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Welche Faktoren zögerten den Beitritt Chinas zur WTO hinaus?

Nationale, auswärtige und internationale Aspekte in einer induktiven Analyse: Interessenvertretung oder Sozialisation?

©2004 Diplomarbeit 97 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Das Verständnis des Beitrittsprozesses der Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation ist grundlegend für das Verständnis des gesamten Themenkomplexes China und WTO und auch für die Folgen, da im Beitrittsprozess die Politikverflechtungen zwischen den Ebenen und Akteuren, die auch von den Folgen betroffen sind bzw. diese beeinflussen, enthalten sind. Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation mit seinen vielfältigen Auswirkungen ist ein wichtiges wirtschaftspolitisches Thema dieser Zeit. Insbesondere die noch zu erwartenden Folgen sind von großem praktischen Interesse für Politik, Verwaltung und Wirtschaft, da die Akteure in diesen Bereichen auf mögliche Folgen reagieren müssen. Ferner ist der Beitritt zur Welthandelsorganisation auch ein Baustein im (wirtschaftlichen) Transformationsprozess von der Zentralverwaltungswirtschaft maoistischer Bauart zur Marktwirtschaft. Der Beitritt mit seinen Folgen berührt viele grundlegende Probleme des Landes.
Angesichts des Beitritts der Volksrepublik China zur Welthandelsorganisation im Jahre 2001 nach über 15-jähriger Verhandlungsdauer stellt sich rückblickend die Frage, wodurch sich die lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses erklärt.
Zielsetzung dieser Arbeit ist es verschiedene Aspekte, die für die lange Dauer verantwortlich waren, zu identifizieren und zu testen, wie diese erklärt werden können und die wichtigeren und weniger wichtigen unabhängigen Variablen, die für die Erklärung der abhängigen Variable – die von der Außenhandelstheorie erwartete, abweichende lange Dauer des chinesischen Beitrittsprozesses – verantwortlich waren, herauszuarbeiten. Nach der Definition der zentralen Variablen (‚Interessenvertretung’ und ‚Sozialisation’ als Erklärung für die ‚unerwartet lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses’) und der Vorstellung des theoretischen Analyserahmens (Liberalismus, Protektionismus und Sozialkonstruktivismus) werden in einem dritten Schritt Daten und Informationen zum Beitrittsprozess Chinas und der WTO dargestellt. Die Außenhandelstheorie wird mit den anderen drei Theorien nicht auf eine Ebene gestellt und nicht im Theorieteil erwähnt, weil sie nur zur Argumentationsgrundlage gehört und die Problemstellung aufwirft. Sie erklärt ferner den Beitritt, nicht jedoch die Verzögerung.
In der Analyse ergibt sich, dass zu dem langen Beitrittsprozess erstens nationale Aspekte, wie die teilweise schlechten Voraussetzungen, die daraus resultierende Erwartung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Frage- und Problemstellung

Angesichts des Beitritts der Volksrepublik China zur Welthandelsorganisation im Jahre 2001 nach über 15-jähriger Verhandlungsdauer stellt sich rückblickend die Frage, wodurch sich die lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses erklärt.

Der lange Beitrittsprozess gibt ein Problem auf, da sich nach der Außenhandelstheorie die Wohlfahrt von Staaten durch Handel erhöht und es deshalb im Interesse von rational denkenden, staatlichen Akteuren ist, miteinander Handel zu treiben. Da Handel heutzutage zunehmend durch die WTO funktioniert, kann das Bestreben, den Handel der eigenen Wirtschaftssubjekte mit den Wirtschaftssubjekten anderer Staaten zu fördern, mit dem Bestreben, der Welthandelsorganisation beizutreten, für diese Arbeit gleichgesetzt werden.

Die Außenwirtschaftslehre hat die Austauschbeziehungen zwischen Wirtschaftsakteuren […] verschiedener Volkswirtschaften zum Gegenstand. Betrachtet werden alle Institutionen, Strukturen, Vorgänge und Phänomene, die mit dem grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, (Dienst-)Leistungen und Kapital zusammenhängen (Kortmann 1998: 1).

