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Das Krankheitserleben dementiell veränderter älterer Menschen

Unter besonderer Berücksichtigung des Schamgefühls

©2003 Diplomarbeit 86 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Da die Demenz altersgebunden ist und die Lebenserwartung zunimmt, gewinnt die Versorgung und Betreuung älterer von Demenz betroffenen Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. „So wird die Zahl von derzeit 1,4 Millionen Demenzkranker in Deutschland voraussichtlich auf 2,1 Millionen im Jahr 2030 steigen“ (Schröder, 2001). 33% der über 90jährigen sind von einer dementiellen Erkrankung betroffen. Die Demenz ist eine der häufigsten und folgenreichsten psychiatrischen Erkrankung im Alter. Sie bedeutet für Betroffene und Pflegende eine große Belastung und ist mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden, obwohl etwa zwei Drittel der Betroffenen zu hause gepflegt werden.
„Der Verlust gesellschaftlicher und persönlicher Wertschätzung trifft Demenzkranke in besonderem Maße, weil sie unser am höchsten geschätztes Persönlichkeitsmerkmal, die intellektuelle Leistungsfähigkeit, eingebüßt haben“ (Gümmer, 1994).
Solange keine Heilung in Aussicht steht, die Demenz durch Therapien nur in geringem Maße beeinflussbar erscheint, Folgen aber gelindert werden können, zielen Interventionen auf die Erhaltung der Lebensqualität von Demenzerkrankten und ihrer Angehörigen ab. Ob ein Leben mit Demenz gelingen kann oder ob der Mensch seiner Würde beraubt wird, hängt maßgeblich von seinem sozialen Umfeld ab. Im Umgang mit dementiell Erkrankten kommt es häufig zu Fehleinschätzungen sowie Unverständnis für deren Verhaltens- und Erlebensweisen. Durch Einblicke in „dementielle Welten“ kann ein verstehender Umgang mit Demenzkranken erreicht werden. Da die dementielle Erkrankung mit einer Einschränkung des Urteilsvermögens einhergeht, ist die Erforschung des Krankheitserlebens schwierig. Es existiert ausreichend Literatur über Diagnostik, Therapie und den Umgang mit Hirnleistungsstörungen aber selten werden die psychosozialen Besonderheiten, Bewältigungsstrategien, die Lebensqualität und das Krankheitserleben untersucht.
„Sollen Demenzkranke bei der Bewältigung krankheitsbedingter Probleme angemessen unterstützt werden, so sind differenzierte Informationen über Veränderungen der Wahrnehmung, des Erlebens und der Reaktionen der Demenzkranken erforderlich. Zu dieser Thematik besteht derzeit ein Mangel an fundiertem empirischen Studien“(BMFSFJ, 2002).
Gerade dieses Wissen aber könnte dem Erkrankten und seinem sozialen Umfeld zu maximal möglichem Wohlbefinden verhelfen. Es wird vermutet, dass Aussagen von Menschen mit Demenz, zu ihrem […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

0. Vorwort

1. Einleitung

2. Medizinische Grundlagen dementieller Erkrankungen
2.1. Definitionen der Demenz
2.1.1. Klassifikationen
2.2. Demenz vom Alzheimer-Typ
2.2.1. Krankheitsverlauf
2.2.2. Symptomatik
2.2.3. Diagnose und Differentialdiagnose
2.2.4. Therapien

3. Leben mit Demenz
3.1. Gestörte Einprägung und Gedächtnisabbau
3.1.1. Gestörte Einprägung
3.1.2. Gedächtnisabbau
3.2. Das Erleben der Krankheit
3.2.1. Das Erleben der frühen Krankheitsphasen
3.2.2. Bewältigungsstrategien der beginnenden Demenz
3.3. Das Krankheitserleben der fortgeschrittenen Demenz
3.3.1. Bewältigungsversuche der fortgeschrittenen Demenz
3.4. „Krankheitseinsicht“
3.4.1. „Innere Handlungslogik“
3.4.2. Lebensqualität Demenzerkrankter

4. Der Umgang mit und die Betreuung von Menschen mit Demenz
4.1. Zentrale Bedürfnisse Demenzerkrankter
4.1.1. Vertrautheit und Geborgenheit
4.1.2. Das Vertrautheitskonzept nach Bosch

5. Nicht-medikamentöse Behandlungsstrategien bei Demenz
5.1. Psychotherapie und Verhaltenstherapie
5.1.1. Personenzentrierter Ansatz nach Kitwood
5.1.2. Validation nach Feil
5.1.3. Mäeutik nach Kooij
5.1.4. Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET)
5.1.5. Biographiearbeit und Erinnerungsarbeit
5.1.6. Gedächtnistraining
5.1.7. Realitäts-Orientierungs-Training (ROT)
5.1.8. Beratung der pflegenden Angehörigen

6. Scham und dementielle Erkrankungen im Alter
6.1. Versuch einer Definition des Emotionsbegriffes
6.1.1. Strukturierung der Emotionen
6.2. Der Selbst-Erlebens-Aspekt
6.2.1. Emotionale Belastung

7. Scham und ähnliche Phänomene
7.1. Phänomenologie der Scham- eine Beschreibung ihrer Erlebnisform
7.2. Der Blick des Anderen
7.3. Ursachen von Scham
7.4. Funktionen und „Ziele“ von Scham
7.5. Schamangst
7.6. Demenz und Scham

