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Neokonservative Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaftlicher Republikanismus

©2003 Diplomarbeit 166 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Die zentrale Fragestellung der Diplomarbeit lautet: „Welche Ergebnisse bringt die Anwendung der „Theorie des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus“ auf die neokonservativen Gesellschaftsentwürfe?“. Zur Beantwortung dieser Frage soll konkret nach Maßgabe zentraler zivilgesellschaftlich-republikanischer Kategorien und Inhalte versucht werden, bürgergesellschaftliche Problemfelder zu identifizieren, anschließend kritisch zu diskutieren und abschließend einem interpretativen Urteil zu unterziehen.

Gang der Untersuchung:
Es wird theoretische Forschung betrieben, weil das Untersuchungsobjekt (= die Bürgergesellschaftsentwürfe) nicht Teil der empirischen Wirklichkeit ist. Die Datenerhebung aus den Literaturquellen zur Bürgergesellschaft versucht dabei explizite, implizite (Annahmen, Prämissen) sowie absente (ungenannte aber funktionsnotwendige) Elemente festzustellen. Auf hermeneutischer Ebene wird anschließend transzendente Kritik am Untersuchungsobjekt durch das Analyseinstrument (= der Zivilgesellschaftliche Republikanismus) im Sinne der Beantwortung der zentralen Fragestellung geübt.

Zusammenfassung:
Im ersten Kapitel des Hauptteils wird versucht einen Begriff des (Neo)Konservatismus zu erarbeiten, der sich instrumentell anwenden lässt. Dazu werden 16 Elemente in der Bedeutung von Sinnangeboten in die fünf Gruppen Epistemologie, Geschichtsphilosophie, Technokratie, Organologie und Pädagogik gegliedert. Die Gruppenkonstellation folgt grob jener Logik, die Fragen nach einem Erkenntnismodus, der mit dem behaupteten Geschichtsbild und -verlauf übereinstimmt als Grundlage an den Beginn stellt und darauf das präferierte Herrschaftssystem errichtet, welches vom favorisierten Gesellschaftsbild gestützt werden soll, das durch erziehende Zurichtung der Bürger/Innen seine Verwirklichung finden soll.
Anschließend werden die Bürgergesellschaftsentwürfe von Andreas Khol, Alois Glück und Lothar Späth vorgestellt. Ihnen gemeinsam ist unter anderem in unterschiedlichem Ausmaß die Forderung nach Abbau des Sozialstaates und der Privatisierung seiner Agenden. Verbindliche Grundwerte und Tugenden sowie ein starker Staat sollen die Bürger/Innen zu bürgerschaftlichem Handeln „aktivieren“, welches je nach Entwurf misch- oder eigenfinanziert werden soll. Die Erziehung zum bürgerschaftlichen Handeln soll v.a. in der Familie und der Schule erfolgen und bürgerschaftlicher Handlungsraum ist dabei v.a. das kommunale Umfeld.
Im folgenden […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7922
Gamsjäger, Erich: Neokonservative Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaftlicher
Republikanismus
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Paris-Lodron-Universität Salzburg, Universität, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

2
INHALT
VORWORT ... 1
1. EINLEITUNG ... 2
1.1 Relevanz ... 2
1.2 Thema ... 4
1.3 Methoden ... 8
1.4 Literatur ... 10
2. (NEO)KONSERVATISMUS ... 15
2.1 Entwicklung ... .......
16
2.2 Definition ...
19
2.2.1 Begriff ...
19
2.2.2 Elemente ...
21
2.2.2.1 Epistemologie ... 21
2.2.2.2 Geschichtsphilosophie ... 23
2.2.2.3 Technokratie ... 26
2.2.2.4 Organologie ... 29
2.2.2.5 Pädagogik ... 31
3. BÜRGERGESELLSCHAFTSENTWÜRFE ...
35
3.1 Andreas Khol ... 35
3.2 Alois Glück ...
39
3.3 Lothar Späth ... 45
4. NEOKONSERVATIVER GEHALT DER BÜRGERGESELLSCHAFTSENTWÜRFE 50
4.1 Andreas Khol ...
50
4.1.1 Epistemologie ...
50
4.1.2 Geschichtsphilosophie ...
52
4.1.3 Technokratie ...
54
4.1.4 Organologie ...
56
4.1.5 Pädagogik ...
58
4.2 Alois Glück ...
60
4.2.1 Epistemologie ...
60
4.2.2 Geschichtsphilosophie ...
63
4.2.3 Technokratie ...
66
4.2.4 Organologie ...
70
4.2.5 Pädagogik ...
73
4.3 Lothar Späth ...
76

3
4.3.1 Epistemologie ...
76
4.3.2 Geschichtsphilosophie ...
79
4.3.3 Technokratie ...
82
4.3.4 Organologie ...
86
4.3.5 Pädagogik ...
89
5. ZIVILGESELLSCHAFTLICHER REPUBLIKANISMUS ...
92
5.1 Claude Leforts Politische Philosophie ...
93
5.1.1 Grundlagen und Entwicklung ...
93
5.1.1.1 Biographie und Kontext ...
93
5.1.1.2 Bürokratie ...
95
5.1.1.3 Ideologie ...
97
5.1.2 Zivilgesellschaftlicher Republikanismus bei Claude Lefort ...
100
5.1.2.1 Politisch-Philosophische und historische Grundlagen ...
100
5.1.2.2 Demokratietheorie ...
104
5.1.2.3 Menschenrechte ... 108
5.1.2.4 Totalitarismus ...
111
5.2 Zivilgesellschaftlicher Republikanismus bei Helmut Dubiel,
Günter Frankenberg und Ulrich Rödel ...
113
5.2.1 Historische Grundlagen ...
113
5.2.2 Zivilgesellschaft ...
113
5.2.3 Konflikt ... 114
5.2.4 Republik ...
116
5.2.5 Ziviler Ungehorsam ...
117
5.2.6 Begründung des sozialen Sicherungssystems ...
118
Exkurs ... 120
6. ZIVILGESELLSCHAFTLICH-REPUBLIKANISCHE IMPLIKATIONEN
NEOKONSERVATIVER GESELLSCHAFTSENTWÜRFE ...
124
6.1 Gesellschaft ...
124
6.2 Öffentlich-Politische Sphäre ...
128
6.3 Konflikt ... 130
6.3.1 Menschenrechte ...
135
6.4 Macht ­ Recht ­ Wissen ...
138
6.4.1 Ideologie ...
140
6.4.1.1 Bürgerliche Ideologie ...
142
6.4.1.2 Totalitäre Ideologie ...
144
6.4.2 Zivilreligion ...
147
7. ZUSAMMENFASSUNG ...
150
8. LITERATURVERZEICHNIS ... 156

1
VORWORT
Notwendige Bedingung jedweder Wissenschaft ist die physische Integrität im Sinne des ge-
währleisteten Funktionierens des Organismus. Die Existenz geht dem Wissen voraus und
ihre Erhaltung schafft die Möglichkeit für Erkenntnis für alle Menschen der Gegenwart und
Zukunft. Die globale Befriedigung existentieller materieller Bedürfnisse wie die Sicherung der
natürlichen materiellen Existenzbedingungen ist Gegenstand verschiedener Einrichtungen
der Vereinten Nationen, beispielsweise Weltklimagipfel, Welternährungskonferenz, Arten-
schutzkonferenzen, deren Ergebnisse häufig wenig befriedigend ausfallen, u.a. weil
ökonomische Interessen eine höhere Bargaining Capacity und bessere Lobbies haben als
Menschenrechts- oder Umweltschutzorganisationen aus der Zivilgesellschaft. Eine höhere
Lebenserwartung, eine egalitäre Vermögensverteilung und eine intakte Umwelt wären
zweifellos ein hoher sozialer Gewinn für die große Mehrheit der etwa 6 Milliarden Menschen,
jedoch kein privatisierbarer Gewinn für eine kleine Minderheit der globalen Machteliten. Be-
absichtigte Verbesserungen benötigen einen auf einschlägiges Bewußtsein gestützten
Willen, was unter den Bedingungen einer kulturindustriellen Aufmerksamkeitslenkung und
Formierung mit dem Korrelat einer postmodernen aufklärungsfeindlichen Indifferenz
zynischer Egoisten und Konsumisten erstweltlicher Provenienz schlechte Verwirklichungs-
chancen hat. Unter diesen Bedingungen werden Bürgergesellschaftsentwürfe publiziert, die
ein ideologisches Bewußtsein schaffen wollen, indem sie nicht nur die falschen Probleme
benennen, sondern auch falsche Lösungen vorschlagen. Sie geben die Wirklichkeit unter
Auslassungen und Verfälschungen wieder und stellen auf dieser Basis an Gesellschaft und
BürgerInnen Forderungen, deren Einlösung ökonomische und gesellschaftliche Spannungen
verstärken würde. Der Zivilgesellschaftliche Republikanismus ist dagegen als linksliberaler
republik- und demokratietheoretischer Ansatz nicht bevormundend angelegt, sondern über-
läßt die Bewußtseinsbildung und Aufklärung den BürgerInnen selbst und sieht dabei natio-
nalstaatliche Grenzen nicht als verbindlich vor.

2
1. EINLEITUNG
1.1 Relevanz
Nachdem im Vorwort die persönliche Motivation für die Wahl der Themenstellung angedeutet
wurde folgt nun die Erklärung der allgemeinen Relevanz der Bürgergesellschaftsentwürfe
und des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus.
Die Debatten über die Grenzen des Sozialstaates werden im speziellen von politisch konser-
vativer Seite seit etwa zwei Jahrzehnten geführt. Genährt wurden sie mit verschiedenen
Argumenten, wie zB. daß das gebremste Wirtschaftswachstum zu mehr Arbeitslosen und
diese wiederum zu höheren Kosten für den Sozialstaat führen würden, daß die staatliche
Sozialbürokratie primär eigennutzorientiert und expansiv sei oder daß der Sozialstaat die
BürgerInnen zu ,,Sozialmißbrauch" und Passivität anrege und er daher überdacht und in der
bestehenden Weise nicht mehr weitergeführt werden sollte. Mit dem Zusammenbruch des
,,real existierenden Sozialismus" und damit der bipolaren Systemkonkurrenz fiel Ende der
1980er Jahre eine externe ideologische Legitimation für staatlich organisierte materielle
Grundsicherung und Ausgleich weg und schwächte die argumentative Basis der Apologeten
des Sozialstaats weiter. Dessen Sicherung über höhere Steuern stehen die Auswirkungen
von internationalen wirtschaftspolitischen Abkommen und Verträgen gegenüber, die unter
der Bezeichnung ,,ökonomische Globalisierung" zu Kapitalabwanderungen und in Folge
Schwächung der Volkswirtschaft führen würden. Das politische Instrumentarium mit dem
eine stagnierende Volkswirtschaft konjunkturell belebt werden kann ist obgrund der Ver-
pflichtungen im Rahmen von EU oder WTO zweifellos begrenzt und wird gegenwärtig v.a.
dahingehend aufgelöst, als kurzfristige Budgetsanierung durch Privatisierungen öffentlich
verantworteter Sektoren im Bereich der Versorgung mit Grundgütern zu erreichen versucht
wird, also Einschränkung der Leistungen des Sozialstaates betrieben wird. Die dermaßen
liberalisierten Wirtschaftssektoren sollen internationales Kapital anlocken, welches neben
den politischen Rahmenbedingungen auch günstige gesellschaftliche Bedingungen als
Standortvorteil einer Volkswirtschaft innerhalb der von manchen Neoliberalen proklamierten
,,Konkurrenz der Gesellschaften" vorfinden will, in der postmaterialistische Werthaltungen
und hedonistisch-individuelle Lebensentwürfe verpönt sind. In dieser grob vereinfacht ge-

3
schilderten Konstellation lancieren hochrangige Politiker von ÖVP, CSU und CDU, deren
gesellschaftliche Durchdringungskraft gerade in ländlichen Siedlungsräumen groß ist, mit
Büchern zur ,,Bürgergesellschaft" bzw. ,,Aktiven Bürgergesellschaft" präskriptive Gesell-
schaftsentwürfe mit im Vergleich zu parteipolitisch indifferenten wissenschaftlichen Arbeiten
hohen Verwirklichungschancen, zumindest was die Steuerungsmöglichkeiten über imple-
mentierte Politik betrifft, weswegen die drei Bürgergesellschaftsentwürfe Untersuchungs-
objekt der vorliegenden Arbeit sein sollen.
Die allgemeine Relevanz der Theorie des ,,Zivilgesellschaftlichen Republikanismus" liegt v.a.
in realhistorischen, demokratie- und verfassungstheoretischen Faktoren. Eine in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts erdachte politische Theorie sollte die ihrem Grunde und Ausmaß
nach singulären Tatsachen systemkonformer Inhumanität und verursachtem erfahrenem
Leid nicht unberücksichtigt lassen. Dieser Prämisse wird der Zivilgesellschaftliche Republi-
kanismus als dezidiert antitotalitäre Theorie gerecht, unbeschadet der umstrittenen Geltung
des Totalitarismus-Begriffs. Die Entwicklungsgeschichte der Demokratietheorien im vergan-
genen Jahrhundert bewegt sich zwischen elitären und partizipationsorientierten Ansätzen,
zwischen Weber, Schumpeter, Sartori oder Zolo auf der einen und Bachrach, Pateman,
Barber oder Habermas auf der anderen Seite. Während in den ersten Jahrzehnten nach dem
zweiten Weltkrieg elitistische Demokratietheorien vorherrschend waren, erlebten in den
1970er Jahren partizipatorische Ansätze einen Aufschwung. Gegenwärtig läßt sich innerhalb
derer einerseits eine ,,republikanische Demokratietheorie mit starken zivilgesellschaftlichen
Anleihen ... finden ... Andererseits zeichnen sich die Konturen der deliberativen Demokratie-
theorie zunehmend deutlicher ab" (Schaal 2002, S. 529), d.h. der Zivilgesellschaftliche Re-
publikanismus kann als aktuelle und zeitgenössische Demokratietheorie bezeichnet werden,
dies auch unter dem Gesichtspunkt seiner Rezeption im deutschsprachigen Raum und zu-
nehmender konkurrenzdemokratischer Elemente in der politischen Kultur Österreichs und
teilweise auch Deutschlands. Von den vier unumstrittenen Grundbausteinen der österreichi-
schen Verfassung scheinen aufgrund der spezifischen Bedingungen der Herstellung einer
stabilen gesellschaftlichen Ordnung in der Nachkriegszeit v.a. der republikanische aber auch
der demokratische gerade im internationalen Vergleich schwach konturiert zu bleiben. Der
Zivilgesellschaftliche Republikanismus offeriert diesbezüglich Einsichten in Bedingungen und
Ausprägungen einer autonomen Gesellschaft, ausgehend von einem republikanischen Urzu-
stand im postrevolutionären Frankreich bzw. den nordamerikanischen Kolonien, und kann
als Entwurf gegen obrigkeitsstaatliche Bevormundung, Minderheitenfeindlichkeit und elitäre
Politikentwürfe gelten.