Die klassischen Ansätze der Außenhandelstheorie erklären die Vorteile einer außenwirtschaftlichen Integration durch:

- absolute Nichtverfügbarkeit von bestimmten Gütern in bestimmten Staaten (z. B. Öl, Südfrüchte),
- absolute Kostenvorteile, d. h. dass Unternehmen in bestimmten Staaten bestimmte Güter absolut billiger herstellen können als in anderen Staaten (Textilien in der Volksrepublik China aufgrund billiger Löhne),
- relative Kostenvorteile, d. h. dass es ausreicht, dass die Differenz der Produktionskosten eines bestimmten Produktes relativ zu den Produktionskosten eines anderen Produktes im gleichen Land größer ist als die Differenz der Produktionskosten zwischen den gleichen Gütern in einem anderen Land,
- Größenvorteile, die es Unternehmern in einem Staat wegen größerer Konkurrenz erlauben, billiger zu produzieren.
Neuere Theorieansätze besagen, dass, sogar wenn keine komparativen Kostenvorteile zwischen Volkswirtschaften bestehen, sich Handel zwischen ihnen lohnen kann:
- Dies wird auf economies of scale – die Nutzung von Größenvorteilen - zurückgeführt. Diese werden dann relevant, wenn die Erhöhung der Betriebsgröße zu einer überproportionalen Erhöhung der Outputmenge führt. Bestimmte hocheffiziente Produktionsverfahren lassen sich darüber hinaus erst ab einer bestimmten Produktionsmenge einführen. Somit sinken auch die Fixkosten mit steigender Produktionsmenge. (Kortmann 1998: 150-154)
- unterschiedliche Nachfragerpräferenzen, die es erlauben, bestimmte Güter in anderen Staaten teurer zu verkaufen und
- erhöhter Wettbewerbsdruck, der ebenfalls zu Kosten- und Preisvorteilen führt

(Kortmann 1998: 1-3, 76-78, 83, 137-159, 189-240, 241-265).

Die Theorie wird von der Empirie gestützt; man kann feststellen, dass die meisten Staaten deutlich weniger Zeit für den Beitrittsprozess gebraucht haben, obwohl der Beitritt Chinas zur WTO wesentlich bedeutender für die WTO und für ihre Mitgliedsstaaten gewesen war. Der Beitrittsprozess der Volksrepublik China zur Welthandelsorganisation dauerte – wenn man die engste Auslegung des Beitrittsprozesses zugrunde legt - 15 Jahre. Dies ist länger als die Zeitdauer der Prozesse bis zur offiziellen Aufnahme in das GATT/die Welthandelsorganisation fast aller anderen Staaten, was auch ein Blick auf Abbildung 1 verdeutlicht. Dort werden die Längen aller bisherigen Beitrittsprozesse, oben beginnend mit dem längsten Prozess bis zum kürzesten am Ende der Liste, dargestellt.

Abbildung 1: Darstellung der Länge der Beitrittsprozesse von Staaten oder Freihandelszonen zum GATT/zur WTO nach ihrer zeitlichen Dauer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: http://www.wto.org/english/thewto_e/acc_e/completeacc_e.htm#alb

Überraschend ist der lange Beitrittsprozess nicht nur im Vergleich mit anderen Staaten, sondern auch weil der Beitritt auf der Basis von durchaus plausiblen Annahmen mehrere Jahre vor dem tatsächlichen Beitritt regelmäßig für das darauf folgende Jahr prognostiziert wurde und damit tatsächlich lange vor dem tatsächlichen Beitritt 2001 möglich erschien.

Auf der Basis der drei geschilderten Annahmen (Außenhandelstheorie, Empirie, Prognosen) hätte man einen deutlich schnelleren Beitrittsprozess Chinas in die WTO erwarten können. Die Differenz, die sich aus Erwartung und Empirie ergibt, ist die Problemstellung der vorliegenden Arbeit: Warum dauerte der Beitrittsprozess so lange?

Abbildung 2: Grafische Darstellung des Forschungsproblems

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Autor der Abbildung: Jonas Seyppel)

Zielsetzung und Grobgliederung

Zielsetzung dieser Arbeit ist es verschiedene Aspekte, die für die lange Dauer verantwortlich waren, zu identifizieren und zu testen, wie diese erklärt werden können und die wichtigeren und weniger wichtigen unabhängigen Variablen, die für die Erklärung der abhängigen Variable – die von der Außenhandelstheorie erwartete, abweichende lange Dauer des chinesischen Beitrittsprozesses – verantwortlich waren, herauszuarbeiten.

Die Gliederungsaspekte in der Analyse hängen von der Zielsetzung der Arbeit ab. Da das Ziel in erster Linie das Herausfinden des Gewichtes der verschiedenen Erklärungsansätze ‚Interessenvertretung’ und ‚Sozialisation’ ist, bringt eine Unterscheidung in wirtschaftliche und politische Aspekte Gewinn. Der Interessenvertretungsansatz hängt in diesem Fall mehr mit den wirtschaftlichen und der Sozialisationsansatz mehr mit den politischen Aspekten zusammen. Diese Unterscheidung unterliegt einigen Beschränkungen, zieht sich jedoch, wenn auch nicht immer explizit, aus den Überschriften erkenntlich durch die gesamte Analyse.