8. Schluss

0. Vorwort

Als ich soweit war, meine Diplomarbeit zu schreiben, habe ich lange überlegt, welches Thema denn nun mein Thema sein könnte. Ich habe während meines Studiums kontinuierlich gearbeitet und die letzten beiden Jahre bin ich bei einem ambulanten Pflegedienst in einer Gruppe tätig, die psychosoziale Betreuung leistet („Psychosoziale Hilfen“). Etwa die Hälfte meiner Klienten, überwiegend ältere Frauen, sind dementiell erkrankt. Sie befinden sich in verschiedenen Krankheitsstadien, sind desorientiert aber noch nicht körperlich beeinträchtigt. Oft leben sie alleine und haben keinen oder sehr wenig Kontakt zu Angehörigen und auch die letzten Freunde gingen bei beginnender Demenz verloren. Daher lag es nahe all meine Überlegungen, wie ich mit diesen alten Menschen reden und umgehen kann und mein Wissen zum Krankheitserleben dementiell veränderter älterer Menschen zu vertiefen. Beim Pflegen und Betreuen war die Scham Hilfe annehmen zu müssen, die Scham, dass man nicht mehr alleine kann, die Kränkung, die das Bedürftig sein bedeutet und das Verbergen der Scham immer wieder als Herausforderung präsent. Die Scham hat meine Arbeit mit Erkrankten erschwert, aber auch das Bedürfnis nach mehr Wissen geweckt und wurde in meiner Diplomarbeit besonders berücksichtigt. Krankheit und Alter gehen häufig mit Scham einher, aber bei Demenzen ist die Bedrohung und der Verlust der Würde, der Identität und des Selbstwertgefühls, meiner Meinung nach, besonders schmerzlich.

1. Einleitung

Da die Demenz altersgebunden ist und die Lebenserwartung zunimmt, gewinnt die Versorgung und Betreuung älterer von Demenz betroffenen Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. „So wird die Zahl von derzeit 1,4 Millionen Demenzkranker in Deutschland voraussichtlich auf 2,1 Millionen im Jahr 2030 steigen“ (Schröder, 2001, 35). 33% der über 90jährigen sind von einer dementiellen Erkrankung betroffen (vgl. Großjohann, 2001, 12). Die Demenz ist eine der häufigsten und folgenreichsten psychiatrischen Erkrankung im Alter. Sie bedeutet für Betroffene und Pflegende eine große Belastung und ist mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden, obwohl etwa zwei Drittel (vgl. Maciejewski et al., 2001 V/6) der Betroffenen zu hause gepflegt werden.

„Der Verlust gesellschaftlicher und persönlicher Wertschätzung trifft Demenzkranke in besonderem Maße, weil sie unser am höchsten geschätztes Persönlichkeitsmerkmal, die intellektuelle Leistungsfähigkeit, eingebüßt haben“ (Gümmer, 1994, 8).

Solange keine Heilung in Aussicht steht, die Demenz durch Therapien nur in geringem Maße beeinflussbar erscheint, Folgen aber gelindert werden können, zielen Interventionen auf die Erhaltung der Lebensqualität von Demenzerkrankten und ihrer Angehörigen ab. Ob ein Leben mit Demenz gelingen kann oder ob der Mensch seiner Würde beraubt wird, hängt maßgeblich von seinem sozialen Umfeld ab. Im Umgang mit dementiell Erkrankten kommt es häufig zu Fehleinschätzungen sowie Unverständnis für deren Verhaltens- und Erlebensweisen. Durch Einblicke in „dementielle Welten“ kann ein verstehender Umgang mit Demenzkranken erreicht werden. Da die dementielle Erkrankung mit einer Einschränkung des Urteilsvermögens einhergeht, ist die Erforschung des Krankheitserlebens schwierig. Es existiert ausreichend Literatur über Diagnostik, Therapie und den Umgang mit Hirnleistungsstörungen aber selten werden die psychosozialen Besonderheiten, Bewältigungsstrategien, die Lebensqualität und das Krankheitserleben untersucht.

„Sollen Demenzkranke bei der Bewältigung krankheitsbedingter Probleme angemessen unterstützt werden, so sind differenzierte Informationen über Veränderungen der Wahrnehmung, des Erlebens und der Reaktionen der Demenzkranken erforderlich. Zu dieser Thematik besteht derzeit ein Mangel an fundiertem empirischen Studien “(BMFSFJ, 2002, 182).

Gerade dieses Wissen aber könnte dem Erkrankten und seinem sozialen Umfeld zu maximal möglichem Wohlbefinden verhelfen. Es wird vermutet, dass Aussagen von Menschen mit Demenz, zu ihrem Krankheitserleben, in fortgeschrittenen Stadien unzuverlässig sind und sich eine Erfassung aufgrund ihrer intellektuellen Beeinträchtigungen schwierig gestaltet. Außerdem scheint weder durch medizinisches Personal noch durch Familienangehörige eine angemessene Beurteilung gewährleistet zu sein (vgl. Meier, 1995, 49). Doch zu Beginn ihrer Erkrankung sind die Betroffenen meist in der Lage ihre Gefühle mitzuteilen, so dass, zu diesem Zeitpunkt noch mehr über das Krankheitserleben zu erfahren sein könnte. „Es ist jedoch unmöglich, zur Gänze in die Erfahrens- und Erlebenswelt eines anderen Menschen zu gelangen..., weil jede Person einzigartig ist“ (Kitwood, 2000, 108).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Krankheitserleben von Menschen mit Demenz. Ziel dieser Arbeit ist die Erfassung und Darstellung ihres Krankheitserlebens auf subjektiv erlebnisorientierter Ebene, um daraus möglicherweise „demenzgerechte“ Umgangsformen für Pflegende ableiten zu können.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Im Anschluss an die Einleitung werden im zweiten Kapitel medizinische Grundlagen der Demenzen dargestellt.

