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Sozialkapital - ein Paradigma?

Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung

©2001 Magisterarbeit 110 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Politikwissenschaft ist eine Disziplin, in deren Erkenntnismittelpunkt das Handeln von Menschen steht. Wenn zwei Akteure miteinander zu beiderseitigem Vorteil handeln, spricht man von Kooperation. Problematisch ist diese, wenn beide Parteien nicht zur gleichen Zeit ihre Leistung einbringen können und die Gefahr besteht, dass eine einseitig getätigte Vorleistung ausgenutzt und hintergangen wird. Um das hierbei von einem Akteur eingegangene Risiko zu minimieren, gibt es verschiedene soziale Mechanismen. Darunter zum Beispiel das Phänomen des Versprechens. Dennoch ist Kooperation nicht der Normalfall.
Unter welchen Umständen Akteure miteinander kooperieren und unter welchen nicht, ist eine der Leitfragen der in dieser Arbeit untersuchten Texte. Das Problem der Kooperation spielt unter anderem in den Internationalen Beziehungen sowie in der Vergleichenden Regierungslehre eine große Rolle. Dort wird versucht, ökonomische, institutionelle oder kulturelle Faktoren zu finden, die für die Entstehung von kooperativem bzw. unkooperativem Handeln in einem Land gegenüber einem anderen verantwortlich gemacht werden können. Dabei genießen die beiden Sozialkapitalansätze von Putnam und Coleman in den letzten Jahren eine immer größere Aufmerksamkeit. Beide sehen die Lösung des Kooperationsproblems in einem Phänomen, welches sie ‚Sozialkapital’ nennen.
Die Resonanz auf diese Arbeiten ist beeindruckend. Innerhalb der letzten Jahre entstand eine Fülle von Werken, die den Sozialkapitalansatz als Erklärungsmuster für die verschiedensten Phänomene verwenden. So wird mit dem Sozialkapitalansatz die unterschiedliche wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Entwicklung verschiedener Länder, die Funktionsweise der Mafia, der Untergang der Weimarer Republik, das Abstimmungsverhalten von Mitgliedern des amerikanischen Senats und die Performanz demokratischer Institutionen erklärt. Der Sozialkapitalansatz scheint sich zu einer Standardmethode für den Bereich der Vergleichenden Regierungslehre zu entwickeln. Problematisch ist hierbei jedoch, dass der theoretische Gehalt der beiden Ansätze bisher zu wenig wissenschaftstheoretisch reflektiert wird.
Die These, die ich in dieser Arbeit vertrete, beläuft sich nicht nur darauf, dass Putnam und Coleman unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen angehören, sondern ordnet Putnam und Coleman auch zwei bereits bestehenden unterschiedlichen Paradigmen der Sozialwissenschaften […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Einleitung

1.1 Hinführung zum Thema
1.2 Wissenschaftliches Problem und Fragestellung
1.3 Der Aufbau der Arbeit
1.4 Der Begriff des Sozialkapitals

2 Der Paradigmabegriff als metatheoretischer Zugriff
2.1 Der frühe Paradigmabegriff
2.2 Der modifizierte Paradigmabegriff
2.3 Wissenschaft als Rätsellösen
2.4 Die Inkommensurabilitätsthese
2.5 Anwendungskriterien des Paradigmabegriffs

3 Der Sozialkapitalansatz von Putnam
3.1 Die Elemente des Sozialkapitalansatzes
3.2 Der Erklärungszusammenhang des Sozialkapitalansatzes
3.3 Sozialkapital und die ihm zugeschriebenen Effekte

4 Der Sozialkapitalansatz von Coleman
4.1 Die Elemente des Sozialkapitals
4.2 Der Erklärungszusammenhang des Sozialkapitalansatzes
4.3 Sozialkapital und die ihm zugeschriebenen Effekte

5 Putnam und Coleman als Wissenschaftler unterschiedlicher Paradigmen
5.1 Homo Sociologicus oder Kooperation aus prosozialen Motiven
5.1.1 Die Elemente des Homo Sociologicus–Paradigmas bei Dahrendorf
5.1.2 Das Erklärungsmuster des Homo Sociologicus–Paradigmas
5.1.3 Zugeschriebene Effekte und ungelöste Forschungsrätsel im Rahmen des Homo Sociologicus–Paradigmas
5.2 Homo Oeconomicus oder Kooperation als strategische Interaktion
5.2.1 Die Elemente des Homo Oeconomicus–Paradigmas bei Axelrod
5.2.2 Das Erklärungsmuster kooperativen Handelns bei Axelrod
5.2.3 Zugeschriebene Effekte und ungelöste Forschungsrätsel im Rahmen des Homo Oeconomicus–Paradigmas
5.3 Sozialkapital als kulturell geprägte Einstellung der Menschen oder als Lösung der Kooperationsproblematik rationaler Akteure
5.3.1 Einordnung der Elemente der Sozialkapitalansätze in die klassischen Paradigmen
5.3.2 Einordnung des jeweiligen Erklärungszusammenhangs der Sozialkapitalansätze in die klassischen Paradigmen
5.3.3 Einordnung der unterschiedlich zugeschriebenen Effekte der Sozialkapitalansätze in die klassischen Paradigmen

6 Sozialkapital – zwei Steuerungskonzepte zivilgesellschaftlicher Prozesse
6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
6.2 Ableitbare Steuerungskonzepte der unterschiedlichen Paradigmen
6.3 Colemans Ansatz als die bessere Lösung

7 Schlussbemerkung

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur im Hinblick auf den Menschen gestellt hat? Ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

1.1 Hinführung zum Thema

Politikwissenschaft ist eine Disziplin, deren Erkenntnisinteresse sich darauf richtet, Regelmäßigkeiten und Muster im Bereich der Politik festzustellen. Eine gängige Definition von Politik findet sich bei Patzelt. Demnach ist Politik „jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit, v.a. von allgemein verbindlichen Regelungen und Entscheidungen, in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt“ (Patzelt 1992: 14). Politikwissenschaft ist somit eine Disziplin, in deren Erkenntnismittelpunkt das Handeln von Menschen steht. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch vom Menschen als Akteur. Das Handeln, welches in der Politikwissenschaft vorwiegend interessiert, ist das Handeln zwischen mehreren Akteuren. Wenn zwei Akteure miteinander zu beiderseitigem Vorteil handeln, spricht man von Kooperation. Problematisch ist diese, wenn beide Parteien nicht zur gleichen Zeit ihre Leistung einbringen können und die Gefahr besteht, dass eine einseitig getätigte Vorleistung ausgenutzt und hintergangen wird. Um das hierbei von einem Akteur eingegangene Risiko zu minimieren, gibt es verschiedene soziale Mechanismen. Darunter auch das Phänomen des Versprechens, welches in dem vorangestellten Nietzsche–Zitat angesprochen wird. Dennoch ist Kooperation nicht der Normalfall. Unter welchen Umständen Akteure miteinander kooperieren und unter welchen nicht, ist eine der Leitfragen der in dieser Arbeit untersuchten Texte. Das Problem der Kooperation spielt unter anderem in den Internationalen Beziehungen sowie in der Vergleichenden Regierungslehre eine große Rolle. Dort wird versucht, ökonomische, institutionelle oder kulturelle Faktoren zu finden, die für die Entstehung von kooperativem bzw. unkooperativem Handeln in einem Land gegenüber einem anderen verantwortlich gemacht werden können. Dabei genießen die beiden Sozialkapitalansätze von Putnam und Coleman in den letzten Jahren eine immer größere Aufmerksamkeit. Ich werde mich deshalb im Verlauf der Arbeit auf diese beiden Ansätze beschränken.[1] Das sie verbindende Element liegt in der Lösung, die beide Arbeiten zur Klärung der Frage der Kooperationsentstehung beitragen. Beide sehen die Lösung des Kooperationsproblems in einem Phänomen, welches sie ‚Sozialkapital’ nennen. Es bezeichnet Aspekte sowohl des sozialen Vertrauens als auch der Sozialstruktur einer Gesellschaft (vgl. Kunz 2000: 1). Die Resonanz auf diese Arbeiten ist beeindruckend. Innerhalb der letzten Jahre entstand eine Fülle von Werken, die den Sozialkapitalansatz als Erklärungsmuster für die verschiedensten Phänomene verwenden. So wird mit dem Sozialkapitalansatz die unterschiedliche wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Entwicklung verschiedener Länder, die Funktionsweise der Mafia, der Untergang der Weimarer Republik, das Abstimmungsverhalten von Mitgliedern des amerikanischen Senats und die Performanz demokratischer Institutionen erklärt. Der Sozialkapitalansatz scheint sich zu einer Standardmethode für den Bereich der Vergleichenden Regierungslehre zu entwickeln.

