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Gewalt an Kindern und die Folgen für ihr Bindungsverhalten und ihre Bindungsfähigkeit

©2003 Diplomarbeit 258 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Wer denkt, das Thema „Gewalt gegen Kinder“ sei nur ein aktuelles, der täuscht sich. Denn es existiert schon so lange, wie es auch die Menschheit gibt.
Der Historiker Philippe Ariès und der Psychoanalytiker Lloyd deMause bestätigen dies in ihren Schilderungen von der Geschichte der Kindheit. Sie beschreiben einen langsamen Prozess, in dessen Verlauf sich die Erwachsenen für die Andersartigkeit und Besonderheit der Kinder sensibilisierten.
Philippe Ariès beschreibt in seinem Buch „Geschichte der Kindheit“ eine gewisse Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber ihren Kindern, die er darin begründet sieht, dass sie eine direkte und unumgängliche Folge der Demographie dieser Epoche war. Zu hoch war die Säuglingssterberate, um eine Bindung im Sinne von John Bowlby zu seinem Kind aufzubauen. Äußerungen wie: „Ich habe zwei oder drei Kinder im Säuglingsalter verloren, nicht ohne Bedauern, aber doch ohne Verdruss“ (Ariès, 2000), spiegeln dies wieder. Noch lange blieb die Einstellung in den Köpfen der Menschen verankert, mehrere Kinder zu zeugen, um wenigstens Eines am Leben erhalten zu können.
Der Begriff „Bindung“ ist im Hinblick auf den oben beschriebenen geschichtlichen Kontext noch relativ jung. Geprägt wurde er durch den englischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby Ende der 50er Jahre. Die dazugehörige Bindungstheorie hat er zusammen mit Mary Ainsworth entwickelt, wobei John Bowlby selbst die wesentlichen Grundzüge dieser Theorie durch Einbeziehung von Begriffen aus der Ethologie, Kybernetik und Psychoanalyse formulierte. Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Bindung zwischen Mutter und Kind, wobei davon ausgegangen wird, dass der menschliche Säugling die angeborene Neigung hat, die Nähe einer vertrauten Person zu suchen.
Die Bindungstheorie beschäftigt sich dementsprechend nicht ausschließlich mit der Mutter-Kind-Beziehung, „Das Bindungskonzept lässt sich ebenso auf die Beziehung zu den Vätern (oder Geschwistern, Erzieherinnen, Großeltern) anwenden. In den wenigen Untersuchungen mit Vätern (Grossmann et al., 1981 a; Kotelchuck et al., 1975) ließen sich die gleichen Bindungsarten in Bezug auf die Väter unterscheiden“ (Rauh, 2002).
In der Zeit John Bowlbys lag der Fokus der Bindungsforschung nur auf der Beobachtung normal entwickelter Kinder, obwohl John Bowlby selbst seine Theorie aufgrund von klinischen Daten und Beobachtungen entwickelt hatte; er untersuchte demzufolge hauptsächlich „kranke“ Kinder um […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7889
Smit, Simone: Gewalt an Kindern und die Folgen für ihr Bindungsverhalten und ihre
Bindungsfähigkeit
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universität, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

3
Inhalt
1. Einleitung...
6
2. Die Bindungstheorie nach John Bowlby... 14
2.1 Die Biographie von John Bowlby... 14
2.2 Die Bindungstheorie... 17
2.3 Die Bindungsentwicklung... 26
2.4 Die Bindungsqualität... 29
2. Frühe Kindheit... 35
3.1 Die psycho-sexuelle Entwicklung nach Sigmund Freud... 36
3.2 Geschlechtsspezifische Sozialisation...
43
3.3 Geschichte der Kindheit...
56
3. Gewalt...
67
4.1 Gewalt in der Kindererziehung... 73
4.2 Soziologische Erklärungsansätze für Gewalt gegen Kinder... 76
4.3 Formen von Gewalt... 83
4.3.1 Sexueller Missbrauch... 83
4.3.2 Opfer sexuellen Missbrauchs... 90
4.3.3 Täter sexuellen Missbrauchs... 93
4.3.4 Vernachlässigung... 102
4.3.5 Körperliche und seelische Misshandlung... 104
4.4 Psychologische Charakteristika und Beziehungsrepräsentanzen
misshandelnder Eltern... 110
4.5 Wie kann ein bestehender Misshandlungszyklus durchbrochen
werden?... 115
4.6 Krankheitsbilder in der Folge von sexuellem Missbrauch, Misshandlung
und Vernachlässigung... 116
4.6.1 Angsterkrankungen... 117
4.6.2 Depression... .
119
4.6.3 Essstörungen... 122

4
4.7 Sexuelle Störungen und Verhaltensauffälligkeiten als Folge sexuellen
Missbrauchs... 125
5. Sexueller Missbrauch, Vernachlässigung und körperliche oder seelische
Misshandlung aus der Sicht der Bindungstheorie... 128
5.1 Bindungsstörungen... 128
5.2 Bindungsqualität und Interaktionsverhalten misshandelter Kleinkinder... .
135
5.3 Folgen der Kindesmisshandlung im Kindes- und Erwachsenenalter... 138
5.4 Bindung als Risiko- und Schutzfaktor... 142
6. Die Videotechnik... 147
6.1 Darstellung der Videotechnik... 148
6.2 Bindungstheoretische Grundlagen der Nutzung von Videoanalyse
in Diagnostik, Beratung und Therapie... 149
6.3 Videotechnik als Hilfsmittel in der Beratung/ Therapie... 153
6.3.1 Interview mit einer Mitarbeiterin des Kinderschutz- Zentrums Kiel...
153
6.3.2 Auswertung des Interviews... 154
6.4 Abschließende Beurteilung aus den gewonnenen Informationen, ob der
Einsatz der Videotechnik in Beratung und Therapie sinnvoll und
hilfreich ist... 168
7. Qualitative Sozialforschung... 173
7.1 Zentrale Prinzipien qualitativer Sozialforschung... 173
7.2 Das narrative Interview...
183
8. Beratung und Therapie... 194
8.1 Hilfsangebote am Beispiel des Kinderschutz-Zentrums Kiel... 198
8.2 Prävention psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter.
Perspektiven der Beziehungsberatung... 202
8.2.1 Stufen der Diagnostik: Screening und individuelle Untersuchung...
203
8.2.2 Ein theoretischer Orientierungsrahmen für die präventive Praxis...
204
8.3 Die integrative Funktion der Bindungstheorie in Beratung/ Therapie...
205
8.3.1 Die therapeutische Beziehung... .
206
8.3.2 Der Berater/ Therapeut als sichere Basis... 206

5
8.3.3 Die therapeutische Beziehung als eine reelle Beziehung...
211
8.3.4 Die Beziehung zum eigenen Selbst...
212
8.3.5 Die Eltern-Kind-Beziehung... 213
9. Schluss...
215
10. Literaturverzeichnis...
223
11. Internetquellennachweis... 245
12. Graphiknachweis...
246
13. Anhang... 248

6
1. Einleitung
Wer denkt, das Thema ,,Gewalt gegen Kinder" sei nur ein aktuelles, der täuscht sich.
Denn es existiert schon so lange, wie es auch die Menschheit gibt.
Der Historiker Philippe Ariès und der Psychoanalytiker Lloyd deMause bestätigen dies
in ihren Schilderungen von der Geschichte der Kindheit. Sie beschreiben einen
langsamen Prozess, in dessen Verlauf sich die Erwachsenen für die Andersartigkeit
und Besonderheit der Kinder sensibilisierten.
Philippe Ariès beschreibt in seinem Buch ,,Geschichte der Kindheit" eine gewisse
Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber ihren Kindern, die er darin begründet
sieht, dass sie eine direkte und unumgängliche Folge der Demographie dieser Epoche
war. Zu hoch war die Säuglingssterberate, um eine Bindung im Sinne von John Bowlby
zu seinem Kind aufzubauen. Äußerungen wie:
,,Ich habe zwei oder drei Kinder im Säuglingsalter verloren, nicht ohne Bedauern, aber
doch ohne Verdruß" (Ariès, 2000: 98),
spiegeln dies wieder. Noch lange blieb die Einstellung in den Köpfen der Menschen
verankert, mehrere Kinder zu zeugen, um wenigstens Eines am Leben erhalten zu
können.
Der Begriff ,,Bindung" ist im Hinblick auf den oben beschriebenen geschichtlichen
Kontext noch relativ jung. Geprägt wurde er durch den englischen Kinderpsychiater und
Psychoanalytiker John Bowlby Ende der 50er Jahre. Die dazugehörige Bindungstheorie
hat er zusammen mit Mary Ainsworth entwickelt, wobei John Bowlby selbst die
wesentlichen Grundzüge dieser Theorie durch Einbeziehung von Begriffen aus der
Ethologie, Kybernetik und Psychoanalyse formulierte. Im Zentrum der Bindungstheorie
steht die Bindung zwischen Mutter und Kind, wobei davon ausgegangen wird, dass der
menschliche Säugling die angeborene Neigung hat, die Nähe einer vertrauten Person
zu suchen. (vgl. Dornes, 2001: 221)
Die Bindungstheorie beschäftigt sich dementsprechend nicht ausschließlich mit der
Mutter-Kind-Beziehung,
,,Das Bindungskonzept lässt sich ebenso auf die Beziehung zu den Vätern (oder
Geschwistern, Erzieherinnen, Großeltern) anwenden. In den wenigen Untersuchungen
mit Vätern (Grossmann et al., 1981 a; Kotelchuck et al., 1975) ließen sich die gleichen
Bindungsarten in Bezug auf die Väter unterscheiden" (Rauh, 2002: 201).

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In der Zeit John Bowlbys lag der Fokus der Bindungsforschung nur auf der
Beobachtung normal entwickelter Kinder, obwohl John Bowlby selbst seine Theorie
aufgrund von klinischen Daten und Beobachtungen entwickelt hatte; er untersuchte
demzufolge hauptsächlich ,,kranke" Kinder um dann seine Bindungstheorie auch auf
,,gesunde" Kinder anzuwenden.
Erst seit ungefähr 1980 werden vermehrt high-risk samples erforscht; es werden also
Kinder von schizophrenen oder depressiven Müttern untersucht. Darunter fallen auch
die Kinder, die aus Vernachlässigungsfamilien stammen, sexuell missbrauchte Kinder
und Kinder, die psychischen oder physischen Misshandlungen ausgesetzt waren.
Seit meinem Praktikum im Kinderschutz-Zentrum Kiel, bei dem ich täglich mit Kindern,
die Gewalt in jeglicher Form und jeglichem Ausmaß erlebt haben, konfrontiert wurde,
weiß ich die Bedeutung der Bindungstheorie z.B. in Bezug auf die Diagnostik erst richtig
zu schätzen. Daher hat es mich im Hinblick auf den geschichtlichen Kontext
verwundert, dass sich die Bindungsforschung erst spät, nämlich erst ca. dreißig Jahre
nach ihrer Gründung mit dem Thema ,,Kindesmisshandlung und deren Auswirkung auf
das Bindungsverhalten der Kinder" konfrontiert sieht. Dies hängt auch mit der vorher
nicht existierenden gesellschaftlichen Akzeptanz zusammen. Viele Jahre lang war z.B.
das Thema sexueller Missbrauch in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich in
der Psychologie und Medizin ein Tabuthema, das erst durch den Einsatz der
Frauenbewegung und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen als solches
enttabuisiert wurde und immer mehr in den Fokus des öffentlichen Interesses geriet.
(vgl. Wipplinger und Amann, 1997: 13)
Dies hatte zur Folge, dass die Gesellschaft für dieses brisante Thema sensibilisiert
wurde und sie somit in der Lage war, die Misshandlungsproblematik überhaupt als
Problem zu sehen und anzuerkennen sowie ihre Tragweite zu erkennen.
,,Seit der Wiederentdeckung der modernen Misshandlungsproblematik in den 60er und
70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich weltweit ein deutlicher Trend
ergeben, das Scheitern im Verhältnis zum Kind, das Misshandeln, die vielfältige
Zurichtung von Kindern sowie das Fehlen einer für die Entwicklung von Kindern
notwendigen Pflege, Förderung und Erziehung immer mehr zu einem Problem der
einzelnen Eltern zu machen" (Wolff, 2002: 70).
Aus diesem Grund möchte ich mit meiner Diplomarbeit an dieser Stelle anknüpfen und
anhand einer Literaturarbeit die bis jetzt erforschten Folgen von sexuellem Missbrauch,
Vernachlässigung und körperlicher oder seelischer Misshandlung von Kindern auf ihr