4
1.2 Thema
Anschließend wird vorerst auf den Titel eingegangen, danach eine Verortung von Untersu-
chungsobjekt und Analyseinstrument vorgenommen, die zentrale Fragestellung erörtert
sowie der Zweck der Kapitel dargestellt.
Der Titel ,,Neokonservative Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaftlicher Republikanismus"
wurde gewählt, weil er es in wenigen Worten schafft Untersuchungsobjekt und Analyse-
instrument zu benennen sowie das Erkenntnisinteresse anzudeuten, welches in der zentra-
len Fragestellung präzisiert wird. Zuvor soll jedoch eine Verortung der Thematik im Feld der
Politikwissenschaft vorgenommen werden.
Bei der Verortung des Arbeitsthemas im Feld der Politikwissenschaft muß zwischen Unter-
suchungsobjekt und Analyseinstrument unterschieden werden, nachdem beide ,,Politischer
Theorie" zugeordnet wurden.
Das Untersuchungsobjekt, nämlich neokonservative Gesellschaftsentwürfe, wäre nach
Müller innerhalb der Kategorie ,,normative politische Theorien" im Bereich ,,Ideengeschichte"
als Ausprägung von ,,Konservatismus/Neokonservatismus" anzusiedeln. Der Nachweis des
neokonservativen Gehalts der drei Entwürfe erfolgt zwar erst im Hauptteil, muß aber an
dieser Stelle aus Gründen einer präzisen Verortung vorweggenommen werden.
Das Analyseinstrument, die Theorie des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus, wäre
ebenfalls innerhalb der Kategorie ,,normative politische Theorien" dem Bereich ,,politische
Philosophie" zuordenbar (vgl. Müller 1994, S. 216ff). Derlei Einteilungen finden in der ,,politi-
schen Theorie" in einem Spannungsfeld zwischen empirisch und normativ statt, was be-
günstigt, daß sie von PolitikwissenschafterInnen uneinheitlich gehandhabt werden. Anders
als Müller bezeichnen Brodocz/Schaal die in der Diplomarbeit auf neokonservative Gesell-
schaftskonzepte anzuwendende Theorie als ,,empirisch", weil sie mit der Frage nach der em-
pirischen Verfaßtheit von Politik beginnt und nicht mit der Frage nach deren Begründbarkeit.
Die beiden Autoren sehen in ,,der Frage nach der Begründbarkeit und der Frage nach der
empirischen Verfaßtheit von Politik ... eine konstitutive Spannung, die zunächst zugunsten
der einen oder der anderen Seite aufgelöst werden muß ­ ansonsten kommt eine politische
Theorie nicht auf den Weg, sie verharrt in der Unentschiedenheit" (Brodocz/Schaal 2001, S.
11). Ergänzend muß festgehalten werden, daß der Zivilgesellschaftliche Republikanismus
bei Brodocz/Schaal als ,,Politische Theorie" bezeichnet wird. Die betreffende Theorie tritt je-
doch für die Demokratie als Herrschaftsform ein und genügt in ihren Diagnosen bzw. An-

5
sprüchen v.a. bezüglich gesellschaftszentrierter und republikanischer Elemente vielen Anfor-
derungen ,,partizipatorischer Demokratietheorien" wie sie Manfred Schmidt zusammenfaßt,
weswegen sie als ,,Demokratietheorie" bezeichnet werden kann (vgl. Schmidt 2000, S.
251ff). Eine präzisere Verortung der Theorie des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus
erweist sich als schwierig, denn sie ,,steht in gewissem Maße ortlos im Feld der gegenwärti-
gen politischen Theorie" (Marchart 2001, S. 162). Dies hat u.a. damit zu tun, daß sie als De-
mokratietheorie phänomenologische Elemente enthält und ihr Politikbegriff (= ,,das Politi-
sche") Prinzipien bezeichnet, die verschiedene Gesellschaftsformen generieren und sich
somit von den allermeisten Demokratietheorien unterscheidet sowie damit, daß die Theorie
nicht aus dem Zentrum des politikwissenschaftlichen Feldes stammt, sondern aus Rand-
zonen im Übergang zur Philosophie und Soziologie. Die meisten inhaltlichen Parallelen gibt
es zu Hannah Arendts Theorie des ,,Freiheitlichen Republikanismus". Als größter gemein-
samer Nenner mit einer Reihe neuerer Theorien kann die Zuordenbarkeit des ,,Zivilgesell-
schaftlichen Republikanismus" zum ,,post-fundationalistischen Paradigma" gelten, die für
Leforts Theorie zulässig ist, weil in ihr eine negative bzw. paradoxe Grundlegung des Dispo-
sitivs der Demokratie erfolgt. Dies gilt ebenso für Dekonstruktivismus, poststrukturalistische
Hegemonietheorie, Pragmatismus nach Rorty oder Feminismus nach Butler (Marchart 2001,
S. 181f). Leforts politische Philosophie folgt nicht postmodernem Denken, weil sich Gesell-
schaft bei ihm nicht als beliebiges ,,Patchwork" auflöst, sondern vom symbolischen Pol
außerhalb der Gesellschaft erkannt und somit bestimmt wird. Anders als zB. in der Hegemo-
nietheorie von Laclau/Mouffe, in der Bestimmung und Geltung jedes Signifikanten, auch
jenem der Demokratie, einer hegemonialen Auseinandersetzung unterliegt, wird bei Lefort
Demokratie vorweg favorisiert als einzige Gesellschaftsform, die den Ort der Macht leer läßt
(Brodocz/Schaal 2001, S. 16). Der ,,Civic Republicanism" ist unter den Politikwissen-
schafterInnen im deutschsprachigen Raum noch nicht Gegenstand eines breiten Diskurses
geworden, geschweige denn hat er jemals paradigmatischen Status erlangt. ,,Der Zivilgesell-
schaftliche Republikanismus ... ist genau so eine randständige und lange Zeit zurückge-
drängte Denktradition, die erst wieder in den letzten Jahren an Sichtbarkeit gewonnen hat"
(Marchart 2000, S. 15f).
Weitere Zuordnungen von Untersuchungsobjekt und Analyseinstrument im Zivilgesell-
schaftsdiskurs, der Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie und der Liberalismus-Kommuni-
tarismus-Kontroverse werden in einem Exkurs am Ende des fünften Kapitels vorgenommen
(siehe S. 120ff).
Die zentrale Fragestellung lautet: ,,Welche Ergebnisse bringt die Anwendung der ,,Theorie
des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus" auf die neokonservativen Gesellschaftsent-

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würfe ?" Bevor im sechsten Kapitel eine abschließende Klärung dieser Frage versucht
werden soll, werden mit den vorhergehenden Kapiteln folgende Zwecke verfolgt:
Nach der Einleitung im ersten Kapitel erfolgt im zweiten eine Darstellung des (Neo)Kon-
servatismus, in der der Begriff und seine Elemente geklärt und die Entwicklung des
(Neo)Konservatismus nachgezeichnet werden soll. Der Zusammenhang mit der zentralen
Fragestellung besteht darin, daß der Nachweis, daß es sich bei den Bürgergesellschaftsent-
würfen tatsächlich um neokonservative Entwürfe handelt erst erbracht werden muß und nicht
apriori feststeht, wozu in diesem Kapitel die ideengeschichtliche Grundströmung Konserva-
tismus mit Schwerpunkt auf seiner aktuellen Ausprägung vorgestellt werden soll. Ohne den
Inhalten des Hauptteils vorgreifen zu wollen bedeutet dies jedoch nicht, daß ältere Elemente
des Konservatismus für den Neokonservatismus keine Rolle mehr spielen würden. Im Ge-
genteil gibt es gerade unter ihnen solche, die zum Standardrepertoire an konservativen Prä-
missen und Argumenten zählen, wie Religion, Tradition oder Familie, aber auch andere,
deren Bedeutung relativiert wurde, wie zB. Institution zugunsten von Werten. Dieser Um-
stand erschwert bei der Darstellung konservativer Elemente auch die Einhaltung einer nach
wissenschaftlichen Maßstäben gebotenen Trennschärfe zwischen ihnen.
Das dritte Kapitel dient der Kurzdarstellung der Untersuchungsobjekte, nämlich der drei Bür-
gergesellschaftsentwürfe. Es soll dabei versucht werden, die relevanten Aussagen zu deren
Merkmalen zu verdichten und einzeln aufzubereiten. Zwecks möglichst hoher Authentizität
wird dabei weiters versucht, den Sprachstil der Autoren (typische Begriffe und Formulierun-
gen) in die Darstellung zu übernehmen, so daß das Ergebnis der Wiedergabe der dominan-
ten, d.h. der von den Autoren so intendierten, Lesart nahe kommen soll. Trotzdem dieses
Kapitel wie das vorhergehende deskriptiv angelegt ist, ist keine narrative Stringenz zwischen
beiden möglich, weil nach Maßgabe des Aufbaus des Hauptteils Kapitel zwei, das den
(Neo)Konservatismus theoretisch behandelt, von Kapitel drei, das die Bürgergesellschafts-
entwürfe induktiv aufarbeitet, getrennt zu betrachten ist.
Im vierten Kapitel erfolgt die Zusammenführung der Theorie des zweiten mit den induktiv
erhobenen Daten des dritten. Im analytisch angelegten vierten Kapitel sollen Identitäten und
Analogien zwischen (neo)konservativen Elementen und Elementen der Bürgergesellschafts-
entwürfe gefunden werden, um begründet und auf direktem Weg den Nachweis erbringen zu
können, daß es sich beim Untersuchungsobjekt tatsächlich um neokonservative Entwürfe
handelt. Dem Problem ab welcher Dichte der ,,Beweislage" ein solcher Nachweis als erbracht
gelten kann soll begegnet werden, indem für jedes neokonservative Element Entsprechun-
gen im jeweiligen Bürgergesellschaftsentwurf gesucht werden. Es werden alle Elemente ab-