1.2 Wissenschaftliches Problem und Fragestellung

Bei der Betrachtung der Literatur, die sich mit dem Konzept des Sozialkapitals beschäftigt und es auf die verschiedensten Problemfelder anwendet, fällt jedoch schnell auf, dass die theoretischen Grundlagen der Sozialkapitalansätze größtenteils unhinterfragt benutzt werden. Oft finden sich im theoretischen Teil der Arbeiten nebeneinander Verweise auf Putnam und Coleman, und es scheint bisher noch nicht genauer untersucht worden zu sein, ob Putnam und Coleman überhaupt dieselben Dinge bezeichnen, wenn sie den Begriff ‚Sozialkapital’ benutzen. Auch Woolcock weist schon 1998 auf diesen Mangel hin:

„It now assumes in a wide variety of meanings and has been cited in a rapidly increasing number of social, political, and economic studies, but – as so often happens with promising new terms in social science – with limited critical intention being given to its intellectual history or its conceptual and ontological status”.

Als positive Ausnahmen können an dieser Stelle Knight, Edwards/Foley, Levi, Kunz, Haug und Feldman/Assaf genannt werden. In ihren Arbeiten wird zumindest auf die Unterschiede zwischen den Sozialkapitalansätzen eingegangen. Allerdings geschieht dies meist in Form einer rein deskriptiven und aufzählenden Darstellung der inhaltlichen Unterschiede. Ein systematischer, wissenschaftstheoretischer Vergleich der beiden Sozialkapitalansätze ist bisher noch nicht vorgenommen worden. Dies soll Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Zunächst bedarf es jedoch einiger Vorüberlegungen.

Unser Wissen über die Strukturen und Besonderheiten unserer Gesellschaft ist in der Form von Theorien formuliert. So beschreiben die beiden Sozialkapitalansätze Gegen­stände unserer Welt und behaupten insofern, Regelmäßigkeiten entdeckt zu haben, als immer dann kooperatives Verhalten zwischen den Akteuren entsteht, wenn gewisse Aspekte der Sozialstruktur und soziales Vertrauen vorgefunden werden. Und ebenso wie es Theorien gibt, in denen unser Wissen über die empirischen Phänomene der Welt formuliert ist, wird unser Wissen über die Strukturen dieser Theorien ebenfalls in Form von Theorien transportiert. Da sich diese Theorien nun nicht mehr mit Gegenständen der empirischen Welt befassen, sondern schon Theorien über diese Welt zum Gegenstand haben, spricht man in ihrem Fall von ‚Metatheorie’ oder auch von ‚Wissenschaftstheorie’. Es bleibt festzuhalten: In Metatheorien ist Wissen über Theorien formuliert, welches uns Kriterien zur Identifizierung einzelner Elemente von Theorien an die Hand gibt. Für diese Arbeit greife ich auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Thomas S. Kuhn zurück. Der zentrale Begriff seiner Überlegungen ist der des Paradigmas. Er beschreibt den gemeinsamen theoretischen Zugang einer wissenschaftlichen Gruppe zur Welt. Oder anders gesagt: Zwei Wissenschaftler arbeiten im selben Paradigma, wenn der theoretische Rahmen ihrer Welterschließung identisch ist. Der Titel dieser Arbeit Sozialkapital – ein Paradigma? eine wissenschaftstheoretische Untersuchung macht somit klar, dass der Gegenstand der Arbeit das Phänomen Sozialkapital ist. Die Frage, ob es sich dabei um ein Paradigma handelt, weist schon auf das Erkenntnisinteresse hin, welches dieser Arbeit zugrunde liegt. Im Mittelpunkt steht die Frage: Gehören die Sozialkapitalansätze von Putnam und Coleman demselben wissenschaftlichen Paradigma an, oder sind sie unterschiedlichen Paradigmen zuzuordnen? Der Untertitel der Arbeit liefert bereits die Methode zur Beantwortung dieser Frage: Es bedarf einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung. Mittels der Kriterien des Paradigmabegriffs werden die einzelnen Elemente der Sozialkapitalansätze auf Ähnlichkeit untersucht werden. Die These, die ich in dieser Arbeit vertrete, beläuft sich nicht nur darauf, dass Putnam und Coleman unterschiedlichen Paradigmen angehören, sondern ordnet Putnam und Coleman auch zwei bereits bestehenden unterschiedlichen Paradigmen der Sozialwissenschaften zu. Als Vertreter der bestehenden klassischen Paradigmen werden für diese Arbeit die Überlegungen von Dahrendorf als Vertreter des Homo Sociologicus–Paradigmas und von Axelrod als Repräsentant des Homo Oeconomicus–Paradigmas herangezogen.[2] Die präzise Formulierung meiner These lautet demnach: Der Sozialkapitalansatz von Putnam ist dem Homo Sociologicus–Paradigma zuzurechnen, während die Arbeit von Coleman dem Homo Oeconomicus–Paradigma verpflichtet ist.

1.3 Der Aufbau der Arbeit

Ziel der Arbeit ist es zu zeigen, dass erstens Putnam und Coleman unterschiedliche Erklärungsmuster verwenden, und dass zweitens diese Erklärungsmuster sich zurückführen lassen auf bereits bestehende paradigmatische Erklärungsmuster der Sozialwissenschaften. Um aber Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Erklärungsmuster feststellen zu können, müssen Kriterien entwickelt werden, mit deren Hilfe die Konstituenten eines Erklärungsmusters identifiziert werden können. Anhand dieser Kriterien können die unterschiedlichen Ansätze miteinander verglichen werden. Diese Kriterien werden in Kapi- tel 2 aus den Überlegungen Kuhns zum Aufbau wissenschaftlicher Theorien hergeleitet. Drei Ebenen finden bei der Rekonstruktion Berücksichtigung: Erstens ist dies die Ebene des Vokabulars. Dabei gilt es herauszuarbeiten, dass die Bedeutung von Begriffen nicht nur aus ihrer Verweisfunktion auf empirische Gegenstände herzuleiten ist, sondern sich auch aus den theoretischen Festlegungen eines Paradigmas erschließt. Zweitens ist dies die Ebene des theoretischen Kerns eines Paradigmas. Auf dieser Ebene soll herausgearbeitet werden, wie die verschiedenen Elemente der Sozialkapitalansätze mittels einer Relation verbunden werden und so ihren erklärenden Charakter erlangen. Die dritte Ebene betrifft die ableitbaren Effekte, die in Form von Hypothesen formulierbar sind. Hier wird noch einmal deutlich, welches die abhängigen und unabhängigen Variablen sind und welche Erklärungskraft das Paradigma besitzt. Anhand dieser Kriterien wird dann in Kapitel 3 der Sozialkapitalansatz von Putnam rekonstruiert. Dabei werden die verschiedenen Elemente eines Erklärungsmusters, die im zweiten Kapitel abstrakt formuliert werden, inhaltlich gefüllt. Analog dazu wird in Kapitel 4 der Sozialkapitalansatz Putnams rekonstruiert. Da die These der Arbeit nicht nur auf einen Vergleich der Sozialkapitalansätze zielt, sondern darüber hinaus auch noch die Zugehörigkeit dieser Ansätze zu bestehenden Paradigmen der Sozialwissenschaft behauptet, werden in Kapitel 5 die bestehenden Paradigmen der Sozialwissenschaft anhand der wissenschaftstheoretischen Kriterien rekonstruiert. In Kapitel 5.1 wird das Homo Sociologicus–Paradigma nach Dahrendorf und in Kapitel 5.2 das Homo Oeconomicus–Paradigma nach Axelrod rekonstruiert. In Kapitel 5.3 kann dann der eigentliche Vergleich anhand der vorher entwickelten Kriterien vorgenommen werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich trotz eines ähnlichen Vokabulars große Unterschiede bei den verwendeten Erklärungsmustern der Sozialkapitalansätze aufzeigen lassen. Dies hängt mit der oben bereits angedeuteten theoretischen Komponente der Bedeutung eines Begriffs zusammen. Sie herauszuarbeiten wird Aufgabe von Kapitel 5.3 sein. Nur so wird der Unterschied zwischen Putnams und Colemans Sozialkapitalansatz deutlich. Außerdem erfolgt in diesem Kapitel die Zuordnung zu den klassischen Paradigmen. In Kapitel 6.1 werden schließlich die Ergebnisse zusammengefasst. Dies entspricht einem inhaltlichen Fazit der Arbeit. Anschließend steht die Frage im Mittelpunkt, welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für die Anwendbarkeit der Sozialkapitalkonzepte haben. Auf diese Weise wird deutlich werden, dass wissenschaftstheoretische Untersuchungen keine sinnlose Beschäftigung weit ab jeglicher empirischen Relevanz sind, sondern ihrerseits eine starke Rückwirkung auf die Wahrnehmung empirischer Probleme haben. Erst aufgrund der wissenschaftstheoretischen Untersuchung wird deutlich, dass ein großer Unterschied zwischen den verwendeten Erklärungsmustern besteht, und sich von den Sozialkapitalansätzen ganz unterschiedliche Steuerungskonzeptionen ableiten lassen. Schließlich wird in Kapitel 6.3 gezeigt, dass sich gute Gründe dafür finden lassen, dass Coleman den besseren der beiden Ansätze entwickelt hat.