8
Bindungsverhalten und ihre Bindungsfähigkeit zusammentragen. Weiterhin ist es mein
Ziel, auf die Einsatzmöglichkeiten der Bindungstheorie in Beratung oder Therapie
aufmerksam zu machen, durch die meines Erachtens auch die große Bedeutung dieser
Theorie deutlich wird. So wird in meiner Arbeit auch ersichtlich werden, wie eine
schlechte Bindung z.B. aufgrund von Kindesmisshandlung die Lebensqualität eines
Kindes und auch eines Erwachsenen zerstören kann und wie wichtig dann eine gute
Bindung ist, um demjenigen wieder Mut zu machen, ihm eine Perspektive aufzuzeigen
und ihm somit zu neuem Glück zu verhelfen. Einerseits soll in meiner Arbeit, so wie
eben beschrieben, deutlich werden, warum Bindung zum einen ein Risikofaktor und
zum anderen ein Schutzfaktor ist, andererseits soll ersichtlich werden, welche fatalen
Folgen es haben kann, wenn ein misshandeltes Kind inner- oder außerhalb seiner
Familie nie erfährt, was es heißt sicher gebunden zu sein. Denn erstens ist dann die
Wahrscheinlichkeit geringer, dass es sich jemals aus dem bestehenden
Misshandlungszyklus befreien kann und zweitens ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass
dieses Kind später z.B. als eigene Mutter selbst nicht anders mit ihren Kindern umgeht.
Dies ist ein Teufelskreis, der in den meisten Fällen nur durch eine Therapie
durchbrochen werden kann.
Im ersten Teil meiner Arbeit widme ich meine Aufmerksamkeit der Bindungstheorie von
John Bowlby, da sie als Grundlage meiner Arbeit dient. Ich stelle Bowlbys Werdegang,
die Entwicklung der Bindungstheorie und die wichtigsten Aussagen und Begrifflichkeiten
der Theorie dar, damit der Leser später die Folgen von Gewalt an Kindern für ihr
Bindungsverhalten und ihre Bindungsfähigkeit richtig einschätzen kann.
Der zweite Teil, den ich ,,Frühe Kindheit" genannt habe, beschäftigt sich mit der
Entwicklungspsychologie und Sozialisation von Kindern. Dazu gehe ich auf die psycho-
sexuelle Entwicklung nach Sigmund Freud ein, da sie eine wichtige Rolle in der
Entwicklung der Bindungstheorie einnahm. Zudem ist Freuds Theorie auch in Bezug auf
das Thema sexueller Missbrauch wichtig. Danach komme ich auf die Sozialisation von
Kindern zu sprechen. Nachdem ich den Begriff Sozialisation erläutert habe, gehe ich
speziell auf geschlechtsspezifische Sozialisation ein. Sie ist für mein Thema insofern
interessant und relevant, da sie eine Verknüpfung zu den Fragestellungen ,,Wer sind die
Täter bzw. Opfer sexuellen Missbrauchs?" herstellt.

9
Anschließend erfolgt durch einen Rückblick auf die Geschichte der Kindheit, der sich
auf die Werke von Philippe Ariès und Lloyd deMause stützt und in dem ich mich auf die
damaligen Formen der Eltern-Kind-Beziehung konzentriere, eine Überleitung zu dem
Kapitel ,,Gewalt".
Dieser vierte Teil beginnt, nachdem ich den Begriff Gewalt aus allgemeiner,
soziologischer und psychologischer Sicht definiert habe, mit der Fortführung des
geschichtlichen Kontextes von Gewalt gegen Kinder. Doch diesmal liegt mein
Schwerpunkt auf der Gewalt in der Kindererziehung. Meine Intention dabei ist es, dem
Leser zu vermitteln, dass dieses Thema damals wie heute aktuell war und ist. Nur
haben sich der Bedeutungsgehalt und die Rechtfertigung der Erziehungsgewalt
geändert. Im Anschluss daran werde ich auf soziologischer Ebene der Frage
nachgehen, warum Kinder Opfer von Gewalttaten werden.
Dann komme ich auf einen weiteren zentralen Punkt in meiner Arbeit zu sprechen; den
verschiedenen Formen von Gewalt. Dies sind der sexuelle Missbrauch, bei dem ich
auch auf die Opfer und Täter eingehe, die Vernachlässigung und die körperliche und
seelische Misshandlung. Sie sind der Ausgangspunkt für alle folgenden Kapitel und auf
sie bezieht sich auch meine Erläuterung der Folgen für das Bindungsverhalten und die
Bindungsfähigkeit von Kindern.
Anschließend gehe ich noch einmal gesondert auf die psychologischen Charakteristika
und Beziehungsrepräsentanzen misshandelnder Eltern ein. Hier möchte ich explizit
schildern, was misshandelnde Eltern von anderen Eltern unterscheidet. In dem
darauffolgenden Punkt erkläre ich, wie ein bestehender Misshandlungszyklus
durchbrochen werden kann. In verschiedenen Untersuchungen wurden hierbei
interessante Erkenntnisse gefunden, die auch auf die Bedeutung einer guten Bindung
Rückschlüsse zulassen.
Der letzte Teil dieses Kapitels befasst sich mit den Auswirkungen und zwar speziell mit
den Krankheitsbildern der Angsterkrankung, der Depression und der Essstörung in
Folge von sexuellem Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung. Zusätzlich
erläutere ich sexuelle Störungen und Verhaltensauffälligkeiten als Konsequenz von
sexuellem Missbrauch. Dieser letzte Teil beschränkt sich nur auf ein Minimum der
verschiedenen Auswirkungen, die meine zentralen ausgewählten Gewaltformen,
hinterlassen. Meine Auswahl beschränkt sich auf diese oben genannten Folgen, da bei
ihnen zum Teil auch Verbindungen zum Thema Bindung möglich waren und ich somit
dem Leser demonstrieren kann, wie weit die Spannbreite der Auswirkungen ist.

10
Der fünfte Teil, der zugleich der Hauptteil meiner Diplomarbeit ist, greift die Frage auf,
inwiefern Gewalterfahrungen von Kindern ihr Bindungsverhalten und ihre
Bindungsfähigkeit beeinflussen. Dazu werde ich zunächst auf Bindungsstörungen und
ihre Klassifizierung eingehen. Dann folgt die Auswertung verschiedener
Untersuchungen, die sich mit der Bindungsqualität und dem Interaktionsverhalten
misshandelter Kinder befasst haben. Anschließend gebe ich einen Überblick über die
Folgen von Misshandlung; zum einen bezogen auf das Kindesalter und zum anderen
bezogen auf das Erwachsenenalter. Dieser Punkt erscheint mir wichtig, da er auch die
längerfristigen und Spätfolgen beinhaltet. Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit der
Nennung von Risiko- und Schutzfaktoren und ihrer Bedeutung in der Genese und der
Bewältigung von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch.
Der darauffolgende sechste Teil erläutert das Verfahren der Videotechnik als Hilfsmittel
in der Beratung oder Therapie. Dieses Kapitel habe ich in meine Arbeit mit
aufgenommen, da ich aus meiner Praxiserfahrung, während meines Praktikums gelernt
habe, dass die Videotechnik eine gute Möglichkeit ist, um Bindungsverhalten von
Kindern in der Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen festzuhalten und um mit
diesem Material längerfristig in der Therapie oder Beratung mit den Klienten zu
arbeiten. Hierzu werde ich zunächst Informationen über die Videotechnik aus der
Literatur zusammenfassen, um dann zu erläutern, ob die Videotechnik in Beratung oder
Therapie wirklich sinnvoll und relevant ist oder nicht. Meine Argumentation wird sich
hierbei auch auf Informationen stützen, die ich aus dem narrativen Interview, das im
Anhang dargestellt ist, gewonnen habe. Dieses Interview habe ich mit Frau Linke vom
Kinderschutz-Zentrum Kiel geführt, da sie die Videotechnik als hilfreiches Medium für
ihren Beratungs- und Therapiealltag entdeckt hat und auf jahrelange Erfahrung
diesbezüglich zurückgreifen kann.
Im Anschluss daran werde ich die zentralen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung,
die dem vorherigen Teil zugrunde liegt, erläutern und die Methode des narrativen
Interviews näher beleuchten.
Das achte Kapitel meiner Arbeit trägt die Überschrift ,,Beratung und Therapie". Hier
versuche ich die Stellung der Bindungstheorie und ihrer einzelnen Erkenntnisse in der
Beratung und Therapie zu erörtern. Als Ausgangspunkt hierfür gehe ich zunächst auf
die Begriffe Beratung und Therapie im Einzelnen ein und erarbeite ihre Unterschiede.
Dies ist für mich an dieser Stelle besonders wichtig, da ich in den darauffolgenden
Inhalten immer beide Möglichkeiten der Hilfe für Ratsuchende anspreche.

11
Danach beleuchte ich als erstes die praktische Seite, indem ich als eines von vielen
Anbietern von Beratungen und Therapien das Kinderschutz-Zentrum Kiel des
Deutschen Kinderschutzbundes vorstelle, bevor ich dann auf die Prävention
psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter innerhalb der Beziehungsarbeit
eingehe. Dann folgt eine Einschätzung der Bedeutung der Risikozeichen und
Ressourcen der Betroffenen für die präventive Arbeit. Danach erfolgt die Darstellung
der integrativen Funktion der Bindungstheorie in Beratung und Therapie. Hier gehe ich
unter anderem auf die therapeutische Beziehung, die laut Bindungstheorie einen
bedeutungsvollen Stellenwert hat, ein. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle
besonders die Bedeutung der Rolle des Therapeuten oder Beraters als sichere Basis
und der therapeutischen Beziehung als eine reelle Beziehung. Zum anderen beziehe
ich hier auch die Beziehung zum eigenen Selbst und die Eltern-Kind-Beziehung mit ein.
Im letzten Kapitel meiner Arbeit möchte ich zum einen eine Perspektive für die
zukünftige Forschung aufzeigen, indem ich Defizite der wissenschaftlichen Forschung
bezüglich meines Themas aufzeige. Zum anderen möchte ich die Bedeutung der
Bindungstheorie für die Gesellschaft beleuchten, denn laut Dornes gibt es einige
bindungstheoretische Untersuchungen, die eine Verknüpfung zur Soziologie herstellen.
,,Mittlerweile gibt es nämlich aus bindungstheoretischer Sicht hochinteressante
Untersuchungen zur intergenerationellen Weitergabe von Holocausttraumatisierungen
(Bar-On et al. 1998) und zu sozialpolitisch so brisanten Themen wie rechtsextreme
Gewalt und ihren möglichen Zusammenhang mit Bindungserfahrungen (s. Hopf et al.
1995; Hopf 2001)" (Dornes, 2002: 12).
Doch laut Dornes wurden diese Erkenntnisse der Bindungsforschung erst sehr wenig
von den Soziologen in ihre Arbeit mit aufgenommen.
Mit meiner Diplomarbeit strebe ich keinen internationalen Vergleich
bindungstheoretischer Forschungsergebnisse bezüglich meines Themas an. Das
bedeutet, dass in meiner Arbeit ein Überschuss an ausländischen Studien festzustellen
ist. Dieser lässt sich damit erklären, dass zum einen die Bindungstheorie nicht aus
Deutschland stammt und zum anderen die wissenschaftliche Forschung z.B. in Amerika
auf diesem Gebiet weiter fortgeschritten ist.
Außerdem gehe ich inhaltlich nicht speziell auf die Kind-Vater-Bindung ein, obwohl ich
an dieser Stelle hätte überprüfen können, ob es Verknüpfungen zur Täterforschung gibt.
Dies liegt daran, dass ich in meiner gesichteten Literatur nur wenige Informationen

