Beschreibung einer geistigen Behinderung. Der heutige Terminus ist das Produkt einer ständigen Wandlung der Zuordnungen. Es gab immer wieder Momente, in denen die Stigmatisierung und Segregation durch einen dieser Begriffe so unerträglich wurde, dass ein neues Wort für die Betroffenen gefunden werden musste. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung der Bezeichnung „Idiot“. Noch im neunzehnten Jahrhundert war sie nicht so negativ belegt wie heute: es gab „Idiotenanstalten“ und Vereine wie die „Idiotenfreunde“. Heute gibt es eine Diskussion in Fachkreisen darüber, ob man den Ausdruck „geistige Behinderung“ überhaupt noch guten Gewissens verwenden darf.

1.1. DEFINITION DES BEGRIFFS BEHINDERUNG

Um den Terminus geistige Behinderung einordnen zu können, stelle ich zunächst eine Erläuterung des allgemeinen Behinderungsbegriffs voran. Im deutschen „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“ heißt es:

Von Behinderung spricht man, wenn körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit eingeschränkt sind und diese Einschränkungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht nur vorübergehend beeinträchtigen.[5]

Die World Health Organisation (WHO) unterschied im Jahr 1980 zwischen Schädigungen und Behinderungen. Es wurde eine Klassifikation in drei Ebenen erstellt:

1. IMPAIRMENT (Schädigung): Störung auf der organischen Ebene, also den menschlichen Organismus allgemein betreffend.
2. DISABILITY (Behinderung): Störung auf der personalen Ebene mit einer Bedeutung für einen konkreten Menschen.
3. HANDICAP (Benachteiligung): Mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene. Es erwachsen Nachteile, die eine betreffende Person daran hindern in altersgemäßem Rahmen an sozialen Aktivitäten teilzunehmen oder entsprechende soziale Rollen einzunehmen.[6]

Für die Betrachtung des Umgangs mit geistig Behinderten ist der dritte Punkt, im Englischen handicap, entscheidend. Erst durch negative Reaktionen der Umwelt auf Andersartige entstehen Nachteile für die Betroffenen. Die deutsche Übersetzung „Benachteiligung“ wird jedoch für die beschriebenen Sachlagen nicht verwendet – man erklärt diese zu einer sozialen Behinderung. Sogar in der englischen Sprache wird der Terminus disability für die gesellschaftlich-soziale Dimension verwendet. Die eben vorgestellte Dreiteilung bezieht sich auf Individuen und ist am Defekt orientiert.[7] In den letzten Jahren wurde diese Sichtweise geändert: im Jahr 2000 gab die WHO erneut eine Klassifikation heraus. Diese Fassung geht mehr in eine behindertensoziologische Richtung. GÜNTHER CLOERKES subsumierte die neuen Richtlinien folgendermaßen:

Nach diesem neuen Verständnis geht es um ein prozeßhaftes Geschehen mit drei Dimensionen unter Berücksichtigung von „Kontextfaktoren“. Jede Dimension läßt sich positiv und negativ ausdrücken. Funktionsfähigkeit kennzeichnet den positiven Aspekt, Behinderung den negativen Aspekt. (...) Die (...zweite Fassung) betont den gesellschaftlichen Kontext, in dem Menschen mit Behinderungen leben, sowie ihre positiven Möglichkeiten zu aktiver und selbstbestimmter Teilhabe als Ziel. Auch die außerordentliche Bedeutung der Einstellung gegenüber Behinderten wird jetzt gesehen.[8]

Der Begriff Behinderung impliziert demnach eine negative Bewertung der Andersartigkeit einer Person. Das ist der Grund, warum sich einige Kulturen entschieden gegen den Gebrauch dieses Wortes wehren. In der Sprache der polynesischen Inselgruppe Tonga wurde der Terminus Behinderung beispielsweise erst durch Missionare eingeführt. (mehr zur Tonganischen Kultur in Kapitel 3.4.1.) UTE MEISER, die zu Forschungszwecken zahlreiche Interviews mit Bewohnern Tongas führte, bekam bei Gebrauch des Wortes Behinderung oft folgende Reaktion:

Mein Kind ist nicht behindert. Es hat sich gut weiterentwickelt und kann gut arbeiten.[9]

Zurück zum europäischen Kulturkreis: In Bezug auf die soziale Reaktion unterschied CLOERKES in seiner Definition zwischen den Begriffen Behinderung und Behinderter. Nach seiner Ansicht ist die Behinderung

eine Andersartigkeit, der allgemein ein ausgeprägt negativer Wert zugeschrieben wird.