1.4 Der Begriff des Sozialkapitals

Zum Schluss der Einleitung soll der für diese Arbeit zentrale Begriff des Sozialkapitals eingeführt werden. Es ist bereits angedeutet worden, dass Begriffe ihre Bedeutung zum Teil auch aus der theoretischen Komponente des jeweiligen Paradigmas erhalten. Eine Darstellung dessen kann hier natürlich noch nicht geleistet werden. Dennoch können einige einleitende Bemerkungen zum Begriff des Sozialkapitals gemacht werden: Unter Kapital versteht man in der Regel eine Ressource, die einen Akteur in die Lage versetzt, ein erwünschtes Ziel zu erreichen. Üblicherweise ist dies der Kauf eines gewissen Produktes. Auch Sozialkapital dient dazu, individuelle Ziele zu erreichen. Allerdings besteht ein großer Unterschied zu ökonomischem Kapital. Während ökonomisches Kapital eine individuelle Ressource ist und einem einzigen Individuum zugeschrieben werden kann, drückt sich Sozialkapital in den sozialen Beziehungen zwischen den Individuen aus. Es braucht demnach mindestens zwei Akteure, damit man von Sozialkapital sprechen kann. Erst eine solche Beziehung ermöglicht das Entstehen von sozialem Vertrauen, gesellschaftlicher Kontrolle oder die Geltung von Normen und Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieses Phänomen soll im Folgenden unter Sozialkapital verstanden werden.

2 Der Paradigmabegriff als metatheoretischer Zugriff

Erklärtes Ziel dieser Arbeit ist es, eine wissenschaftstheoretische Untersuchung der zwei Sozialkapitalansätze von Coleman und Putnam vorzunehmen. Wie in der Einleitung bereits angekündigt, wird dabei auch aufzuzeigen sein, dass Putnam und Coleman unterschiedlichen Erklärungsmustern verpflichtet sind. Die Bestätigung dieser These setzt notwendigerweise ein Vergleich der beiden Ansätze voraus. Als Basis jeden Vergleichs dienen Kriterien, die von außen an die zu vergleichenden Objekte angelegt werden. Da es sich bei den zu vergleichenden Objekten um Theorien handelt, müssen auch die Kriterien, die zum Vergleich herangezogen werden, auf die Thematik ‚Theorien’ zugeschnitten sein. Dazu werden in dieser Arbeit die Überlegungen von Thomas S. Kuhn 1999 Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen verwendet.

2.1 Der frühe Paradigmabegriff

Kuhn entwickelt in seiner Arbeit seine Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt in starker Abgrenzung zum Wissenschaftsmodell von Vertretern des statement-views. Deren Ziel war es, Protokollsätze zu finden,

„in denen man die Basis der Wissenschaft zu erfassen hoffte, indem man die Protokollsätze als vermeintlich erste, grundlegende Sätze der Wissenschaft in ihrer Beziehung zur sinnlichen Wahrnehmung untersuchte“ (Ströker 1988: 20).[3]

Doch gerade diesen unmittelbaren Zugang zur Welt bestreitet Kuhn. Jede Beobachtung sei selbst schon geleitet durch theoretische Überlegungen, die einer speziellen Weltdeutung verpflichtet sind. Kuhn betrachtet Wissenschaft nicht mehr als kumulativen, sich der Wahrheit annähernden Prozess[4], sondern als einen Prozess, der durch qualitative Brüche unterbrochen ist. Nach einem solchen qualitativen Bruch setzt Wissenschaft nicht dort an, wo sie vor dem Bruch aufgehört hat, sondern besitzt eine andere Qualität, die sich durch eine eigene Sprache, eigene Verfahren und Fragestellungen auszeichnet. Diese eigene Qualität des Forschungsprogramms, so kann man in einer ersten Annäherung feststellen, bezeichnet Kuhn mit dem Begriff des Paradigmas.[5] Dabei geht man in einer ersten Rezeptionsrichtung davon aus, dass Kuhns Hauptaugenmerk der wissenschaftshistorischen Untersuchung des Forschungsprozesses galt. Er konstatiert, dass das theoretische Wissen immer auch in Bezug zu der wissenschaftlichen Gemeinschaft gesehen werden muss, die über das Wissen verfügt. Nach Kuhn lassen sich vier charakteristische Phasen erkennen, die eine Wissenschaft in ihrem Entwicklungsgang wiederholt durchläuft:

1. Die vorparadigmatische Phase: In ihr bestehen verschiedene wissenschaftliche Schulen gleichberechtigt nebeneinander. Keine dieser Schulen ist in der Lage, einen entscheidenden Fortschritt hin zu einer dominierenden Forschungsgemeinschaft zu erringen. Oft ist diese Phase darüber hinaus gekennzeichnet durch tiefgreifende philosophische Meinungsverschiedenheiten zwischen den Wissenschaftsschulen.
2. Die paradigmatische Phase: Diese Phase zeichnet sich durch den Sieg einer theoretischen Schule aus. Die Arbeit der Wissenschaftler in der paradigmatischen Phase ist gekennzeichnet durch das Lösen von Forschungsproblemen. Diese werden durch das Paradigma erst als solche erkannt. Gleichzeitig liefert das Paradigma auch die Methoden und Werkzeuge, das Forschungsproblem zu bewältigen. Dies bezeichnet Kuhn auch mit dem Begriff der ‚normalen Wissenschaft’.
3. Die revolutionäre Phase: Die Problemlösungsfähigkeit des Paradigmas ist allmählich ausgeschöpft. Diese Phase ist zudem durch das Aufkommen von Anomalien gekennzeichnet. Es handelt sich dabei um Probleme, die mit den Mitteln des herrschenden Paradigmas nicht gelöst werden können. Das Vertrauen der Wissenschaftler in die Problemlösungsfähigkeit des Paradigmas schwindet, und es wächst die Anzahl der Forscher, die abseits des herrschenden Paradigmas nach alternativen Erklärungsmodellen suchen. Im Gegensatz zur normalen Wissenschaft wird diese Phase auch ‚außerordentliche Wissenschaft’ genannt.
4. Die neue paradigmatische Phase: Sie entsteht durch den plötzlichen Vertrauensverlust des Großteils einer wissenschaftlichen Gemeinschaft in das alte Paradigma zugunsten eines neuen. Auf diese Weise wird erneut eine Phase der Normalwissenschaft eingeläutet, die erst durch das Aufkommen von Anomalien wieder ausläuft, worauf sich der wissenschaftliche Entwicklungsgang wiederholt.

Dieser Gebrauch des Paradigmabegriffs wurde von verschiedensten Seiten kritisiert. Nach Masterman „benützt er das Wort Paradigma in nicht weniger als 21 verschiedenen Bedeutungen in seiner [1962][6] ; es ist möglich, dass bei ihm dieser Ausdruck noch mehr Bedeutungen hat, aber keineswegs weniger“ (Masterman 1974: 61). Insbesondere die Kritik von Masterman veranlasste Kuhn, seiner 2. Auflage der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ein Postskriptum hinzuzufügen. Darin nimmt er eine Präzisierung dessen vor, was unter dem Begriff des Paradigmas verstanden werden soll, indem er eine Trennung des Begriffs des Paradigmas von dem der wissenschaftlichen Gemeinschaft vorschlägt. Diese Modifizierung wird in einer zweiten Rezeptionsrichtung betont.