7
gehandelt, um den neokonservativen Gehalt der Entwürfe vollständig und nicht nur indizien-
weise nachzuweisen und so aufgrund offensichtlicher Unverträglichkeiten das mögliche Ar-
gument zu entkräften, in die Bürgergesellschaftentwürfe fänden auch liberale oder soziali-
stische Einflüsse Eingang. Ein weiterer Zweck des Kapitels besteht darin, daß in ihm detail-
liertere und tiefergreifendere Einsichten in die Bürgergesellschaftsentwürfe als im vorherge-
henden Kapitel vermittelt werden, wodurch Facetten der Entwürfe zum Vorschein kommen,
die in den Einbandtexten der drei Bücher zweifellos keine Berücksichtigung finden. Redun-
danzen werden nach Möglichkeit zu vermeiden versucht, können und sollen aber nicht aus-
geschlossen werden, wo gleiche Belege zur Stützung verschiedener Argumente herangezo-
gen werden. Weil es im Kapitel um den einzelnen Nachweis je Entwurf geht bleiben verglei-
chende Aspekte ausgespart.
Zweck des fünften Kapitels ist die Darstellung der ,,Theorie des Zivilgesellschaftlichen Repu-
blikanismus" anhand des zentralen Vertreters ihres französischen Stranges und, anknüpfend
an dessen Werk sowie erweiternd, von bundesdeutschen Vertretern der Theorie. Letztere
wurden berücksichtigt, weil ihre Auseinandersetzung mit der Theorie einen gewissen Um-
fang erreicht hat und in einer politischen Kultur stattgefunden hat bzw. auf sie bezogen ist,
die der österreichischen aufgrund ihrer schwachen republikanischen Tradition stark ähnelt.
Aufgrund des mit den Bürgergesellschaftsentwürfen, auf die der Zivilgesellschaftliche Repu-
blikanismus im sechsten Kapitel angewendet wird, geteilten politisch-kulturellen Hintergrun-
des wurde den bundesdeutschen Vertretern der Theorie der Vorzug gegeben vor anderen
Rezeptionslinien. Die Theorie selbst erweist sich zur Anwendung auf die Bürgergesell-
schaftsentwürfe deshalb als besonders praktikabel, weil sie unter republik- bzw. demokra-
tietheoretischen Gesichtspunkten gesellschaftszentriert ist. Vom angloamerikanischen
Strang des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus unterscheidet sie, daß sie als Gegen-
horizont und ständige Gefahr der demokratischen Republik den Totalitarismus thematisiert.
Das sechste Kapitel soll Antwort auf die zentrale Fragestellung geben. In diesem Kapitel wird
versucht, die Theorie des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus von Claude Lefort und
deren Rezeption und Weiterentwicklungen durch Helmut Dubiel, Günter Frankenberg und
Ulrich Rödel auf die neokonservativen Bürgergesellschaftsentwürfe von Andreas Khol, Alois
Glück und Lothar Späth anzuwenden. Konkreter soll nach Maßgabe zentraler zivilgesell-
schaftlich-republikanischer Kategorien und Inhalte versucht werden, bürgergesellschaftliche
Problemfelder zu identifizieren, anschließend kritisch zu diskutieren und abschließend einem
interpretativen Urteil zu unterziehen. Technischer gesprochen werden wesentliche zivilge-
sellschaftlich-republikanische Kategorien in den Bürgergesellschaftsentwürfen gesucht und
deren Ausprägungen festgestellt, bevor die zivilgesellschaftlich-republikanischen Ausprä-

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gungen dieser Kategorien instrumentell auf die bürgergesellschaftlichen angewandt werden
und diese Operation in dem Sinne beurteilt wird, als republik- bzw. demokratietheoretische
Defizite in den Bürgergesellschaftsentwürfen benannt werden. Was zur Redundanzen-
problematik für das vierte Kapitel gesagt wurde gilt auch für diese Analyse. Komparative
Aspekte zwischen den drei Bürgergesellschaftsentwürfen finden insofern Berücksichtigung,
als sie mit analyserelevanten Sachverhalten zu tun haben, d.h. Gegenstand zivilgesellschaft-
lich-republikanischer Kritik sind.
In einer die Arbeit abschließenden Zusammenfassung sollen auf wenigen Seiten die wichtig-
sten Erkenntnisse textiert werden.
1.3 Methoden
Im folgenden werden methodische Fragen der Zuordnung und Vorgehensweise erläutert.
Von einer allgemeineren Beschäftigung u.a. mit theoretischen Grundströmungen ausgehend
sollen anschließend operationale Methoden der Datenerhebung und ­analyse behandelt
werden.
Es wird in der vorliegenden Arbeit theoretische Forschung betrieben, weil das Unter-
suchungsobjekt nicht Teil der empirischen Wirklichkeit ist, sondern diese in Buchform be-
bzw. vorschreibt. Als normative Vorgaben für die empirische Wirklichkeit sind die Bürgerge-
sellschaftsentwürfe vom ,,Netz" (Popper), dem Analyseinstrument welches über sie geworfen
wird verschieden und als Untersuchungsobjekt auch nicht Gegenstand methodischer Be-
trachtung. Die Auseinandersetzung mit den Bürgergesellschaftsentwürfen soll also transzen-
dent unter Anwendung des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus als Maßstab erfolgen,
wobei jedoch auch immanente Kritik vorkommen kann, soweit sie Inkonsistenzen und Wider-
sprüche in den Bürgergesellschaftsentwürfen aufdeckt, die dann Gegenstand transzendenter
Kritik sein können. Der Verwendung einer einzelnen politischen Theorie als transzendieren-
dem Analyseinstrument wurde gegenüber einer rein pragmatischen Auseinandersetzung mit
den Bürgergesellschaftsentwürfen der Vorzug gegeben, weil letzterenfalls zwar womöglich
mehrere Problemfelder erfaßt worden wären, aber die Ergebnisse fragmenthaft geblieben
wären und nicht unter einer Theorie integriert hätten werden können. Das Analyseinstrument

9
selbst beinhaltet aufgrund seiner heterogenen Wurzeln Bestandteile aus zwei ,,Theoriefami-
lien". Normativ-ontologisch ist der Verweis auf notwendige überzeitliche Elemente der demo-
kratischen Republik, die diese vom Abdriften in den Totalitarismus bewahren. Eine Typologie
von diesbezüglich notwendigen Kategorien umfaßt Gesellschaft, öffentlich-politische Sphäre,
Konflikt und Macht, Recht, Wissen und deren Grundlagen als Konfliktgegenstände, ergänzt
durch die Menschenrechte. Konstruktivistisch ist die Wahrnehmung des ,,Ortes der Macht"
und seiner Verfaßtheit sowie die Wirkungsmächtigkeit von Einheitsgelüsten und Verschmel-
zungsphantasien aus der kollektiven Imagination der BürgerInnen. Empirisch-analytische
Elemente spielen keine Rolle, historisch-dialektische Vorgaben werden zugunsten histori-
scher Kontingenz negiert.
Hinsichtlich der Anwendung operationaler Methoden müssen die Methoden der Datener-
hebung von jenen der Datenanalyse unterschieden werden. Die Datenerhebung aus den
Literaturquellen findet systematisch auf zwei Ebenen statt, wobei zum einen eine deskriptive
zusammenfassende Aufbereitung in den Kapiteln zwei, drei und fünf erfolgt, jedoch auch die
Kapitel vier und sechs weiter extrahiertes und konkretisiertes Datenmaterial beinhalten. Zum
anderen soll nicht nur auf explizit im Text auffindbare Elemente eingegangen werden,
sondern auch implizite und absente Elemente Berücksichtigung finden. Relevante implizite
Textinhalte wie Annahmen oder Prämissen (zB. zu Menschenbild, Frauenbild) sollen herme-
neutisch erschlossen werden, um den Weg der Feststellung von Sinneinheiten und Bedeu-
tungen intersubjektiv nachvollziehbar gestalten zu können. Dies gilt ebenso für absente Ele-
mente, welche weder explizit im Text stehen noch implizit aus ihm hervorgehen, sondern
bewußt/unbewußt in den Bürgergesellschaftsentwürfen unterschlagen werden, trotzdem sie
als Voraussetzungen der Funktionsfähigkeit dieser Entwürfe deren Wirkungsweise, gemäß
dem Fall die Entwürfe wären realisiert, wesentlich beeinflussen würden (zB. Machtverhält-
nisse, überlokale Integrationsformen, prozedurale Fragen). Neben diesem ,,empirisierenden"
Identifikationsmodus absenter Elemente wird unter heuristischen Gesichtspunkten auch der
Zivilgesellschaftliche Republikanismus zur Feststellung impliziter und absenter Elemente in
den Bürgergesellschaftsentwürfen herangezogen. Die Datenanalyse erfolgt in den Kapiteln
vier und sechs, wobei Kapitel vier nicht die zentrale Fragestellung im engeren Sinn beant-
wortet, sondern Übereinstimmungen und Entsprechungen zwischen in Kategorienform ge-
bündelten (neo)konservativen Inhalten und Inhalten der Bürgergesellschaftsentwürfe fest-
stellt. In Kapitel sechs werden nach Maßgabe des Analyseinstruments und seiner Kategorien
in einer Gegenüberstellung Abweichungen relevanter Inhalte des Untersuchungsobjekts
festgestellt und diese Abweichungen anschließend wiederum mit dem Zivilgesellschaftlichen
Republikanismus als normativer Vorgabe republik- bzw. demokratietheoretisch interpretiert.
Das grundlegende rationale Argumentationsschema im sechsten Kapitel entspricht am

10
ehesten dem ,,Modus tollens", weil in der ersten Proposition die notwendigen Bedingungen
einer demokratischen Republik bezeichnet werden, in der zweiten Proposition deren defizitä-
rer Status bzw. Absenz in den Bürgergesellschaftsentwürfen belegt wird und in der Konklu-
sion der republik- bzw. demokratietheoretische Gehalt des Untersuchungsobjekts behauptet
wird.
Die eigene Grundhaltung in der vorliegenden Arbeit ist kritisch, versucht im konkreten Text
aber immer begründet und nachvollziehbar zu sein. Eine neutrale Haltung des erkennenden
Subjekts zum Erkenntnisobjekt wird gerade in dieser sozialwissenschaftlichen Arbeit nicht
behauptet.
1.4 Literatur
Anschließend wird die Literaturwahl zu (Neo)Konservatismus, Bürgergesellschaft und Zivil-
gesellschaftlichem Republikanismus begründet und der Stand der Literatur zum jeweiligen
Thema erläutert.
Für eine übersichtliche Erfassung des (Neo)Konservatismus in seiner Heterogenität eignen
sich einzelne Stücke Primärliteratur nicht. Eine ,,Theorie" des (Neo)Konservatismus induktiv
über die Analyse von Werken beispielsweise von Hermann Lübbe oder Günther Rohrmoser
zu konstruieren würde zudem den Umfang der vorliegenden Arbeit zweifellos sprengen und
ist nicht ihr Zweck. An konservativer Sekundärliteratur ist zu kritisieren, daß die aktuellere
vorwiegend historisch-deskriptiv angelegt ist, kaum Kategorien für eine Analyse konservati-
ver Elemente liefert und so aus ihr keine analytische Systematik hervorgeht. Dies wohl auch
wegen des gestörten Verhältnisses des Konservatismus zum Rationalismus und seinen wis-
senschaftlichen Prämissen. Werke wie ,,Konservatismus in Österreich" herausgegeben von
Robert Rill oder ,,Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus" editiert von
Caspar von Schrenck-Notzing arbeiten Konservatismus über die Beschreibung von Phäno-
menen wie der Paneuropa-Bewegung oder der Jungen europäischen Studenteninitiative auf
und ordnen diese dabei dem Konservatismus zu ohne eine Erklärung für diese Zuordnung
abzugeben, was vor allem für das erstgenannte Werk zutrifft. Hinter beiden Büchern steht

11
dasselbe Initiatorenkollektiv, dem als wohl prominentester Österreicher Lothar Höbelt ange-
hört.
Als Literaturquelle zur Erarbeitung des (Neo)Konservatismus wurde aus oben angeführten
Gründen kritische Sekundärliteratur herangezogen. Es kann aufgrund der Quellenlage ein
österreichischer Konservatismus nicht systematisch erarbeitet werden, weswegen sich das
zweite Kapitel auf den (Neo)Konservatismus in Deutschland beziehen wird. Die Anzahl um-
fassender, überblickender Werke zum Konservatismus hält sich im deutschen Sprachraum
seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Grenzen. Die Zeit davor bildet nicht den Schwerpunkt
des Interesses, weil die Aussöhnung des Konservatismus mit der technisch-industriellen
Zivilisationsentwicklung und die Strategieänderung von einer defensiven Bewahrung hin zu
einer konstruktiven Verteidigung erst im 20. Jahrhundert stattfand. Dies ist auch der Grund,
warum Karl Mannheims Standardwerk ,,Das konservative Denken" aus 1927 das sich mit
dem Altkonservatismus in Deutschland beschäftigt, für die vorliegende Arbeit keine Berück-
sichtigung fand. Als neueren Deutungsansatz des Konservatismus nennt Kurt Lenk, der
1989 die letzte und damit aktuellste umfassende ideengeschichtlich-analytische Monografie
zum ,,Deutschen Konservatismus" verfaßt hat, v.a. jenen von Martin Greiffenhagen (Lenk
1989, S. 22ff). Greiffenhagen und Lenk nennt auch Axel Schildt als zwei der ,,wenigen Über-
blickswerke über den Konservatismus" (Schildt 1998, S. 17).
Warum seit 1989 keine umfassenden analytisch-kritischen Werke zum Konservatismus im
deutschsprachigen Raum mehr erschienen sind mag verschiedene Ursachen haben. Zum
einen fällt in diese Zeit das Ende der Amtszeiten der konservativen Regierungen Reagan
und Thatcher. Zum anderen traten mit der Vereinigung Deutschlands rechtsextreme
Gewalttäter verstärkt in Erscheinung, denen ein Naheverhältnis zur ,,Neuen Rechten" sowie
zu neokonservativen Gruppierungen nachgewiesen wurde, was die einschlägige Forschung
vermutlich vom Neokonservatismus teilweise zum Rechtsextremismus umgeleitet hat. Ande-
rerseits wurde während der 1990er Jahre von neokonservativen Autoren weiter publiziert.
Als neokonservative Autoren treten vorwiegend Historiker und Philosophen (vgl. Habermas
1985, S. 39) wie beispielsweise Hermann Lübbe, Günther Rohrmoser, Odo Marquard oder
Gerd-Klaus Kaltenbrunner (vgl. Dubiel 1985, S. 10; Kellershohn 1998b, S. 56) in Erschei-
nung. Organisationen wie die Deutschland-Stiftung, das Studienzentrum Weikersheim oder
die Civitas-Gesellschaft (vgl. Schildt 1998, S. 249ff) gelten als neokonservative Think-tanks.
Publikationen umfassen zB. die Reihe Initiative der Herderbücherei oder die deutschlandpo-
litische Schriftenreihe des Sinus-Verlags (vgl. Lenk 1989, S. 285; Klönne 2000, S. 90).
Die für das zweite Kapitel zu verwendenden umfassend-analytischen Monografien sollen
jene von Martin Greiffenhagen (1986, Original 1971) ­ ,,Martin Greiffenhagens ... Studie gilt,
neben der Arbeit Karl Mannheims über den Konservatismus, inzwischen als die bedeutsam-
ste Arbeit zu diesem Thema" (Greiffenhagen 1986, Einbandtext) ­ und Kurt Lenk (1989)