Der Behinderte dagegen ist

ein Mensch, der erstens eine entschieden negativ bewertete Andersartigkeit hat und der deshalb zweitens eine ungünstige soziale Reaktion auf sich zieht.[10]

Ein Beispiel für die Differenz zwischen den beiden Wortbedeutungen sind die unterschiedlichen Reaktionen auf das jeweilige Phänomen: während Blindheit als Behinderung außerordentlich negativ bewertet wird, ist die soziale Reaktion auf blinde Menschen als Behinderte vergleichsweise gemäßigt.[11] Für CLOERKES lautet daher die Quintessenz dieser Überlegungen:

Die Bewertung einer Behinderung und die soziale Reaktion auf Behinderte sind also zweierlei und strikt voneinander zu trennen.[12]

1.2. VERBALE KENNZEICHNUNG GEISTIGER BEHINDERUNG

Im Bundessozialhilfegesetz wurde 1975 folgende Einordnung veröffentlicht:

Geistig wesentlich behindert (...) sind Personen, bei denen in Folge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist.[13]

Bereits 2 Jahre vor dieser Erklärung war in einer Publikation der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zu lesen:

[...] geistig behindert ist, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen einher. Eine ‚untere Grenze’ sollte weder durch Angabe von IQ- Werten noch durch Aussprechen einer Bildungsunfähigkeit festgelegt werden, da grundsätzlich bei allen Menschen die Bildungsfähigkeit angenommen werden muß.[14]

Prinzipiell geben diese beiden Definitionen die gesellschaftliche Dimension geistiger Behinderung wieder. Aus diesem Grund werden sie, obwohl schon in den 1970er Jahren entstanden, noch heute in der Literatur über geistige Behinderungen zitiert. Aber an diesen Beispielen für die Begriffsklärung lassen sich noch nicht die Probleme mit dem Terminus geistige Behinderung an sich ablesen. DIETER GRÖSCHKE zeigte in dem Artikel „Geistige Behinderung: Reflexionen über ein Phantom“ folgende Schwierigkeiten auf:

Der Begriff der ‚geistigen Behinderung’ erscheint in letzter Zeit immer deutlicher als der problematischste Grundbegriff der an Problembegriffen nicht eben armen, kategorial verfahrenden Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik. Er wurde in den letzten Jahren (...) von verschiedenen Seiten definiert, intensiv erörtert, in Frage gestellt oder kategorisch verworfen. Trotz dieser Anfechtungen bildet er nach wie vor die zentrale Begrifflichkeit behindertenpädagogischen Denkens, Forschens und praktischen Handelns (...). Allerdings hat er seine allseitige Verbindlichkeit und bedenkenlose Gültigkeit endgültig eingebüßt.[15]

Wie kam es im Laufe der Geschichte zu verschiedenen Konstruktionen der Benennung geistiger Behinderung? Um welche Bezeichnungen handelte es sich und welchen Begriff kann man heute ohne Unbehagen verwenden? EMIL E. KOBI gab auf diese Fragen in seinem Artikel „Zur terminologischen Konstruktion und Destruktion Geistiger Behinderung“ systematisch Antwort. Er stellte zunächst eine Auflistung der wichtigsten Beschreibungen mit einer etymologischen Herleitung auf. Da ich im nächsten Kapitel die Geschichte des westlichen Kulturkreises im Umgang mit geistig Behinderten beleuchten möchte, sollen hier nur kurze begriffsgeschichtliche Beispiele folgen.[16]

a) morionen: Wurde im altrömischen Sprachgebrauch für Narren verwendet. Das Wort hat griechische Wurzeln mit der Bedeutung ‚Dummheit’, ‚Stumpfsinn’, ‚Apathie’. Die Benennung stammt vom psycho-sozialen Erscheinungsbild der betreffenden Menschen. Bis heute gibt es im Englischen moron als Bezeichnung für Schwachsinniger.

b) Monstren: Wird aus der altrömischen religiösen Terminologie abgeleitet. Das monstrum bedeutet ‚Scheusal’/ ‚Ungeheuer’ und im eigentlichen Sinn Mahnzeichen und Warnzeichen der Götter, eine naturwidrige Erscheinung.

c) Idioten: Hat bereits im altgriechischen ein breites Bedeutungsspektrum. Es bedeutet eigen/ eigenartig und umfasst Privatmänner und Laien im Unterschied zu Fachmännern. Im 16.Jahrhundert wurde der Begriff Idiot im griechisch-lateinischen Sinn „Laie, ungelehrter und ungebildeter Mensch“ entlehnt. Diese Bedeutung hielt sich in Deutschland bis in das 19.Jahrhundert hinein. Erst durch die Einengung des Begriffs auf die tiefste Stufe des Schwachsinns (siehe 1.2.f) wurde er möglicherweise zum Schimpfwort.