2.2 Der modifizierte Paradigmabegriff

Der auf diese Weise modifizierte Paradigmabegriff stellt einen speziellen konzeptuellen Rahmen dar. Mit diesem Rahmen wird die Welt vom Wissenschaftler betrachtet und beschrieben:

„Einerseits steht er für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden u.s.w., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden. Andererseits bezeichnet er ein Element in dieser Konstellation, die konkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der ‚normalen Wissenschaft’ ersetzen können“ (Kuhn 1999: 186).

Zu den Komponenten eines Paradigmas gehören eine explizit ausformulierte Gesetzmäßigkeit, unter Umständen symbolische Verallgemeinerungen und weitere theoretische Annahmen. Hinzu kommen Anweisungen, die besagen, wie solche Gesetzmäßigkeiten auf eine Vielzahl von Situationen standardmäßig angewandt werden. Das Paradigma gibt überdies eine Anzahl experimenteller und theoretischer Techniken vor, die eine Verbindung zwischen den theoretischen Annahmen und dem empirischen Anwendungsbereich der Theorie herstellen. Daneben gehört auch eine Reihe von Musterlösungen zu einem Paradigma, gemeint sind exemplarisch durchgeführte Anwendungen der Theorie.

Ergänzt wird dies durch methodologische Vorschriften, die Anforderungen allgemeiner Art an ein wissenschaftliches Paradigma stellen, so nach Konsistenz, Genauigkeit und Größe des Anwendungsbereichs (vgl. Chalmers 1994: 92 f.). Nach Kuhn lässt sich das Ganze folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Welche Gemeinsamkeiten erklären die verhältnismäßig unproblematische fachliche Kommunikation und die verhältnismäßig einhelligen fachlichen Urteile? (...) ein Paradigma“ (Kuhn 1997: 392). Um den Begriff des Paradigmas griffiger zu machen, nimmt Kuhn im Postskriptum von 1969 eine Präzisierung des Paradigmabegriffs vor. So sollen an die Stelle des allumfassenden Paradigmabegriffs nun die Begriffe der disziplinären Matriz und des Musterbeispiels treten. Diese Differenzierung steht in der zweiten, hier vertretenen Rezeptionsrichtung an zentraler Stelle.

Unter dem Begriff der disziplinären Matriz oder des äquivalent verwendeten Begriffs des disziplinären Systems versteht Kuhn die theoretische Komponente des Paradigmabegriffs. Dazu gehören die bereits genannten symbolischen Verallgemeinerungen, die Gesetzmäßigkeiten und Definitionen. Dagegen verzichtet er nun auf die Bedingung, dass die Gesetze und Definitionen von einer Gruppe von Wissenschaftlern geteilt werden müssen. Denn es geht Kuhn mittlerweile weniger um eine wissenschaftssoziologisch und –historisch orientierte Untersuchung als um eine wissenschaftstheoretische. Als nächstes schlägt Kuhn den Begriff des Musterbeispiels vor. Er bildet die zweite Bedeutungskomponente des modifizierten Paradigmabegriffs. Gewöhnlich, so Kuhn, können Probleme nur gelöst werden, wenn man vorher die Theorie und einige Regeln zu ihrer Anwendung erlernt hat. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse seien in Theorien und Regeln eingebettet (vgl. Kuhn 1999: 198). Andererseits besitzen diese Gesetzmäßigkeiten und Theorien keinen empirischen Gehalt, wenn sie nicht durch exemplarische Beispiele mit einem intendierten Anwendungsbereich verknüpft werden. Kuhn spricht in diesem Zusammenhang von einer Menge von Anwendungsfällen oder von den konkreten Problemlösungen.

„Dann bilden konkrete Problemlösungen und Gesetz oder Theorie eine untrennbare Einheit: Das Gesetz oder die Theorie ohne hinreichend viele Anwendungsfälle ist unverständlich, da die empirischen Begriffe unterbestimmt sind; die einzelnen Problemlösungen ohne die Gesetze bzw. Theorien sind nur partiell verständlich und zudem untereinander unverbunden, da die Einheitsstiftung durch das Gesetz oder die Theorie fehlen, deren Anwendungsfälle sie sind“ (Hoyningen–Huene 1989: 140).

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Ein Paradigma besteht nach Kuhn aus zwei zentralen Bestandteilen, die beide gleichberechtigt nebeneinander stehen und erst zusammen dem Menschen und Wissenschaftler die Möglichkeit der Welterschließung eröffnen. „Der erste Bestandteil soll das Fundamentalgesetz enthalten sowie die grundlegenden Nebenbedingungen, welche eine Querverbindung zwischen allen Anwendungen herstellt“ (Stegmüller 1987: 309). Dies ist die theoretische Komponente eines Paradigmas. Der zweite Teil des Paradigmas ist die empirische Komponente. Nach Stegmüller korrespondiert sie „mit der Menge I der intendierten Anwendungen“ (Stegmüller 1987: 310)[7]. Sie wird als offene Menge in Analogie zum Wittgensteinschen Beispiel des Spieles durch eine paradigmatisch bestimmte Grundmenge möglicher empirischer Anwendungen charakterisiert (vgl. Stegmüller 1985: 198 f, Wittgenstein 1953: §§ 66,67). Ziel dieser Untersuchung muss es demnach sein, sowohl die theoretischen als auch die empirischen Komponenten des jeweiligen Paradigmas zu identifizieren. Dafür wird in einem ersten Schritt zunächst nach dem Vokabular der zu untersuchenden Arbeit gefragt. Dabei stehen die in der jeweiligen Arbeit verwendeten Elemente im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Ihre Bedeutung gilt es zu erschließen. Im folgenden zweiten Schritt interessiert, welche Relation die herausgearbeiteten Elemente verbindet. Diese Frage richtet sich auf das verwendete Erklärungsmuster des Paradigmas. Sowohl bei der Frage nach dem Vokabular als auch bei der Frage nach dem verwendeten Erklärungsmuster werden die theoretischen Komponenten der Arbeiten sowie die verwendeten Musterbeispiele berücksichtigt. Im nächsten Kapitel wird deutlich, warum beide Komponenten zusammengehören.

2.3 Wissenschaft als Rätsellösen

Der Mensch und somit auch der Wissenschaftler betrachtet die Welt immer mit Hilfe eines Paradigmas. „Phänomene sind nicht als solche, unabhängig vom Paradigma, ,da’, sondern werden immer durch dieses erst mitkonstituiert“ (Stegmüller 1987: 293). Also sind auch die Fragen und Probleme, mit denen sich der Wissenschaftler konfrontiert sieht, vorbestimmt durch seine spezielle Welterschließung. Insbesondere die exemplarischen Problemlösungen sind entscheidend für die Rätsel, welche im Rahmen des Paradigmas gelöst werden können. Denn durch den paradigmatisch angegebenen Anwendungsbereich eines Forschungsprogramms ist die Menge der möglichen Anwendungen zwar prinzipiell offen, aber die Wissenschaftler können die Gesetzmäßigkeiten ihres Paradigmas nur benutzen, wenn sie eine Analogie zwischen den Musterlösungen und der neuen Anwendung herzustellen vermögen. Deshalb vergleicht Kuhn die Arbeit eines Wissenschaftlers mit der Arbeit eines Spielers, der vor einem speziellen Problem steht und nach Lösungen strebt.

„Bei einem Problem der normalen Forschung muss der Wissenschaftler die vorhandene Theorie als Spielregel voraussetzen. Er will eine Rätselfrage lösen – möglichst eine, an der andere gescheitert sind – , und die vorhandene Theorie ist nötig, um diese Rätselfrage zu definieren und zu gewährleisten, dass sie lösbar ist (...)“ (Kuhn 1997: 361).

Der Spieler, an gegebene Regeln gebunden, muss mit ihrer Hilfe versuchen, eine Lösungsmöglichkeit zu finden. Dabei greift er auf die ihm bereits bekannten und bewährten Strategien aus vorausgegangenen Spielen zurück. Analog bedeutet das für den Wissenschaftler, dass er zur Lösung seiner Probleme auf die vom Paradigma vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten zurückgreift und dabei die verschiedenen Anwendungen der Regeln in den exemplarischen Problemlösungen seines Paradigmas berücksichtigen muss.

„Normalwissenschaftliche Forschungsprobleme werden vielmehr entdeckt, gefunden oder ausgewählt und zwar geleitet durch Paradigmen im Sinne exemplarischer Problemlösungen. Wenn eine bestimmte Erscheinungswelt einmal konstituiert ist (...), dann ist die Identifikation von lösbaren Forschungsproblemen kein Konstruieren, sondern ein Finden“ (Hoyningen–Huene 1989: 171).