Diese Untersuchung wird auf der Makroebene vorgenommen. Individuelle Präferenzen und Entscheidungen werden daher nur in Ausnahmen berücksichtigt, wenn auch Einzelakteure durchaus eine Rolle spielen können.

Nach der Definition der zentralen Variablen (‚Interessenvertretung’ und ‚Sozialisation’ als Erklärung für die ‚unerwartet lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses’) und der Vorstellung des theoretischen Analyserahmens (Liberalismus, Protektionismus und Sozialkonstruktivismus) werden in einem dritten Schritt Daten und Informationen zum Beitrittsprozess Chinas und der WTO dargestellt. Die Außenhandelstheorie wird mit den anderen drei Theorien nicht auf eine Ebene gestellt und nicht im Theorieteil erwähnt, weil sie nur zur Argumentationsgrundlage gehört und die Problemstellung aufwirft. Sie erklärt ferner den Beitritt, nicht jedoch die Verzögerung. In der Analyse ergibt sich, dass zu dem langen Beitrittsprozess erstens nationale Aspekte, wie die teilweise schlechten Voraussetzungen, die daraus resultierende Erwartung negativer Folgen einiger Gruppen und sich daraus ergebende protektionistische Haltungen und Handlungen, beitrugen und zweitens die chinesische Außenhaltung, die sich in einer harten Interessenvertretung manifestierte. Mit der Tatsache, dass drittens die Mitgliedsstaaten der WTO-Arbeitsgruppe China ebenfalls harte Interessenvertretung betrieben, oder den WTO-Regeln der Beitrittsverhandlungen kann jedoch beispielsweise die dreijährige Aussetzung der Verhandlungen nach Tiananmen nicht erklärt werden. Staaten der internationalen Gemeinschaft hatten ein ideelles Problem damit, einen Staat in die WTO aufzunehmen, der außerhalb einer bestimmten Werteordnung stand, und zogen China durch einen Prozess, der als Sozialisation interpretiert werden kann.

Verwendete Methode, Materialien und Forschungsstand

Es wird induktiv vorgegangen, d. h. vom Einzelfall/von der Fallstudie (Chinas WTO-Beitrittsprozess) wird auf das Allgemeine (Protektionismus, Liberalismus, Sozial Konstruktivismus) geschlossen. Die abhängige (zu erklärende) Variable der vorliegenden Arbeit – die ‚unerwartet lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses’ – wird durch die beiden unabhängigen (erklärenden) Variablen – ‚Interessenvertretung’ und ‚Sozialisation’ erklärt werden. Wie aus der Grobgliederung bereits ersichtlich werden konnte, sind die Operationalisierungen schwer quantitativ messbar. Deshalb sind die Handlungen relevanter Akteure, sowie bestimmte Sachlagen, die logische Schlussfolgerungen für die Motive bestimmter Aktionen geben als die Operationalisierungen anzusehen.

Die in dieser Arbeit verwendete Methodik ist in erster Linie eine Sekundärliteraturanalyse, die durch den Einbezug von Experteninterviews und die Auswertung von Primärtexten und -quellen ergänzt wird.

Die Sekundärtexte setzen sich aus sinologischen, politologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Texten zusammen, die teilweise in deutscher, teilweise in englischer und teilweise in chinesischer Sprache geschrieben sind. Es handelt sich dabei um Literatur über die Volksrepublik China, über die Welthandelsorganisation, über den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation und einige andere Titel. Die Primärquellen sind Daten und Statistiken von verschiedenen Institutionen.

Der Forschungsstand zur Thema des langen Beitrittsprozesses ist, dass mit einzelnen Faktoren und den dazugehörigen Theorieansätzen die Diskrepanz zwischen der Realität und den theoretischen Annahmen erklärt wird. Blume (2002) erklärt den langen Beitrittsprozess beispielsweise mit dem Protektionismus innerhalb Chinas. Damit kann jedoch kaum der gesamte Prozess erfasst werden, da weder die US-chinesischen Verhandlungen noch das dreijährige Aussetzen der Verhandlungen nach dem Tiananmen-Vorfall nicht mit dem Protektionismus erklärt werden können. Das macht es sinnvoll auch andere Autoren heranzuziehen, für die der Beitrittsprozess vor allem im Zeichen der Interessenvertretung auf der und durch die intergouvernementale Ebene während der bilateralen Verhandlungen Chinas und der USA (Gurbaxani/Opper 1998) steht. Für wieder andere ist der lange Beitrittsprozess auf die Folgen des Tiananmen-Vorfalls zurückzuführen (Hathaway 2003, Suettinger 2003), die letztendlich, wie in der vorliegenden Arbeit argumentiert wird, als Sozialisationsprozess interpretiert werden können.