d) Blödsinnige: Seit dem 16.Jahrhundert ist das Adjektiv ‚blödsinnig’ im Sinne von ‚dumm’/ ‚schwachsinnig’ gebräuchlich. JOHANN HEINRICH PESTALOZZI (1746-1827) bediente sich der Bezeichnung in seinen „Aufsätzen über die Armenanstalt auf dem Neuhofe.“ Er ging davon aus, dass auch blödsinnige Kinder bildbar seien.[17]

e) Schwachsinnige: Diese Bezeichnung hat sich in der medizinisch-psychiatrischen Literatur bis in die Gegenwart gehalten. Sie wurde als Etikett für sämtliche Arten der geistigen Behinderung benutzt. Der wiederholten Kritik, dass es sich bei dieser Art der Behinderung nicht um eine Schädigung der Sinnestätigkeit sondern um eine Einschränkung der Denkfähigkeit handele, wurde bis vor Kurzem kaum Gehör geschenkt. Vielleicht liegt der Ursprung dieser Wortschöpfung aber auch in der Benennung ‚sich besinnen’ oder ‚nachsinnen’. Das käme der gemeinten Bedeutung eher nah.

Die folgenden Begriffe werden bis heute im deutschen Sprachraum verwendet. Sie sollen trotzdem nicht ohne kritische Einordnung genannt werden:

f) Oligophrene: Ist der medizinisch gebräuchliche „wissenschaftliche“ Oberbegriff für geistig Behinderte. In der Oligophrenie sind alle geistigen Behinderungen und Lernbehinderungen gefasst, wenn sie seit frühester Kindheit bestehen. Kognitive Abbauprozesse im Erwachsenenalter werden dagegen mit der Bezeichnung ‚Demenz’ belegt. Abgeleitet wird Oligophrenie aus dem griechischen oligo (‚wenig’) und frena (eigentlich ‚Zwerchfell’ als Sitz der Seele und des Verstandes). Unter dieser Bezeichnung wurden schon sehr früh Graduierungen vorgenommen:

Leichtester Grad: Debilität leitet sich von lateinisch debilis, entspricht ‚schwächlich’, ab und entspricht etwa einer Lernbehinderung.

Mittlerer Grad: Imbezillität stammt aus dem Lateinischen. Es heißt in/bacillus: ‚ohne Stäbchen’ und bedeutet ‚haltlos’ und ‚schwach’.

Schwerster Grad: Idiotie kommt aus dem Altgriechischen. (siehe oben: 1.2.c.)

g) Intelligenzdefekte: Seit der Zeit der Aufklärung kam ‚Intelligenz’ in den sprachlichen Gebrauch. Der Bergiff leitet sich aus dem lateinischen ‚intellegere’ ab, was soviel bedeutet wie ‚innewerden’ und ‚einsehen’. In Zusammenhang mit dieser Bezeichnung wurden IQ-Skalen zur Graduierung der Defekte entworfen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Inwieweit die angewendeten Verfahren zur Ermittlung des Intelligenzquotienten auf soziale Kompetenzen oder personale Eigenschaften der getesteten Personen eingehen können, ist fragwürdig. Die Ergebnisse solcher Tests sind in erheblichem Maße von der Art des Prüfverfahrens und von der Definition des zugrunde gelegten Intelligenzbegriffs abhängig.

h) Mental Retardierte: Ist eine Bezeichnung aus dem englischen Begriffslexikon. Es wird ein Vergleich geistig Behinderter mit dem Psychostatus nicht behinderter, jüngerer Kinder gezogen. Dazu KOBI:

Geistigbehinderte sind nicht ‚Grosse Kinder’ und werden durch derartige Vorstellungen in problematischer Weise infantilisiert.[18]

i) Geistesschwache: Auch hier brachte KOBI die Ambivalenz des Terminus auf den Punkt:

Die Vagheit des Begriffs lässt (...) das ganze Spektrum vorgenannter Bedeutungsvarianten zu:

Menschen, die nicht teilhaben am göttlichen Geist und daher keine sind,

die auch nicht von einem Weltgeist be-‚geistert’ sind und daher als geistig tot gelten können,

die weder passiv noch aktiv teilhaben am objektivierten Geist der Kulturgüter und daher kulturhindernd sind,

die im zwischenmenschlichen Verkehr nicht mit ésprit, geistesgegenwärtig und geistreich in Erscheinung treten, da es ihnen im intellektualistischen Sinne des Wortes an Geist fehlt.[19]

k) Geistig Behinderte: Dieses Wort kam 1958 durch Eltern in Umlauf und sollte die als verletzend empfundene Bezeichnung „Schwachsinnige“ ablösen. Allerdings liegt auch in dieser Wortkombination der Schwerpunkt auf einem Defizit – der Behinderung. Es fällt auf, dass die indirekt Betroffenen trotz der Erfahrungen mit Euthanasie im Naziregime noch immer auf eine abwertende Bezeichnung zurückgriffen.

l) Mandatäre Titel: Die Rede ist hier zum Beispiel von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ oder „mit speziellem Förderbedarf“. Der Akzent wird von der behinderten Person auf die mitmenschliche Aufgabe gelegt, die am geistig Behinderten zu erfüllen ist. In diesem Zusammenhang stehen auch Egalisierungsbestrebungen und Apologien. Dazu gehören Formulierungen wie: „Haben ein Recht auf“, „Wie du und ich“, „Auch Menschen“ oder „Sollen auch dürfen“.

Die oben genannten noch heute gebräuchlichen Umschreibungen für geistige Behinderung unterliegen seit geraumer Zeit einer wachsenden Dekonstruktion:

Seit etwas mehr als zwei Dezennien greift [...] eine Tendenz um sich, das Phänomen Geistige Behinderung sowohl wie den Personenverhalt Geistig Behinderte durch Wortentzug, Tabuisierung und Entgrenzung (De- Definition) aufzulösen. Ausmass, Stossrichtung und verbales Instrumentarium sind allerdings zu verschieden und überdies zu wenig bedacht, als dass dahinter eine konzertierte Aktion zu erkennen wäre. Wahrscheinlich handelt es sich mehr um eine um Positivierung bemühte Stimmungswelle im Mainstream gutmenschelnder Political und Pedagogical Correctness, um Vermischungen von Virtual und Social Reality und einen damit verbundenen Hang zur Wort- und Zeichenmagie.[20]

Eine solche Demontage hat zur Folge, dass Bezeichnungen kaum noch einen einheitlichen begrifflichen Inhalt haben. Jede Einordnung hängt von der individuellen Interpretation des jeweiligen Betrachters ab. Außerdem entzieht sich der Verwender dem direkten Zugriff potenzieller Kritiker. Mit den Möglichkeiten des „Sogenanntismus“ und der Apostrophierung verweist man auf frühere Urheber der Ausdrücke, und übernimmt so keine Verantwortung für die verletzenden Seiten oder Stigmatisierungen, die bestimmten Bezeichnungen zugeschrieben werden können. Aus diesem Grund bleibe ich in dieser Arbeit bei dem Begriff geistig Behinderte und gehe davon aus, dass seine Ambivalenz nicht in Vergessenheit gerät. Das Wichtigste ist wohl in dem Zitat am Anfang dieses Kapitels zum Ausdruck gekommen: Solange man sich auf Augenhöhe gegenüber tritt, werden Missverständnisse auf der gleichen Ebene geklärt.

„Tollwütige Hunde schlagen wir nieder; einen widerspenstigen und unbezähmbaren Stier töten wir, und krankes Vieh, dass es nicht die Herde anstecke, schlachten wir, Missgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und missgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern.“

(aus: Lucius Annaeus Seneca:

„Über den Zorn“)[21]

2. Zur Geschichte des Umgangs mit geistig Behinderten im europäischen Kulturkreis

Die Geschichte des Umgangs mit geistig Behinderten in Europa ist von einer ständigen Ambivalenz geprägt. Einerseits gab es Bemühungen um Eingliederung und positive Wertschätzung, andererseits aber Tendenzen zu Ausgrenzung, Stigmatisierung und sogar Eliminierung. MARKUS DEDERICH schrieb auf der Suche nach Gründen für diesen Zwiespältigkeit:

(Diese) hat, so ist zu vermuten, sehr tiefe und weitreichende Ursachen, deren Wurzel nach Auffassung mancher Philosophen ein auf Verbesserung, ja Erlösung der Menschen und der Welt abzielendes Heilsdenken ist. In diesem Sinne wäre die Eugenik als uraltes Projekt zu verstehen: Der Traum von der Wohlgeratenheit des Menschen und von einem immer besseren, glücklicheren, leidensfreieren Leben. Im Lichte dieser Vermutung ist der gegenwärtige Aufschwung der Gentechnologie als ein neuer Abschnitt der bereits zweieinhalb Jahrtausende währenden Heilsgeschichte zu verstehen.[22]

Wo liegen also die Ursprünge heutiger Verhaltensweisen? Berufen wir uns auf die Alten Griechen und gleichzeitig auf christlich-karitative Handlungsanweisungen? Im folgenden Kapitel möchte ich anhand verschiedener Quellen einige Richtlinien für den Umgang mit geistig Behinderten aufzeigen. Dass diese nur begrenzt Einfluss auf die Verhaltensweisen nicht Behinderter hatten, lässt sich durch entsprechende Aussagen von Zeitzeugen belegen.