12
hierzu finden konnte, da viele Autoren sich bezüglich des Geschlechts der
Bindungsperson nicht näher äußern und nur von ,,Bindungsperson" sprechen, während
andere nur die Mutter als Bindungsperson benennen.
Auch findet in meiner Arbeit keine ausführliche Beschreibung aller Krankheitsbilder, die
in Folge von sexuellem Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung entstehen
können statt. Ich habe meine Auswahl auf vier Krankheitsbilder beschränkt und habe
mich für die Darstellung von Angsterkrankungen, Depression, Essstörungen und
sexuellen Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten entschieden. Für die Darstellung
der Angsterkrankungen habe ich mich entschieden, da dem Thema Angst in der
Bindungstheorie eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Die anderen drei
Krankheitsbilder stelle ich ausführlicher dar, da zwischen ihrem Auftreten und sexuellem
Missbrauch in mehreren Untersuchungen ein Zusammenhang festgestellt wurde.
Auch gehe ich in meiner Arbeit nicht näher auf Präventionsmöglichkeiten von sexuellem
Missbrauch, körperlicher oder seelischer Misshandlung und Vernachlässigung ein. Das
heißt nicht, dass ich diesen wichtigen inhaltlichen Punkt der Prävention gänzlich außer
Acht lasse. Unter Punkt 8.2 hebe ich die Bedeutung der Schutz- und Risikosymptome
für die Prävention psychischer Störungen von Kindern hervor.
Weiterhin möchte ich darauf hinweisen, dass das Kapitel ,,Beratung und Therapie" sich
nicht mit konkreten Beratungs- oder Therapiemöglichkeiten für Kinder, die körperliche,
sexuelle oder seelische Gewalt erlebt haben, auseinandersetzt, sondern ganz gezielt
auf die Einsatzmöglichkeiten der Bindungstheorie innerhalb der Beratung oder Therapie
mit diesen Kindern eingeht. An dieser Stelle wird nicht nur die Rolle des Beraters oder
Therapeuten, sondern auch z.B. seine Beziehung zu seinen Klienten oder die
Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung erläutert.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich, wenn es mir erforderlich
scheint, die Kapitel mit Definitionen der für das Textverständnis notwendigen
Fachbegriffe beginne.
Außerdem verwende ich in meiner Arbeit lediglich die maskulinen Endungen, wenn
beide Geschlechter gemeint sind. Zum einen erleichtert mir diese Handhabung das
Schreiben dieser Arbeit und zum anderen dient es der Verbesserung des Leseflusses.
An den Stellen jedoch, die geschlechtsspezifische Aspekte thematisieren, kennzeichne

13
ich das Geschlecht, indem ich die männliche Form ausschließlich für Männer und die
weibliche für Frauen verwende.

14
2. Die Bindungstheorie nach John Bowlby
Bevor ich die Bindungstheorie darstelle, möchte ich auf John Bowlby, ihren Begründer,
eingehen. Zunächst werde ich die wichtigsten biographischen Daten nennen, um dann
zu erläutern, wie John Bowlbys Lebensweg auf seine Entwicklung zum
Psychoanalytiker und Begründer der Bindungstheorie Einfluss genommen hat.
Zur näheren Studie von Bowlbys Leben empfehle ich das Werk von Jeremy Holmes
,,John Bowlby und die Bindungstheorie", erschienen im Ernst Reinhardt Verlag, in dem
man viele Informationen über die Person Bowlby erhält.
Dann werde ich die Bindungstheorie mit ihren verschieden Fachbegriffen vorstellen. In
den letzten beiden Abschnitten werde ich darauf eingehen, wie die
Bindungsentwicklung bei einem Kind aussieht und welche Bindungsmuster es
entwickeln kann, in Abhängigkeit davon, welche Erfahrungen es im Umgang mit seinen
Bezugspersonen gemacht hat.
2.1 Die Biographie von John Bowlby
Edward John Mostyn Bowlby, so John Bowlbys vollständiger Name, wurde am 26.
Februar 1907 in London geboren. Er war das vierte von insgesamt sechs Kindern. Sein
Vater Sir Anthony Bowlby war einer der führenden Chirurgen Londons und war somit
ein vielbeschäftigter Mann. Über seine Mutter May konnte ich keine näheren
Informationen bekommen, doch es ist bekannt, dass die Kinder unter Aufsicht eines
Kindermädchens aufwuchsen. (vgl. Brisch, 2001: 29)
Außerdem wird davon ausgegangen, dass John Bowlby eine distanzierte Beziehung zu
seiner Mutter hatte.
Biographisch gesehen ist es von großer Bedeutung, dass er schon mit drei Jahren
seine wichtigste Bezugsperson, sein Kindermädchen, verlor. Auf diesem Hintergrund ist
es für mich ersichtlich, warum er sich für Fragen von Bindung, Trennung und Verlust
interessierte und sich später so intensiv damit befasste, dass er schließlich eine eigene
diesbezügliche Theorie aufstellte.
In einem Interview mit Virginia Hunter erzählt John Bowlby auf die Frage, warum er
Analytiker werden wollte, eindrucksvoll von seiner Laufbahn als Student. Demzufolge

15
interessierte er sich nach seiner Aufnahme des Medizinstudiums in Cambridge im Jahr
1929 sehr bald für das Fachgebiet Entwicklungspsychologie. Es fesselte ihn so sehr,
dass er sein Medizinstudium nach bestandenem Vorklinikum unterbrach, um für ein
Jahr an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder zu hospitieren. An dieser Schule
wurde nach psychoanalytischen Konzepten gearbeitet und die psychischen
Beeinträchtigungen der Kinder wurden realen familiären Ereignissen zugeordnet, was
Bowlby, so sagt er in dem Interview selbst ,,die Augen öffnete". (vgl. Bowlby, 1995: 5)
An dieser Schule lernte er John Alford kennen, der ihm zum Ende seines Praktikums
den Rat gab, dass er sein Medizinstudium beenden solle um und Kinder- und
Jugendpsychiater zu werden. Dazu sollte er eine psychoanalytische Ausbildung z.B. in
der Travistock Clinic oder am Institute of Psychoanalysis in London absolvieren.
Dieser Rat war ausschlaggebend für John Bowlbys weitere berufliche Laufbahn, denn
daraufhin bewarb er sich bei der Psycho-Analytical Society und begann nach
Beendigung des Medizinstudiums die Weiterbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater.
John Bowlby hatte sich bei der Entwicklung seiner Bindungstheorie hohe Ziele gesetzt,
die er, wie er sehr selbst zugibt, trotz seiner jahrelangen Arbeit nicht alle realisieren
konnte.
,,Mir schwebte eine Theorie vor, mit der ich alle schon Freud wichtig erschienenen
Phänomene wie Liebesbeziehungen, Trennungsängste, Trauer, Abwehr, Wut,
Schuldgefühle, Depressionen, traumatische Erlebnisse, affektive Abwendungen und
frühe sensible Phasen abdecken, die klassische psychoanalytische Metapsychologie
korrigieren und neue behandlungstechnische Varianten entwickeln wollte ­
hochgesteckte, bislang nur zum Teil verwirklichte Ziele" (Bowlby, 1995: 35).
Schon zwischen 1957 und 1959 stellte Bowlby der Psycho-Analytical Society in London
seine Grundidee der Bindungstheorie vor. Sie wurde dort zwar diskutiert aber
letztendlich abgelehnt, denn seine Theorie basierte nicht auf der damals gängigen
Metapsychologie und Triebtheorie Freuds, sondern auf systemtheoretischen und
kybernetischen Modellen. (vgl. Brisch, 2001: 13)
Zudem warf man ihm vor, dass er sich nur mit der Erklärung von ,,Verhalten" befasse,
jedoch nicht mit der ,,inneren Realität", mit der sich Psychoanalytiker beschäftigen.
Akzeptiert wurde Bowlbys Theorie dagegen von der akademischen
Entwicklungspsychologie.

16
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die Psychoanalyse die Bedeutung der
Bindungstheorie erst seit einigen Jahren anerkannt hat und es daher aus
psychoanalytischer Sicht kaum Literatur über die Anwendung der Bindungstheorie in
der klinischen Praxis oder über das Thema Bindungsstörungen gibt. (vgl. Brisch, 2001:
16)
Laut Lotte Köhler unterschätzt die Psychoanalyse bis heute die Bedeutung der
Bindungstheorie für ihre Disziplin und hat zudem Schwierigkeiten, bindungstheoretische
Ergebnisse für sich zu nutzen, da sich ihre theoretische Grundlage und ihre
Methodologie voneinander unterscheiden.
John Bowlby ließ sich jedoch von den Streitigkeiten mit den Psychoanalytikern nicht
beeinflussen.
,,Als sehr unabhängiger Mann untersuchte Bowlby trotzdem weiterhin, diesmal im
Auftrag der World Health Organisation, unbeirrt das Schicksal von Kindern, die u.a. in
den Wirren des 2. Weltkriegs von ihren Eltern getrennt wurden" (Grossmann, 2001: 30).
Nach dem Krieg erhielt er den Auftrag, eine Abteilung für Kinderpsychotherapie in der
Travistock Clinic aufzubauen.
In den 50er Jahren gründete er, der inzwischen auch praktizierender Psychoanalytiker
war, seine eigene Forschungsgruppe, der u.a. James Robertson und später auch Mary
Ainsworth angehörten.
John Bowlby ist 1990 im Alter von 83 Jahren verstorben und hinterließ seine Frau und
vier Kinder.
Eine Biographie, die in Stichpunkten weitere wichtige Stationen in Bowlbys Leben
darstellt, ist dem Anhang auf den Seiten 256 und 257 beigefügt.
Im Folgenden möchte ich die Bindungstheorie, die ethologisches,
entwicklungspsychologisches, systemisches und psychoanalytisches Denken verbindet,
in ihren Einzelheiten genauer betrachten und darstellen.

17
2.2 Die Bindungstheorie
In der Psychoanalyse ist man sich schon lange darüber einig, dass die erste
menschliche Beziehung des Kindes der Grundstein zu seiner Persönlichkeit ist. Man ist
sich jedoch noch nicht über das Wesen und den Ursprung dieser Beziehung einig. (vgl.
Bowlby, 1975: 171)
,,Bis 1958, als HARLOW seine ersten Arbeiten publizierte und als eine frühe Version der
hier vorgetragenen Ansichten erschien" (Bowlby, 1958), gab es ,,vier Haupttheorien über
das Wesen und den Ursprung des kindlichen Bandes in der psychoanalytischen und der
anderen psychologischen Literatur" (Bowlby, 1975: 171).
Die erste Theorie, die Bowlby die Theorie vom Sekundärtrieb nennt, besagt, dass das
Kind eine Reihe von physiologischen Bedürfnissen, vor allem nach Nahrung und
Wärme verspürt, die erfüllt werden müssen. Babys binden sich demnach an die
menschliche Figur, besonders an die der Mutter, als Resultat der Erfüllung ihrer
physiologischen Bedürfnisse und weil sie allmählich lernen, dass sie die Quelle der
Befriedigung ist.
Die zweite Theorie nennt John Bowlby die Theorie des primären Objektsaugens. Sie
sagt, dass bei Säuglingen eine angeborene Neigung besteht, sich auf eine menschliche
Brust zu beziehen, an dieser zu saugen und sie oral zu besitzen.
,,Allmählich lernt der Säugling, daß zu der Brust eine Mutter gehört und bezieht sich auf
diese" (Bowlby, 1975: 172).
Die dritte Theorie, die Theorie des primären Objektanklammerns, geht davon aus, dass
bei Säuglingen eine angeborene Neigung besteht, Kontakt mit einem menschlichen
Wesen aufzunehmen und sich an dieses anzuklammern.
,,In diesem Sinne besteht ein nahrungsunabhängiges ,,Bedürfnis" nach einem Objekt,
das so primär ist, wie das ,,Bedürfnis" nach Nahrung und Wärme" (Bowlby, 1975: 172).
Die Theorie der primären Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib ist die vierte der
von Bowlby genannten Theorien. Sie besagt, dass der Säugling darüber Bedauern
empfindet, dass er den Mutterleib verlassen musste und sehnt sich danach zurück.
Die am intensivsten verfochtene Theorie ist die Sekundärtriebtheorie.
Sie wurde jedoch durch Konrad Lorenz Arbeiten über die Prägung in Frage gestellt.
,,Sie beweisen ganz eindeutig, daß sich Bindungsverhalten bei Jungenten und ­gänsen
entwickelt, ohne daß die Jungtiere Futter oder irgendeine andere der gängigen
Belohnungen erhalten" (Bowlby, 1975: 200-201).