Das dritte Kapitel wird neben dem Krankheitserleben dementiell Erkrankter älterer Menschen auch mögliche „Bewältigungsstrategien“ vorstellen.

Das vierte Kapitel befasst sich mit den Bedürfnissen von Erkrankten und entsprechenden Umgangsformen.

Im fünften Kapitel erfolgt ein Überblick der nicht-medikamentösen Behandlungstrategien in der Begleitung und Pflege von Betroffenen und ihren Angehörigen.

Das sechste Kapitel verbindet den „dementiellen“ Alterungsprozess mit möglichen Gefühlen der Scham.

Im siebten Kapitel wird dann das Phänomen der Scham auf Erlebnisebene beschrieben und eine Verbindung zum Krankheitserleben hergestellt.

Das letzte Kapitel zieht ein Resümee der gewonnen Erkenntnisse und leistet eine persönliche Stellungsnahme zum Thema „Demenz und Scham“.

2. Medizinische Grundlagen dementieller Erkrankungen

In diesem Abschnitt meiner Arbeit möchte ich versuchen, den Begriff „Demenz“ näher zu bestimmen, um dann die Definition des Demenzsyndroms anhand diagnostischer Kriterien und ein Klassifikationssystem dementieller Erkrankungen vorzustellen. Die Demenz vom Alzheimer-Typ wird gesondert behandelt. Anschließend werden die Diagnostik und Differentialdiagnostik angeführt und therapeutische Maßnahmen dargestellt.

2.1. Definitionen der Demenz

Der Begriff „Demenz“ stammt aus dem lateinischen „dementia“ und wird mit „Unvernunft“ (Füsgen, 2001, 21) oder „Wahnsinn“ übersetzt. In der wörtlichen Übersetzung besteht der Begriff aus der Silbe „de“ hier im Sinne von „weg“, „abwesend“ und dem lateinischen Begriff „mens“, Geist oder Verstand (vgl. Müller, 1999, 10). Der Begriff Demenz bezeichnet ein klinisches Syndrom und wird in den beiden gebräuchlichen internationalen Diagnoseschlüsseln, dem Statistischen Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (DSM-IV) und der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation definiert. Hier ist die Demenz der diagnostischen Gruppe der organischen Psychosen zugeordnet.

„Demenz ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Erkrankung des Gehirns mit Beeinträchtigung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewußtsein ist nicht getrübt (mit Ausnahme der späten Stadien der Erkrankung). Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf“ (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 2000, 23).

Eine Demenz im späteren Lebensalter, verursacht durch eine zerebrale, d.h. vom Gehirn ausgehende Beeinträchtigung, ist gekennzeichnet durch Gedächtnisstörungen und intellektuelle Einbußen, verbunden mit dem zunehmenden Verlust der Fähigkeit zu autonomer Lebensführung.

2.1.1. Klassifikationen

Der Begriff der Demenz umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern mit unterschiedlichen Ursachen, so spricht Füsgen von „zumindest 100 verschiedene (n ) zur Demenz führende (n) Erkrankungen“ (2000, 413).

Ätiologisch werden primäre und sekundäre Demenzen unterschieden. Primär bedeutet, dass das pathologische Geschehen das Zentralnervensystem direkt betrifft. Deshalb wird hier von einer Hirnleistungsstörung gesprochen. Die anteilig überragende Gruppe der primären Demenzen ist degenerativ (nicht heilbar) und nur schwer therapierbar. Die primären Demenzformen machen ca. 90% aller Demenzerkrankungen aus. Davon entfallen ca. 50% auf die Alzheimer-Demenz und 15-30% auf die vaskulären Demenzen. Die Bezeichnungen „Demenz vom vaskulären Typus“ und „Multiinfarkt- Demenz“ sind gleichbedeutend. Bei 15-25% aller Demenzen wird von einer Mischform dieser beiden Demenzformen ausgegangen (vgl. Merz+Co., 2000, 10). Dazu kommt eine Dritte, in ihrer Häufigkeit, eher seltene Untergruppe der primären degenerativen Demenzen. Dieser Gruppe werden u.a. die Pick-Krankheit, die Creutzfeld-Jakob-Krankheit, die Huntington-Krankheit und Parkinson-Krankheit zugeordnet. Die Alzheimer- Krankheit wird durch pathologische Veränderung des Gehirns verursacht, d.h. es tritt eine Schädigung und Zerstörung der Nervenzellen auf, welche die Informationsverarbeitung und -weiterleitung stört. Die vaskuläre („die kleinen Blutgefäße betreffende“) Demenz wird von einer Anhäufung von Infarkten verursacht, was mit dem Absterben der dadurch unversorgten Hirnbereiche einhergeht. Sekundäre Demenzen, die 10% der Erkrankungen ausmachen, entstehen nicht durch hirngewebliche Veränderungen und sind häufig reversibel (vgl. Merz+Co., 2000, 10).

2.2. Demenz vom Alzheimer-Typ

Die Bezeichnung „Alzheimersche Krankheit“ geht auf den Neurologen Aloys Alzheimer zurück, der im Jahr 1906 neuropathologische Veränderungen im Gehirn beschrieb. Die Krankheit ist unter folgenden Termini bekannt: Alzheimer-Krankheit, Alzheimerische Krankheit, Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT), Alzheimer-Demenz (AD), primär degenerative Demenz, präsenile/senile Demenz und Morbus Alzheimer.