Eine dementsprechend hohe Lösbarkeitserwartung besteht beim Wissenschaftler. Schließlich werden die Forschungsprobleme im Rahmen eines Paradigmas gefunden, wobei das Paradigma dem Wissenschaftler zugleich auch die Instrumente liefert, die auftauchenden Forschungsprobleme zu lösen. Die vorliegende Arbeit will zeigen, dass sich hinter dem Begriff des Sozialkapitals zwei verschiedene Paradigmen verbergen, womit auch die Forschungsprobleme, die Methoden und Instrumente zu ihrer Lösung unterschiedlich wären. Auf die Vertreter der beiden Paradigmen träfe dann folgende Behauptung zu:

„In einem Sinn, den ich hier nicht weiter entwickeln kann, üben die Befürworter konkurrierender Paradigmata ihre Tätigkeit in verschiedenen Welten aus. ... Da sie in verschiedenen Welten arbeiten, sehen die beiden Gruppen von Wissenschaftlern verschiedene Dinge, wenn sie vom gleichen Punkt aus in die gleiche Richtung schauen“ (Kuhn 1999: 161).

Genau diese unterschiedliche Art der Weltdeutung der Sozialkapitalansätze soll herausgearbeitet werden.

2.4 Die Inkommensurabilitätsthese

Eine der provozierendsten Thesen von Kuhn ist die Überlegung, die verschiedenen Paradigmen seien inkommensurabel. Diese Behauptung hat viel Kritik hervorgerufen, was eng zusammenhängen mag mit der Unbestimmtheit des Ausdrucks ‚Inkommensurabilität’. Er meint, dass zwei Arbeiten, die unterschiedlichen Paradigmen angehören, qualitativ unvergleichbar sind. Demnach gäbe es letztendlich keine Möglichkeit, empirisch zu entscheiden, welcher der beiden Ansätze zutreffender ist. Die Inkommensurabilität zweier Paradigmen liegt bei Kuhn in der Annahme begründet, dass ein direkter Zugang zur Welt (s.o.) nicht möglich ist. Trotzdem kann und darf auf wissenschaftstheoretischer Ebene natürlich die Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit zweier Paradigmen festgestellt werden. Nichts anderes unternimmt Kuhn in seinem Werk, wenn er die Wissenschaftsgeschichte als eine Reihe aufeinanderfolgender Paradigmen schildert. Einzig in der Methodik der Rekonstruktion unterscheidet sich Kuhns Vorgehen von demjenigen der vorliegenden Untersuchung. Während Kuhns Vorgehensweise historisch–hermeneutisch ist, wird in dieser Arbeit auf die Methode der rationalen Rekonstruktion zurückgegriffen. Dabei gilt es, die analytische Struktur der zu untersuchenden Arbeiten herauszuarbeiten. Beiden Vorgehensweisen ist es gemein, die jeweils eigene Qualität der verwendeten Sprache und der zentralen Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten. Das psychologische Problem von Wissenschaftlern, den paradigmatischen Zugang zur Welt zu wechseln, ist von der Unmöglichkeit einer empirischen Vergleichbarkeit von Paradigmen logisch zu trennen. Letzteres beschreibt nach Kuhn eine logische Unmöglichkeit, während ersteres lediglich eine empirische Beobachtung des Wissenschaftsprozesses betrifft. Demnach bewegt sich der Wissenschaftler in einer durch sein Paradigma bestimmten Welt und muss einem anderen Paradigma entsprechend verständnislos gegenüberstehen. Die Forschungsprobleme, Methoden und Lösungsvorschläge jenes anderen Paradigmas assimiliert der Wissenschaftler in die bereits bestehenden Strukturen seines Paradigmas, oder er findet sie notwendigerweise unsinnig.[8] Zur Assimilation nimmt der Wissenschaftler eine Bedeutungsverschiebung der Begrifflichkeiten des anderen Paradigmas vor. Denn zwei verschiedene Paradigmen unterscheiden sich grundsätzlich in der Art ihrer Weltkonstitution. „Besondere Wichtigkeit kommt dabei der Änderung von Begriffen bzw. der Verwendungsweise von Begriffen zu, der sogenannten Begriffsverschiebung“ (Hoyningen–Huene 1989: 204). Denn nach Kuhn kann die Bedeutung eines Begriffes nicht in Isolation von der korrekten Verwendung anderer Begriffe gelernt werden. Die Bedeutung eines Begriffs erschließt sich somit nicht nur in seiner Abbildfunktion für ein empirisches Objekt, sondern auch in seiner grammatikalisch korrekten Verwendungsweise zusammen mit anderen Begriffen. Diese mögliche Verwendungsweise entspricht dem grammatikalischen Gehalt des Begriffes. Hier sei angemerkt, dass sich der Autor der vorliegenden Arbeit für die Darstellung von Begriffen auch an Hillary Putnams sprachphilosophischen Überlegungen orientiert. Bei ihm haben Begrifflichkeiten den Status von Minitheorien und werden durch Angabe der grammatikalischen Bedeutung sowie der paradigmatisch bestimmten empirischen Referenzmenge angegeben (vgl. Putnam H. 1975, Stegmüller 1987: 345-467). Schon auf der Ebene der Begrifflichkeit wird so deutlich, dass die Welt dem Menschen immer schon in gedeuteter Weise gegenübertritt. Diese theoretische Komponente der Begriffe findet sich analog auf der Ebene der Theorien in einer empirischen Unterbestimmtheit der paradigmatischen Deutungsweisen der Welt wieder. Diese Deutungsweisen werden teilweise unbewusst verwendet – in sogenannten Alltagstheorien – oder bewusst als Analyseinstrumente einer wissenschaftlichen Arbeit vorangestellt. Uns interessieren im Folgenden einzig die bewussten Deutungsweisen, d.h. die wissenschaftlichen Theorien. Zu diesen können auch die Sozialkapitalansätze gerechnet werden. Sie dürfen also zum Gegenstand der Metatheorie werden. Damit steht nun einer Konkretisierung der metatheoretischen Überlegungen Kuhns im Hinblick auf die Sozialkapitalansätze nichts mehr im Weg.

2.5 Anwendungskriterien des Paradigmabegriffs

Es wurden bisher zwei Elemente des Paradigmabegriffs besonders herausgestellt. Erstens die theoretische Komponente des Paradigmas. Zu ihr gehören die Elemente mit ihrem grammatikalischen Gehalt sowie die Relation, welche diese Elemente verbindet. Da die Begriffe nicht nur auf Gegenstände der uns umgebenden Welt referieren, sondern ihre Bedeutung aus dem grammatikalischen Geflecht der sich aufeinander beziehenden Begriffe erlangen, wird bei der Darstellung des semantischen Gehalts der Begrifflichkeiten bereits zum Teil auf die Gesetzmäßigkeit des Paradigmas zurückgegriffen. Die Gesetzmäßigkeit bildet den zentralen Bestandteil der theoretischen Komponente des Paradigmas, welche die erlaubten Kombinationen der einzelnen Elemente vorgibt. So erst erschließt sich die Menge der möglichen grammatikalischen Verbindungen und damit die Bedeutung zentraler Begrifflichkeiten. Zweitens liegt die andere wichtige Komponente des Paradigmas in ihrem empirischen Teil und wird mittels Musterbeispielen angegeben. Auch wurde bereits darauf hingewiesen, dass es nach Kuhns Auffassung wenig sinnvoll erscheint, die theoretische und die empirische Komponente eines Paradigmas unabhängig voneinander darzustellen (vgl. Kuhn 1997: 400 f., 1999: 199). Dies hat unmittelbare Konsequenzen für das weitere Vorgehen. Da es in dem nun folgenden Schritt darum geht, forschungsleitende Fragen zu entwickeln und die Überlegungen Kuhns hinsichtlich der Sozialkapitalansätze fruchtbar zu machen, dürfen diese Fragen weder nur auf die theoretischen noch nur auf die empirischen Elemente der Ansätze abzielen, sondern müssen jeweils beide Aspekte des Paradigmas berücksichtigen.