18
Doch wie ist es im Fall von Menschen? Kann die Art und Weise, wie sich beim
Menschen Bindungsverhalten entwickelt, mit einer Prägung gleichgesetzt werden?
,,In seinen frühesten Äußerungen über die Prägung verneinte LORENZ (1935)
kategorisch die Möglichkeit, daß es bei Säugetieren einen ähnlichen Vorgang gibt"
(Bowlby, 1975: 208).
Inzwischen haben sich aber die Ansichten darüber geändert. Eine Reihe von
Beobachtungen legen nahe, dass sich die Faktoren, die für Bindungsverhalten beim
Menschen verantwortlich sind, nicht sehr von denen seiner Säugetierverwandtschaft
unterscheiden. (vgl. Bowlby, 1975: 205)
Diese Erkenntnis konnte Harry Harlow (wie schon oben erwähnt) schon 1958 in seinem
Stummfilm ,,The Nature and Development of Affection" nachweisen. Dieser zeigt wie ein
Jungtier der Rhesusaffen, das mit einer Mutterattrappe aufgezogen wurde, mit einem
fremden, angstauslösenden Gegenstand konfrontiert wird und dabei nicht, wie es z.B.
Ratten tun, flüchtet, sondern Schutz und Sicherheit bei seiner Mutter sucht, um sich dort
emotional zu restabilisieren. Außerdem zeigt der Film, wie das Jungtier nach einiger
Zeit von der Mutter, seiner laut Bindungstheorie ,,sicheren Basis", aus immer öfter und
länger Erkundungen des fremden Gegenstandes unternimmt.
Die Bindungstheorie beschäftigt sich mit den Auswirkungen früher realer Einflüsse auf
die emotionale Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und hat
sich zum Ziel gesetzt, die Entstehung und Veränderung von affektiven Bindungen
während des gesamten Lebenslauf eines Menschen zu untersuchen und zu erklären.
Emotionen sieht Bowlby als Bewertungsprozesse (intuitive Einschätzung durch
Individuen) bestehender oder sich verändernder Zustände. Sie können bewusst oder
unbewusst sein. Die emotionalen Bewertungsprozesse haben laut Bowlby drei
verschiedene Funktionen:
· Sie dienen der Verhaltenssteuerung auf der Basis der Einschätzung von
Umweltverhältnissen, organismischen Zuständen und Handlungsneigungen,
· Sie stellen ein Warnsystem dar, wobei sie notwendigerweise als Gefühle
bewusst werden, und
· Sie dienen der nichtsprachlichen, auf gestischem, verbalem und mimischem
Ausdrucksverhalten basierenden Kommunikation mit anderen.
Die grundlegenden Gefühle sind so Bowlby nicht vom Verhalten unabhängig
existierende Elemente, sondern Phasen des Verhaltensprozesses selbst.

19
Sie sind Schnittstellen zwischen mehr oder weniger erfolgreichem Verhalten und der
Wirklichkeit einer vor allem sozialen Lebensumwelt. Folglich führen Störungen in der
emotionalen Bewertung zu Störungen in der Bewertung der sozialen und dinglichen
Wirklichkeit.
Der Begründer der Bindungstheorie, John Bowlby, charakterisiert seine entwickelte
Theorie im Wesentlichen durch vier Merkmale:
,, a) das lebenswichtige Primat enger emotionaler Bindung;
b) die Steuerung dieser Bindungen durch ein im Zentralnervensystem der jeweiligen
Partner lokalisierbaren kybernetischen Regelkreis, der die Nähe oder leichte
Zugänglichkeit des anderen gewährleisten soll;
c) zur Effektivierung der Systeme müssen beide Partner über funktionsfähige Selbst-
und Objektrepräsentanzen sowie zutreffende Interaktionsmodelle verfügen;
d) neueren Säuglings- und Entwicklungsstudien folgend, sollten phasische
Entwicklungstheorien, die ,,Fixierungen" oder ,,Regressionen" postulieren, durch ein
Modell der Entwicklungslinien ersetzt werden" (Bowlby, 1995: 148).
Die Bindungstheorie betrachtet Mutter und Säugling als Teilnehmer in einem sich
wechselseitig bedingenden und selbstregulierenden System.
Die Bindung innerhalb dieses Systems, die als affektives Band zwischen der Mutter und
ihrem Kind definiert ist, unterscheidet sich von ,,Beziehung" nur dadurch, dass laut John
Bowlby ,,Bindung" lediglich als ein Teil des komplexen Systems der Beziehung
verstanden wird. Bindung ist laut Sroufe und Waters (1977) ein hypothetisches
Konstrukt. Es stellt die innere Organisation des Bindungsverhaltenssystems und der
zugehörigen Gefühle dar.
Dieses Bindungssystem stellt ein primäres, genetisch verankertes motivationales
System dar, das zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling nach der
Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat.
Laut Bowlby setzt eine Bindung ein durch spezifische Faktoren gesteuertes starkes
Kontaktbedürfnis gegenüber bestimmten Personen voraus und stellt ein dauerhaftes,
weitgehend stabiles und situationsunabhängiges Merkmal des Bindungsstrebens dar.
,,Unter Bindungsstreben verstehe ich jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die
Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen oder zu bewahren, ein
Verhalten, das bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und entsprechendem Zuwendungs-
oder Versorgungsbedürfnis am deutlichsten wird" (Bowlby, 1995: 36).

20
Laut John Bowlby lassen sich die spezifischen Verhaltensweisen, die Bindung
ausmachen, in zwei Hauptklassen einteilen. Zum einen das Signalverhalten, das
bewirkt, dass die Mutter zum Kind kommt und zum anderen das Annäherungsverhalten,
das bewirkt, dass das Kind zur Mutter kommt. (vgl. Bowlby, 1975: 229)
Bindungsverhalten ist Fürsorge und Schutz, d.h. die Bindungsbeziehung hat die
Funktion, dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, wenn es
unter emotionaler Belastung und erschöpften eigenen Ressourcen auf die
Unterstützung seiner Bindungsperson angewiesen ist.
,,Kein Verhalten wird von stärkeren Gefühlen begleitet als das Bindungsverhalten. (...)
Solange das Kind sich in uneingeschränkter Verfügbarkeit seiner Hauptbindungsperson
oder in geringer Entfernung von dieser befindet, fühlt es sich sicher. Die Gefahr eines
Verlustes ruft Angst hervor, der tatsächliche Verlust Trauer, und beide pflegen
außerdem Ärger auszulösen" (Bowlby, 1975: 199).
Das Bindungsverhaltenssystem wird immer dann aktiviert, wenn ein Kind in eine
Situation kommt, in der es sich ängstigt oder wenn es sich nicht wohl fühlt. Dann zeigt
es entweder passive Verhaltensweisen wie weinen, schreien oder nachfolgen, damit
seine Mutter auf es aufmerksam wird und nach ihrem Kind schaut, oder es handelt
aktiv, indem es sich seiner Mutter annähert und ihre Nähe und somit auch Schutz und
Sicherheit bei ihr sucht.
Damit die Mutter jedoch die Signale des Kindes wahrnimmt, richtig interpretiert und auf
sie schnell und in vom Kind gewünschter Weise reagiert, bedarf es ihrerseits an
Feinfühligkeit. Grossmann betont in Anlehnung an Millar (1972), dass vor allem im
Säuglingsalter promptes Antworten der Bindungsperson auf die Gefühlssignale ihres
Kindes wichtig ist, da seine Gedächtnisspanne für die zeitliche Überbrückung zwischen
Signal und Antwort noch sehr kurz ist. (vgl. Grossmann, 1993: 52)
Das Konzept der Feinfühligkeit wurde von Mary Ainsworth entwickelt und sie betont,
dass dieses Konzept, dass sie durch ihren Fremden-Situations-Test, auf den ich unter
Punkt 2.4 näher eingehe, belegen konnte, erheblichen Einfluss auf die Bindungsqualität
des Säuglings hat. Diese Konzept geht nämlich davon aus, dass alle Verhaltensweisen,
Zustände und Äußerungen des Säuglings Informationsträger für die Bindungsperson
sind, durch die sie das Kind kennen lernt und durch die sie Rückmeldungen erhält, wie
ihr eigenes Verhalten vom Kind bewertet wird. (vgl. Grossmann und Grossmann, 2002:
299) Durch den Fremden-Situations-Test hat Ainsworth herausgefunden, dass z.B.
Kinder von Müttern, die feinfühliges Verhalten zeigten, eher eine sichere Bindung

21
entwickelten, als Kinder von nicht oder weniger feinfühligen Müttern. Grossmann et al.
fügen hinzu, dass
,,Die Entwicklung einer sicheren Organisation von Emotionen des Säuglings in
Übereinstimmung mit seinen wirklichen Erfahrungen (...) durch die mütterliche
Feinfühligkeit gegenüber den Signalen des Säuglings unterstützt oder durch geringe
Feinfühligkeit gehindert" (Grossmann et al., 1997: 55)
wird. Dies ist laut Bowlby der Beginn der Entwicklung von Selbst und Selbstwertgefühl.
Ainsworth beschreibt folgende Verhaltensweisen, die für sie feinfühliges
Pflegeverhalten ausmachen:
· Die Mutter muss die Signale ihres Kindes mit großer Aufmerksamkeit
wahrnehmen.
· Die Mutter muss die an sie gerichteten Signale richtig deuten. Damit dies gelingt,
muss sie dies aus der Perspektive ihres eigenen Kindes tun. Sie muss die
Verhaltensweisen ihres Kindes dekodieren, ohne ihre eigenen Bedürfnisse auf
das Kind zu projizieren.
· Dann muss die Mutter in angemessener Weise auf die Signale von Seiten ihres
Kindes reagieren. Wenn ihr Kind Hunger hat, dann muss sie zum Beispiel die
richtige Nahrung in der richtigen Menge zubereiten.
· Diese Reaktion muss so schnell erfolgen, wie ihr Kind auf die
Bedürfnisbefriedigung warten kann, ohne das es frustriert ist.
(vgl. Brisch, 2001: 41)
In Anlehnung an Studienergebnisse von Meins (1997) betont Brisch auch die
Bedeutung von sprachlicher Feinfühligkeit. Damit ist die Fähigkeit der Mutter gemeint,
,,..., sich in die emotionale Welt ihres Kindes einzufühlen und stellvertretend für ihr Kind
seine innere Befindlichkeit in Worte zu fassen..." (Brisch, 2003: 54).
In Folge der Interaktionserlebnisse des Kindes mit seiner Bezugsperson entwickelt es
über das Bindungsverhalten und die Reaktionen seiner Bezugsperson eine eigene
innere Repräsentation von Bindung, das ,,innere Arbeitsmodell" von Bindung. Dieses
betrifft individuelle Unterschiede der Persönlichkeitsentwicklung und Organisation des
Verhaltens vor allem in engen, persönlichen Beziehungen über den Lebenslauf hinweg.
Bowlby beschreibt die Konsequenzen früher Erfahrungen für die Person
folgendermaßen:

22
,,Es gibt sehr unterschiedliche Bewertungen des eigenen Lebens, entweder als meistens
erfreulich und voll auszuleben oder als Bürde, die es zu tragen gilt, entweder als ein
emotional reiches und vielfältiges Erleben oder als eine emotionale Wüste" (Bowlby,
1988: 6).
Außerdem entwickelt das Kind aufgrund seiner Interaktionserlebnisse mit seiner
Bindungsperson eine Hierarchie der Bindungspersonen. Dies bedeutet, dass das Kind
zu verschiedenen Personen in ihrer Intensität differierende Bindungen aufbaut. Wie
stark die jeweilige Bindung des Kindes zu einzelnen Personen ist, hängt laut Bowlby
von deren Verfügbarkeit und dem Ausmaß erlebter Trennungsangst des Kindes ab.
John Bowlby unterscheidet zwei verschiedene Arten von Arbeitsmodellen:
,,Ein Schlüsselmerkmal des Versuchsmodells von der Welt, das sich jeder schafft, ist die
Vorstellung von dem, was seine Bindungsfiguren sind, wo er sie finden kann, und wie
sie wahrscheinlich reagieren. In ähnlicher Weise ist das Schlüsselmerkmal des
Versuchsmodells vom Selbst, das sich jeder schafft, die Vorstellung, wie akzeptabel
oder unakzeptabel er in den Augen seiner Bindungsfiguren ist" (Bowlby, 1976: 247).
Dieses entwickelte innere Arbeitsmodell hat laut Bowlby die Funktion,
Ereignisse der
realen Welt zu simulieren bzw. vorwegzunehmen, um so das Individuum in die Lage zu
versetzen, sein Verhalten mit Einsicht vorausschauend zu planen. Je besser und
genauer die Simulation der Wirklichkeit entspricht, desto besser ist das darauf
basierende Verhalten angepasst. Unterschiedliche Bindungsfiguren erfordern auch eine
unterschiedliche Anpassung und die unterschiedlichen Erfahrungen müssen dann in ein
Gesamtmodell, wie die Umwelt und die Bindungsfiguren funktionieren, integriert
werden. Gelingt diese Integration gut, so entsteht laut Fremmer-Bombik eine kohärente,
anpassungsfähige Abbildung der Wirklichkeit. (vgl. Fremmer-Bombik, 2002: 110)
Basiert das Arbeitsmodell z.B. auf Erfahrungen, wie sie ein sicher gebundenes Kind mit
einer feinfühligen Bindungsfigur macht, so erleichtert dieses Modell die emotionale
Integration und Kohärenz.
Außerdem beeinflussen diese internalen Arbeitsmodelle das Verhalten, Denken und
Fühlen einer Person und steuern sowohl ihr Verhalten, ihre Erwartungen und
Reaktionen im Umgang mit anderen Personen als auch den Zugang zu ihren Gefühlen
und Erinnerungen. (vgl. Zimmermann, 2002: 218)
So steht fest, dass unterschiedliche innere Arbeitsmodelle unter anderem zu
unterschiedlichem Verhalten führen

23
,,Wie diese Modelle konstruiert sind und Wahrnehmung und Urteilsvermögen
beeinflussen, wie adäquat und wirksam sie sich für Planen erweisen, wie gültig oder
verzerrt ihre Darstellungen sind und welche Bindungen ihrer Entwicklung förderlich oder
hinderlich sind ­ all dies sind Fragen von größter Bedeutung für das Verständnis der
verschiedenen Arten und Weisen, in denen sich das Bindungsverhalten
heranwachsender Kinder organisiert" (Bowlby, 1975: 322 ­ 323). (Schreibfehler im
Original!)
John Bowlby hat den Begriff ,,inneres Arbeitsmodell" extra gewählt, um den
dynamischen Charakter dieses Konzeptes zu betonen, denn es ist flexibel. Diese
Flexibilität lässt jedoch im weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes nach und das
Arbeitsmodell wird somit immer stabiler und entwickelt sich zur
,,Bindungsrepräsentation". Diese Entwicklung stellt Gottfried Spangler auch als
Organisation des ,,inneren Arbeitsmodells" von Bindung in dem folgenden Schaubild
dar:
Graphik 1: Ebenen der Bindungsorganisation
Aus ihm wird ersichtlich, dass verschiedene Ebenen der Organisation dieses
Arbeitsmodells existieren,
,,..., die in der Ontogenese aufeinander folgend entstehen und sich in ihrer Komplexität
unterscheiden (...)" (Spangler, 2001: 161).

24
Die unterste Stufe symbolisiert das primäre Bindungssystem eines Neugeborenen, das
auf der Ebene von Reflexen arbeitet. Hier hat das Kind noch keine spezifischen
Bindungsbeziehungen aufgebaut.
Die mittlere Stufe kennzeichnet das Bindungssystem, welches auf prozeduraler Ebene,
der Verhaltensebene organisiert ist. Dieses Arbeitsmodell ist ein rein affektives, das
nicht auf kognitive Prozesse angewiesen ist. Erst durch die fortschreitende Entwicklung
kognitiver und sprachlicher Fähigkeiten des Kindes gewinnen diese Prozesse auf der
dritten Ebene an Bedeutung. Hier geht das Arbeitsmodell
,,... über das implizit emotionale Niveau hinaus und umfasst dann auch kognitives
Wissen und explizite Repräsentationen über Bindung, Bindungsfiguren und deren
Verfügbarkeit, und auch über sich selbst" (Spangler, 2001: 162).
Deutlich wird, dass im Entwicklungsverlauf des Bindungsverhaltenssystems ein immer
höheres Organisationsniveau erreicht wird, doch auf jeder Entwicklungsstufe erfüllt das
Arbeitsmodell von Bindung seine Funktion, nämlich die der Verhaltens- und
Emotionsregulation.
Zu der Frage, wie stabil solche Bindungsrepräsentationen im Lebensverlauf eines
Menschen sind, führen Bindungsforscher immer noch Längsschnittuntersuchungen
durch. Bisherige Untersuchungen haben ergeben, dass eine Neustrukturierung der
Bindungsrepräsentation durch bedeutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen
Menschen oder durch einschneidende oder traumatische Erlebnisse möglich ist, jedoch
mit fortschreitendem Alter der Person immer unwahrscheinlicher wird. Dadurch lassen
sich auch die Untersuchungsergebnisse erklären, die Kontinuitäten aber auch
Diskontinuitäten der Bindungsrepräsentation im Lebenslauf aufzeigen. (vgl. Brisch,
2001: 37 ­ 38)
Mit diesen bisherigen Untersuchungsergebnissen stimmen auch Bowlbys Vermutungen
über die Stabilität von Bindungen überein. Er nimmt an, dass die Organisation von
Bindungsverhalten, die ein Kind entwickelt, dazu tendiert, stabil zu bleiben, und sich im
Laufe der Entwicklung in immer geringerem Umfang, weniger leicht und weniger
vollständig verändern lässt.
,,...: Vertrauen in die Verfügbarkeit einer Bindungsfigur oder Fehlen desselben entwickelt
sich nach und nach in den Jahren der Unreife ­ Kleinkindzeit, Kindheit und Jugend -,
und was immer sich an Erwartung in diesen Jahren Entwickelt, bleibt für den Rest des
Lebens relativ unverändert bestehen" (Bowlby, 1976: 246).

25
Nicht nur das Bindungsbedürfnis, sondern auch das Explorationsbedürfnis des
Säuglings stellt ein motivationales System dar. Dieses steht zum Bindungsbedürfnis in
wechselseitiger Abhängigkeit, obwohl sie entgegengesetzten Motivationen entsprechen.
Brisch erklärt diese Wechselwirkung wie folgt:
,,Wenn die Bindungsbedürfnisse des Kindes befriedigt werden und es bei der
Bindungsperson eine emotionale Sicherheit erleben kann, wird das Bindungssystem
beruhigt, und der Säugling kann seiner Neugier in Form von explorativem Verhalten
nachgehen" (Brisch, 2001: 38).
Dies kann er auch in z.B. beängstigenden Situationen, wenn er seine Bindungsperson
in entfernter Nähe als sichere Basis erlebt und sich durch Blickkontakt zu ihr ,,absichert".
Diese visuelle Rückversicherung wurde von Emde als ,,social referencing" beschrieben.
(vgl. Emde und Sorce, 1983: 17 ­ 30)
Eine sichere Bindung ist also somit Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine Umwelt
erkunden, entdecken und sich als selbsteffektiv und handelnd erleben kann.
Die wechselseitige Beziehung zwischen Bindung und Exploration besteht laut Bowlby
ein ganzes Leben lang, so dass die Spannung zwischen ihnen immer wieder aufs Neue
ausbalanciert werden muss. Brisch benutzt hier den Vergleich mit einer Wippe, auf
deren einer Seite der Pol ,,Bindung" und auf deren anderer der Pol ,,Exploration" sich
gegenüber stehen. Zur Veranschaulichung dient die folgende Graphik:

26
Graphik 2: Balance zwischen Bindung und Erkundung
2.3 Die Bindungsentwicklung
Der Aufbau einer Bindung an eine spezifische Bezugsperson wird zum einen durch die
angeborene Neigung des menschlichen Säuglings, die Nähe einer vertrauten Person zu
suchen, und zum anderen durch das genetisch verankerte Pflegeverhaltenssystem auf
Seiten der Bezugsperson ermöglicht.
Mary Ainsworth (1973) geht hierbei von vier Phasen aus, die zur Ausbildung des
Bindungsgefühls führen, die in ihrem zeitlichen Verlauf differieren können. Daher gibt es
zwischen ihnen auch keine klaren Abgrenzungen.

27
,,In der Vorbindungsphase (preattachment; 0-3 Monate) richtet der Säugling seine
Signale ohne Unterschied an vertraute und unvertraute Bezugspersonen, lässt sich von
jedem beruhigen" (Schieche, 2001: 302).
Jedoch sind schon selektive Aufmerksamkeit und Vorlieben vorhanden.
Die zweite Phase bei der Entstehung von Bindung (attachment in the making; 3-6
Monate) ist dadurch gekennzeichnet, dass sich nun langsam der Wunsch nach Nähe
auf bestimmte Personen richtet. Das Kind wird nun insgesamt aktiver und erweitert
stetig sein Repertoire an Bindungsverhaltensweisen.
Ab dem sechsten bis siebten Monat kann man von einer spezifischen Bindung (phase
of clear cut attachment) sprechen. Innerhalb dieser Phase beginnt das Kind seine für
ihn angenehmen Bezugspersonen kritischer auszuwählen. Zudem erweitert sich
abermals sein Repertoire an Verhaltensweisen, zum Beispiel durch Nachfolgen der
weggehenden Mutter, und es benutzt nun die Mutter als Basis für
Explorationsversuche.
Das Kind sucht aktiv Nähe bei einigen wenigen Bezugspersonen, und es beginnt die
Mutter bei Abwesenheit zu vermissen. Somit wird das Bindungsverhaltenssystem
zielorientiert auf die Nähe zur Bezugsperson hin organisiert. Eine erste Generalisierung
der frühen internalisierten Erfahrungen geschieht, internale Arbeitsmodelle entstehen.
,,Spätestens ab Phase zwei und drei werden vor- und außersprachliche Mitteilungen
bedeutungsvoll und differenzieren sich im Zusammenspiel mit dem feinfühligen Partner
aus, als Mittel um Nähe herzustellen (Hinsehen, Lächeln, Rufen, Weinen)" (Schieche,
2001: 302).
Bis zum dritten Lebensjahr des Kindes und darüber hinaus entwickelt sich durch immer
wieder neue Kommunikations- und Interaktionserfahrungen mit der jeweiligen
Bezugsperson eine zielkorrigierte Partnerschaft (goal corrected partnership). Dies
bedeutet, dass das Kind infolge seiner stetig wachsenden kognitiven Fähigkeiten immer
mehr in der Lage ist, durch Beobachtung Motive, Gefühle und Interessen seiner
Bindungsperson zu verstehen und auf diese bei seinen eigenen Plänen oder Wünschen
Rücksicht zu nehmen.
Das Kind entwickelt für die Mutter also Empathie und Verständnis. Außerdem wird das
Kind kompromissfähig. Es kann laut Bowlby nun, da in seinen motivationalen Systemen
zwischen Bindungsbedürfnissen und Explorationswünschen eine Balance besteht,
zusammen mit seiner Bezugsperson ihre gemeinsamen Ziele partnerschaftlich
verhandeln und korrigieren.

28
,,Wenn es einmal so weit ist, dann sind die Grundlagen dafür gelegt, daß das Paar eine viel
komplexere Beziehung zueinander entwickelt, eine Beziehung, die ich eine Partnerschaft
nennen möchte" (Bowlby, 1975: 249).
Die folgende Graphik versucht die Merkmale des Bindungssystems in diesem Stadium
zusammenzufassen.
Graphik 3: Das Verhaltenssystem der Bindung
Zu den geschilderten Phasen der Entwicklung von Bindung ist hinzuzufügen, dass für
Bowlby ab der dritten Phase, also ab dem Alter eines Kindes von sechs Monaten, eine
sehr sensitive Periode beginnt. Er geht aufgrund von Arbeiten von Melanie Klein davon
aus, dass diese Periode,
,,..., in der das Bindungsverhalten am schnellsten aktiviert wird, also die Zeitspanne
zwischen dem 6. Monat und etwa dem 5. Lebensjahr auch die sensitivste Periode in bezug
auf die Entwicklung von Erwartungen hinsichtlich der Verfügbarkeit der Bindungsfiguren ist;
(...) ferner, daß die Sensitivität in dieser Hinsicht auch im darauffolgenden Jahrzehnt,
wenngleich in einem sich ständig verringerndem Maße fortbesteht" (Bowlby, 1976: 246 ­
247).