Da die Demenzen unter Berücksichtigung ihrer Ätiologie in ihrem Krankheitsbild vergleichbar sind, wird im Allgemeinen die Bezeichnung Demenz als Oberbegriff verwandt (vgl. Stuart-Hamilton, 1994, 209/Becker, 2000, 5).

Die Demenz vom Alzheimer-Typ ist nach ICD-10 „eine primär degenerative zerebrale Erkrankung mit unbekannter Ätiologie und charakteristischer neuropathologischen und neurochemischen Merkmalen. Sie beginnt meist schleichend und entwickelt sich langsam aber stetig über einen Zeitraum von mehreren Jahren“ (2000, 27). Sie wird auch häufig als „Altersleiden“ bezeichnet, denn sie tritt selten vor dem 65. Lebensjahr auf (vgl. Förstl, 2001, 43).

2.2.1. Krankheitsverlauf

Für den Krankheitsverlauf liegen erst wenige Beschreibungen von klinischen Untersuchungen vor. Es bleibt dabei bislang noch ungeklärt, mit welcher Progredienz sich die Krankheitssymptome entwickeln und welche Faktoren den Verlauf und den Verlaufsausgang des Krankheitsprozesses bestimmen (vgl. Haupt, 2001, 9). Bezeichnend für die Alzheimer Erkrankung ist der langsam fortschreitende Verlauf. Zwischen Krankheitsbeginn und Tod liegen 8-10 Jahre (vgl. DSM-IV-R, 2003, 194).

Ausgehend vom Ausprägungsgrad der Krankheitssymptome und somit der Hilfsbedürftigkeit des Erkrankten wird die Demenz in eine leichte, mittelgradige und schwere Beeinträchtigung unterteilt (vgl. ICD-10, 2000, 24). Die leichte Demenzausprägung, erkennbar an Defiziten im Alltag, beeinträchtigt die täglichen Aktivitäten nicht in dem Maße, dass eine selbständige Lebensführung nicht mehr möglich wäre. Das Lernen von Neuem bereitet jedoch besondere Schwierigkeiten (vgl. ebd., 24). Komplizierte Aufgaben können bereits nicht mehr ausgeführt werden. Im mittelschweren Demenzstadium ist die Fähigkeit zur autonomen Lebensgestaltung stark beeinträchtigt. „Nur gut gelerntes und stark vertrautes Material wird behalten. Neue Informationen werden nur gelegentlich und sehr kurz behalten“ (ebd.). Diese reduzierte Alltagskompetenz erfordert Begleitung und Aufsicht. Mit Beginn der dritten Phase, der schweren Beeinträchtigung durch den fortgeschrittenen Gedächtnisverlust, können Betroffene keine neuen Informationen mehr speichern und Altgelerntes ist nur noch bruchstückhaft vorhanden (vgl. ebd., 24). Mit Fortschreiten der Krankheit kommt es zu einer Zunahme von motorischen Symptomen und vollständige Betreuung und Pflege wird notwendig. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass es in der Fachliteratur auch Autoren gibt, die andere Stadieneinteilungen entwickelt haben oder gar von einer Einteilung absehen. So liegt ein detailliert ausgearbeitetes Verlaufsmodell der Krankheitsphasen der Alzheimerischen Krankheit, von Reisberg vor. Ausgehend vom gesunden Menschen (Stufe eins seines Modells) sind die durch die Krankheit verursachten Störungen in Stufe zwei nur für den Betroffenen selbst erkennbar. Die Stufen drei bis sieben definiert die DAT (vgl. Gruetzner, 1992, 50f./Müller, 1999, 23f./BMFSFJ, 2002, 289). Nach Stuart-Hamilton lassen sich Krankheitsstadien nur ungenügend beschreiben, „weil die Schwere der Symptome, der Ausfall bestimmter Funktionen und die Dauer der einzelnen Stadien von Patient zu Patient hochgradig variieren. Und dennoch hat ein Patient, wenn er das Endstadium erreicht, alle... Stadien durchlaufen“ (1994, 178f.). Ähnlich nennt Becker eine individuelle „Symptomfärbung“ (2000, 21), weshalb sie von einer Stadieneinteilung absieht.

2.2.2. Symptomatik

Die Demenz-Psychopathologie lässt sich in eine kognitive und in eine nicht-kognitive Symptomatik unterteilen. Die kognitiven Demenzsymptome werden in der Medizin als primäre Demenzsymptomatik angesehen. Es handelt sich hierbei um neuropsychologische Gedächtnisstörungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, die die Merk- Denk- Abstraktions- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigen und somit situative, räumliche, zeitliche und personelle Desorientierung auslöst. Diese kognitiven Störungen werden insgesamt auch als „ Verwirrtheit“ bezeichnet (Schröder, 2001, 176). Primäres Phänomen einer dementiellen Erkrankung ist die Gedächtniseinbuße, und zwar insbesondere Störungen der Merk- und Erinnerungsfähigkeit. Hier verweise ich auf Möller und Rode, die drei Ebenen der Orientierungsstörungen (Desorientiertheit, Falschorientiertheit, Ratlosigkeit) bezüglich ihres Zeit- Kommunikations- und Sinnbezugs unterscheiden (1993, 305/306).