Das Neue an dieser Arbeit ist der Versuch, den Prozess in seiner Gesamtheit mit sich ergänzenden und nicht miteinander konkurrierenden Ansätzen zu erklären.

Wissenschaftliche und praktische Bedeutung

Das Verständnis des Beitrittsprozesses der Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation ist grundlegend für das Verständnis des gesamten Themenkomplexes China und WTO und auch für die Folgen, da im Beitrittsprozess die Politikverflechtungen zwischen den Ebenen und Akteuren, die auch von den Folgen betroffen sind bzw. diese beeinflussen, enthalten sind.

Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation mit seinen vielfältigen Auswirkungen ist ein wichtiges wirtschaftspolitisches Thema dieser Zeit. Insbesondere die noch zu erwartenden Folgen sind von großem praktischen Interesse für Politik, Verwaltung und Wirtschaft, da die Akteure in diesen Bereichen auf mögliche Folgen reagieren müssen. Ferner ist der Beitritt zur Welthandelsorganisation auch ein Baustein im (wirtschaftlichen) Transformationsprozess von der Zentralverwaltungswirtschaft maoistischer Bauart zur Marktwirtschaft. Der Beitritt mit seinen Folgen berührt viele grundlegende Probleme des Landes.

I. Definition der zentralen Variablen

Im vorliegenden Teil werden Arbeitsdefinitionen der Begriffe entworfen. Die Begriffe werden also auf für die vorliegende Untersuchung praktikable Definitionen zugespitzt oder variiert. Es kann durchaus andere Definitionen für die vorliegenden Begriffe und verschiedenen Konzepte im Zusammenhang mit diesen Begriffen geben, die hier jedoch nicht im Einzelnen aufgeführt und verglichen werden.

1 Unerwartet lange Zeitdauer des Beitrittsprozesses

Von der offiziellen Beitrittsbekundung 1986, als Anfangsdatum der engsten Definition des Beitrittsprozesses, dauerte der Prozess bis zur offiziellen Aufnahme Chinas in die WTO (2001) 15 Jahre. Mit der Formulierung „unerwartet lange Zeitdauer“ wird die Länge des Beitrittsprozesses von 15 Jahren bezeichnet, welche relativ zu dem, was man aufgrund der in der Einleitung genannten Grundannahmen (Institutionalismus u.a., AHT, Empirie und Voraussagen) hätte erwarten müssen, zu lang und damit unerwartet ist.[1] Die abhängige Variable, also das, was in der vorliegenden Arbeit mit Hilfe der unabhängigen Variablen erklärt werden soll, ist der von den Erwartungen abweichende, lange Beitrittsprozess.

2 Interessenvertretung

‚Interesse’ bedeutet von Wichtigkeit sein und wird im Sinn von Nutzen, Vorteil oder Gewinn gebraucht (Brockhaus). ‚Vertretung’ bedeutet für etwas stehen oder durchsetzen. ‚Interessenvertretung’ wird in der vorliegenden Arbeit als der Versuch des Durchsetzens eigener (materieller) Vorteile definiert. In der Literatur werden meist Interessengruppen oder Verbände behandelt. Die Definition von Nohlen bestätigt jedoch die erste Annäherung, die durch die Definitionen des Brockhaus vorgenommen wurde. Interessen oder eigene materielle Vorteile werde von Gruppen vertreten, denen Gruppe mit teilweise gegensätzlichen Interessen gegenüberstehen. Diese verschiedenen Interessen werden in Gesellschaften dann durch Institutionen und formelle oder informelle Beziehungen (Netzwerke) vermittelt. (1996: 289-290; vergl. dazu auch Schmid 1998: 1-66)

3 Sozialisation

Sozialisation bedeutet

die Gesamtheit der Phasen [...], durch die der Mensch eine zweite [...] [soziokulturelle Geburt] [...] erlebt; er wird zur sozialen, gesellschaftlich handlungsfähigen Persönlichkeit, indem er in gesellschaftliche Struktur- und Interaktionszusammenhänge (z. B. in [...] Gruppen [...]) hineinwächst (Brockhaus 2002).