12
sein. Für die Situation des Neokonservatismus der 1980er Jahre werden schwerpunktmäßig
kritische Theoretiker der zweiten und dritten Generation der Frankfurter Schule, nämlich
Jürgen Habermas und Helmut Dubiel, herangezogen. ,,Für die jüngste Zeitgeschichte gibt es
zum Konservatismus nur wenige seriöse Untersuchungen, dafür aber umso mehr interes-
sierte Selbstdarstellungen oder plumpe Stigmatisierungen" (Schildt 1998, S. 21). Mit dem
Sammelband ,,Ruck-wärts in die Zukunft. Zur Ideologie des Neokonservatismus" des Duis-
burger Instituts für Sprach- und Sozialforschung wird eine dieser wenigen seriösen Untersu-
chungen verwendet, um den Neokonservatismus der 1990er Jahre beschreiben und analy-
sieren zu können.
Für die Auswahl der drei Bürgergesellschaftsentwürfe waren der parteiinterne Status der
Autoren, ihrer Entwürfe sowie ihre politischen Ämter maßgebend. Unter diesen Gesichts-
punkten wäre nur noch das Buch ,,Aktive Bürgergesellschaft. Mitgestalten, mitverantworten"
unter der Herausgeberschaft des CDU-Ministerpräsidenten von Hessen Roland Koch von
ähnlicher Bedeutung gewesen, wobei Koch dazu jedoch nur einen kurzen Einleitungsbeitrag
liefert. Andreas Khol ist zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches ,,Durchbruch zur
Bürgergesellschaft" (1999) Klubobmann der ÖVP im österreichischen Nationalrat und
Verfassungssprecher der ÖVP, aktuell erster Präsident des Nationalrates. Sein Bürgerge-
sellschaftsentwurf wurde als Leitantrag in Form eines Manifests vom 31. Bundesparteitag
der ÖVP am 23. April 1999 mit großer Zustimmung beschlossen (vgl. Khol 1999, Einband-
text, S. 91; www.oevp.at; Stuiber 1999a; Stuiber 1999b).
Alois Glück ist Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion im bayerischen Landtag, Mitglied im
Parteivorstand und Vorsitzender der Grundsatzkommission der Partei. Das im Buch
,,Verantwortung übernehmen. Mit der aktiven Bürgergesellschaft wird Deutschland leistungs-
fähiger und menschlicher" von Alois Glück umfassender ausgearbeitete Positionspapier der
Grundsatzkommission der CSU ,,Aktive Bürgergesellschaft" wurde 2001 von der Parteispitze
beschlossen und programmatisch in Positionen und Ziele der CSU übernommen und wird
u.a. durch die CSU-Arbeitsgruppe ,,Aktive Bürgergesellschaft" im bayerischen Landtag
umgesetzt (vgl. Glück 2001, Einbandtext; www.csu-landtag.de).
Lothar Späth war 1978-1991 CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg und danach
bei Jenoptik Vorsitzender der Geschäftsführung bzw. ist er dort seit 1996 Vorstandsvorsit-
zender. Seit 1991 ist Lothar Späth Ehrenvorsitzender der CDU Baden-Württemberg und
engagierte sich im Beraterteam von Helmut Kohl im Bundestagswahlkampf 1998 mit
Schwerpunkt Gesellschaftspolitik. Für die Bundestagswahl 2002 war er im als ,,Kompetenz-
team" bezeichneten Wahlkampfteam von Unionsspitzenkandidat Stoiber und hätte im Falle
eines Wahlsieges kolportierterweise das Amt des deutschen Bundeswirtschaftsministers
übernommen. Inhalte von Späths Buch ,,Die Stunde der Politik. Vom Versorgungsstaat zur

13
Bürgergesellschaft" finden sich ähnlich aufbereitet im Zukunftsprogramm der CDU und in
den Themenschwerpunkten der CDU-Bundestagsfraktion (vgl. Späth 1999, Einbandtext, S.
41f; www.cdu.de; www.cducsu.de; Bentele 2002).
Betreffend der Literaturauswahl zum französischen Strang des Zivilgesellschaftlichen Repu-
blikanismus liegen an deutsch- bzw. englischsprachiger übersetzter Primärliteratur des Refe-
renztheoretikers Claude Lefort drei Reader und einige Zeitschriftenbeiträge vor. Die Reader
sind unter der Herausgeberschaft von Ulrich Rödel ,,Autonome Gesellschaft und libertäre
Demokratie", sowie ,,The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Tota-
litarianism" (Hg. J. B. Thompson) und ,,Democracy and Political Theory" (Hg. David Macey)
erschienen. Ein Aufsatz aus letztgenanntem Reader wurde unter dem Titel ,,Fortdauer des
Theologisch-Politischen?" vom Passagen-Verlag publiziert. Gleichsprachige Sekundärlitera-
tur in Buchform oder als Zeitschriftenbeitrag hält sich ebenfalls in Grenzen, was im besonde-
ren für den deutschsprachigen Raum gilt, wo Vertreter der dritten Generation der Frankfurter
Schule bzw. in Wien der Philosoph Oliver Marchart versucht haben, den Zivilgesellschaftli-
chen Republikanismus weiterentwickelnd für ihre Überlegungen nutzbar zu machen und
gegen Staatszentriertheit und -räson, Parteienstaatlichkeit und Neokorporatismus in die
diskursiven Felder einzuführen. Eine gebührende Berücksichtigung in Nachschlagewerken
zur politischen Theorie hat der Zivilgesellschaftliche Republikanismus bislang ausschließlich
im neuen Werk ,,Politische Theorien der Gegenwart", herausgegeben von André Brodocz
und Gary Schaal, erfahren. Im Internet lassen sich ein paar Hundert deutsch- oder
englischsprachige Beiträge mit Lefort-Bezug nachweisen, wobei sich hier an Primärliteratur
auch aktuellere Stellungnahmen zum Zeitgeschehen finden.
Die Literaturauswahl zum Zivilgesellschaftlichen Republikanismus wurde im Bewußtsein des
Spannungsfeldes zwischen einzelnem Autor und dem Modell einer Theorie vorgenommen.
Während die Bearbeitung ausschließlich eines einzelnen Autors die Theorie auf ein Subjekt
ohne intellektuelles Umfeld reduziert hätte, wäre die bloße modellhafte Bezugnahme auf eine
Theorie zu unsensibel mit internen Theorieentwicklungen umgegangen und hätte die Theorie
zu stark simplifiziert. Es wurde daher versucht, den Zivilgesellschaftlichen Republikanismus
anhand eines zentralen Vertreters samt dessen Einflußquellen aufzuarbeiten und anschlie-
ßend die Sichtweise und Weiterführung der Theorie durch drei weitere Autoren darzustellen.
Neben den für die Darstellung aufgearbeiteten bundesdeutschen, britischen und österreichi-
schen Rezeptionslinien sind für Leforts politische Theorie noch die französische und die US-
amerikanische von Bedeutung. Erstere konnte aufgrund der Sprachbarriere nicht berück-
sichtigt werden, letztere entwickelte sich größtenteils in den 1970er Jahren und wurde im
wesentlichen getragen von Dick Howard und der Zeitschrift Telos. Sie ist die älteste Rezepti-
onslinie, wodurch wesentliche demokratietheoretische Texte von Lefort aufgrund deren spät-

14
eren Entstehungsdatums nicht Eingang finden konnten, weshalb sie in die vorliegende Arbeit
nicht aufgenommen wurde.
Ergänzend zu Primärliteratur von Claude Lefort wurde Sekundärliteratur verwendet, weil das
Interesse auch dem Umstand galt wie Lefort verstanden und interpretiert wurde und die
ausschließlich eigene Lesart der Primärliteratur aufgrund differenter Schwerpunktsetzungen
oder von Verständnisproblemen Ergebnisse hätte bringen können, die nicht der Rezeption
von Lefort innerhalb der etablierten Scientific Community entsprochen hätten und so der
Anspruch der kanonisierten Darstellung der Theorie nicht eingelöst hätte werden können. Es
wurde statt dessen versucht, die britische, bundesdeutsche und österreichische Rezeptions-
linie integral zu lesen und so zu einer Darstellung des Lefortschen Zivilgesellschaftlichen
Republikanismus zu kommen, die der nachweislichen interpretativen Breite bei der Rezep-
tion seines Werks gerecht wird.
Auf der französischen Strömung des Zivilgesellschaftlichen Republikanismus aufbauend
haben in Deutschland Wissenschafter, die der dritten Generation der Frankfurter Schule
zugerechnet werden, ihre eigenen Überlegungen angestellt und in Form von drei Büchern
aufgearbeitet. Es handelt sich dabei um ,,Die demokratische Frage" von Ulrich Rödel, Günter
Frankenberg und Helmut Dubiel, die Aufsatzsammlung ,,Ungewißheit und Politik" von Helmut
Dubiel und ,,Die Verfassung der Republik" von Günter Frankenberg, wobei von letzterem zur
Thematik für 2003 ein weiteres Buch erwartet wird.

15
2. (NEO)KONSERVATISMUS
Im Kapitel soll (Neo)Konservatismus eine kurze historische, anschließend eine ausführli-
chere systematische Aufarbeitung erfahren. Die Darstellung der Entwicklung des (Neo)Kon-
servatismus hat dabei ihren Schwerpunkt im 20. Jahrhundert.
Die anschließende Begriffsdefinition orientiert sich am situationsspezifischen Interpretations-
ansatz und wird von in fünf Gruppen untergliederten sechzehn (neo)konservativen Elemen-
ten gefolgt. Die Gruppenkonstellation folgt grob jener Logik, die Fragen nach einem Erkennt-
nismodus, der mit dem behaupteten Geschichtsbild und ­verlauf übereinstimmt als Grund-
lage an den Beginn stellt und darauf das präferierte Herrschaftssystem errichtet, welches
vom favorisierten Gesellschaftsbild gestützt werden soll, das durch erziehende Zurichtungen
der BürgerInnen seine Verwirklichung finden soll. Die erste Gruppe von Elementen beschäf-
tigt sich unter der Bezeichnung Epistemologie mit dem Verhältnis des (Neo)Konservatismus
mit dem Rationalismus bzw. mit der Vernunft überhaupt. Die zugeordneten Elemente Reli-
gion und Nation betonen ein rationalitätskritisches bis ­feindliches Glaubensverhältnis zur
Wirklichkeit, welches sich direkt in neokonservativer Intellektuellenkritik zeigt. Die zweite
Gruppe hat Geschichtsphilosophie zum Gegenstand, konkreter das (neo)konservative
Verständnis von historischem Verlauf bzw. Entwicklung. Dabei wird ein kontinuierlicher
Verlauf als natürlich angesehen, in dem Tradition und Pragmatismus zentrale Werte sind und
Dialektiken ertragen und nicht aufgelöst werden. Dieses Verhältnis zur Geschichte wurde ein
einziges Mal im Rahmen der ,,Konservativen Revolution" diametral umgekehrt. Die dritte
Gruppe thematisiert unter dem Titel Technokratie Herrschaftsfragen. Das Eintreten für
Technokratie ist eine eher jüngere Variante des Konservatismus, der die entpersönlichende
Wirkung und den geistig-kulturellen Verfall durch die industrielle Rationalisierung bis etwa
Mitte der 1960er Jahre noch beklagt hat. Als Postulate des technokratischen Konservatismus
gelten: ,,Entpolitisierung der Politik ... ; Entideologisierung der Massen; Neutralisierung der
Interessenkonflikte in der Gesellschaft; Stärkung der Autorität des ,,technischen Staates";
Sicherung und Ausbau der Elitenherrschaft als Stabilisatoren einer ,,Leistungsgesellschaft""
(Lenk 1994, S. 167f), die in drei Elementen zusammengefaßt wurden. Dabei geht es zuerst
um die Vorgaben für den starken bzw. technischen Staat, danach um Politik im Allgemeinen,
Wirtschaftspolitik im Besonderen und abschließend um eine sich zu beiden komplementär
verhaltende konservative Demokratietheorie. In der vierten Gruppe werden unter Organolo-
gie normative konservative Konzepte, die die gesamte Gesellschaft inkludieren und integrie-
ren vorgestellt, wozu die Elemente Körper-Politik, Gesellschaftsbild und Frauenbild behan-