29
2.4 Die Bindungsqualität
John Bowlby vergleicht die Qualität von Bindungen eines Individuums zu seinen
wichtigsten Bezugspersonen mit dem physiologischen Immunsystem des Menschen. Er
sagt:
,,Die Anfälligkeit eines Menschen für Stressoren wird stark von der Entwicklung und der
aktuellen Qualität seiner engen Beziehungen beeinflusst" (Bowlby, 1988: 1).
Mary Ainsworth et al. (1978) gehen davon aus, dass es verschiedene
Bindungsqualitäten gibt und, dass man diese anhand der Reaktionen von Kleinkindern
im Alter zwischen ein- und eineinhalb Jahren auf kurze Trennungen von ihrer Mutter
ablesen kann. Doch nicht nur die Reaktionen, sondern auch die Art und Weise der
Begrüßung, wenn die Mutter wieder zu ihrem Kind zurückkehrt, ist ein wichtiges
Kriterium zur Bestimmung der Bindungsqualität.
Dazu haben Ainsworth und Wittig (1969) eine Laborbeobachtungsmethode zur
Untersuchung dieses Trennungs- und Begrüßungsverhaltens entwickelt, den Fremde-
Situations-Test (FST). Die ,,Fremde Situation" ist methodisch kein psychologischer Test
und auch kein Experiment, sondern
,,...,... sie erlaubt die Diagnose besonderer Verhaltensmuster unter Bedingungen, die im
Rahmen des Möglichen kontrolliert werden" (Grossmann et al., 1997: 67).
In diesem Test werden das Kind und seine Bindungsperson in einen fremden, aber
attraktiven Spielraum geführt, wo zunächst im Beisein der Bindungsperson die Neugier
bei den meisten Kindern überwiegt, d.h. es sollte zunächst nur das Explorationssystem
und nicht das Bindungssystem des Kindes aktiv sein. Durch das Erscheinen einer
fremden Person, die mit dem Kind spielen will, und zwei kurzen Trennungen von der
Bindungsperson wird das Kind jedoch zunehmend verunsichert, so dass sein
Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird. Das geschieht im Verlauf von insgesamt acht
Episoden während der ,,Fremden Situation", in der die Bindungsperson lediglich eine
passive Rolle spielen soll.
Im Einzelnen sehen die acht Episoden wie folgt aus:
Im ersten Schritt werden Mutter und Kind vom Beobachter in den Raum geführt und die
Mutter setzt das Kind auf den Boden zum Spielzeug.
Im zweiten Schritt sind Mutter und Kind alleine in dem Raum. Die Mutter liest eine
Zeitschrift, während das Kind die Umgebung und das Spielzeug erkundet.

30
Der dritte Schritt besteht darin, dass eine freundliche Fremde den Raum betritt, sich
setzt und sich mit der Mutter eine Minute lang unterhält um sich schließlich auch mit
dem Kind zu beschäftigen.
Im vierten Schritt verlässt die Mutter des Kindes unauffällig den Raum. Sie hinterlässt
jedoch ihre Tasche. Die fremde Person bleibt mit dem Kind alleine im Raum und
beschäftigt sich mit ihm und tröstet es, wenn notwendig.
Im nächsten Schritt kommt die Mutter zurück, während die Fremde den Raum verlässt.
Die Mutter beschäftigt sich daraufhin mit dem Kind und versucht es wieder für das
Spielzeug zu begeistern.
Der sechste Schritt sieht folgendermaßen aus: Die Mutter verlässt den Raum mit einem
vorherigen deutlichen Abschiedsgruß und lässt somit ihr Kind ganz alleine.
Im siebten Schritt betritt die fremde Person wieder den Raum und tröstet das Kind, falls
notwendig.
Im achten und somit letzten Schritt des Tests kommt die Mutter zurück in den Raum,
während ihn die Fremde gleichzeitig verlässt.
Die Kinder, die den Fremde-Situations-Test absolvierten, zeigten dabei vier Strategien
der Nähe-Distanz- und Emotionsregulation, und zwar Nähesuchen, Kontakthalten,
Widerstand gegen Körperkontakt und
Vermeidungsverhalten.
Mary Ainsworth unterschied aus den Werten dieser vier Strategien und dem
Gesamteindruck des Kindes in der Testsituation drei Bindungsmuster bzw.
Bindungsstile: den sicheren, den unsicher-vermeidenden und den unsicher-
ambivalenten. Generell ist zu den Begriffen ,,sicher" und ,,unsicher" folgendes zu sagen:
Laut Bretherton bezeichnet der Begriff ,,sicher" bezüglich der Bindungsqualität das
Vertrauen auf die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit einer spezifisch schützenden und
unterstützenden Bindungsperson. Nach Bowlby entwickelt sich parallel zu dem
Arbeitsmodell einer solchen Bindungsperson ein Arbeitsmodell von einem geschätzten
und kompetenten Selbst. Umgekehrt entsteht laut Bretherton das Arbeitsmodell eines
entwerteten und inkompetenten Selbst als Gegenstück eines Arbeitsmodells von einer
Bindungsperson, die kindliches Bindungsverhalten oft zurückweist, lächerlich macht
oder nicht beachtet. In so einem Fall bezeichnet man die Bindung als ,,unsicher". (vgl.
Bretherton, 2001: 56)
Durch die Erfahrung von Zuwendung und Verfügbarkeit oder auch Zurückweisung
durch die Bindungsperson in Situationen emotionaler Belastung lernt das Kind laut
Grossmann et al., negative Gefühle und Erfahrungen unterschiedlich zu bewerten.

31
,,Angst, Leid und Trauer sind dann leichter zu ertragen, wenn man auf die
Trostbereitschaft wichtiger anderer vertrauen kann, aber sie sind doppelt belastend,
wenn die Bindungspersonen diese Gefühle im Kind ablehnen und es gerade dann allein
lassen" (Grossmann et al., 1997: 60).
Mary Ainsworth et al. (1978) beschreiben in dem Buch ,,Patterns of Attachment. A
Psychological Study of the Strange Situation" die unterschiedlichen Bindungsmuster
folgendermaßen (vgl. Dornes, 2001: 177-178):
· Sicher gebundene Kinder zeigen Anzeichen von Kummer, wenn die Mutter den
Raum verlässt. Sie unterbrechen ihr Spiel und suchen aktiv nach ihr. Von der
fremden Person lassen sie sich ungern trösten, aber gelegentlich zur
Neuaufnahme ihres Spiels überreden. Wenn die Mutter dann zurückkommt,
begrüßen sie sie freudig, suchen offen ihre Nähe, und beginnen nach kurzer Zeit
wieder mit dem Spiel.
Charakteristisch für sicher gebundene Kinder ist, dass sie, auch wenn die Mutter
den Raum verlassen hat, sie noch als verfügbar empfinden. Daher sorgt es sich
nur allmählich, wenn die Mutter nach längerer Zeit immer noch nicht
zurückkommt. (vgl. Fremmer-Bombik, 2002: 114)
Laut Fremmer-Bombik bestärkt die Rückkehr der Bindungsfigur das Kind in
seinem Glauben an ihre Zuverlässigkeit. Deshalb sucht das sicher gebundene
Kind bei ihr Trost und lässt sich auch schnell beruhigen, so dass es dann sein
Erkundungsverhalten weiter fortsetzen kann. Folglich führen die negativen
Gefühle, die die Trennung beim Kind auslöst, zu Bindungsverhalten, das eine
positive Lösung, nämlich Trost und damit Beendigung des Leids verspricht.
,,Allgemein gesagt, negative Gefühle werden mit Hilfe dieses Arbeitsmodells in
eine insgesamt positive gefühlsmäßige Erwartung über einen guten Ausgang
integriert" (Fremmer-Bombik, 2002: 114).
· Die unsicher-vermeidendenden Kinder dagegen ignorieren den Weggang der
Mutter und setzen ihr Spiel fort, als wenn nichts passiert wäre. Zudem spielen sie
mit der fremden Person oftmals lebhafter als mit der eigenen Mutter. Auch wenn
die Mutter den Raum wieder betritt, wird dies von den Kindern ignoriert.
Sie vermeiden den Blickkontakt zur Mutter, begrüßen sie auch nicht und suchen
nicht ihre Nähe. (siehe Graphik 4 auf Seite 30)
Laut Fremmer-Bombik haben ihre Erfahrungen mit der Bindungsfigur zu Hause
zu einem Modell von der Bindungsfigur als in vielen, vor allem kummervollen

32
Situationen zurückweisend geführt. Um jedoch die Wahrscheinlichkeit für die
doch sehr schmerzhafte Zurückweisung zu verringern, haben sie die Strategie
der Vermeidung entwickelt. Daher zeigen sie ihre Verunsicherung nicht mehr und
suchen auch nicht die Zuwendung durch Trost und körperliche Nähe der
Bindungsfigur nicht mehr, da sie von ihr keine Auflösung der Verunsicherung
mehr erwarten.
,,... bei diesen Kindern ist keine Integration negativer Gefühle in eine positive
Erwartungshaltung möglich, sie versuchen aber, im Gegensatz zum
ambivalenten Modell, negative Gefühle gegenüber der Bindungsperson nicht
mehr auszudrücken. Da sie die zurückweisenden Reaktionen der Bindungsfigur
auf negative Gefühlsäußerungen recht zuverlässig vorhersagen können, hilft
ihnen die Strategie der Vermeidung, das Risiko von Zurückweisung zu
minimieren und die Nähe zu dieser speziellen Bindungsfigur optimal zu
regulieren" (Fremmer-Bombik, 2002: 115 - 116)
· Die Kinder mit dem unsicher-ambivalenten Muster machen beim Verlassen der
Mutter einen unruhigen und gestressten Eindruck. Sie lassen sie nur sehr ungern
gehen und lassen sich auch nur sehr ungern von der Fremden trösten. Wenn die
Mutter wieder zurück in den Raum kommt, wird sie zwar begrüßt und die Kinder
suchen auch ihre Nähe, doch wenig später beginnen sie die Mutter zu schlagen
oder zu treten. Diese Kinder sind laut Ainsworth hin und her gerissenen zwischen
Nähe suchen und Distanzierung, was sich in ihrem ambivalenten Verhalten zeigt.
(siehe Graphik 4 auf Seite 34)
Da auch bei diesen Kindern laut Fremmer-Bombik keine positive
Erwartungshaltung aufgebaut wurde, können sie ihre negativen Gefühle nicht auf
ein positives Ziel hin integrieren. (vgl. Fremmer-Bombik, 2002: 115)
Einer Reihe von Kindern, die den Test durchliefen, konnte jedoch keiner dieser drei
Bindungsmuster zugeordnet werden. Sie fielen durch Verhaltensbesonderheiten auf. So
erstarrten sie z.B. plötzlich in ihren Bewegungsabläufen und widmeten sich ebenso
plötzlich anderen Aktivitäten oder zeigten stereotype Verhaltens- und
Bewegungsmuster. Daraufhin wurde eine neue Kategorie, die der desorganisiert/
desorientiert gebundenen Kinder entwickelt und diese zunächst nicht klassifizierbaren
Kinder wurden ihr zugeordnet. In normalen Stichproben liegt der Anteil der als
desorganisiert/ desorientiert klassifizierten Kinder laut Aussage von Mary Main bei 15