2.1 DIE URZEIT

Aus der Zeit der Urgeschichte gibt es nur relativ wenige Zeugnisse über den Umgang mit geistig Behinderten. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich um nonliterare Kulturen handelte. Die wenigen Knochenfunde lassen gelegentlich auf Behinderungen schließen. Aus der Art der Beisetzung und Grabbeigaben konnten Forscher den Stellenwert der Betroffenen in der sozialen Gemeinschaft ableiten. Aufgrund der zeitlichen Distanz und der nomadisierenden Lebensweise urzeitlicher Völker sind jedoch selbst die Grabstättenfunde selten. Die wenigen Skelettfunde, die vollständig und somit auswertbar waren, lassen allenfalls Vermutungen über den Umgang mit körperlich Behinderten zu.[23]

Bis in die 1970er Jahre existierte die Annahme, dass behinderte Mitglieder der Urgemeinschaft aus der Horde ausgeschlossen wurden, weil sie sonst der umherziehenden Gruppe zur Last gefallen wären. Gegen diese These sprechen beispielsweise Ausgrabungsfunde aus der Tschechischen Republik. Schon 1936 wurde die künstlerische Abbildung eines Frauenkopfes gefunden, der eine auffällige Anomalie des Gesichtes zeigte. Zwölf Jahre später entdeckte man, nicht weit von der ersten Fundstelle entfernt, eine maskenartige Schnitzerei aus Mammutelfenbein, die ähnliche Merkmale aufwies. Im Jahr 1949 schließlich fand man die Grabstätte einer grazilen, etwa 40 jährigen Frau, deren Schädel sich durch eine asymmetrische Verformung auszeichnete. Besonders außergewöhnlich fanden die Forscher die pathologische Deformation der linken Gesichtshälfte, die sich an den gestalteten Abbildungen ebenfalls feststellen ließ. Aufgrund der besonders ehrenvollen Bestattung des weiblichen Leichnams und der wiederkehrenden künstlerischen Darstellung des entstellten Gesichtes gingen Forscher von einer exponierten Stellung dieser Frau in der Stammesgesellschaft aus. Man vermutete eine Beraterinnen- oder sogar Heilerinnen-Funktion.[24]

Aus der Frühgeschichte gibt es noch weitere Beispiele für die Integration körperlich Behinderter. Vor allen Dingen Verletzungen aus Kampfhandlungen, die letztlich zu Behinderungen führten, wurden nachweislich behandelt. LUDWIG REISCH bemerkte dazu in seinem Artikel „Zum Umgang mit Behinderten in urgeschichtlicher Zeit“:

Die Fürsorge für kranke und behinderte Gruppenangehörige [...] scheint keine Ausnahme gewesen zu sein, denn gut verheilte schwere Verletzungen mit fehlenden oder doch nur geringen Anzeichen einer Wundinfektion, die auf günstige Bedingungen schließen lassen, finden sich noch an einer ganzen Reihe weiterer Neandertalerreste aus West- und Mitteleuropa sowie vom Balkan.[25]

Über den Umgang mit geistigen Behinderungen ist noch weit weniger bekannt. Eines der seltenen Zeugnisse ist der Fund des Skeletts eines offensichtlich geistig behinderten Neandertalerkindes, das an Hydrocephalie („Wasserkopf“) litt. Der Leichnam dieses Kindes wurde inmitten der Gemeinschaft beigesetzt. Aus dieser Tatsache könnte man den Schluss ziehen, dass das Kind durchaus seinen Platz im sozialen Gefüge hatte.[26]

2.2 MESOPOTAMIEN

In Mesopotamien liegen die Wurzeln abendländischer Kultur. Aus diesem Grund darf es in dieser Kulturgeschichte nicht fehlen, obwohl dieses Gebiet geografisch nicht zu Europa gezählt werden kann. Aus dem antiken Zweistromland sind bereits schriftliche Aufzeichnungen aus assyrischer Zeit überliefert. In einer Sammlung von Sprichwörtern aus dem 2. vorchristlichen Jahrtausend heißt es:

Wenn in einer Stadt hinkende Frauen zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen.