16
delt werden. Die fünfte und letzte Gruppe zu Pädagogik geht vom (neo)konservativen
Menschenbild und einer Kulturkritik aus, um in autoritären Institutionen auf der Erziehungs-
und Bildungsebene gegenwirken und zurichten zu können.
2.1 Entwicklung
Bevor die zentralen Inhalte des (Neo)Konservatismus weitestgehend enthistorisiert darge-
stellt werden, soll in den folgenden Ausführungen die Entwicklung des (Neo)Konservatismus
bzw. der ihm zugerechneten Strömungen kurz umrissen werden. Die vor dem 20. Jahrhun-
dert prägsamen rückwärtsgewandt-bewahrenden Richtungen sollen dabei nur genannt
werden, denn sie weisen eine weit geringere Dynamik auf als anschließende Strömungen,
u.a. wegen der Ablehnung eines Arrangements mit der technisch-industriellen Modernisie-
rung, einer Haltung, die gerade für moderne Strömungen des Konservatismus keine Gültig-
keit mehr besitzt.
Als Grundtypen von politischen Entwürfen des Konservatismus gelten der skeptische Prag-
matismus, die politische Romantik, der dezisionistische Konservatismus und der soziale
Konservatismus. Der skeptische Pragmatismus bemühte sich um Kontinuität, vorsichtig
überlegtes schrittweises Vorgehen, sein Orientierungsrahmen war die Ausgewogenheit des
Ganzen. Die politische Romantik trat für einen sakral-verklärten Staat als notwendige stabili-
sierende Institution im gesellschaftlichen Umbruchsprozeß von der feudalen in die industri-
elle Epoche ein. Als konservativer Legitimismus glaubte sie an die der Monarchie eigenen
Legitimation des Herrschers ,,von Gottes Gnaden". Der dezisionistische Konservatismus
wollte die den Feudalismus überwindende Entwicklung nicht bloß pragmatisch bzw. roman-
tisch begleiten, sondern mittels der repressiven Staatsapparate offensiv bekämpfen. Der
soziale Konservatismus versuchte die Klassengegensätze zu entschärfen, indem sein
Staatsbegriff den über den Klassen stehenden neutralen Monarchen als sozialen Reformer
und Mediator vorsah (Fritzsche 1998, S. 274ff). Mit dem Begriff ,,Konservative Revolution"
wird eine atypische Strömung des Konservatismus bezeichnet, die etwa in den 1920er und
1930er Jahren wirksam war. Der Begriff selbst ist eine im nachhinein entstandene konserva-
tive Wortschöpfung und dementsprechend umstritten, wenn er als ein nachträglicher Homo-
genisierungsversuch, als eine ,,der erfolgreichsten Schöpfungen der neueren Ideenge-
schichtsschreibung" (Klönne 2000, S. 101) bezeichnet wird. Tatsächlich bildeten die ihm

17
zugerechneten Autoren keine homogene Gruppe, sondern entstammten verschiedenen
gesellschaftlichen Schichten und waren in zahlreichen Gruppen und Zirkeln verstreut,
agitierten teilweise auch energisch gegeneinander und es verband sie auch keine einheitli-
che politische Theorie, sondern metapolitische Einsichten und Überzeugungen. (Lenk 1989,
S. 109f). Die philosophischen Grundannahmen der ,,Konservativen Revolution" führen zur
Lebensphilosophie v.a. von Nietzsche und Sorel. Dem Schicksal als unausweichlichem
Faktum gegenüber besteht Freiheit nur darin, es zu lieben oder nicht (,,amor fati"), wobei
ersteres als heroische Tugend gesehen wird (Lenk 1989, S. 116f). Zum Schicksal als
Bestimmung tritt der Schmerz als zentrale Erfahrung. Die Basis des subjektiven Schmerz-
empfindens bildet die unterstellte widersprüchliche Struktur des Lebens selbst (Lenk 1989,
S. 164). Das chronologisch anschließende Verhältnis des Konservatismus zum Nationalso-
zialismus stellt einen Themenbereich dar, der einer Aufarbeitung bedürfte, die im Rahmen
dieser Arbeit nicht gebührend geleistet werden kann, weswegen nur die grundlegenden
Argumentationslinien kurz wiedergegeben werden sollen. Vorgeworfen wird den Vertretern
der Konservativen Revolution, daß sie inhaltlich und methodisch für das Dritte Reich vorge-
arbeitet hätten, im speziellen durch ihre ablehnende Haltung der Demokratie der Weimarer
Republik gegenüber. Das Gegenargument verweist auf die Bedeutung des konservativen
Widerstands gegen die Nationalsozialisten, im besonderen auf die Gruppe um Claus Graf
Schenk von Stauffenberg. Als Strömungen des Nachkriegskonservatismus gelten im
wesentlichen die konservative Staatsverherrlichung samt Abwehr emanzipativer demokrati-
sierender Bestrebungen, der technokratische Konservatismus, der Reformkonservatismus,
der Konservatismus in der Ökologiebewegung, die konservative Suche nach nationaler Iden-
tität (Lenk 1989, S. 177f), in einigen Bereichen gibt es zudem ideologische Überschneidun-
gen mit der ,,Neuen Rechten" sowie Affinitäten zu Vertretern der Postmoderne (Kröll 1997, S.
168). Es handelt sich bei den einzelnen Strömungen um jeweils spezifische Antworten auf
Herausforderungen infolge sozialen und ökonomischen Wandels. Der Konservatismus in der
Nachkriegszeit hat somit keine kontinuierliche Linie, sondern tritt in sich überlagernden For-
men auf. In der ersten Nachkriegsperiode und als Folge der totalitären Erfahrung beschäf-
tigte sich der Konservatismus mit dem Kollektivismus, im speziellen mit Massendemokratien
als Ursachen für die Krise des Liberalismus. Ein Kulminationspunkt dieses Themas war die
Frage ,,wie weit die Großdemokratie noch in der Lage ist, mit den speziell ihr zur Verfügung
stehenden Mitteln die Freiheit zu sichern" (Lenk 1989, S. 191). Als Schwerpunkte in der
diesbezüglichen konservativen Argumentation galten eine elitistische Sicht der Demokratie
und die Betonung des Subsidiaritätsprinzips, zB. in der Absage an ein politisches Mandat der
Gewerkschaften, das über die Vertretung der Arbeiter hinausgeht oder in der Kritik an der
Parteienstaatlichkeit. Die Aussöhnung mit der industriellen Entwicklung im ,,technokratischen
Konservatismus" sah einen angeblich neutralen ,,technischen Staat" vor sowie das Ende aller

18
Ideologien und ,,Sachzwänge" als handlungsleitende Imperative. Mit dem Beginn des gesell-
schaftlichen Wertewandels gegen Ende der 1960er Jahre, der Energie- und Ökologiekrise
sowie der Diskussion zu den ,,Grenzen des Wachstums" wurde auch die Vorstellung vom
grenzenlos fortschrittlichen ,,technischen Staat" und der auf Wahlakte verkürzten Demokra-
tiesicht fragwürdig. Es kam daher zu einer Rekonstruktion des Konservatismus auf publizisti-
scher und wissenschaftlicher Ebene, im speziellen zu einer ,,Restauration konservativ-revo-
lutionärer Gedankengänge mit einer Zuspitzung auf die Erneuerung des nationalen Argu-
ments" (Kellershohn 1998b, S. 54ff). Durch die mit der Zäsur von 1989 veränderte weltpoliti-
sche Lage und die Erosion des Wohlfahrtsstaates erleben wir heute, ,,daß die Propheten der
Systemrationalität vom Sockel ihrer vorgeblichen weltanschaulichen Neutralität herabsteigen
und die ehemaligen ,,Sachgesetzlichkeiten" mit autoritärer Gebärde als sittliche Imperative
einfordern" (Dubiel 1985, S. 13). Die Politik des Neokonservatismus sieht für die Krisen der
Spätmoderne Veränderungen in den sozioökonomischen Strukturen gar nicht, wirtschaftliche
Reformen nicht primär vor, sondern sieht den Ausweg ,,in einer verstärkten Anpassung der
inkompatibel werdenden Individuen mit Hilfe der Restaurierung traditioneller Werthaltungen"
(Moser 1994, S. 142). Die meisten Argumente dazu wurden bereits in den 1950er Jahren
entwickelt, als institutionalistische und funktionalistische Gesellschaftskonzepte entworfen
wurden, die eine kybernetische Sozialordnung vorsahen, in der ,,die eigensinnige Logik
sozialtechnischer Rationalisierung allem normativen Dissens über die politische Einrichtung
dieser Welt den Boden" (Dubiel 1985, S. 12) entzogen hat. Heute finden diese Argumente
günstige Bedingungen vor, denn ,,inmitten des weit verbreiteten Gefühls, wir verfielen einer
immer größeren ,,Beliebigkeit", artikuliert sich die Sehnsucht nach einer neuen verbindlichen,
auf substantiellen Überzeugungen gegründeten Ethik und Ästhetik" (Herzinger 1997, S. 16).
Diese ,,Beliebigkeit" ist eine Folge des postmodernen Diskurses, der sich gegen die Moderne
und ihre ,,großen Erzählungen" richtet und in seinen philosophischen Grundlagen Analogien
zur ,,Konservativen Revolution" aufweist. ,,Die aktivistischen Nietzscheaner der ersten
Stunde, ... hatten die Lust am Schrecken der Destruktion angefeuert, die passivischen Nietz-
scheaner der späten Stunde, sind von der sublimierten Lust an der Dekonstruktion angehei-
melt" (Kröll 1997, S. 168). Beide wollen die Kritik an der Vernunft durch deren Denunziation
ersetzen. Konservative Revolutionäre und Postmodernisten verbindet ihr Habitus einer
,,erlebnishungrigen Anti-Bürgerlichkeit". ,,Die Intention, das Warum und Wofür zählt nichts,
die Intensität, die Lust des Daß und Wie der Aktion und des Aktionserlebnisses, darauf
kommt es an" (Kröll 1997, S. 172). Während die ,,Neue Rechte" ,,die wertestiftende Kraft
einer ,,Sehnsucht nach Härte und Schwere, nach Schicksal und Tiefe, nach Gefahr und
Geheimnis" ... gegen eine gesellschaftliche Wirklichkeit ... die der vollendeten Unverbindlich-
keit verfallen sei und sich deshalb vor der Auflösung befinde" (Herzinger 1997, S. 17)
einklagt, treten Neokonservative als in ihren Zusammenhängen und Wertungen inhaltlich

19
beliebige Wertstifter für eine diffuse sachrationale politische Mitte an, die sich gegen ideolo-
gische Extremismen, welchen politischen Inhalts auch immer, abgrenzt. Das Ziel des Neo-
konservatismus bleibt dabei die Trennung des Staates von der universalistischen Aufklä-
rungsmoral sowie seine Befreiung aus Begründungspflichten und dem Aushandeln gesell-
schaftspolitischer Zielsetzungen herbeizuführen. ,,Das moralisch-praktische Element, von
dem die Politik Abstand gewinnen soll, ist eine Demokratisierung von Entscheidungspro-
zessen, die das politische Handeln unter kontroverse Gesichtspunkte der sozialen Gerech-
tigkeit, überhaupt wünschenswerter Lebensformen stellen müßte" (Habermas 1985, S. 51).
2.2 Definition
2.2.1 Begriff
Eine begriffliche Bestimmung von Neokonservatismus erweist sich schon deshalb als
problematisch, weil eine einheitliche Klärung der Bedeutung von Konservatismus nicht
existiert. Die folgenden Ausführungen sollen sich daher vorerst auf den Konservatismus-
Begriff beziehen.
Kurt Lenk stellt in der wissenschaftlichen Forschung drei Hauptgruppen von Interpretations-
ansätzen des Konservatismus fest: a) historisch-spezifizierende Interpretationen, b) univer-
salistisch-anthropologische Interpretationen und c) situationsspezifische Interpretationen
(Lenk 1989, S. 13ff).
Unter a) wird ein Epochenphänomen verstanden, welches den Widerstand aristokratischer
Schichten gegen die Emanzipation bürgerlicher Klassen als Reaktion auf die französische
Revolution von 1789 bezeichnet. Wesentlich an derartigen Deutungsversuchen ist der
Versuch der Fixierung des Konservatismus als historisch singuläre und abgeschlossene
Restaurationsideologie. Für eine Definition von Neokonservatismus wie sie in der vorliegen-
den Arbeit verwendet werden soll sind ausschließlich historisch-spezifizierende Interpretatio-
nen unbrauchbar, weil ,,bei dieser eng historisierenden Definition des Konservatismus als
des Ausdrucks der soziohistorischen Interessenlage des Adels mit dessen Verschwinden
auch nicht mehr sinnvoll von Konservatismus gesprochen werden könnte" (Lenk 1989, S.
14).