In 90% der Demenzverläufe kommt es, in unterschiedlicher Ausprägung, neben den kognitiven Defiziten zu psychischen Störungen und Verhaltensaufälligkeiten, die als Begleitphänomene (sekundäre Symptome) einer Demenz auftreten können (vgl. Füsgen, 2000, 423).

Die Demenz betrifft die Person in ihrer Gesamtheit in Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld. Verhaltensauffälligkeiten „ .sind nicht nur Folge degenerativer Prozesse im Gehirn, sondern auch Ausdruck ihres engen Wechselspiels mit psychosozialen Einflüssen, der Persönlichkeit und den noch vorhandenen Konfliktbewältigungsstrategien“ (BMFSFJ, 2002, 165). Müller nennt drei Sekundärsymptome von zentraler Bedeutung für das Krankheitserleben: „Angst, Scham und Unsicherheit“ (1999, 18). Ob eine Person mit passiven oder aktiven Bewältigungsstrategien reagiert hängt von seiner Persönlichkeit und der Qualität der Betreuung ab (vgl. ebd.). Nicht-kognitive Symptome können u.a. Unruhezustände, depressive Verstimmungen, Angstzustände, Halluzinationen, Aggressivität und Stimmungsschwankungen umfassen. Diese nicht-kognitiven Symptome werden in ihrer Gesamtheit als „Verstörtheit“ bezeichnet (Schröder, 2001, 177f.). Eine fortgeschrittene Demenz führt zu körperlichen Einschränkungen mit Inkontinenz, Gangunsicherheit und Bettlägerigkeit.

2.2.3. Diagnose und Differentialdiagnose

Buijssen und Hirsch beschreiben die Demenzdiagnostik als „eine der schwierigsten Angelegenheiten in der Gerontologie“ (1997, 271). Zur Demenzdiagnostik und ganzheitlichen Behandlung ist ein multi-professionelles Team erforderlich (vgl. ebd. 1997, 272). Die Diagnose DAT ist eine Ausschlussdiagnose, d.h. unterschiedliche Informationen über den Patienten führen unter Ausschluss anderer Ursachen zur Annahme einer Alzheimer-Demenz. Eine gesicherte Alzheimer-Diagnose, kann nach derzeitigem Forschungsstand erst nach dem Tod durch eine Autopsie stattfinden. Um zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage über das Vorliegen einer Demenz zu kommen dienen folgende diagnostische Hilfsmittel als Informationsquellen (nach Füsgen, 2000, 418):

- Anamnese und Fremdanamnese,
- Klinischer Status,
- Labordiagnostik,
- Psychiatrischer Status,
- Neurologischer Status,
- Beurteilung mentaler Funktionen,
- Apparative Untersuchungen.

Als standardisierte klinische Diagnoseinstrumente, dienen die beiden Diagnoseschlüssel ICD-10 und DSM IV. Es gelten folgende Kriterien zur Diagnoseerstellung einer Demenz vom Alzheimer Typ (nach ICD-10, 2001, 24f.).

1a Abnahme des Gedächtnisses und
1b Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten

2. kein Verdacht auf Verwirrtheitszustände

3. Beeinträchtigung der Affektkontrolle, des Antriebs oder eine Veränderung des Sozialverhaltens

4. Dauer der unter 1. genannten Störungen mindesten 6 Monate

Zeigt die klinische und psychometrische Untersuchung eine Wahrscheinlichkeit des Demenzsyndroms, muss durch die Differentialdiagnose eine Abgrenzung zu ähnlichen Krankheitssymptomen stattfinden. Gemeint sind akute Verwirrtheitszustände, Delir, altersbedingte Gedächtniseinbußen und depressive Verstimmungen, die in der Fachliteratur auch „Pseudo-Demenz“ genannt werden (Gutzmann, 1992, 20/Gruetzner, 1992, 32). Ist der Diagnoseverdacht durch Abgrenzung bestätigt ergibt sich die Frage nach der Demenzform bzw. der Symptomursache. Falls eine reversible Demenz ausgeschlossen werden kann handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine der beiden Hauptformen der Demenzen, die Multi-Infarkt-Demenz oder die Alzheimer-Demenz.

2.2.4. Therapien

Da die genaue Ätiologie einer DAT bis heute unbekannt ist, können nur Symptome behandelt werden. Somit ist die Demenz bis heute eine chronische unheilbare Krankheit und dennoch ist die Früherkennung von Bedeutung. Je früher dementielle Veränderungen festgestellt werden, desto eher kann eine krankheitsverzögernde oder stabilisierende medikamentöse und vorallem psychosoziale Behandlung einsetzten.

„Die verschiedenen Maßnahmen umfassen Förderung und Erhaltung kognitiver und psychosozialer Fähigkeiten, Stabilisierung der emotionalen Situation und Vermeidung aller zusätzlich beeinträchtigenden Faktoren“ (Jenny, 1996, 115).

Eine Symptombehandlung, ob medizinisch oder nicht-medizinisch zielt auf die grösstmögliche Lebensqualität des Erkrankten und die Erhaltung seiner Kompetenz zur Bewältigung des Alltags hin. .In einer ganzheitlichen Betreuung und Begleitung sollten „Eigenschaften,... Vorlieben, Eigenheiten und Gewohnheiten,... Fähigkeiten und Defizite...“ in Verbindung mit der persönlichen biographischen Entwicklung, besondere Beachtung finden (Müller, 1999, 8).