Wenn in einer Stadt Idioten zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen.

Wenn in einer Stadt Idiotinnen zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen.

Wenn in einer Stadt Blinde zahlreich sind: Leid über die Stadt.

Wenn in einer Stadt Krüppel zahlreich sind: Zerstörung der Stadt.

Wenn in einer Stadt Anormale zahlreich sind: Zerstörung der Stadt.[27]

Erkennbar ist, dass man in dieser Epoche ein zwiespältiges Verhältnis zu Behinderungen hatte. Aus heute kaum nachvollziehbaren Gründen galten einige Behinderungen als heilig und andere als eine Strafe der Götter. Im Alltag trugen äußerliche Abnormitäten in vielen Fällen zur Namensgebung bei. Man nannte die so Gezeichneten nicht bei ihrem richtigen Namen sondern einfach „der Hinkende“, „der Lahme“, „die Blinzlerin“ oder „der Hässliche“.[28] Die Quellen aus den verschiedenen Hochkulturen des Zweistromlandes bieten nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung leider sehr wenig konkretes Material über den Umgang mit geistig Behinderten.

2.3 DAS ALTE ÄGYPTEN

Aus der Epoche des Alten Ägypten, wie Mesopotamien eine Kultur, die prägend für europäisches Denken war, sind bereits Vorschläge und Richtlinien für die Behandlung geistig Behinderter überliefert. Der Philosoph AMENEMOPE äußerte sich in seiner „Weisheitslehre“ so:

Erschwere nicht das Befinden eines Gelähmten.

Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand Gottes ist,

und sei nicht aufgebracht gegen ihn <als ob du > ihn angreifen wolltest.[...][29]

„In der Hand Gottes“ zu sein wird als euphemistische Umschreibung für Besessenheit und eine Einschränkung geistiger Autonomie gedeutet und hieß nichts anderes als unter einer geistigen Behinderung zu leiden. AMENEMOPE fuhr fort:

[...] Der Mensch ist Lehm und Stroh,

der Gott ist sein Baumeister.

Er zerstört und erbaut täglich,

er macht tausend Geringe nach seinem Belieben,

er macht tausend Leute zu Aufsichtspersonal,

wenn er in der Stunde des Lebens ist.

Wie freut sich, wer den Westen erreicht,

wenn er (dann) bewahrt ist vor der Hand des Gottes.[30]

Im altägyptischen Glauben wurde die Auffassung vertreten, dass Menschen, die im irdischen Leben litten, ein besseres Leben nach dem Tod hätten. Man meinte, wenn Behinderungen einen Menschen zu Lebzeiten beschwerten, würden sie nach dem Tod wieder von ihm genommen. Der Verstorbene erreiche das Jenseits , den „Westen“, in unversehrtem Zustand. Er wäre körperlich und geistig wieder intakt. HANS-WERNER FISCHER-ELFERT schrieb dazu in seinem Artikel „Über den Umgang mit Behinderten im Alten Ägypten:

Der Mangelzustand wird dereinst aufgehoben, ist also nur ephemer Natur. Diese Vorstellung wird erst vor dem Hintergrund der doch ewig währenden jenseitigen Existenz voll verständlich, im Vergleich zu der das irdische Leben nurmehr eine „Stunde“ dauert, wie es eine ältere Lehre formuliert. Eine ewige Existenz als Versehrter ist aber nach ägyptischer Anthropologie schlicht undenkbar.[31]

Obwohl AMENEMOPE in seiner oben zitierten „Weisheitslehre“ Verhaltensregeln aufstellte, sah der Alltag geistig Behinderter wohl weniger freundlich aus. So ging man im Alten Ägypten von der Annahme aus, dass „in der Hand des Gottes“ hieße, sich „unter der strafenden Manifestation des Gottes“ zu befinden. Nach spätzeitlichen Tempeltexten hatten solche Menschen, auch wenn sie unter „Verhexung eines Zauberers“ ständen, keinen Zutritt zum Tempelinneren. Man wies sie an, sich in der Nähe der Tempel aufzuhalten, Einlass bekamen sie jedoch nicht. Das Verbot an die Besessenen, den heiligen Bezirk zu betreten, ist wahrscheinlich nicht die einzige Form der Ausgrenzung gewesen. Man geht in der heutigen Forschung davon aus, dass diese Menschen auch nur sehr begrenzt an kultischen Handlungen teilhaben durften. Diese Einschränkung der Teilnahme am religiösen Leben muss eine schwere Demütigung gewesen sein und bedeutete in der Praxis den Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben.