20
b) meint mit Konservatismus eine Lebensart als System überzeitlicher allgemein gültiger
menschlicher Grundwerte und Tugenden. Somit kann jeder Mensch konservativ sein, wenn
er diese Grundwerte wie Ordnung, Gerechtigkeit, Gleichgewicht, Mäßigung vertritt, welche
als Bedingungen für gesellschaftliche Stabilität und dem menschlichen Wesen gemäß
betrachtet werden. Konservativ sein hieße hier ,,ein Leben aus dem, was immer gilt"
(Greiffenhagen 1986, S. 45), der Konservatismus hätte ,,die Ewigkeit für sich, weil Konserva-
tivsein die Fähigkeit bedeute, immer mehr von dem, was in uns ewig ist, freizulegen" (Lenk
1989, S. 14f). Dieser Definitionsversuch dient häufig der Selbstetikettierung als konservativ
und vernachlässigt als strikt personaler theorieabsenter Ansatz strukturelle Bedingungen des
Auftretens von Konservatismus, weswegen er als nicht hinreichend betrachtet werden muß.
Mit c) wird Konservatismus als ideologische und/oder politische Reaktion auf eine tatsächli-
che oder wahrgenommene Bedrohung aufgrund von Auflösungserscheinungen sozialer
Strukturen und Werte betrachtet. Konservative stehen dabei vor dem Problem, daß sie ihre
vormals als natürlich wahrgenommenen Werthaltungen nicht mehr unvermittelt leben
können, sondern erst über den Umweg einer reflexiven gedanklichen Bewußtwerdung in
begrifflicher Form, welche Voraussetzung ist, um die präferierten Werte und ihre Institutiona-
lisierungsformen diskursiv behaupten und durchsetzen zu können. Dabei wird eine rationale
Thematisierung, Verknüpfung und positive Aufladung von konservativen Werten versucht,
indem unter diskursiver Einwirkung auf die Basissemantik bestimmte Schlüsselbegriffe
verabsolutierend so definiert werden, daß das damit Bezeichnete nicht Gegenstand mensch-
licher Planung und Handhabe sein kann, daß es als ,,metarational fundierter sozialer
Konsens" (Lenk 1989, S. 33) dem rationalen Zugriff und Diskurs entzogen wird. Konserva-
tismus bedient sich bei c) eines ,,historisch modifizierbaren Arsenals von ideologischen
Argumentationsmustern" (Lenk 1989, S. 16), dessen Trägergruppen theoretisch aus allen
gesellschaftlichen Schichten stammen können. Das Phänomen Konservatismus kann
entsprechend dieser Sichtweise auch schon lange vor ,,Reflections on the Revolution in
France" von Edmund Burke aus 1790 nachgewiesen werden, der Begriff selbst wurde etwa
um 1830 auch in Deutschland gebräuchlich (Greiffenhagen 1986, S. 38ff). Tatsächlich
begünstigen aktuelle Dynamiken komplexer gesellschaftlicher Systeme, Entfremdungserfah-
rungen und Wertrelativierungen politisch instrumentalisierbare Ängste zB. ökonomischer Art,
welche von Mitgliedern aller gesellschaftlichen Schichten empfunden werden können und
werden. Ein Rückgriff auf Weltdeutungen und Werte des Konservatismus und deren
Übernahme in die soziale und politische Praxis kann als entlastend weil komplexitätsredu-
zierend wahrgenommen werden (Lenk 1989, S. 281). Situationsspezifische Interpretations-
ansätze von Konservatismus werden für die Erklärung des aktuellen Entwicklungsstandes
des Neokonservatismus daher auch für diese Arbeit als am brauchbarsten angesehen.

21
Im Sinne dieser situationsspezifischen Interpretation kann Konservatismus verstanden
werden als ,,Produkt, Ausdruck und Agentur mächtiger gesellschaftlicher Interessen, die sich
gegen Emanzipationsbestrebungen richten" (Fritzsche 1998, S. 269). ,,Neokonservatismus"
ist ein verallgemeinernder Richtungsbegriff für Tendenzen zur Wiederbesetzung bzw.
Neudeutung konservativer Positionen seit etwa 1973 (Habermas 1985, S. 181). Er gilt als
,,eine an der Lösung politischer Probleme orientierte Gesellschaftslehre" (Dubiel 1985, S. 11)
und ist als solche auch als politisches Paradigma betrachtbar, ,,in dem kulturelle Grundvor-
stellungen, sozialphilosophische Menschenbilder, sozialwissenschaftliche Theoriestücke und
empirische Beschreibungen zu politischen Argumenten verdichtet werden" (Dubiel 1985, S.
11). Seine Argumente bezieht der Neokonservatismus ,,aus der neoliberalen Politökonomie,
der Soziobiologie und Humangenetik, der positivisitischen Marxismuskritik, der konservativen
Kulturkritik und der elitistischen Theorie der Demokratie" (Dubiel 1985, S. 12). ,,Der Neokon-
servatismus ... präsentiert ­ zwecks Formierung der Subjekte ­ eine gemischtes Wertange-
bot, das die klassisch-liberalen Tugendhaltungen des Homo oeconomicus mit restaurativ
konservativen, speziell völkisch-nationalistischen Werten zu verbinden sucht" (Kellershohn
1998a, S. 7ff). Aus diskurstheoretischer Sicht ist der Neokonservatismus ,,ein Mit- und
Neben- und auch Gegeneinander unterschiedlicher Diskurse, die an den verschiedenen
Orten und Machtzentren der Gesellschaft plaziert sind. Zu einer ideologischen Formation
werden sie durch theoretisch-konzeptionelle, praktisch-politische, symbolische und insti-
tutionelle Verknüpfungen, die, vermittelt über staatliche Politik, hegemoniale Effekte hervor-
rufen" (Kellershohn zit. in Kunz 1998, S. 202). Zur Bestimmung des materiellen Inhalts dieser
Diskurse schöpft der Neokonservatismus aus einem Reservoir an heterogenen Sinn- und
Bedeutungsangeboten, die im Folgenden behandelt werden.
2.2.2 Elemente
2.2.2.1 Epistemologie
Religion
,,Anhänger wie Gegner des Konservatismus sind sich in der Vermutung einig, konservatives
Denken sei ,,religiös eingestellt"" (Greiffenhagen 1986, S. 94). Staat, Gesellschaft und christ-
liche Religion stehen für den Konservativen in einem Zusammenhang der durchgängig
behauptet und an dem bis in die Gegenwart festgehalten wird. Das Fundament der rechtli-

22
chen Gestaltung der Gesellschaft sei ein religiöses, weswegen ein kausaler Zusammenhang
zwischen Säkularisierung und der Veränderung der politischen Kultur und Institutionen
behauptet wird. Der Rückbruch hinter die Ergebnisse der Säkularisierung ist daher ein Ziel
des Konservatismus. Der Schwerpunkt katholisch-konservativer Argumentation liegt dabei
auf der christlichen Kultur als religiöse Praxis mitsamt ihren sakralen Bezugspunkten (Taber-
nakel, Messe, Altar, usw.). Hierin erfolgt eine Überwindung der Schrift als Offenbarungsform,
die als Logos Grundlage und Sinnträger von Rationalismus und Aufklärung ist und war. ,,Der
Konservative ist an dem sozialen Integrationswert der Religion stärker interessiert als an den
religiösen Inhalten selbst" (Greiffenhagen 1986, S. 100). Protestantisch-konservative Argu-
mentationsmuster betonen die christliche Legitimation des gesellschaftlichen und staatlichen
Autoritätsgedankens. ,,Die mit Luther und dem deutschen Protestantismus virulent gewor-
dene Vorstellung, daß alle politische Gewalt in der väterlichen begründet sei ... führte im
politischen Bewußtsein des Konservatismus stets zu der Forderung nach einer starken
Obrigkeit im Staate" (Lenk 1994, S. 142).
Nation
Der Neokonservatismus versucht die Einstellung der BürgerInnen zum Staat grundlegend zu
verändern. Die herkömmlich politisch-partizipatorische bzw. materielle Beziehung soll durch
eine ideelle Glaubensbeziehung zur Nation ergänzt bzw. ersetzt werden. Die Anspruchs-
mentalität soll einem irrationalen emotionalen Identifikationsbedürfnis mit der gedachten
nationalen Gemeinschaft weichen, das auf der soziokulturellen Ebene herzustellen ist. Die
Erzählung von der Nation mag hier als Kompensation für den Bedeutungsverlust des
Christentums gedacht sein, als quasi-religiöse Instanz. Erst einschlägige soziale Praktiken
bewirken die wechselseitige Wahrnehmung der BürgerInnen in ihrem homogenen Glauben
an die Nation, denn Glaube an sich ist vorweg unsichtbar. Solche nationalen Praktiken
fordert der Neokonservatismus in der Betätigung von mehr Bürgersinn, in artikuliertem
Pflichtgefühl und Opferbereitschaft sowie im praktizierten Dienst an der Gemeinschaft
(Kellershohn 1998b, S. 76ff), neuerdings auch im privaten Sicherheitssektor, der als Aufgabe
aller Bürger ausgebaut werden soll, wodurch organisierte private Sozialkontrolle zur staatli-
chen hinzutreten würde (Kunz 1998, S. 182). ,,Durch das Opfer erlangt der Bürger die
Gewißheit, anerkanntes Mitglied der nationalen Gemeinschaft zu sein" (Kellershohn 1998b,
S. 84). Die derart konstruierte nationale Gemeinschaft wird zur ,,Opfer-", ,,Verteidigungs-",
,,Schutz-" und ,,Schicksalsgemeinschaft" angerufen, wenn sie eine Bedrohung von außen
oder innen wahrzunehmen glaubt und als Ergebnisse der neokonservativen Co-Konstruktion
derartiger Bedrohungsszenarien können beispielsweise das Bild vom globalisierten Welt-
markt, die pluralistische, radikal-individualistische Gesellschaft oder die als solche denun-

23
zierten innerstaatlichen reformunwilligen und beharrlichen Kräfte gesehen werden. ,,Der
Feind steht nicht mehr wie früher im Osten, sondern sorgt im Inneren für Modernisierungs-
und Reformstau" (Huhnke 1998, S. 48).
Intellektuellenkritik
Die neokonservative Intellektuellenkritik ist ein relativ junges Phänomen, das sich seit etwa
den 1960er Jahren nachweisen läßt. Den intellektuellen Menschen charakterisiert aus
neokonservativer Sicht ein hoher formaler Bildungsgrad, gesellschaftliches Engagement, ein
Berufstypus im Dienstleistungsbereich, vorzugsweise freiberuflich, im öffentlichen Dienst
oder bei Massenmedien und er steht politisch links. Den Intellektuellen, synonym der ,,Intelli-
genz", wird eine Funktions- und Zwecklosigkeit ihrer Tätigkeit verglichen mit den Experten
aus Wirtschaft, Technik und Staat unterstellt, sie hätten keinen direkten Erfahrungszugang
und seien nicht verantwortlich für praktische Dinge, statt dessen würden sie zunehmend
nach sozialem Status und politischem Einfluß streben. Die Erosion traditionaler Sinnstifter
und religiöser Weltdeutungssysteme benutzten die Intellektuellen, um ihre Fähigkeit zur
Reduktion von Ungewißheit und sinnhaften Orientierung in einer nicht theoriefähigen weil zu
komplexen Gesellschaft für ihre egoistischen Herrschaftsinteressen zu mißbrauchen, was
die Neokonservativen bis zu der Einschätzung bringt ,,die sozialwissenschaftliche Intelligenz
sei ein neuer Klerus" (Dubiel 1985, S. 112).
2.2.2.2 Geschichtsphilosophie
Tradition
Der Konservatismus beruft sich auf orientalisch-griechische Zeitvorstellungen, für die Kreis
und Kugel als Symbole stehen oder aber auf regressive Modelle in denen von einem positiv
bewerteten Urzustand ausgegangen wird, dem aufgrund eines Verstoßes gegen die natürli-
che Ordnung ein Niedergang folgt. Zeitliche Dauer fügt sich zu Tradition und Kontinuität,
idealiter zu Ewigkeit, wenn ihr ein inhaltlicher Grund unterstellt wird, ein Gegenstand, der
überhaupt dauern kann. Gegenstand von Ewigkeit kann nur von Gott kommendes Wissen
sein. Diesem Wissen ist seinem Ursprung nach näher, wer älter ist bzw. ist das Vergangene
dem Ursprünglichen näher als die Gegenwart und verweist stärker auf Herkunft und Identität
mit dem Absoluten, letztlich Göttlichem. Im ,,Boden" wird die Dauerhaftigkeit manifest, er
repräsentiert das Ursprüngliche, indem zumindest seine Topographie sich im Regelfall der
menschlich-rationalen Planung und Veränderung entzieht. Der Boden ist Träger von Tradi-