Die medikamentöse Behandlung der kognitiven Defizite erfolgt durch Antidementiva, die die Gedächtnisstörungen positiv beeinflussen sollen Neben der Behandlung der kognitiven Defizite kommen, je nach Schweregrad, Psychopharmaka wie Antidepressiva und Neuroleptika zur Milderung der Sekundärsymptome zum Einsatz. Eine Sedierung durch Psychopharmaka bringt kontraproduktive Nebenwirkungen mit sich und sollte lediglich als letzte Maßnahme und nur für einen kurzen Zeitraum eingesetzt werden So sind pharmakologische Behandlungen im Rahmen des Therapiekonzepts als ergänzende Maßnahme zu sehen, wenn nicht-medikamentöse Interventionen unzureichend sind.

„Zuvor sollten psychotherapeutische (insbesondere verhaltens-modifizierende) und milieutherapeutische Interventionen ausreichend lange angewandt worden sein “ (Schröder, 2001, 33).

Sekundärsymptome, auch nicht-kognitive Symptome genannt, die häufig eine Reaktion des Erkrankten auf sein Krankheitserleben sind, erfordern besonders psychosoziale Interventionen und eine nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten angepasste Gestaltung des Umfelds. Zu den nicht-medikamentösen Therapien einer dementiellen Erkrankung gehören nach Haupt psychosoziale Interventionen, kognitive Trainingsverfahren und psychoedukative Maßnahmen für pflegende Angehörige (vgl. 2001, 31), auf die im Kapitel fünf dieser Arbeit eingegangen wird.

3. Leben mit Demenz

„Dementielle“ Veränderungen der geistigen Leistungsfähigkeit beeinflussen die Wahrnehmung, das Erleben und das Verhalten des Erkrankten. Da die emotionale Erlebnisfähigkeit erhalten bleibt, reagieren Betroffene aktiv auf Verluste ihres Erinnerungs- und Denkvermögens und das mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien.

„Wenn auch Urteilsfähigkeit und Verstand immer weniger zur Verfügung stehen, die Gefühle sind jedoch noch ausreichend vorhanden“ (Andres, 1997, 39).

Erkrankte leben in der Welt ihrer inneren Vorstellungen, die sich von der Realität ihres Umfeldes erheblich unterscheiden kann. Reaktionen und Verhaltensweisen wirken auf nahe stehende Angehörige und Pflegende oft befremdend.

„Am Anfang waren es Bemerkungen, Verhaltensänderungen, Wesensänderungen, die mir Zugang in diese andere Welt verschafften, später waren es besonders die Reaktionen auf bestimmte Situationen des alltäglichen Lebens“ (Fuhrmann, 2000, 25).

Erkenntnisse über das Krankheitserleben sind von großer Bedeutung, um entsprechend den Bedürfnissen der Erkrankten einen unterstützenden und kreativen Umgang zu leisten und „ein relatives Wohlbefinden verschaffen können“ (Rückert, 2001, 264). Unter Beachtung des subjektiven Erlebens soll eine Begleitung Überforderung und Beschämung vermeiden und Bewältigungsversuche als individuelle Krankheitsverarbeitung betrachten. Das Eigenerleben der kognitiv Beeinträchtigten ist jedoch wenig erforscht.

„Lediglich für die beginnende Demenz und ihre frühen Stadien gibt es fundierte Erkenntnisse. Mit zunehmenden Schweregrad der Erkrankung werden die Annahmen immer spekulativer“ (BMFSFJ, 2002, 175).

Merz+Co. geben an, dass Selbstbeurteilungen nur im Frühstadium einer Demenzerkrankung, aufgrund der beeinträchtigten Selbsteinschätzung, Aussagekraft besitzen (vgl. 2000, 16). In der Anfangsphase ist nach Meier , „viel... vom Krankheitserleben“ (1995, 32) zu erfahren. Wie Betroffene ihre Krankheit erleben, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, es besteht jedoch die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie die Demenz die Wahrnehmung und das Erleben der Erkrankten verändert.

„Die Frage, wieweit sich ein Alzheimer-Patient seiner Krankheit bewußt ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten Die Anfangsstadien ihrer Krankheit hat unsere Mutter sehr schmerzhaft erlebt. Sie merkte, daß es ihr immer schwerer fiel, sich zu orientieren. Sie litt darunter, daß sie sich nicht mehr wie früher an Gesprächen beteiligen konnte und war oft voll Trauer und Angst“ (Götte/Lackmann, 1991, 35).

Mit Hilfe von medizinischen Berichten, Selbstzeugnissen, Schilderungen von Angehörigen oder Pflegenden, Romanen zu diesem Thema und eigenen Vorstellungen, die ich in meiner Praxis in der Altenarbeit entwickelt habe, wird hier der Versuch unternommen sich dem Krankheitserleben von Menschen mit Demenz anzunähern. Es soll beachtet werden, dass sich Verhaltens- und Erlebensweisen der Betroffenen aufgrund ihrer verschiedenen Lebensläufe, Persönlichkeiten und sozialen Gegebenheiten, unterscheiden. Dennoch nehme ich an, dass sich aus Einzelbeobachtungen erkennbare Muster generalisieren lassen. Besondere Berücksichtigung soll in meiner Arbeit der Zusammenhang zwischen Verhalten und Gefühlen finden, denn „Verhalten und Gefühle lassen sich nicht trennen“ (Miesen, 1996, 31).