Sozialisation wirkt sich erstens auf das Individuum aus, indem Sozialisation das Individuum zur relativ unabhängigen, gefestigten Persönlichkeit macht. Zweitens wirkt es sich auf das System aus, in dem das Individuum agiert, indem Sozialisation für die Anpassung des Individuums an die gesellschaftlichen Rollen und Verhaltensanforderungen sorgt und damit systemstabilisierend und traditionsbewahrend wirkt. Instanzen der Sozialisation sind beispielsweise die Schule oder der Arbeitsplatz. Die Lebenslage oder Situation, in der sich das Individuum befindet, wirken sich damit stark auf die Sozialisation aus (Brockhaus).

Manifeste Sozialisationen sind die absichtsvollen, zielgerichteten, systematischen, offenen und vorwiegend bewusst wahrgenommenen Lernprozesse, welche im Gegensatz zu latenten Lernprozessen stehen (Holtmann 2000: 532-533).[2]

II. Theoretischer Analyserahmen

Sowohl das, was über Chinas nationale und auswärtige Politik als auch das, was über die internationale Politik im Zusammenhang mit dem chinesischen WTO-Beitritt ausgesagt werden kann, hängt generell von den Verhaltensansätzen ab, die in der Analyse komplexer Phänomene aus der Realität, wie dem Beitrittsprozess eines Staates zu einer internationalen Organisation, zugrunde gelegt werden (vgl. Rittberger 2001).

Wenn man die voneinander abweichenden Perspektiven zur Erklärung der Länge des Beitrittsprozesses betrachtet, wird die Relevanz solcher Verhaltensansätze deutlich. Für einige Autoren ist der Beitrittsprozess a) vor allem auf Interessenvertretung u.a. auf Provinzebene zurückzuführen (Blume 2002); für andere Autoren steht er b) vor allem im Zeichen der Interessenvertretung auf der und durch die intergouvernementale Ebene während der bilateralen Verhandlungen Chinas und der USA (Gurbaxani/Opper 1998); für wieder andere leitet sich der lange Beitrittsprozess c) von den Folgen des Tiananmen-Vorfalls ab (Hathaway 2003, Suettinger 2003), die letztendlich, wie in der vorliegenden Arbeit argumentiert wird, als Sozialisationsprozess interpretiert werden können.

Die Debatte, wie der Beitrittsprozess theoretisch zu erfassen ist, kann also auf eine lokale Art der Interessenvertretung, auf eine intergouvernementale Art der Interessenvertretung und auf Sozialisation zugespitzt werden.[3] Den verschiedenen Perspektiven liegen, wie Abbildung 3 entnommen werden kann, unterschiedliche Metaansätze, Theorien und Ansätze zugrunde. Die zwei Theorien, die in dieser Arbeit Anwendung finden und dem Ansatz der Interessenvertretung zugrunde liegend sind, sind der Protektionismus (auch Merkantilismus) und der Liberalismus, beides rationalistische Theorien. Die Verhaltensannahmen des Sozialkonstruktivismus sind hingegen reflexiv, während die Verhaltensannahmen der zwei rationalistischen Theorien Rationalität und Eigeninteressiertheit sind. Die rationalistischen Theorien stehen einem Verhaltensmodell der absoluten Gewinnmaximierung nahe. Konstruktivistische Theorien bevorzugen das Verhaltensmodell eines Rollenspielers. Die zentrale Variable sowohl des Protektionismus als auch des Liberalismus in dieser Arbeit ist Interessenvertretung (auf absolute Gewinne orientiert). Die zentrale analytische Kategorie des Sozialkonstruktivismus ist Sozialisation. Ziele einer rationalistischen Politik unter den Vorzeichen der zwei erwähnten Theorien sind die Wohlstandsmaximierung. Das Ziel einer konstruktivistischen Politik ist Zivilisierung. Anzumerken ist, dass Protektionisten eher kurzfristig denken, während Liberalisten auch längerfristige Ziele im Auge haben. Die bevorzugten Politikstile von protektionistischen Akteuren sind Abschottung, die von liberalistischen Akteuren sind kooperativer Austausch und utilitaristischer Multilateralismus. Sozialkonstruktivistische Akteure stellen Überzeugung, rechtliche Kodifizierung und Multilateralismus in den Vordergrund.