2.4 GRIECHISCHE ANTIKE

Eindeutige Hinweise für das Vorgehen gegen unerwünschte „Elemente“ in der Gemeinschaft gab es in Griechenland. PLATON (427- ca. 347 v. Chr.) schrieb sich in seinem philosophischen Werk „Politheia“ dazu folgendes:

Die Kinder der untüchtigen Eltern und

etwaige verkrüppelte Kinder der tüchtigen werden sie

an einen geheimen Ort bringen...

so müssen sie mit dem Kinde verfahren,

als sei keine Nahrung für dasselbe vorhanden.[32]

Diese Anweisungen halten sich an die Tradition des antiken Sparta. Dort war die Selektion und Eliminierung kranker und missgebildeter Neugeborener sogar gesetzlich vorgeschrieben. Man führte die Kinder der Versammlung der Ältesten vor. Dort wurde entschieden, ob sie in die Gemeinschaft aufgenommen werden konnten. Kinder, die nicht dem Ideal eines gesunden Menschen entsprachen, wurden in die Bergschluchten des Taygetos geworfen.[33]

In den Ratschlägen des berühmten Arztes HIPPOKRATES (460-377 v. Chr.) hieß es, dass sich eine medizinische Behandlung primär auf junge und arbeitsfreudige Menschen konzentrieren sollte. Eine medizinische Betreuung Behinderter und so genannter „unheilbarer Fälle“ hielt man in der damaligen Zeit für nicht Erfolg versprechend.[34] Außerdem sah man in der Existenz behinderter Menschen ein von den Göttern gesandtes Unglück. Zur Besänftigung des strafenden Gottes wurden Behinderte aus der Gemeinschaft vertrieben. So glaubte man sich vom Gottesfluch zu reinigen.[35]

In den Zusammenhang der Reinigung wurde auch lange Zeit der Steinwurf auf Geisteskranke gesetzt: Einige Wissenschaftler gingen davon aus, dass dieser, in Komödien des ARISTOPHANES erwähnte, Akt einen magischen Heilungsprozess unterstützen sollte. HERBERT GRAßL erforschte diese These genauer:

Nach Durchsicht des einschlägigen Materials, der antiken Belege und den zur Analogie herangezogenen Parallelen ist festzuhalten, daß von einem therapeutischen Verständnis dieses Aktes n i c h t ausgegangen werden kann. Die Steine sollten den Betreffenden zwar nicht töten (davon war nirgends die Rede), wohl aber treffen, sicherlich schon das eine ungewöhnliche Form der Therapie.[36]

2.5 RÖMISCHES REICH

Aus dem römischen Reich stammt das Zitat des Philosophen LUCIUS ANNEUS SENECA (ca. 4 v. Chr.- 65) , das diesem Kapitel vorangestellt ist. Wie im Antiken Griechenland war es üblich, behinderte und unerwünschte Neugeborene auszusondern und sogar zu töten. Die Entscheidung über Leben und Tod des Säuglings hatte der Vater, er war der Patriarch des Hauses mit absoluter Verfügungsgewalt über Frau und Kinder. So kam es übrigens auch zur Tötung gesunder Mädchen, die zur damaligen Zeit oft unerwünscht waren. Behinderte, die am Leben gelassen wurden, verkaufte man auf dem sogenannten Narrenmarkt (forum morionum).

In der dem römischen Reich inhärenten lateinischen Sprache gab es keinen Überbegriff für körperliche und geistige Behinderungen. Man zählte die Defekte einzeln auf und gab den Personen charakterisierende Beinamen, die so genannten Cognomina. Das heißt, die Menschen wurden unter anderem nach ihren Gebrechen benannt. Auf geistige Beeinträchtigungen deuten Cognomina wie Baro, Brutus, Bruta, Fatua, Gurdianus und Varro, die soviel wie „einfältig“, „schwerfällig“, „dumm“ und „tölpelhaft“ bedeuten. Allerdings wird in der heutigen Forschung wiederholt auf die Tatsache hingewiesen, dass man abfällige Charakterisierungen auch oft aus politischen Gründen zuwies. So gilt es als sicher, dass der römische Kaiser Claudius nur durch gegnerische Propaganda zum Geisteskranken gemacht wurde.[37]

[...]


[1] Zitat aus Christian Mürner „Philosophische Bedrohungen“, erschienen 1996, S. 157.

[2] Vgl. Günther Cloerkes: „Soziologie der Behinderten“, Heidelberg 2001 und

Dieter Mattner: „Behinderte Menschen in der Gesellschaft“, Stuttgart 2000.