3.1. Gestörte Einprägung und Gedächtnisabbau

Um verstehen zu können wie eine Demenz die Denkfähigkeit und das Verhalten des Kranken beeinflusst wird grob auf die Funktionsweisen des gesunden Gedächtnisses eingegangen. Mit dem Wissen um die „zwei Gesetzte der Senilen Demenz“, nämlich der „Gestörten Einprägung“ einerseits und des „Gedächtnisabbaus“ andererseits, können dementielle Symptome und deren Handlungslogik erläutert werden (vgl. Buijssen, 1994, 5f.).

3.1.1. Gestörte Einprägung

„Gedächtnis ist die geistige Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern und später zu reproduzieren oder wiederzuerkennen. Daneben bezieht sich die Bezeichnung Gedächtnis auch auf das, was behalten wird- sowohl auf die gesamte erinnerte Erfahrung als auch auf den Abruf einer spezifischen Erfahrung“ (Zimbardo, 1992, 268).

Es können zwei Gedächtnisformen unterschieden werden: Das Kurzzeitgedächtnis behält Erinnerungen der unmittelbaren Vergangenheit, d.h. der letzten Minuten und Sekunden. Wegen der geringen Speicherkapazität des Kurzeitgedächtnisses müssen Informationen in das Langzeitgedächtnis übertragen werden. Das Langzeitgedächtnis beinhaltet unser Wissen und dient als unbegrenzter Speicher für „Erfahrungen, Informationen, Emotionen, Fertigkeiten, Wörter, Kategorien, Regeln und Urteile etc.“ (Zimbardo, 1992, 279).

Hier greift „das erste und wichtigste Gesetz der Senilen Demenz.“ (Buijssen, 1994, 8), welches besagt, dass der Informationstransport vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis der Erkrankten gestört ist und Informationen somit unzureichend gespeichert bzw. abgerufen werden können. Mit dem Wissen, um das „Phänomen der gestörten Einprägung“, (ebd.) können Verhaltensweisen zu Beginn einer Demenz von Außenstehenden besser eingeordnet werden. Diese Einschränkung der Gedächtnisfähigkeit machen sich bemerkbar durch wiederholendes Fragen, häufiges Gegenstände verlieren, versäumte Termine, Desorientiertheit betreffend neuer Personen und unbekannten Umgebungen, Schwierigkeiten im Planen oder Durchführen, Unfähigkeit einem Gespräch zu folgen und die Unfähigkeit Fragen über die kurz zurückliegende Vergangenheit korrekt zu beantworten (vgl. Buijssen / Hirsch, 1997, 266).

„Ich vergesse vieles, Sachen von gestern, sogar von heute. Das von vor Jahrzehnten weiß ich noch ganz genau; aber wen interessiert das schon?“

(Andres, 1997, 37)

3.1.2. Gedächtnisabbau

Im fortgeschritten Krankheitsstadium gewinnt das „zweite Gesetz“ (Buijssen, 1994, 14) an Bedeutung. Es kommt neben dem Verlust der Merkfähigkeit zu einer Abnahme der Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis. Scheinbar verschwindet Material aus der kürzeren Vergangenheit zuerst, während ältere Erinnerungen und oft wiederholte oder emotionsbesetzte Informationen gespeichert werden können (vgl. Buijssen/Hirsch, 1997, 268).

„Je emotionaler ein Inhalt ist, desto wahrscheinlicher wird er behalten und erinnert“ (Schönpflug, 1995, 234).

Durch den Erinnerungsverlust gehen erlernte Fähigkeiten verloren. Die Demenz lässt nicht nur die Vergangenheit verschwimmen, sondern auch die Zukunft. Autobiografische Informationen beginnen zu „bröckeln“, der dementiell Erkrankte vergisst wichtige Lebensereignisse, auch nahe Angehörige und das eigene Zuhause werden z.T. nicht mehr erkannt.

„Wir sind nicht mehr in der Lage, unsere Kleidung richtig herum anzuziehen und benötigen fremde Hilfe. Wir verirren uns im Garten, graben die Blumen aus und lassen das Unkraut zurück. Wir vergessen die Namen der Enkelkinder oder ob unser Lebenspartner noch am Leben ist. ... Infolge eines Hirnschadens bestreitet der Ehemann, daß das von ihm erbaute Haus sein eigenes ist. ( Mace, 1989, 5).

Die Kommunikationsfähigkeit wird beeinträchtigt bis hin zum Verlust der Sprache. Durch die Beeinträchtigung der Informationsspeicherung, des Informationsabrufs und durch die gestörte Informationsverarbeitung sinkt das intellektuelle Leistungsniveau je nach Krankheitsverlauf.

3.2. Das Erleben der Krankheit

Die Biographie und Persönlichkeit eines dementen Menschen beeinflussen das subjektive Erleben und Verarbeiten seiner Erkrankung. Zudem bestimmt die Betreuungsbeziehung, also die Art des Umgangs mit dem alten Menschen massgeblich sein Verhalten, mögliche Sekundärsymptome und sein Wohlbefinden.

„Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Qualität der Betreuung und dem Ausmaß von Sekundärsymptomen!“ (Müller, 1999, 18).

Das Verständnis für die innere Realität von Menschen mit Demenz kommt durch Betrachtung ihrer Erlebniswelt zustande, einer Erlebniswelt, die stark von Gefühlen dominiert wird.

„Die Gefühlswelt bleibt auch in der Demenz nahezu unbeeinträchtigt erhalten“ (Müller, 1999, 17).