24
tion, indem Generationen von Familien, Dynastien ihn als Arbeits-, Wohn- und Lebensraum
benutzt haben und ein heimatliches Verhältnis zu ihm aufgebaut haben (Greiffenhagen 1986,
S. 156ff). ,,Der Mensch gilt nur als Glied einer Kette von Generationen und erfüllt sein Dasein
im Dienst an der Gemeinschaft. ... Dienen erzeugt deshalb ... historische Kontinuität und
geschichtlichen Sinn" (Greiffenhagen 1986, S. 159f). Ein Konservatismus, der aus dem
Ewigen heraus leben will und sich des Ewigen erst reflexiv, mit zeitlicher Distanz und unter
geänderten sozioökonomischen Bedingungen bewußt wird verändert es, weil sein erkennt-
nistheoretischer Kontext verschieden ist. Unter dieser Annahme bleibt nur noch der Prozeß
des Tradierens selbst konservierbar. Eine aktuellere Strategie besteht darin, unter stärkerer
Berücksichtigung der sozialintegrativen Funktion von Tradition den Konservatismus als
,,Theorie des kontinuierlichen Wandels" (Greiffenhagen 1986, S. 169) zu verstehen und den
Kontinuitätsbegriff mit der Organismusmetapher und dem Pragmatismus zu verbinden ­
,,Tugend des nächsten Schrittes". Der konservative Traditionalismus wird in allen Bereichen
schlagend, die sich einer kommerziellen Vereinnahmung weitgehend entziehen (v.a. Kultur-,
Bildungs- und Familienpolitik) und fordert dort einen Reflexionsstop und von Begründungs-
forderungen freigesetzte feste Werte. Dieses ,,Traditionskissen" soll die industriegesellschaft-
lichen Belastungen auffangen, wo die monetären und bürokratischen Steuerungen und
Kontrollen versagen (Habermas 1985, S. 65).
Pragmatismus
Die utopiefeindliche Ablehnung einer gedanklichen Antizipation eines gerechteren Zustandes
in Gesellschaft und Politik kommt in der konservativen Verabsolutierung von konkreter Erfah-
rung am unmittelbar Vorhandenen zum Vorschein. Dieser Pragmatismus orientiert sich am
Konkreten und verwirft Ideen der Planung von Fortschritt. Das konservative Denken ist damit
apriori parteiisch, das immer positive Urteil erfolgt vor der Analyse und getrennt von deren
Ergebnissen und zeichnet das Bild einer autonomen Wirklichkeit, die sich der menschlichen
Gestaltung entzieht. Konservatives Denken dient dabei der Klassifizierung und Ordnung der
Umwelt, vermeidet aber ein Reflexionsniveau und einen Abstraktionsgrad, der eine Infrage-
stellung des Bestehenden ermöglichen würde (Lenk 1989, S. 47). Wissen leitet sich aus der
Weisheit der bestehenden Institutionen ab und muß sich nicht weiter rechtfertigen. Die Wirk-
lichkeit in Natur und Gesellschaft wie sie aus der Ethnologie, Biologie, Psychologie, usw.
abgeleitet wird wird zum Programm erklärt gegen welches jedwede Form der Kritik, Reform
oder strukturellen Veränderung apriori abgelehnt wird (Lenk 1989, S. 276f). Ebenso wird die
vorhandene politische Realität gegen die normsetzenden Ansprüche geschriebener Verfas-
sungen verteidigt (Lenk 1994, S. 150f). Entsprechend seinem Verhältnis zur Religion tritt im
Pragmatismus des Konservatismus ,,die Vergötzung dessen, was der Fall ist, ... an die Stelle

25
des christlichen Gottes" (Lenk 1989, S. 293). Der Konservatismus versucht in seiner prag-
matischen Haltung letztlich eine Tautologie, nämlich die Verdoppelung dessen was ohnedies
geschieht im Bewußtsein herzustellen.
Dialektik
Die Position des Konservatismus zu dialektischen Verhältnissen ist jene, daß er sie nicht
aufzulösen versucht, sondern die Widersprüche und Spannungen zu ertragen trachtet,
beispielsweise zwischen Idee und Begriff, Mythos und Logos, Politik und Moral oder wollen
und sein. Grundkonflikte kennzeichnen seine insgesamt schicksalhafte und tragische Welt-
auffassung und Antagonismen sind auch Teil seines Selbstverständnisses, welches daher
sublim ironisch ist. ,,Das Problem des Konservatismus liegt in der widerspruchsvollen Zwei-
heit von ,,Geist" und ,,Leben" begründet. ... Die konservative Verneinung des Geistes zugun-
sten des Lebens will dieses Dilemma nach einer der beiden möglichen Seiten hin ent-
scheiden, wird jedoch bei diesem radikalen Versuch stets auf diesen Verneinungsprozeß des
Geistes und damit auf ihn selbst verwiesen" (Greiffenhagen 1986, S. 236). Dementspre-
chend führt der Neokonservatismus identitäre Diskurse nach dem ,,Entweder-Oder-Schema"
­ Drittes ausgeschlossen (Kessler 1997, S. 94ff).
Konservative Revolution
Die ,,Konservative Revolution", die in der Entwicklung bereits beschrieben wurde, hat ihren
wesentlichen Unterschied zu allen anderen wichtigen konservativen Strömungen in ihrer
Methode. Sie unterscheidet sich v.a. insofern, als in ihr Geschichte geplant und gemacht
wurde, konkret in der Weise, daß in den ansonsten zu ertragenden Dialektiken ein Antago-
nismus auf Kosten der Vernichtung des anderen durchgesetzt hätte werden sollen. Weil der
Konservatismus in der sozialen Realität nur mehr rudimentäre Reste von dem vorfand was
er herkömmlich tradieren und schützen wollte, entschloß er sich methodisch radikal, d.h.
aktivistisch, aktionistisch, letztlich revolutionär, zu werden. ,,Es gilt, so wird durchgängig argu-
mentiert, die bestehenden Verhältnisse völlig umzustürzen, reinen Tisch zu machen und den
Boden zu säubern, auf dem dann das Neue, d.h. aber das Alte ,,wachsen" kann. Ziel der
Revolution ist die zukünftige Rückgewinnung eines vergangenen Zustandes" (Greiffenhagen
1986, S. 242) unter den methodischen Prämissen ,,statt bürgerlicher Freiheit ­ absoluter
Gehorsam!; statt parlamentarischem Verhandeln ­ eiserne Disziplin!" (Lenk 1994, S. 217).
Als inhaltlicher Grundkonsens der Vertreter der ,,Konservativen Revolution" werden im
wesentlichen folgende Faktoren betrachtet: Die Moderne und das industrielle Zeitalter
wurden abgelehnt und sollten durch vorindustrielle Zustände ersetzt werden, die Ideale der

26
französischen Revolution wurden als Verursacher der Moderne betrachtet und ebenfalls
abgelehnt, plurale soziale Interessensvertretungsorganisationen wurden als staatsfeindlich
abgelehnt, der Staat wurde verabsolutiert und aus seinem konkreten Zusammenhang mit der
Gesellschaft herausgelöst, das Prinzip ,,Ordnung" wurde überhöht und gegen vermeintlich
anarchische Entwicklungen ausgespielt (Heuser 1997, S. 56; Lenk 1989, S. 112).
2.2.2.3 Technokratie
Staat
Politische Autorität genießt im konservativen Weltbild vor allem der Staat gegenüber einer
Gesellschaft, deren Emanzipationsbestrebungen seit jeher bekämpft bzw. kritisiert wurden.
Die staatliche Gewalt wird in ihren Grundaufgaben der Friedenssicherung nach Innen und
Außen, Garantie der Rechtssicherheit, Rechtsstaatlichkeit betrachtet. Durch die Stilisierung
des Ernstfalls als Orientierungspunkt staatlichen Handelns werden moralische Überlegungen
und Fragen der demokratisch-diskursiven Willensbildung zweitrangig, wie überhaupt Macht-
verschiebungen innerhalb des staatlichen Apparates weg vom legislativen Moment zugun-
sten exekutiver Organe beobachtet werden können (Kellershohn 1998a, S. 11). Das Autori-
tätsvakuum, welches der Schwund der Glaubensüberzeugungen hinterläßt soll vom starken
Staat und seinen Eliten ausgefüllt werden. Staatliche Autorität ist Garant der privaten Freiheit
der Bürger. ,,Öffentliche Freiheit hingegen, als im eigentlichen Sinne politische, kann es in
diesem Modell nur von Gnaden des Staates geben ... Bürgerliche Freiheit bleibt damit dem
konservativen Grundwert der Ordnung nachgeordnet" (Lenk 1994, S. 169). Als ,,technischer
Staat" legitimiert sich der Staat im konservativen Weltbild durch sein Funktionieren, operatio-
nalisiert in BNP und Konjunkturquote und nicht mehr dadurch, daß er den Willen der Herr-
schaftsunterworfenen umsetzt, was seine Position gegenüber der Gesellschaft stärkt,
gegenüber der Wirtschaft schwächt. Zwar versucht er als Sozialstaat den sozialen Frieden
zu sichern, indem er die negativen Auswirkungen des Konkurrenzkapitalismus durch
Umverteilung von Sozialabgaben abfedert, doch ist er deshalb mit massivem Lobbying von
gesellschaftlichen Gruppen konfrontiert, was zu Tendenzen sowohl einer mit Freiheitsverlu-
sten in der Lebenswelt der Bürger einhergehenden Verstaatlichung der Gesellschaft als auch
umgekehrt Vergesellschaftung des Staates führt, die der Konservatismus strikt ablehnt und
daher auch dem Sozialstaat skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, nicht zuletzt, weil
dieser durch vermeintlich ,,anstrengungslose Absättigung vitaler Bedürfnisse" der Bürger
deren Persönlichkeit verdirbt (Lenk 1989, S. 219ff). Hinter diesen vordergründigen Argu-
menten steht aktuell jedoch die Überzeugung, daß sich der ,,fette Sozialstaat" mit seiner Idee

27
allgemeinen Wohlstands als Hemmschuh am Weltmarkt erweist, weswegen der neokonser-
vative Diskurs eine ,,Verschlankung" und ,,Entbürokratisierung" des Sozialstaates fordert.
Politik
Das von Neokonservativen praktizierte bzw. geforderte Wirtschaftsprogramm des Moneta-
rismus sieht die staatlichen Interventionsmittel des Keynesianismus als die eigentlichen
Ursachen gegenwärtiger Wirtschaftskrisen, weswegen dieses Instrumentarium ,,de-reguliert"
werden müsse. ,,De-Regulierung" steht ,,für alle Versuche der Zurückdrängung des öffentli-
chen Sektors. Staatsfunktionen, d.h. staatlich erbrachte öffentliche Dienstleistungen, werden
,,de-reguliert" oder ,,de-institutionalisiert", indem sie an das System privater Konkurrenzwirt-
schaft zurückgegeben werden" (Dubiel 1985, S. 93), womit einerseits der Staat aus seiner
Legitimitätshaftung für die Wirtschaft entlassen und andererseits Unternehmen von politi-
schen Auflagen befreit werden sollen. Dies betrifft die Apparate mit vorwiegend sozialinte-
grativer Funktion (Arbeit, Bildung, soziale Absicherung, etc.), nicht jedoch die für den Welt-
marktbezug relevanten Staatsapparate (Bundesbank, Außen- und Wirtschaftsministerium),
welche weiter gestärkt werden sollen, um den Verwertungsbedingungen des Kapitals im
Zeitalter der Globalisierung zu genügen (Kellershohn 1998a, S. 11). Der neokonservative
Diskurs in diesem Feld kreist daher um Begriffe wie Standortsicherung, Wettbewerbsfähig-
keit, Freihandel. Neben dem formellen beschäftigungspolitischen Sektor der Erwerbsarbeit
gibt es parallel den informellen Sektor (Hausarbeit, nachbarschaftliche Hilfe, unbezahlte
soziale Dienstleistungen, usw.). Neokonservative Wirtschaftsprogrammatik zielt darauf ab,
Personen vom formellen in den informellen Sektor zu verdrängen, der im konsumptiven
Sinne geldintensiv ist, um den Arbeitsmarkt zu ,,entlasten". Diese ,,repressive Dualisierung"
geht v.a. zulasten von Frauen, ,,Ausländern", Jugendlichen, Alten, Behinderten (Dubiel 1985,
S. 99f). An die Stelle politischer Herrschaft tritt der ,,Sachzwang" der technischen Mittel,
welcher vom Konservatismus in den Rang einer ,,zweiten Natur" gehoben wird und die trieb-
und mangelhafte erste Natur des Menschen stabilisieren helfen soll. Auf der Strecke bleibt
dabei die Politik im herkömmlichen Sinne, mit ihr die Demokratie, denn den Imperativen
ökonomischer Rationalität kann man sich nur bei Strafe des Untergangs der Existenzgrund-
lagen der modernen Industriegesellschaften widersetzen. Makropolitische Entscheidungen
werden nach wissenschaftlichen Überlegungen der Funktionalität und Effizienz technisch-
sachgesetzlich determiniert und werden damit alternativenlos, Politik löst sich in Technologie
auf. Demokratie als Legitimation verliert ihren Zweck dort, wo Sachzwänge Souverän sind
und politische Entscheidungen bedingen und rechtfertigen (Lenk 1989, S. 240f). Nur der
Fortschritt der Produktionstechnik wird als möglicher Fortschritt gesehen, sozialer und politi-
scher Fortschritt sind nicht möglich. ,,Was bleibt, ist der sozialdarwinistisch verlaufende