Abbildung 3: Theoretische Ansätze zur Erklärung der unerwartet langen Zeitdauer des Beitrittsprozesses

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vergl. Rittberger 2001)

Es werden zwei Ansätze (Rationalismus und Konstruktivismus) ergänzend zur Erklärung herangezogen. Der Autor ist sich bewusst, dass dies ungewöhnlich ist, da die Debatte in den internationalen Beziehungen gerade darum geht, welches der beiden Menschenbilder zutreffender ist. Dies macht in der vorliegenden Arbeit Sinn, da die Komplexität der Akteure und Beziehungen des Beitrittsprozesses mehrere Motive nicht nur ergänzend zulässt, sondern zur Erklärung der gesamten Ursachen für die Verzögerung nötig macht.

Es werden gerade diese zwei Ansätze verwendet, weil Rationalismus die Phänomene der Interessenvertretung auf der nationalen und internationalen Ebene abdeckt und Konstruktivismus an weitere Phänomene mit einem nicht rationalistischen Ansatz herangeht.

Diese zwei Ansätze sind für diese Arbeit geeigneter als die Außenhandelstheorie, weil die Außenhandelstheorie zu modellhaft ist, als dass sie die Realität adäquat abdecken könnte. Die gewählten Ansätze sind konkreter und können die Realität besser erklären. Die Grundannahmen der Außenhandelstheorie treffen fast in keinem Fall wirklich zu, da es beispielsweise kleine Länder (die Pazifikstaaten) gibt, in deren Interesse es oftmals nicht liegt in die WTO einzutreten und es zu viele intervenierende Variablen, wie z. B. Arbeitslosigkeit, gibt.

Der ‚Protektionismus’ wurde verwendet, da er den Erfordernissen dieser Arbeit insofern entspricht, als dass er ausschließlich auf der lokalen Ebene verwendet werden kann. Dagegen wird der Liberalismus auf der internationalen Ebene angewandt, kann jedoch (als subsystemische Theorie, im Gegensatz zum Realismus oder dem Institutionalismus) auch Aspekte unterhalb der gouvernementalen Ebene einbeziehen. Für rein nationale Angelegenheiten ist er zum Protektionismus als Theorie der internationalen Politik nicht geeignet. Deshalb werden zwei Theorien im Zusammenhang mit dem Ansatz der Interessenvertretung verwendet. Der Liberalismus hat gegenüber dem Realismus den Vorteil nicht nur die subsystemische Ebene einbeziehen zu können, die Interessenvertretung im Rahmen von Kooperation, die mit dem Realismus schlecht zu erklären wäre. Mit dem Konstruktivismus kann Interessenvertretung schwer gedeutet werden, da diese Theorie keine rationalistischen Grundannahmen wie das Handeln im Eigeninteresse in ihrem Spektrum enthält. Der Liberalismus lässt also im Gegensatz zu den andren beiden Theorien drei Dinge zu: Interessenvertretung, Kooperation, subsystemische Ebene. Der rationalistische Ansatz erklärt jedoch nicht alles, man denke an die Aussetzung der Verhandlungen nach dem Tiananmen-Prozess, so dass ein konstruktivistischer Ansatz zur Ergänzung dient.

1 Rationalistische Theorien

Theorien, die dem Rationalismus zuzurechnen sind, haben bestimmte Grundannahmen gemeinsam. Eine der Grundannahmen, die für den Zusammenhang dieser Arbeit essentiell ist, ist jene, dass Menschen versuchen, auf der Grundlage logisch-rationaler Überlegungen und Handlungen ihren eigenen Nutzen zu maximieren, also ihre eigenen Interessen zu vertreten.

Bei rationalen Akteuren stehen der Kooperation Hindernisse entgegen, obwohl eine Kooperation letztendlich für beide vorteilhaft ist. Der Grund dafür ist mangelndes Vertrauen in die Rationalität des anderen. Das Versicherungsspiel aus der Spieltheorie veranschaulicht das Problem. Beide Akteure könnten das maximale Ergebnis (4/4) für sich erreichen, wenn sie kooperieren. Dennoch kommt es manchmal zu Nichtkooperation, weil jeder befürchtet, im Falle von Kooperation, mit dem schlechtest möglichen Ergebnis (1/3) dazustehen, wenn der andere Spieler entgegen seiner Zusagen nicht kooperiert. Bei Zusage zur Kooperation und gleichzeitigem Bruch der Zusage hat man zwar in keinem Fall das beste Ergebnis, jedoch auch nicht das schlechteste (3/1 oder 2/2). Übertragen auf bilaterale Verhandlungen, beispielsweise zwischen China und Mexiko im Rahmen der WTO-Beitrittsverhandlungen, hieße dies, dass sich beide Akteure nur bei einem großen Vertrauen in die Rationalität des anderen zur Zusage und vor allem Einhaltung der Kooperation entschließen würden, um den Weg zum bestmöglichen Ergebnis, dem WTO-Beitritt (4/4) zu ebnen. Solange dieses Vertrauen in die Rationalität des anderen nicht da ist, wird jeder sicherstellen, dass er nicht von dem Verhandlungspartner betrogen wird, also nicht kooperieren (2/2). Das hieße nämlich eigene Kooperationsleistungen zu erbringen bei gleichzeitigem Nichtgenuss der zugesagten Leistung des anderen (1/3).