Nach einigen einführenden Bemerkungen zu den zu rekonstruierenden Ansätzen richtet sich die erste Frage auf die zentralen Bestandteile der Sozialkapitalansätze und später auch auf die der klassischen Paradigmen. Es sollen insbesondere diejenigen Bestandteile herausgearbeitet werden, die vom jeweiligen Wissenschaftler in seinem Erklärungsansatz ausdrücklich verwendet werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen somit die zentralen Begrifflichkeiten der Theorie und ihre intendierten Anwendungen. Es geht gewissermaßen darum, die notwendige Vorarbeit zu leisten, um in Kapitel 5.3 die jeweils eigene Qualität der Sprache der verschiedenen Sozialkapitalansätze herauszustellen. Da Welterfahrung immer auch Weltdeutung mit Hilfe theoretischer Annahmen ist, kann die begriffliche Bestimmung der Elemente nicht erfolgen, ohne dass von Zeit zu Zeit schon ein Vorgriff auf die zentrale Gesetzmäßigkeit der jeweiligen Theorie gemacht wird. Denn nur so erschließt sich die Bedeutung dieser theoretischen Begriffe. Dies soll, um Wiederholungen zu vermeiden, an den entsprechenden Stellen so kurz wie möglich ausfallen. Die erste forschungsleitende Frage lautet also, wie gesagt: Welches sind die Elemente des jeweiligen Sozialkapitalansatzes bzw. des klassischen Paradigmas?

In einem zweiten Schritt wird danach gefragt, was die einzelnen Elemente verbindet. Damit rückt die Gesetzmäßigkeit des Paradigmas ins Blickfeld. Dies bedeutet für die Untersuchung der Sozialkapitalansätze, die jeweilige Gesetzmäßigkeit, die den Einfluss von Sozialkapital auf das menschliche Handeln beschreibt, herauszuarbeiten. Bei den klassischen Paradigmen können nur das sie bestimmende Handlungsgesetz und seine Rahmenbedingungen aufgezeigt werden. Da nach Kuhn die isolierte Betrachtung der theoretischen Gesetzmäßigkeit wenig Sinn macht, wird sie mit der dazugehörenden empirischen Einbettung in Form von Musterbeispielen vorgestellt. Die zweite Frage lautet also: Wie sieht der Erklärungszusammenhang des jeweiligen Paradigmas aus?

Die dritte Frage zielt auf die Ebene der Effekte ab. Diese Effekte oder Wirkungen, die aus den jeweiligen Paradigmen abzuleiten sind, werden in Form von Hypothesen formuliert und ebenfalls im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen. Hypothesen beschreiben kausale Beziehungen zwischen einzelnen Elementen der jeweiligen Arbeit. Ihre Formulierung dient der sprachlichen Präzisierung der Zusammenhänge zwischen den Elementen. Dieser Schritt veranschaulicht den jeweiligen Anwendungsbereich der Arbeiten. Demnach lautet die dritte forschungsleitende Frage: Welche unterschiedlichen Effekte werden den einzelnen Paradigmen zugeschrieben?

In Kapitel 5.3 soll untersucht werden, ob sich die zwei Sozialkapitalansätze den klassischen Paradigmen zuordnen lassen. Dafür werden die zwei Sozialkapitalansätze, das Homo Sociologicus– und das Homo Oeconomicus–Paradigma anhand der bisher herausgearbeiteten Merkmale auf der Ebene der Elemente, der Gesetzmäßigkeit und der Hypothesen verglichen. Die vierte Frage lautet schließlich: Lässt sich der Sozialkapitalansatz von Putnam dem Homo Sociologicus–Paradigma und der Sozialkapitalansatz Colemans dem Homo Oeconomicus–Paradigma zuordnen?

3 Der Sozialkapitalansatz von Putnam

Wohl selten löste eine wissenschaftliche Arbeit in so kurzer Zeit eine solche öffentliche Debatte aus, wie dies Putnam mit seinem bahnbrechenden Werk Making Democracy Work, Civic Traditions in Modern Italy (im Folgenden: MDB) gelang. In dem darauffolgenden Aufsatz Bowling Alone (BAa) und der erst kürzlich erschienenen Monographie Bowling Alone (BAb) greift er das Thema Sozialkapital wieder auf und vertieft es. Putnam entwickelte seinen Sozialkapitalansatz bei der Untersuchung der Performanz regionaler Verwaltungseinheiten nach einer Verwaltungsreform 1970 in Italien. Von 1970 bis zum Erscheinen des Buches im Jahr 1993 untersuchte er zusammen mit Robert Leonardi und Raffaella Y. Nanetti in Italien die Effektivität regionaler Institutionen und stellte einen erheblichen Entwicklungsunterschied zwischen dem Süden und dem Norden Italiens fest. Die zentrale Frage, die sich Putnam stellte, war die nach den Bedingungen für das Entstehen starker, responsiver, effektiver und repräsentativer Institutionen (vgl. Putnam 1993: 6). Seine Untersuchungsmethode sah neben qualitativen Studien auch quantitative und historische Untersuchungen vor und deckte somit die gesamte Bandbreite des sozialwissenschaftlichen Instrumentariums ab (vgl. Putnam 1993: 12-14).[9] Seine zentrale Entdeckung war es, dass die Performanz formeller Institutionen in entscheidendem Maß von informellen Institutionen abhängt, also von bestehenden innergesellschaftlichen Strukturen, die ihrerseits nach eigenen Regeln funktionieren. In solchen informellen Institutionen werden die Normen und Einstellungen erlernt, die dann das Funktionieren der formellen Institutionen prägen. Diese Ressource, die in informellen Institutionen produziert wird, bezeichnet Putnam als Sozialkapital. Zwei Jahre nach Fertigstellung seines Buches über zivilgesellschaftliche Traditionen in Italien veröffentlichte Putnam seinen Aufsatz Bowling Alone, in dem er das Konzept des Sozialkapitals auf die amerikanische Gesellschaft anwendet und einen deutlichen Rückgang des Sozialkapitals in Amerika diagnostiziert. Die Reaktionen auf diesen Aufsatz sind enorm. Der Begriff des Sozialkapitals wurde mit einem Mal zu einem Modewort. Die Ergebnisse der Untersuchung dagegen waren und sind höchst umstritten. Es wird nicht nur angezweifelt, dass überhaupt ein Rückgang von Sozialkapital festzustellen ist, auch die theoretische Konzeption des Ansatzes bietet weiten Raum für Auseinandersetzungen. In seinem neuesten Werk Bowling Alone, der Ausarbeitung seines 1995 erschienenen Artikels gleichen Titels, geht Putnam auf diese Kritiken ein, liefert umfangreiche empirische Untersuchungen zur Bestätigung seiner Thesen und konkretisiert zumindest in Teilen seinen theoretischen Rahmen.

Trotzdem ist das Bild von Putnams Überlegungen, das sich in der Literatur wiederfindet, höchst widersprüchlich und diffus.[10] Zunächst wird deshalb die Frage nach den Elementen des Sozialkapitalansatzes im Vordergrund stehen.

3.1 Die Elemente des Sozialkapitalansatzes

Nach Putnam „bezieht sich der Begriff ‚Sozialkapital’ auf bestimmte Grundzüge der sozialen Organisation, beispielsweise auf Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen, die Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen fördern“ (Putnam 1999: 28). Die vorliegende Definition von Sozialkapital erscheint auf den ersten Blick relativ dürftig, erfüllt aber die volle Funktion einer Definition im Sinne einer identifizierenden Beschreibung (vgl. FØllesdal 1988: 278). Um die Definition allerdings vollständig verstehen zu können, muss noch geklärt werden, warum im Definiendum das Wort Kapital verwendet wird und was Putnam unter den Begriffen Netzwerk, Normen und soziales Vertrauen versteht, die er im Definiens verwendet.

“By analogy with notions of physical capital and human capital – tools and training that enhance individual productivity – the core idea of social capital theory is that social networks have value. Just as a screwdriver (physical capital) or a college education (human capital) can increase productivity (both individual and collective), so too social contacts affect the productivity of individuals and groups” (Putnam 2000: 18,19).