33
bis 25%. Die Klassifizierung dieser Kinder erscheint als besonders schwierig, da sie die
für sie oben genannten typischen Verhaltensweisen oft nur sehr kurz (für ca. 10 - 30
Sekunden) zeigen. (vgl. Main, 2002: 127)
Über dieses Bindungsmuster von Kindern liegen laut Fremmer-Bombik bisher nur wenig
konkrete Aussagen vor. Anzunehmen ist jedoch,
,,..., daß bindungsrelevante Probleme der Bindungsfigur (z.B. ihre unverarbeitete Trauer,
eigener Mißbrauch oder andere traumatische unverarbeitete Ereignisse) ihr eigenes
Bindungssystem aktiviert halten und so das Pflegesystem, hier vor allem ihre Funktion
als feinfühlige Bindungsperson, nur eingeschränkt tauglich ist" (Fremmer-Bombik, 2002:
116).
Daher sind ihre Kleinkinder lange Zeit nicht dazu fähig, eine klare Bindungsstrategie zu
entwickeln und ihre Erwartungen an die Bindungsfigur in einem Arbeitsmodell
abzubilden.
Der direkte Vergleich des desorganisiert/ desorientierten Bindungsmusters mit dem
unsicher vermeidenden und dem unsicher ambivalenten hat ergeben, dass die Kinder
mit desorganisiert/ desorientiertem Bindungsverhalten gar keine Verhaltensstrategie im
Umgang mit angstauslösenden Situationen bei Anwesenheit eines Elternteils einsetzen
können, da ihr desorientiertes/ desorganisiertes Verhalten einen Zusammenbruch der
Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien darzustellen scheint. Laut Main ist dies
dann erklärbar,
,,..., wenn das Kind nicht nur durch die äußeren Umstände, sondern vielmehr
insbesondere durch die Bezugsperson selbst geängstigt wird" (Main, 2002: 129).
Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn es sich um eine misshandelnde Bezugsperson
handelt, denn so Main:
,,Eltern, die körperlich misshandeln, sind natürlich direkt furchterregend" (Main, 2001:
26).
Mary Ainsworth et al. kamen bei Untersuchungen der Eltern-Kind-Interaktion in
häuslicher Umgebung zu der Schlussfolgerung, dass die Mütter der später in der
Fremde-Situation ambivalenten Kinder im ersten Lebensjahr ein inkonsistentes
Interaktionsverhalten gezeigt hatten.
Demnach war
,,Das Anklammern und Nicht-gehen-lassen-Wollen (...) ein Versuch, die unsichere
Verfügbarkeit zu sichern; die Untröstbarkeit und Gereiztheit nach der Rückkehr der

34
Mutter (...) Ausdruck des Ärgers über die stets nur prekäre Befriedigung der
Bindungsbedürfnisse" (Dornes, 2001: 179).
Der Unterschied zwischen den sicher gebundenen und den unsicher-ambivalent
gebundenen Kindern ist der, dass die inneren Arbeitsmodelle von Selbst, Objekt und
Beziehung der sicher gebundenen einheitlich und nicht, wie im Falle der unsicher-
ambivalenten widersprüchlich sind. (vgl. Dornes, 2001: 180).
Graphik 4: Muster unsicherer Bindung

35
3. Frühe Kindheit
In diesem Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich mit der Entwicklungspsychologie und
Sozialisation von Kindern.
Zunächst gehe ich auf die psycho- sexuelle Entwicklung nach Sigmund Freud ein. Die
Person Sigmund Freud und seine psychoanalytischen Erkenntnisse sind für mein
Thema besonders relevant, da Freud zum einen der Begründer der Psychoanalyse ist
und zum anderen diese das Band zwischen Mutter und Kind mit der Triebtheorie erklärt
hat und sich Bowlby von dieser psychoanalytischen Theorie distanziert. Insofern stehen
sich Freud und Bowlby als Verfechter zweier unterschiedlicher Theorien gegenüber.
Mein Bestreben ist es, einen Überblick über Freuds verschiedene Ansätze zu geben,
wobei für mein Thema bezüglich des sexuellen Missbrauchs die psycho-sexuelle
Entwicklung von Kindern am Bedeutsamsten ist. Zudem wird sich im weiteren Verlauf
meiner Arbeit herauskristallisieren, dass die Person Freud in Bezug auf die Forschung
zum sexuellen Missbrauch von großer Bedeutung ist.
Danach erläutere ich als erstes den Begriff Sozialisation und gehe dann auf günstige
Sozialisationsbedingungen und ein günstiges Sozialisationsklima für ein Kind ein. Aus
diesen geht unter anderem auch hervor, wie wichtig Eltern in ihrer Rolle als Vorbild für
das Kind sind und wie wichtig feinfühliges Verhalten der Eltern gegenüber ihrem Kind
ist. Dann komme ich auf die geschlechtspezifische Sozialisation von Mädchen und
Jungen zu sprechen. Hier werde ich zunächst erklären, was geschlechtsspezifische
Sozialisation ist, bevor ich dann an einzelnen Beispielen, wie sprachlichen oder
mathematischen Fähigkeiten, darstelle, wo geschlechtsspezifische Unterschiede
zwischen Mädchen und Jungen festzustellen sind.
Anhand meiner Ausführungen wird ersichtlich sein, wie nah sich die Themen
Sozialisation und Bindungstheorie stehen und wie gut sie sich ergänzen könnten, wenn
die Sozialisationsforschung die Bedeutung der Bindungstheorie erkennen und sie mehr
in ihre Arbeit mit einbeziehen würde.
Wichtig ist dieser Teil jedoch gerade in Bezug auf die Erklärungsversuche von Gewalt
und für den Teil meiner Arbeit, wo es um die Täter bzw. Opfer von sexuellem
Missbrauch geht.
Der letzte Abschnitt dieses Kapitels beschäftigt sich mit der Geschichte der Kindheit, in
dem ich anhand von zwei Literaturquellen einen historischen Rückblick über die

36
Stellung der Kinder in der Gesellschaft und über ihre Beziehung zu ihren Eltern geben
möchte.
3.1 Die psycho-sexuelle Entwicklung nach Sigmund Freud
Die Psychoanalyse ist laut Keil eine einzelwissenschaftliche Disziplin und somit ein Teil
der allgemeinen Psychologie. Ihr Gegenstand der Forschung ist die Funktionsweise und
Entwicklung der menschlichen Psyche. Diesbezüglich betreffende Beobachtungsdaten
werden zu einer Theorie der Psyche des Menschen geordnet.
Dabei geht die Psychoanalyse von zwei grundlegenden Hypothesen aus:
,,Einmal wird das Prinzip der psychischen Determiniertheit vertreten, das heißt, daß wie
in der Physis des Menschen auch in seiner Psyche nichts zufällig geschieht, sondern
folgerichtig ein Verhalten oder ein Handeln des Menschen aus einem vorangegangenen
Geschehnis entsteht" (Keil, 1975: 772 - 773).
Die zweite Hypothese besagt, dass Bewusstheit nicht ein regelmäßiges Attribut
psychischer Prozesse ist. Sondern unbewusste Vorgänge sind für das Funktionieren
der Psyche des Menschen verantwortlich.
Psychoanalytische Theoretiker wie Freud, Jung, Adler und Schultz-Hencke sind
verschiedene Wege gegangen, doch gemeinsam ist ihnen allen das Festhalten an
diesen zwei grundlegenden Hypothesen der Psychoanalyse.
Im Folgenden möchte ich auf Sigmund Freud, einen der genannten Theoretiker,
intensiver eingehen. Seine Theorie wird laut Pervin von vielen Autoren besonders
wegen ihrer Bedeutung für die Kultur unserer Gesellschaft, wegen ihres Platzes in der
Geschichte der Psychologie und wegen ihrer Wichtigkeit als Modell für eine
psychodynamische Theorie der Persönlichkeit geschätzt.
Sigmund Freud gilt als der Begründer der Psychoanalyse. Er wurde 1856 in Freiberg
(Mähren) geboren, wuchs aber in Wien auf. Hier begann er auch 1873 sein
Medizinstudium und promovierte 1881. Berühmt wurde Freud durch seine späteren
Publikationen: ,,Studien über Hysterie" (1895), ,,Die Traumdeutung" (1900), ,,Das Ich und
das Es" (1923). (vgl. Dorsch, 1998: 293)

37
Im Jahr 1902 wurde er zum Professor für Psychiatrie (Neuropathologie) ernannt. 1938
emigrierte er nach London, wo er ein Jahr später, im Alter von 83 Jahren, verstarb.
In Sigmund Freuds Theorie lassen sich verschiedene Ansätze identifizieren, wie z.B.
der dynamische Ansatz, den ich als erstes darstellen möchte. In diesem vergleicht
Freud laut Patricia H. Miller den Menschen mit einer Art Hydrauliksystem, durch das die
psychischen Energien des Menschen geregelt werden. Diese Energien bezeichnet er
als Triebenergien, die aus biologischer Energie abgeleitet werden. Sie verhalten sich
analog zu den Energien in der Physik, was bedeutet, dass sie sich aufbauen, verteilen,
an bestimmte Vorstellungen binden, umwandeln und dann entladen. Dieser letzte
Prozess, der Vorgang des Entladens, kann nach zwei verschiedenen
Regulationsprinzipien erfolgen. Nach Freuds Lustprinzip erfolgt es sofort, da der
Organismus nach unmittelbarem und direktem Spannungsabbau strebt, was zur Folge
hat, dass Unlust minimiert und Lust maximiert wird. Den Gegenpart zum Lustprinzip
stellt das Realitätsprinzip dar. Nach diesem, so Freud, kontrolliert der psychische
Apparat zunächst die Realität und beurteilt verschiedene Handlungsmöglichkeiten,
bevor er Energie freisetzt. Ein Kind kann z.B. seinem Freund zunächst verbal mitteilen,
dass es Aggressionen gegen ihn hegt anstatt ihn sofort zu schlagen.
Laut Freud gibt es zwei elementare menschliche Triebe bzw. Instinkte, die
verschiedene Energien freisetzten. Zum einen gibt es Eros, den Sexual- oder
Selbsterhaltungstrieb, deren Energie er mit Libido bezeichnet. Zum anderen gibt es den
Destruktions- oder Todestrieb, der die Rückkehr zum anorganischen Zustand des
Organismus zum Ziel hat.
,,Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also
Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die
Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, dass als sein
letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen"
(Freud, 1953: 12).
Beide Instinkte lassen sich durch vier Merkmale, nämlich seine Quelle, sein Ziel, sein
Objekt und seinen Drang unterscheiden.
Als nächstes möchte ich auf den strukturalistischen Ansatz zu sprechen kommen, den
Freud 1923 entwickelt hat. Dieser behandelt die psychischen Strukturen, die durch die
eben geschilderten Kräfte durchsetzt sind.
Diese Strukturen vermitteln laut Miller zwischen Trieben und Verhalten. Freud hat sie
auch als Instanzen bezeichnet und Es, Ich und Über-Ich genannt.

38
Entwicklungspsychologisch gesehen entwickeln sich diese drei Instanzen in folgender
Reihenfolge: Das Es bildet den Anfang, da es der Sitz der angeborenen Triebe wie z.B.
saugen ist. Danach folgt das Ich, das geistige Tätigkeiten, wie Wahrnehmung, logisches
Denken u.a. umfasst und zuletzt das Über-Ich, das sich aus dem Gewissen und dem
Ich-Ideal zusammensetzt. Das Über-Ich als dritte Instanz entsteht, wenn die Kinder
ihren Ödipuskomplex bewältigt haben und nun anfangen, sich mit ihren Eltern zu
identifizieren. (vgl. Miller, 1993: 119 - 123)
Nachdem ich nun die Reihenfolge der Entstehung der Instanzen erklärt habe, gehe ich
noch näher auf die einzelnen Entwicklungsstufen ein, schildere ihre einzelnen
unterschiedlichen Charakteristika und erläutere ihre Beziehung zueinander.
Das Es ist laut Pervin der Ursprung aller Triebenergie. Eros und der Destruktionstrieb
sind Teile von ihm.
,,Das Es ist bestrebt, Erregung, Spannung und Energie zu entladen. Es funktioniert
gemäß dem Lustprinzip- der Suche nach Lust und der Vermeidung von Schmerz. In
Übereinstimmung mit diesem Prinzip sucht das Es nach sofortiger totaler
Triebentladung" (Pervin, 2000: 94).
Diese Vorgehensweise des Es impliziert, dass es weder Verstand, Logik, Ethik oder
Moral besitzt, sondern fordernd, impulsiv, irrational, asozial und egoistisch agiert.
Das Über-Ich stellt das Gegenteil zum Es dar, denn es repräsentiert laut Pervin den
moralischen Teil unserer Persönlichkeit. Diese Struktur kontrolliert menschliches
Verhalten in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Regeln.
Das Ich stellt die dritte Instanz dar. Sie sucht nicht wie das Es nach Lust oder strebt wie
das Über-Ich nach Perfektion, sondern sucht die Realität. Dabei übernimmt das Ich eine
wichtige Funktion:
,,Die Funktion des Ich besteht darin, die Wünsche aus dem Es zum Ausdruck zu bringen
und zu befriedigen und zwar im Einklang mit der Realität und den Forderungen des
Überich" (Pervin, 2000: 95).
Somit kann man das Ich auch als vermittelnde Instanz zwischen Es und Über-Ich
verstehen, die nach dem Realitätsprinzip handelt. Dies impliziert jedoch auch, dass das
Ich ständig in Konflikte zwischen Es und Über-Ich verwickelt ist, da beide es für ihre
eigene Bedürfnisbefriedigung einsetzen wollen. (vgl. Miller, 1993: 124)
Auch ist das Ich ständig Gefahren und Bedrohungen aus dem Es und der Umwelt
ausgesetzt, die Angst erzeugen. Damit die Angst das Ich nicht überwältigt, verfügt es zu
seinem Schutz über verschiedene Abwehrmechanismen. Laut Freud gibt es fünf