Abbildung 4: Versicherungsspiel

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.1 Protektionismus

Grundannahmen des Protektionismus

Der Protektionismus sagt aus, dass sich Akteure innerhalb einer Volkswirtschaft einer außenwirtschaftlichen Integration entgegenstellen, da sie in dieser Öffnung für sich keine Vorteile sehen (Blume 2001: 16-24).

Interessenvertretung im Protektionismus

Im Protektionismus glaubt man entweder nicht an die Vorteile außenwirtschaftlicher Integration, so dass man sich auf „altbewährte“ eigene Kräfte verlässt, oder man beurteilt das Einsetzen dieser Vorteile als zu spät, so dass man selbst kaum noch Nutzen aus diesen ziehen kann. Darüber hinaus kann außenwirtschaftliche Integration kurzfristig durchaus Nachteile für einige Gruppen bringen. Aus welchen Gründen auch immer nun Akteure ihre Vorteile im Protektionismus sehen, sie versuchen diese durchzusetzen.

Hypothese (P1):

Wenn Akteure innerhalb der Volkswirtschaft der VR China negative Folgen für sich in dem WTO-Beitritt und damit in einer außenwirtschaftlichen Integration sehen, dann wirken sie, sofern es in ihrer Macht steht, auf die Zentralregierung ein, um den Beitritt zu verhindern, den Prozess hinauszuzögern oder zumindest ihre Interessen berücksichtigt zu sehen. Umgekehrt wird auch die Zentralregierung von sich aus auf diese Interessengruppen Rücksicht nehmen, wenn sie die negativen Folgen eines Beitritts für diese Gruppen für etwas hält, das nicht in ihrem eigenen Interesse ist. Diese protektionistische Interessenvertretung verzögert den Beitrittsprozess und trägt damit zur unerwartet langen Zeitdauer des Beitrittsprozesses bei.

1.2 Liberalismus

Grundannahmen des Liberalismus

Da die liberalistische Denkschule dazu dient, den Erklärungsansatz der Interessenvertretung auf internationaler bzw. intergouvernementaler Ebene in einen theoretischen Rahmen einzuordnen, um ein transparentes Konstrukt zu haben und um überhaupt Hypothesen ableiten zu können, sind für uns in erster Linie die Grundannahmen des Liberalismus relevant und nicht die speziellen Annahmen der Untertheorien:

Der Liberalismus hat grundsätzlich eine positive Sicht der menschlichen Natur. Eine dauerhafte und nachhaltige Kooperation zwischen Staaten ist unter bestimmten Bedingungen in der liberalistischen Welt somit möglich. Liberalisten glauben an den Fortschritt. Wegen technischem und zivilisatorischem Fortschritt ist eine Kooperation zwischen Staaten, wie am Beispiel der EU oder der WTO sichtbar, möglich. Die Hauptfrage, warum Liberalisten so optimistisch sind, ist in erster Linie für die Friedens- und Konfliktforschung interessant. Liberalisten setzen auf die Vernunft des Menschen und daran, dass rationale Prinzipien auf internationale Angelegenheiten angewandt werden können. Menschen sind aber auch eigennützig und auf Wettbewerb ausgerichtet - bis zu einem bestimmten Punkt (Jackson/Sorensen 1999: 108-111, 180-183).

Interessenvertretung im Liberalismus

Aus dem Eigeninteresse im Rahmen von Kooperation lassen sich die für die in der vorliegenden Arbeit zu erklärenden Phänomene ableiten.

Hypothese (L2):

Je mehr und je bedeutendere Eigeninteressen aller beteiligten Verhandlungsparteien einer Einigung zur dauerhaften und dann verbindlichen Kooperation im Weg stehen, desto schwieriger und zeitraubender werden etwaige Verhandlungen. Diese Interessenvertretung trägt zur unerwartet langen Zeitdauer des Beitrittsprozesses bei.