[3] Vgl. Cloerkes 2001, Harald Ebert: „Menschen mit geistiger Behinderung in der Freizeit“, Bad Heilbrunn 2000; Heinrich Greving und Dieter Gröschke: „Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom“, Bad Heilbrunn 2000; Valerie Sinanson: „Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins“, Berlin 2000; Horst Suhrweier: „Geistige Behinderung: Psychologie, Pädagogik, Therapie“, Berlin 1999.

[4] Zitat aus Franz Fühmann: „Was für eine Insel in was für einem Meer. Leben mit geistig Behinderten.“, erschienen 1981, S. 20.

[5] Zitat aus dem „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“, erschienen 2002, S. 9.

[6] Entnommen Cloerkes 2001, S. 4.

[7] Vgl. dazu Cloerkes 2001, S. 4ff.

[8] Zitat aus Cloerkes 2001, S. 5.

[9] Zitat aus Ute Meiser: „Animismus und Christentum – Eine kritische Betrachtung der durch Missionierung geprägten Entwicklungshilfe in Tonga.“, erschienen 1999, S. 5.

[10] Vgl. dazu Cloerkes 2001, S. 96.

[11] Ebda. S. 7.

[12] Zitat aus Cloerkes 2001, S. 98.

[13] Zitat aus Suhrweier 1999, S. 27.

[14] Zitat aus Deutscher Bildungsrat: „Empfehlung der Bildungskommission“, Bonn1973, S. 13.

[15] Zitat aus Dieter Gröschke: „Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phänomen“, Bad Heilbrunn 2000., S. 7.

[16] Vgl. dazu Emil E. Kobi: Artikel in Gröschke: „Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phänomen“, Bad Heilbrunn 2000, S. 63-73.

[17] Vgl. Johann Heinrich Pestalozzi: „Aufsätze über die Armenanstalt auf dem Neuhofe.“, in sämtliche Werke Bd. 1, Berlin 1927, S. 188.

[18] Zitat aus Kobi 2000, S. 70.

[19] Zitat aus Kobi 2000, S. 70.

[20] Zitat aus Kobi 2000, S. 73.

[21] Seneca etwa 40 n.Chr., zitiert aus Christian Mürner 1996, S. 45.

[22] Zitat aus: Markus Dederich: „Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung.“, Bad Heilbrunn 2001, S. 105.

[23] Vgl. dazu Ludwig Reisch: „Zum Umgang mit Behinderten in urgeschichtlicher Zeit.“, Bad Heilbrunn 1996, S. 47ff.

[24] Vgl. dazu Reisch 1996, S. 50.

[25] Ebda. S. 57f.

[26] Reisch 1996, S. 58.

[27] Zitat aus Hartmut Waetzold: „Der Umgang mit Behinderten in Mesopotamien“, Bad Heilbrunn 1996, S. 77.

[28] Mehr zu Namensbildung und zum Umgang mit Körperbehinderten, Tauben und Blinden in Mesopotamien: Waetzold 1996, S. 78ff.

[29] Amenope „Weisheitslehre“, (12.-11. Jahrhundert v. Chr.), Zitat aus Hans Werner Fischer-Elfert: „Lache nicht über einen Blinden und verspotte nicht einen Zwerg! Über den Umgang mit Behinderten im Alten Ägypten.“, Bad Heilbrunn 1996, S. 93.

[30] Hans Werner Fischer-Elfert 1996, S. 93.

[31] Ebda. S. 94.

[32] Platon: „Politheia“ (ca. 400 v.u.Z.), Zitat aus Hans Meyer: „Geistigbehindertenpädagogik“, Stuttgart 1983, S. 123f.

[33] Plutarch besprochen in: Meyer 1983, S. 125.

[34] Meyer 1983, S. 87f.

[35] Vgl. Andreas Mehl: „Der Umgang mit Behinderten in Griechenland“, Bad Heilbrunn 1996, S. 126.

[36] Zitat aus Herbert Graßl: „Zur sozialen Postition geistig Behinderter im Altertum.“, Graz 1988, S. 112.

[37] Vgl. Alfons Rösger: „Der Umgang mit Behinderten im römischen Reich.“, Bad Heilbrunn 1996, S. 141.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832481247
ISBN (Paperback)
9783838681245
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Philosophische Fakultät III, Kultur- und Kunstwissenschaften
Note
1,0
Schlagworte
behinderung begriffsgeschichte michél foucault europa religion
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Titel: Umgang mit geistig Behinderten in der Gesellschaft
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