39
zentrale und wichtige Abwehrmechanismen, die er Verdrängung, Reaktionsbildung,
Projektion, Regression und Fixierung genannt hat. Ihre Funktion ist es, die Angst zu
kontrollieren und zu verringern. Diese Abwehrmechanismen haben zur Folge, dass der
Mensch die Realität unbewusst verzerrt und er sich somit bestimmter Gefühle nicht
bewusst wird, so dass er keine Angst empfinden muss.
Im nun Folgenden möchte ich den topographischen Ansatz beschreiben. Laut Freud
kann man die Seele wie auf einer Landkarte in drei topographische Gebiete einteilen,
nämlich in Unbewusst, Vorbewusst und Bewusst.
Siehe dazu die folgende Graphik:
Graphik 5: Struktur und Topographie der Psyche
Nach Freud werden Gedanken und Gefühle als Unbewusstes bezeichnet, die verdrängt
und daher unbekannt sind. Diese können nur ins Bewusstsein des Betroffenen geholt
werden, wenn bestimmte Veränderungen oder Interventionen, wie z.B. durch einen
Therapeuten eintreffen.
Vorbewusste Gedanken oder Gefühle können dagegen wieder bewusst werden, da sie
nicht aktiv aus dem Bewusstsein ausgeschlossen wurden. Somit ist ihre Nähe zum
Bewusstsein viel größer als im Vergleich zum Unbewussten.
Dabei erfolgt die Bewusstwerdung der Gedanken über die Entstehung innerer Bilder
oder die Koppelung mit entsprechenden Wertvorstellungen.

40
Das Bewusstsein ist laut Freud identisch mit dem, was einem Menschen aktuell
bewusst ist. Dieser Zustand wird von ihm jedoch als flüchtig beschrieben, da Gedanken
sehr schnell zwischen Vorbewusstsein und Bewusstsein hin- und herwechseln können.
Als nächstes möchte ich den letzten Ansatz, der die Entwicklung der Sexualfunktion
beschreibt und der für meine Arbeit aus meiner Sicht sehr relevant ist, schildern. Dieser
ist dadurch gekennzeichnet, dass er in verschiedene Entwicklungsstadien aufgeteilt ist.
Diese kennzeichnen Stadien der psycho-sexuellen Entwicklung eines Menschen. Sie
sind durch Freud in vier Phasen und eine Latenzperiode unterteilt worden. Die
einzelnen Phasen definieren sich über verschiedene Körperregionen, auf die sich die
Triebimpulse richten. Es handelt sich hierbei in chronologischer Reihenfolge um die
orale, anale, phallische Phase, die Latenzperiode und die genitale Phase.
Freuds Überlegungen zu diesen verschiedenen Phasen basieren auf der Überzeugung,
dass sie den Grundstein für die Persönlichkeit legen. (vgl. Miller, 1993: 131)
Jede dieser Phasen ist biologisch determiniert und in jeder Phase entstehen neue
Bedürfnisse, die von den psychischen Strukturen bewältigt werden müssen.
Entscheidend dabei ist die Art und Weise wie diese Bedürfnisse befriedigt (oder nicht)
werden. Denn sie
,,...bestimmt nicht nur darüber, wie sexuelle Befriedigung erreicht wird, sondern auch
darüber wie die Beziehungen der Kinder zu anderen Menschen aussehen und welche
Gefühle sie sich selbst gegenüber haben. Sie entwickeln charakteristische
Einstellungen, Abwehrmechanismen und Phantasien. Unbewältigte Konflikte aus jedem
Entwicklungsstadium können Menschen ihr ganzes Leben lang verfolgen" (Miller, 1993:
127).
Nachdem ich die Bedeutung der Phasen für die Persönlichkeitsentwicklung eines
Kindes erklärt habe, richte ich nun meine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Phasen
selbst.
Laut Freud ist das erste Organ, das als erogene Zone auftritt, der Mund. Daher heißt
die erste Phase auch orale Phase und ist auf den Zeitraum von der Geburt an bis etwa
zum ersten Lebensjahr begrenzt. In dieser Zeit sind alle psychischen Tätigkeiten darauf
eingestellt, dem Bedürfnis dieser erogenen Zone Befriedigung zu schaffen, z.B. durch
das Saugen an der mütterlichen Brust, dem Daumenlutschen oder beißen. Zunächst ist
das Kind in diesem Stadium passiv und rezeptiv, doch wenn es die ersten Zähne hat,
dann kann es zu einer Verbindung zwischen sexuellem und aggressivem Lustgewinn
kommen. Doch das Kind macht in dieser Phase nicht nur lustgewinnende Erfahrungen,

41
sondern wird auch mit beängstigenden oder frustrierenden Situationen, die Unlust
bereiten, konfrontiert. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn der Säugling nach
der mütterlichen Brust verlangt, die jedoch nicht zur Stelle ist. Dann bleibt dem Säugling
nichts anderes übrig, als ersatzweise am Finger zu lutschen. Diese oder ähnliche
Situationen werden häufiger auftreten und der Säugling erlernt Mechanismen um mit
diesen Frustrationen umzugehen und schafft somit die Basis seiner späteren
Persönlichkeit. Die orale Phase wird durch die anale (1. bis 3. Lebensjahr) abgelöst und
auch die erogene Zone verschiebt sich vom Mund hin zum After und den Bewegungen
der Ausscheidungen im Darm. Spannung wird durch das Ausstoßen der Ausscheidung
abgebaut und durch die Stimulierung der Schleimhäute beim Ausstoßen wird Lust
erzeugt. In dieser Phase bringt der Lustgewinn das Kind in drei verschiedenartige
Konflikte:
,,Zuerst besteht der Triebkonflikt zwischen Herauslassen und Zurückhalten. Zweitens
ergibt sich ein Konflikt zwischen dem triebhaften Vergnügen der Erleichterung und den
Versuchen des Ich, kontrollierend einzugreifen. Drittens gibt es noch den Konflikt
zwischen dem Wunsch nach freudiger Entleerung und der Forderung der Außenwelt,
dies aufzuschieben" (Pervin, 2000: 108).
Diese letzte Art von Konflikt stellt zum einen einen strukturellen Konflikt zwischen den
Instanzen Es und Ich dar, ist aber zum zweiten zugleich das erste entscheidende
Zerwürfnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Wie stark die Kinder diesen
Konflikt empfinden, hängt von verschiedenen Variablen ab.
,,Zu diesen Variablen zählen das Alter, in dem mit der Sauberkeitserziehung begonnen
wird, die Rigorosität der Sauberkeitserziehung und die Einstellung der Mutter zu
Defäkation, Darmkontrolle und Sauberkeit" (Miller, 1993: 135).
Wird mit der Sauberkeitserziehung zum Beispiel zu früh begonnen, oder ihr wird zu viel
Aufmerksamkeit entgegengebracht, kann die Defäkation bei den Kindern zu einer
großen Quelle der Angst werden.
Die dritte Phase ist laut Freud die phallische Phase (4. und 5. Lebensjahr), in der die
Quelle für Erregung und Lust die Genitalien des Kindes sind. Charakteristisch ist für
diese Phase erstens, dass das Interesse der Kinder an den Genitalien wächst,
zweitens, dass Jungen zu der Erkenntnis gelangen, dass Mädchen bzw. Frauen keinen
Penis haben, was bei ihnen laut Freud die Kastrationsangst auslöst, und drittens, dass
sich der Sexualtrieb auf den gegengeschlechtlichen Elternteil richtet, was Freud als
Ödipuskomplex tituliert hat. Den Begriff Ödipuskomplex hat Freud aus der griechischen
Mythologie abgeleitet, in der Ödipus seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete. Für

42
Jungen wird der Vater als Rivale angesehen mit dem er seine Mutter nicht teilen
möchte. Andererseits fürchtet sich der Junge vor seinem Vater, da er Angst hat, dass
dieser Vergeltung übt und ihn kastriert. Für den Jungen ist diese Situation nur erträglich,
indem er zum einen das Verlangen nach seiner Mutter und zum anderen seine
feindseligen Gefühle gegenüber seinem Vater verdrängt. Dieser Komplex wird dann
aufgelöst, wenn sich der Junge mit seinem Vater identifiziert.
,,Das männliche Kind überwindet den Ödipuskomplex, indem es zwar die Mutter als
Liebesobjekt behält, dies aber durch die Identifizierung mit dem Vater geschieht. Wenn
das Kind sich mit dem Vater identifiziert, übernimmt es viele von seinen Wert- und
Moralvorstellungen. Aus diesem Grund wird das Überich als das Erbe der Auflösung des
Ödipuskomplexes bezeichnet" (Pervin, 2000: 110).
Bei Mädchen verläuft dieser Entwicklungsprozess geringfügig anders. Sie entdecken
bei sich das Fehlen des männlichen Glieds und geben ihrer Mutter die Schuld daran.
Die Mädchen glauben an die Wiederkehr des Penis, wenn sie zusammen mit ihrem
Vater ein gemeinsames Kind zeugen. Hier wird der Konflikt beseitigt, indem der Vater
zwar Liebesobjekt bleibt, aber durch die Identifikation mit der Mutter erreichbarer wird.
Die Latenzperiode erstreckt sich über einen Zeitraum ausgehend vom fünften
Lebensjahr bis zur Pubertät. Diese Periode ist im Gegensatz zu den ersten drei Phasen
sehr ruhig. Die Sexualtriebe treten in den Hintergrund. Im Vordergrund stehen jetzt die
Schule und das Spielen mit anderen Kindern.
,,Dies ist eine Zeit, in der kognitive Fertigkeiten erworben und kulturelle Werte assimiliert
werden, da die Kinder ihre Welt auf Lehrer, Nachbarn, Bekannte, Clubleiter und Trainer
ausdehnen. Zwar fließt auch weiterhin sexuelle Energie, aber sie wird in soziale
Beziehungen und in den Aufbau einer Abwehr gegen die Sexualität kanalisiert" (Miller,
1993: 138).
Dies bedeutet nicht, dass sich das Ich und Über-Ich nicht weiter entwickeln.
Die letzte Phase, die Freud benannt hat, ist die genitale Phase. Hier treten die vorher
verdrängten Sexualtriebe wieder auf, die sich jetzt jedoch auf gegengeschlechtliche
Personen richtet. Ziel der genitalen Phase ist die reife erwachsene Sexualität mit dem
biologischen Ziel der Vermehrung. Natürlich erfolgt die Partnerwahl nicht losgelöst von
den früheren Entwicklungsphasen. So kann sich z.B. eine Frau als Partner eine
,,Vaterfigur" auswählen.
Die meisten Menschen erlangen nach Freud mit Abschluss der genitalen Phase einen
relativ stabilen Zustand und haben eine starke Ich-Struktur entwickelt, die es ihnen
ermöglicht, die Realität der Welt der Erwachsenen zu meistern.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832478896
ISBN (Paperback)
9783838678894
DOI
10.3239/9783832478896
Dateigröße
5.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel – Pädagogik
Erscheinungsdatum
2004 (April)
Note
1,0
Schlagworte
bindungtheorie john bowlby kindheit missbrauch bindungsstörungen
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