2 Konstruktivistische Theorie: Sozialkonstruktivismus

Grundannahmen des Konstruktivismus

Das Grundkonzept des Konstruktivismus stammt aus der Soziologie. Der Sozialkonstruktivismus ist eine Unterkategorie der Denkschule des Konstruktivismus aus der Fachdisziplin der internationalen Beziehungen. Der Ansatz aus dem Rahmen dieser Theorie zur Erklärung der Problematik realer Phänomene wird hier Sozialisation genannt.

[...]


[1] Man kann keine genaue Anzahl von Jahren angeben, wie lange der Beitrittsprozess aufgrund der Erwartungen hätte dauern müssen.

Man kann jedoch von der Außenhandelstheorie ableiten, dass sich Handel zwischen Staaten lohnt und daher in allseitigem Interesse sein muss, da Staaten nach der Außenhandelstheorie rational agieren und damit Handel nicht nur miteinander treiben, sondern auch fördern; mehr Handel bringt mehr Wohlstand für alle Beteiligten mit sich. Darüber hinaus kann man behaupten, dass man, um Handel am effektivsten zu fördern, der WTO beitreten muss, da diese nachweislich über die erfolgreichsten Instrumente zu Förderung des Handels verfügt. Handel findet zwar auch ohne die WTO statt, aber durch die Mechanismen der WTO lässt sich Handel wesentlich effektiver und schneller auf ein wesentlich höheres Niveau bringen als ohne die WTO. Eine Zeitspanne von eineinhalb Jahrzehnten ist also nach der Außenhandelstheorie in keinerseitigem Interesse, da lange Zeit weniger Handel getrieben wird. Ferner sind Aussetzungen der Verhandlungen, wie z. B. nach dem Tiananmen-Vorfall 1989, dann nicht zu erklären, da andere Aspekte wie moralische Normen oder, was auch immer die USA dazu bewegt hat, die Verhandlungen für Jahre auszusetzen, in der Außenhandelstheorie nicht vorkommen. Die Außenhandelstheorie bewegt sich also im luftleeren Raum und muss daher mit anderen Ansätzen, die die Realität besser erklären können, ergänzt werden.

Diese theoretisch abgeleitete Annahme lässt sich empirisch durch einen Vergleich mit den Beitrittsprozessen anderer Staaten zur WTO belegen, die fast ohne Ausnahme deutlich schneller vonstatten gingen. Sicherlich könnte man argumentieren, dass die anderen Staaten in ihrer Bedeutung weit hinter China zurückstehen und deshalb nicht mit China vergleichbar sind. Wenn man jedoch die Außenhandelstheorie als Argumentationsgrundlage nimmt, dann müsste dieser Unterschied eher einen noch kürzeren Beitrittsprozess ergeben, da die Vorteile für alle größer sind und die Nachteile vom Markt absorbiert werden. Intervenierende Variablen werden in dieser Theorie nicht berücksichtigt. Sicherlich ist der Aussagewert der Theorie vorhanden (ein bewusst vereinfachendes Modell erklärt bestimmte Vorgänge in der Realität), allerdings müssen diese Einschränkungen ihre Grenzen haben, wenn man nicht von Unbrauchbarkeit der Theorie sprechen will.

Außerdem können auch die Beitrittsprozesse der anderen Länder „theoretisch“ zu lange gedauert haben.

[2] Die Definition von Sozialisation ist hier so ausgeführt worden, wie der begriff in der Soziologie verwendet wird. Dieser Begriff wird auf Seite 20, im Zweiten Teil dieser Arbeit unter „Sozialisation im Sozialkonstruktivismus“ in den Verwendungszusammenhang der vorliegenden Arbeit und den Kontext der internationalen Politik übertragen werden.

[3] Der Begriff der Sozialisation ist nicht mit dem Begriff der Sozialisierung zu verwechseln. Während Sozialisation das Hineinwachsen in gesellschaftliche Struktur- und Interaktionszusammenhänge bedeutet, ist Sozialisierung die Verstaatlichung von Privatunternehmen im Sozialismus.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832479183
ISBN (Paperback)
9783838679181
DOI
10.3239/9783832479183
Dateigröße
561 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Sozial- und Verhaltenswissenschaften 08
Erscheinungsdatum
2004 (April)
Note
2,3
Schlagworte
volkswirtschaft beziehungen sozialismus
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Titel: Welche Faktoren zögerten den Beitritt Chinas zur WTO hinaus?
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