Sozialkapital ist jedoch anders als Humankapital oder physisches Kapital eine Ressource, die ein einzelner allein nicht kumulieren kann. Sie entsteht erst in einem Beziehungsgeflecht mit anderen Akteuren. Allerdings eignet sich nicht jede soziale Struktur zur Produktion von Sozialkapital. In MDW unterscheidet Putnam zwischen horizontalen und vertikalen Netzwerken. Dabei sind horizontale Netzwerke soziale Gruppen wie z.B. Sportvereine, welche Akteure mit gleichem Status und gleicher Macht zusammenbringen. Diese Gemeinschaften sind für Putnam die entscheidenden Netzwerke zur Produktion sozialen Kapitals und zeichnen sich durch Solidarität, ziviles Engagement, Kooperation und Ehrlichkeit aus. Vertikale Netzwerke hingegen sind hierarchisch organisiert und durch asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen gekennzeichnet (vgl. Putnam 1993: 115). Putnam schränkt zumindest in MDW und BAa den Begriff des Sozialkapitals normativ ein, indem er unter Sozialkapital nur solche Beziehungen versteht, die einen gesellschaftlichen Nutzen haben.[11] So kann er einen markanten Unterschied zwischen dem Sozialkapitalniveau Norditaliens und dem Süditaliens attestieren und einen Rückgang des Sozialkapitals in den USA feststellen. In BAb nimmt Putnam die umfangreichste empirische Untersuchung von Netzwerken und der bürgerlichen Partizipation an solchen vor, weshalb sich diese Arbeit eignet, die empirischen Musterbeispiele für Netzwerke herauszuarbeiten.[12] Putnam untersucht die bürgerliche Beteiligung an Wahlkampfaktivitäten, die Mitarbeit in schulischen Elternvertretungen, die Teilnahme an Jugendgruppen, Bruderschaften und Veteranentreffen. Auch das Engagement in kirchlichen Organisationen und die Anzahl der Gottesdienstbesucher zieht er als Indikatoren heran. Daneben untersucht er die Beziehungen zu den Arbeitskollegen am Arbeitsplatz, die Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenämtern und die informellen sozialen Beziehungen zu Nachbarn und Freunden bis hin zur Internetkommunikation. In allen Bereichen stellt er einen Rückgang der bürgerlichen Beteiligung fest. Der Begriff des Netzwerkes bezeichnet also alle sozialen Beziehungen, die sich durch kontinuierliche und wiederholte Interaktionen und einen begrenzten Personenkreis auszeichnen (vgl. Putnam 2000: 32-181).

Der zweite Bestandteil der Sozialkapitaldefinition sind Normen. Putnam versteht darunter insbesondere Reziprozitätsnormen wie z.B. Tit For Tat, welche in spieltheoretischen Überlegungen als optimale Handlungsweise zur Lösung von Gefangenendilemmasituationen entwickelt wurden. Putnam versteht unter Normen strenge Spielregeln, die Kooperation zur Erstellung eines öffentlichen Gutes ermöglichen (vgl. Putnam 1993: 172). Öffentliche Güter sind Güter, deren Effekte allen Bürgern zu Gute kommen unabhängig davon, ob der einzelne bei der Herstellung dieses Gutes mitgewirkt hat.[13] Dies verleitet Akteure dazu, bei der Herstellung des Gutes nicht zu partizipieren, was schließlich zur Nichtherstellung des öffentlichen Gutes führen kann. Mittels Normen kann dieses Handlungsdilemma aufgebrochen werden, da Akteure dann die Erwartung haben, dass alle bei der Herstellung dieses Gutes teilnehmen werden.

Putnam unterscheidet zwei Formen der Reziprozität. Zum einen gibt es die Art der Reziprozität, wie sie im balancierten Tausch zum Tragen kommt. Ein solcher liegt vor, wenn der Austausch gleichzeitig erfolgt. Eine zweite Art der Reziprozität ist die des generalisierten Tauschs, was bedeutet, dass eine einseitig geleistete Vorleistung in der Zukunft zurückgezahlt wird, evt. sogar von einer anderen Person. Dabei sei der häufigere und leider auch problematischere Fall der generalisierte, d.h. asymmetrische Austausch. Zur Verdeutlichung des symmetrischen Austauschs gibt Putnam folgendes Musterbeispiel an: „As when office–mates exchange holiday gifts or legislators log–roll“ (Putnam 1993: 172). Als Beispiel für den Fall des asymmetrischen Austauschs verweist er auf den Bürger, „lending a dime to a stranger for a parking meter, ...keeping an eye on a friends house“ (Putnam 2000: 135). Während im ersten Fall noch von einem wirklichen Tausch gesprochen werden kann, ist im zweiten Fall die Unsicherheit darüber, ob eine Gegenleistung erbracht wird, zu hoch. Unter normalen Umständen kommt dieser Tausch deshalb nicht zustande. Es bedarf eines hohen Maßes an sozialem Vertrauen, um das Risiko, welches die Transaktion unter normalen Umständen unmöglich machen würde, zu minimieren. Der eigentliche Tauschcharakter ist im zweiten Fall verlorengegangen und an seine Stelle tritt nun Handeln aus einem altruistischen Motiv. „In the civic community, however, citizens pursue what Tocqueville termed ‚self-interest properly understood’, that is, self-interest defined in the context of broader public needs, self-interest (…) that is alive to the interests to other“ (Putnam 1993: 88). Hieran wird deutlich, dass Putnam unter Normen ein Konglomerat von Einstellungen und erlernten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens versteht, deren zentrales Merkmal ihr Beitrag zur Entstehung von Kooperation ist.[14]

Das dritte Element der Sozialkapitaldefinition ist soziales Vertrauen. Es hat seinen Ursprung in den zwei bereits dargestellten Komponenten – in Normen der Reziprozität und in Netzwerken zivilen Engagements. Soziales Vertrauen ist der eigentliche Mechanismus, der Kooperation ermöglicht. “Social trust in complex modern settings can arise from two related sources – norms of reciprocity and networks of civic engagement“ (Putnam 1993: 171). Soziales Vertrauen bezeichnet die Erwartung der Akteure, dass kooperatives Verhalten erwidert wird, und ermöglicht damit erst ein solches. Die zentrale Bedeutung des Sozialen Vertrauens im Sozialkapitalkonzept veranlasst Knight, die Begriffe ‚Social Capital’ und ‚Social Trust’ sogar gleichzusetzen (vgl. Knight 1998: 756). Die Fragebatterien, die in den von Putnam verwendeten Umfragen benutzt wurden, sahen zur Messung sozialen Vertrauens unter anderem folgendes vor: „DDB Needham question six-level agree/disagree item: ‚Most People are honest’ vs. ‚You can’t be too careful’” (Putnam 2000: 429). Der zu ermittelnde Wert ist hierbei das Maß des Vertrauens, welches anderen Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber aufgebracht wird. Es sind Einstellungen, langfristige Zuschreibungen gegenüber Institutionen oder Personen, die für das Handeln der Personen verantwortlich gemacht werden.

In diesem Kapitel standen die Elemente des Sozialkapitalansatzes von Putnam im Vordergrund. Diese sind: Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen. Ihre Bedeutung wurde aufgezeigt. Es wurde aber auch miteinbezogen, dass die Bedeutung von Begriffen nicht allein durch Angabe ihres grammatikalischen Gehalts gezeigt werden kann, sondern dass die paradigmatisch angegebenen, empirischen Beispiele ebenfalls zu berücksichtigen sind. Im nächsten Schritt ist nun zu klären, welche Gesetzmäßigkeit die einzelnen Elemente des Sozialkapitalansatzes verbindet.

3.2 Der Erklärungszusammenhang des Sozialkapitalansatzes

Zuerst soll in diesem Kapitel gezeigt werden, auf welche Weise durch Netzwerke und Normen soziales Vertrauen entsteht und welche speziellen sozialen Strukturen die Voraussetzungen für das Entstehen von Sozialkapital schaffen. Danach wird auf die Ursachen eingegangen, die nach Putnam für die unterschiedliche Entwicklung in Italien verantwortlich sind, und es wird seine Begründung für den Rückgang von Sozialkapital in den Vereinigten Staaten vorgestellt.

Putnam argumentiert, dass durch das Eingebundensein in Netzwerke zivilen Engagements eine Zivilgesellschaft entsteht, deren Mitglieder Handlungen von gegenseitigem Nutzen vollziehen. Diese Netzwerke produzieren soziales Kapital in Form von generalisierten Reziprozitätsnormen und generalisiertem Vertrauen: „In the civic communities, individuals become citizens who will act with and trust others, even when they do not know them personally“ (Levi 1996: 46). Der zentrale Mechanismus, der zur Kooperation führt, ist die Vertrauensvergabe, also die Erwartung, dass eine einseitige Vorleistung nicht ausgenutzt, sondern vom anderen Akteur zu beiderseitigem Nutzen verwendet wird. Putnam beruft sich zur Bestätigung seiner Argumentation auf Überlegungen der Spieltheorie:

“Game theorists generally agree that cooperation should be easier when players engage in indefinitely repeated games, so that a defector faces punishment in successive rounds. This principle is fundamental to further theorizing in this field” (Putnam 1993: 166).