28
gigantische Kampf um die Verfügung über die technischen Machtressourcen im internatio-
nalen Verkehr" (Lenk 1994, S. 242). Beim Versuch der ,,Entideologisierung der Massen"
behauptet der Konservatismus einerseits, daß alle Ideologien in der Entwicklungsgeschichte
der Menschheit bereits durchgespielt wurden und keine neuen mehr zu erwarten sind,
weswegen den Menschen nur die Möglichkeit bleibt, ,,sich in die vorhandenen Funktionszu-
sammenhänge einzufügen, sich den Institutionen anzupassen, weil sie das einzig Bestän-
dige darstellen. Die mächtigste dieser Institutionen ist die Technik, denn sie hat ihre Metho-
den allen übrigen Lebensbereichen aufgezwungen" (Lenk 1989, S. 243). Andererseits wird
die ideologische Irrelevanz von Technokratie verkündet, die darin bestehen soll, daß der
technische Fortschritt ein der Gesellschaft exogener und von dieser unabhängiger Faktor
sei, was er jedoch nicht ist (Lenk 1989, S. 240f). Über derartige Stabilisierungsversuche
sollen gesellschaftliche Interessenskonflikte neutralisiert werden, den die basalen gesell-
schaftlichen Cleavages verlaufen nicht zwischen Arbeit und Kapital, sondern zwischen in
Nuancen sich unterscheidenden Strategien zur Erreichung einer optimalen Funktions- und
Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems (Greiffenhagen 1986, S. 333) ­
,,There Is No Alternative".
Demokratieverständnis
Die für den Konservatismus klassische demokratietheoretische These ist die Behauptung:
,,die Hauptgefahr für demokratische Gemeinwesen sei die anarchische Überreizung des
Selbstbestimmungsprinzips" (Dubiel 1985, S. 50). Die im 20. Jahrhundert zu dieser These
komplementäre für (Neo)Konservative einflußreichste Demokratietheorie stammt von Joseph
Schumpeter aus 1950. Eine Kurzdefinition dazu lautet: ,,die demokratische Methode ist
diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher
einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um Stimmen des
Volkes erwerben" (Schumpeter zit. in Dubiel 1985, S. 51). Drei maßgebende Überlegungen
liegen dieser Definition zugrunde: Erstens ein Mißtrauen gegenüber irrationalen Neigungen
der funktional differenzierten und wertpluralistischen ,,vermassten" Gesellschaft. Aufklärung
und Volkssouveränität haben den Einzelnen aus seiner Einbettung in den feudalen Absolu-
tismus freigesetzt und diese Individualisierung und Atomisierung ist in konservativer Sicht-
weise die notwendige Bedingung für jedwede totalitäre Herrschaftsform, weil sie Vermas-
sung erst ermöglicht (Lenk 1989, S. 179). Es ist daher nötig ,,einen Großteil der politischen
Entscheidungsmaterien der demokratischen Disposition zu entziehen" (Dubiel 1985, S. 52).
Zweitens der Anspruch von Schumpeter eine realistische Demokratietheorie in dem Sinn zu
entwerfen, als den politischen Eliten auch von wissenschaftlicher Seite der Stellenwert zuge-
billigt wird, den sie tatsächlich haben. Weiter gedacht bedeutet dies die wissenschaftliche

29
Billigung einer Reduzierung des politischen Einflusses der Bevölkerung, deren ausschließli-
che politische Aufgabe es sein soll ihre Beherrscher in regelmäßig abzuhaltenden Wahlen zu
akzeptieren oder abzulehnen. Drittens führt Schumpeters Theorie Marktlogiken in die Demo-
kratietheorie ein und wertet dabei den demokratischen Rationalitätsbegriff ab zugunsten
einer ökonomischen Rationalität, wie sie zB. von Friedrich Hayek oder Milton Friedmann
vertreten wird. ,,Die Souveränität des Volkes wird zur Souveränität des Konsumenten, seine
Freiheit zu einer ökonomischen Wahlfreiheit, die sich darin erschöpft, politische Güter ­ zB.
Gesetze ­ bei der konkurrierenden Partei zu kaufen" (Dubiel 1985, S. 53). Inwieweit
Schumpeters Demokratietheorie heute von Neokonservativen vertreten wird zeigt der Um-
stand, daß die Nichterfüllung der von ihm formulierten ,,Bedingungen für den Erfolg der
demokratischen Methode" unter dem Schlagwort ,,Unregierbarkeit" von diesen kritisiert und
deren Befolgung eingefordert wird, wobei ,,Unregierbarkeit ... die paradoxe Synthese einer
inflationär aufgeblähten reformistischen Erwartungshaltung des politischen Publikums und
des in dramatische psychologische wie fiskalische Liquiditätskrisen geratenden Staatsappa-
rates" (Dubiel 1985, S. 49) sei. Die von Schumpeter formulierten Bedingungen sind im
wesentlichen die Existenz einer homogenen sozialen Schicht zur Elitenrekrutierung, die
Einschränkung der politischen Aktivität auf den Wahlakt, eine darüber hinaus notwendige
politische Apathie der Massen, die kulturpolitische Pflege des jeweils vorgegebenen metapo-
litischen Konsenses innerhalb der Wählerschaft (Dubiel 1985, S. 55f; Moser 1994, S. 143).
2.2.2.4 Organologie
Körper-Politik
Der Konservatismus greift bei der Erklärung seiner Gemeinwesenentwürfe häufig auf Körper-
metaphern und -vergleiche zurück und deutet hierbei vorzugsweise Individuen kollektiv
(jeder Mensch sei eine kleine Gesellschaft) bzw. umgekehrt (jedes Kollektiv funktioniert wie
eine Person). In ersterem ,,liegt der Ursprung der konservativen Auffassung von der Totalität
der Person, wie sie besonders für die letzte Phase des konservativen Denkens Bedeutung
hat und bis heute (1971, Anm. EG) die wichtigste konservative Position darstellt"
(Greiffenhagen 1986, S. 207). Mit letzterem wird die politische Einzelherrschaft gerechtfer-
tigt. Als zwischen Individuum und Staat liegende und von Natur aus vorgegebene Einheit
genießt im Konservatismus die Familie besondere Bedeutung. Auch hier wird der Staat als
Großfamilie, wie auch die Familie als ,,Keimzelle des Staates" gedeutet (Greiffenhagen 1986,
S. 209). Daneben wird auch der Orientierung und Lebenssinn bietenden intermediären
Nachbarschaft Bedeutung beigemessen, denn ,,die Wiederherstellung der nachbarlichen

30
Gemeinde gibt also dem Menschen einen festen Platz in der beweglichen Umwelt des politi-
schen Lebens" (Artur Mahraun zit. in Greiffenhagen 1986, S. 133). Angesichts der einset-
zenden Mobilität und Pluralisierung der Gesellschaft will der Konservatismus diese auf eine
als ursprünglich und homogen unterstellte Totalität rückführen. ,,Nur die Bewegung auf ein
gemeinsames Ziel hin schafft die reale Erfahrung einer zeitweiligen Totalität, d.h. einer
hohen ideologischen Homogenität. ... Totalität ist unter den Bedingungen der modernen Zivi-
lisation nur noch dynamisch zu denken" (Greiffenhagen 1986, S. 217).
Gesellschaftsbild
Der Konservatismus hat zu seinem Technokratiepostulat den Gesellschaftsentwurf der
,,formierten Gesellschaft" entwickelt, mit dem versucht werden sollte, ,,die Grundgedanken
eines technokratischen Konservatismus, der sich an die moderne Gesellschaft anpassen
wollte, um sie souverän zu beherrschen, in ein handlungsleitendes Konzept umzusetzen"
(Schildt 1998, S. 241). In diesem Konzept ging es darum, ,,den Pluralismus der organisierten
Interessen nicht mehr hilflos zu kritisieren und abstrakt für Staatsgesinnung, uneigennütziges
Pflichtethos und andere hehre Werte einzutreten, sondern zu begreifen, daß der Pluralismus
selbst eine Bedingung für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft geworden war, so
daß es nur darauf ankommen konnte, diese pluralistischen Interessen selbst wieder in eine
Gesamtheit einzubinden" (Schildt 1998, S. 241), nämlich in das gemeinsame Interesse am
Funktionieren und Wachsen der Wirtschaft. Dabei ist die Figur des Managers Sinnbild der
sozialen Elite demgegenüber der inkompetente Bürger und der technikfremde und verant-
wortungslose Intellektuelle zurückstehen müssen, denn mit zunehmender Ausdifferenzierung
und Komplexität im ökonomischen System wächst der Status des Experten gegenüber den
außenstehenden unbeteiligten Laien. Der Neokonservatismus favorisiert die Leistungsge-
sellschaft (,,Meritokratie") als gerechte Sozialordnung, weil sie, so die Behauptung, willkürli-
che (zB. ererbte) Verteilungen von Macht und Eigentum durch ein System der Honorierung
persönlicher Verdienste ersetzt, deren Erbringung von der genetischen Prädisposition
abhängig ist. Der Staat hat hier so zu verfahren, daß er gleiche Ausgangsbedingungen und
Chancen für alle schafft und sich in diesem Sinne neutral und gerecht verhält. Das merito-
kratische System soll gewährleisten, daß die gesellschaftlichen und politischen Spitzenposi-
tionen von den ,,genetischen Eliten" besetzt werden (Moser 1994, S. 140f). Die neokonser-
vative Diktion von Leistungsgesellschaft verwendet dabei Begriffe wie ,,Flexibilität", ,,Eigen-
verantwortung", ,,Opferbereitschaft", ,,Ehrenamt", ,,Eigeninitiative", ,,Selbständigkeit" (Kellers-
hohn 1998a, S. 7ff). An die Stelle des gehorsamen Untertanen der sich staatlichen oder
sachlichen Zwängen bloß unterwirft tritt das dynamische Subjekt, das die Regeln der Härte
freiwillig praktiziert. Es treten ,,an die Stelle von Treue und Gehorsam ... Eigeninitiative und

31
Tatendrang" (Kreft/Uske 1998, S. 138). Die resultierenden tatsächlichen sozialen Unter-
schiede werden nicht auf die mangelnde soziale Vertikaldurchlässigkeit, das Erbrecht oder
den Paternalismus zurückgeführt, sondern, mittels Behauptungen aus Intelligenzforschung
und Genetik, auf die jeweils angeborenen Eigenschaften der Menschen, den ,,für Konserva-
tive sind Unterschiede des Talents, der Neigung und Motivation Teil der angeborenen
Grundausstattung des Individuums" (Dubiel 1985, S. 70). Dahinterliegend mag für die
Neokonservativen das Ziel sein, ,,die moralische Norm politischer Gleichheit der Menschen
aus der Welt zu schaffen" (Moser 1994, S. 143).
Frauenbild
Das konservative Frauenbild ist das Ergebnis des Versuchs einer naturalisierenden
Verknüpfung der weiblichen Geschlechtsausprägung mit den ,,Funktionen" Mutter und Haus-
halt, dies je nach gesellschaftlichem Entwicklungsstand mehr oder weniger explizit. Eine
neokonservative Variante des Umgangs mit Frauenfragen sieht daher die Methode der Anni-
hilation vor, d.h. weibliche Lebenslagen werden durch Nichtbeachtung ignoriert. Eine andere
arbeitet mit der Frau-Mann-Dichotomie und assoziiert jeweils mit Inhalten aus dem konser-
vativen Wertangebot, so zB. Tradition oder Boden/Heimat oder neokonservativer Kulturkritik.
,,Die entscheidende Rolle für die Vermittlung des traditionellen Erbes nimmt die Frau als
Mutter ein. Mütterlich erscheint dem Konservativen die Vergangenheit, in deren Schoß alles
Gewesene ruht, im Gegensatz zu der fordernden, väterlich-unruhigen Zukunft"
(Greiffenhagen 1986, S. 157f). Der Konservatismus will ,,in der Beschwörung von ,,Heimat"
offenkundig den Appell an die harte Variante vaterländisch-kriegerischer Identitätsstiftung
vermeiden und setzt auf die regional-lokal begrenzte, landschafts- und naturgebundene Va-
riante der Blut- und Bodenbindung, die immer auch ,,uterale" Komponenten hat"
(Veichtlbauer/Liebhart 1997, S. 136). ,,Der Pazifismus, der Hang zur Sicherheit und zum
Komfort ... das sind doch Qualitäten, die ihren ursprünglichen und legitimen Ort im Schoße
der Familie haben, und in denen folglich der Feminismus seine starke Farbe dazutut, denn
die Frau trägt instinktiv in alle Wertungen die Interessen der Kinder hinein, die Sorge für
Nestwärme, für verringertes Risiko und Wohlstand" (Gehlen zit. in Kellershohn 1998b, S. 76).
2.2.2.5 Pädagogik
Menschenbild

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832479220
ISBN (Paperback)
9783838679228
Dateigröße
905 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Salzburg – Geisteswissenschaftliche Fakultät
Note
1,0
Schlagworte
konservatismus zivilgesellschaft demokratietheorie staat libertär
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