Die hier genannte Beobachtung, dass Kooperation in wiederholten Spielen einfacher entstehen kann, lässt sich laut Putnam auf das Agieren in engen Netzwerken übertragen. Denn solche Netzwerke gewährleisten, dass sich die Akteure wiederholt begegnen und Defektion[15] in zukünftigen Spielen entsprechend sanktioniert wird. „Collective live in the civic regions is eased by the expectation that others will probably follow the rules. Knowing that others will, you are more likely to go along, too, thus fulfilling their expectations“ (Putnam 1993: 111). Das Handeln in Netzwerken zeichnet sich folglich durch drei Faktoren besonders aus:

1. Das Eingebundensein von Akteuren in Netzwerken bewirkt, dass Transaktionen nicht einmalig bleiben und eine dauerhafte soziale Bindung entsteht.
2. Dadurch ist gewährleistet, dass die Handlungszüge nicht in völliger Unkenntnis des Transaktionspartners vorgenommen werden, was die Defektion erleichtern und die Vertrauensvergabe nahezu unmöglich machen würde. Auf diese Weise baut sich ein gewisses Maß an Vertrauen in sozialen Beziehungen auf.
3. Durch das Vorhandensein von Normen in solchen Netzwerken wird ein zusätzlicher Sanktionsdruck auf die Akteure ausgeübt, sich an bestehende Regeln zu halten. Die Sanktionsmittel reichen von der Ächtung durch andere Personen bis hin zum Ausschluss aus Netzwerken und Bestrafung durch den Staat (vgl. Putnam 1993: 182).

In den Worten von Putnam ausgedrückt:

“The trust that is required to sustain cooperation is not blind. Trust entails a prediction about the behavior of an independent actor. ‘You do not trust a person (…) to do something merely because he says he will do it. You trust him only because, knowing what you know of his disposition, his available options and their consequences, his ability and so forth you expect that he will choose to do it” (Putnam 1993: 171).

[...]


[1] Neben den prominenten Sozialkapitalansätzen von Putnam und Coleman findet sich noch ein Vielzahl weiterer Arbeiten, die den Sozialkapitalbegriff in teilweise variierter Form verwenden. Zumindest die wichtigsten Arbeiten seien an dieser Stelle erwähnt: Loury 1977, Granovetter 1985, Bourdieu 1983, Portes 1998, Fukuyama 1995, Flap 1995, Gambetta 1988 und Burt 1992.

[2] Natürlich hätten neben Dahrendorf und Axelrod auch andere Vertreter der klassischen Paradigmen herangezogen werden können. Aber ihre Arbeiten zeichnen sich durch besondere Eigenschaften aus, welche sie für die Verwendung in dieser Untersuchung attraktiv machen. Schon der Titel Homo Sociologicus der Arbeit Dahrendorfs zeigt, dass es Zielsetzung der Arbeit war, einen Überblick darüber zu vermitteln, welche Positionen unter dem Dach des Homo Sociologicus–Paradigmas vertreten werden. Aus diesem Grund eignet sie sich dafür, die Grundstrukturen des paradigmatischen Erklärungsmusters dieser Richtung herauszuarbeiten. Axelrods Arbeit bietet sich aus einem anderen Grund an. Denn es ist Axelrod, der eine entscheidende Erweiterung des Homo Oeconomicus–Paradigmas vorgenommen hat. Bei Axelrod steht nicht mehr das Handeln mit einer stabilen Umwelt im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, es soll vielmehr das Handeln von Akteuren mit anderen Akteuren erklärt werden. Damit rückt das Problem der strategischen Interaktion in den Mittelpunkt. Da die Sozialkapitalansätze kooperatives Handeln und somit die Interaktion mindestens zweier Akteure erklären möchten, eignet sich auch Axelrods Arbeit als Vertreter des Homo Oeconomicus–Paradigmas. Im Folgenden werden die hier ausgewählten Ansätze auch ‚die zwei klassischen Paradigmen’ genannt (vgl. Schmid 1999: 191-201, auch Esser 1999a: 231f.).

[3] Dies gilt insbesondere für Schlick, Popper und den frühen Carnap – eingeschränkt für den logischen Empiristen des Wiener Kreises Otto Neurath, dessen Kohärenztheorie der Erkenntnis und dessen Holismus viele Parallelen zu Kuhns Werk aufweisen.

[4] Von Francis Bacon bis zu den Vertretern des logischen Empirismus des Wiener Kreises ging man von einer akkumulativen Fortentwicklung des Wissens aus (vgl. Carrier 1996, Druwe 1995: 364 f.).

[5] Der Begriff des Forschungsprogramms stammt von Lakatos, einem Vertreter der Wissenschaftstheorie-richtung, die sich in der Nachfolge Poppers die Verteidigung des rationalistischen Programms zum Ziel setzte (vgl. Lakatos 1974: 108-148).

[6] Dieser unvollständiger Satz findet sich so auch im Original. 1962 ist das Erscheinungsjahr der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Anm. J.M.).

[7] Kuhn selbst gebraucht den Begriff des „intendierten Anwendungsbereiches“ nicht, dieser ist erst von Stegmüller in die Debatte eingeführt worden. Er bezeichnet die empirische Komponente des Paradigmas.

[8] Dasselbe Phänomen wird in der Psychologie auch mit der Theorie der kognitiven Dissonanz erklärt (vgl. Zimbardo 1995, Stahlberg/Frey 1992).

[9] Nach Tarrow ist die Verbindung von qualitativer, quantitativer und historischer Forschung ein Meilenstein in der politischen Kulturforschung (vgl. Tarrow 1996).

[10] Die Bandbreite reicht von Darstellungen, die Putnam als einen Denker in traditionellen Mustern der Individualismuskritik im Sinne des Kommunitarismus sehen (vgl. z.B. Graf 1999: 16 f., Levi 1996: 51 und Leitartikel der FAZ vom 16. September 2000) bis zu Darstellungen, die in den Arbeiten Putnams eine Pionierleistung für eine neue politische Kulturforschung finden (z.B. Laitin 1995: 172).

[11] In BAb räumt Putnam ein, dass Sozialkapital neben der guten Seite auch eine dunkle Seite hat. So sind z.B. mafiöse Strukturen in einem hohen Maße durch gegenseitiges Vertrauen geprägt (vgl. Gambetta 1988). Auch Rubio arbeitet an einem Fallbeispiel für Kolumbien heraus, auf welche Weise Sozialkapital Rentenstreben stärkt und kriminelles Verhalten fördert (vgl. Rubio 1997). Schließlich betont Portes verschiedene negative Seiten von Sozialkapital so z.B. die Diskriminierung von Außenstehenden und innovations- und kreativitätshemmende Effekte innerhalb sozialer Netzwerke (vgl. Portes 1995).

[12] Mit der umfangreichen empirischen Untersuchung reagiert Putnam auf Kritik wie sie z.B. von Paul Rich an der empirischen Bestandsaufnahme in BAa vorgetragen wurde (vgl. Rich 1999). Rich argumentiert, dass Organisationen und Verbände einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen und Putnam zeitgemäße Organisationsformen in seiner Untersuchung nicht berücksichtigt.

[13] Zur Problematik der öffentlichen Güter und des Trittbrettfahrens siehe Hardin 1968 und Olson 1965.

[14] Erlernt sind die Regeln, da es sich um eine Form des generalisierten Austauschs handelt. Der Tauschcharakter dieser Transaktion ist verloren gegangen und eine Gegenleistung wird in diesem Fall nicht erbracht. Die Handlung hat hier eine andere Ursache. Sie liegt in den internalisierten Einstellungen begründet. An dieser Stelle tritt zum ersten Mal der Fall auf, dass zur Bestimmung der Bedeutung des Normbegriffs auf das theoretische Erklärungsmuster vorgriffen werden muss. Dass Normen erlernt werden und so ihre handlungsmotivierende Wirkung entfalten, wird im folgenden Abschnitt weiter vertieft.

[15] Defektion bezeichnet eine nicht kooperative Handlung eines Akteurs.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832478919
ISBN (Paperback)
9783838678917
Dateigröße
808 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Sozialwissenschaften
Note
1
Schlagworte
vertrauen spieltheorie rational choice homo oeconomicus robert putman
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Titel: Sozialkapital - ein Paradigma?
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