Auch Verluste der sozialen Umgangsformen und ausgeprägte „Veränderungen der Persönlichkeit sind selten“ (Müller, 1999, 17). So lassen sich Verhaltensveränderungen nicht als Persönlichkeitsveränderungen, sondern als „psychische Abwehrreaktionen“ interpretieren, denn „ ein Mensch mit Demenz hat natürlich- vor allem in der Anfangsphase der Krankheit- selbst Angst vor dem Verlust seiner Fähigkeiten, weiß oft gar nicht, wie ihm geschieht“ (Maciejewski et al., 2001, III/3). Müller-Hergl behauptet, dass der Erhalt der Persönlichkeit im Wesentlichen von der Beziehungsqualität des Umfeldes abhängt (vgl. Müller-Hergl, 2001, 250).

3.2.1. Das Erleben der frühen Krankheitsphasen

Zu Anfang der Erkrankung registrieren Betroffene eine fortschreitende Gedächtnisschwäche und abnehmende Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit. Menschen mit einer beginnenden Hirnleistungsstörung nehmen ihre Verlust- und Versagenserfahrungen selbst als einen schmerzlichen und emotionalen Prozess wahr, da die Entwicklung der Krankheit in der Regel nicht sprunghaft, sondern eher stetig fortschreitet.

„Zutiefst bestürzt und peinlich berührt, nimmt er seine „Vergeßlichkeit“ wahr“ (Furtmayr-Schuh, 1992, 82).

Die Demenzerkrankten leiden besonders im Anfangsstadium, wenn die kognitiven Beeinträchtigungen noch gering sind, unter ihren Gedächtniseinbußen (vgl. Fuhrmann, 2000, 25).

„Am Anfang der Krankheit können die Betroffenen noch deutlich sagen, daß sie darunter leiden, so viel zu vergessen, seien es Namen, Begriffe oder ganze praktische Handhabungen“ (Fuhrmann, 2000, 25).

Auch Becker geht davon aus, „daß der Krankheitsprozeß mit hohem Leidensdruck erlebt wird“ (Becker, 2000, 24). Dementiell Erkrankte erleben ihre kognitiven Funktionsverluste über eine lange Zeit hinweg bewusst mit Gefühlen der Angst, Scham, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Verzweiflung.

3.2.2. Bewältigungsstrategien der beginnenden Demenz

Zu Krankheitsbeginn werden häufig Veränderungen bagatellisiert und auf die normalen Folgen des Alterungsprozesses zurückgeführt. Mit zunehmenden Gedächtnisausfällen nehmen Misserfolge und Fehlleistungen zu, der Betroffene spürt, dass „etwas nicht stimmt!“

„Ich bin nicht mehr ‚Ich’!“ ( Andres, 1997, 39).

Die bemerkten Leistungseinbußen des Kurzzeitgedächtnisses behindern schon früh den Alltag werden aber überspielt und verleugnet. „... die Wenigsten sprechen über diese Störungen ihres Gedächtnisses, sondern versuchen mit all ihren Möglichkeiten zu verbergen, was ihnen da widerfährt“ (Fuhrmann, 2000, 25). Durch Verleugnung von Fehlleistungen und irrationalen Begründungen ihres Handelns unternehmen Erkrankte den Versuch den „Schein zu wahren“, um Erschütterungen ihres Selbstkonzepts zu vermeiden. Da soziale Umgangsformen erhalten bleiben, können Betroffenen lange Zeit ihre Einbußen verbergen, obwohl Gedächtnis- und Denkfähigkeit bereits eingeschränkt sind. Demente Menschen erhalten nach außen hin durch Redefloskeln und belanglose Gespräche eine „blendende Fassade“ (Fuhrmann, 1995, 209). Erkrankte bewältigen beispielsweise ihre Einkäufe, indem sie mit Floskeln wie, „wie immer“, ihre Erledigungen tätigen (Becker, 2000, 23). Auch Schuldzuweisungen und Notlügen dienen dem Erkrankten dazu, die Erschütterung seines Selbstwertgefühls zu verringern. „Projektion auf die Umwelt“ wird diese Bewältigungsstrategie genannt (BMFSFJ, 2002, 178).

„...ich bin nicht verrückt! Ich habe meine Brieftasche verloren, sie ist bestimmt gestohlen worden, sonst wäre sie auf ihrem Platz. Meine Tochter fand sie in einer Schublade. Jetzt haben sie mich bei einer Lüge ertappt, aber, ich bin keine Lügnerin... Ich muß einen Ausweg finden- aus der Schande- der Dieb war besonders raffiniert und hat die Brieftasche wieder zurück gebracht...“ (Andres, 1997, 37).

Mit zunehmenden Gedächtnisproblemen werden also irrationale und absurde Argumentationen eingebracht und das wachsende Gefühl der Unsicherheit und Selbstzweifel führen zu Verdächtigungen und Anschuldigungen. Unter dem Druck eines permanenten Überforderungsgefühls werden Beeinträchtigungen zu Krankheitsbeginn kompensiert, so dass die Alltagsbewältigung gesichert ist. Da Demenz sich durch ein Scheitern im Alltag definiert, ist es bezeichnend, dass dieser von den Erkrankten vereinfacht wird. In Kleidern schlafen und sich nur noch in einem Zimmer aufhalten, können u.a. Strategien der Alltagsvereinfachung sein. Becker deutet diese Bewältigungsversuche, diese Adaptionen an den Zustand nach Verlusten, als „unbewußte schamhafte Reaktionen..., denn dann war er ja auch immer richtig angezogen“ (2000, 23). Routinierte Abläufe werden mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung gut gemeistert, Neues stellt eine Bedrohung dar und wird vermieden. Später bereitet auch Altvertrautes Probleme und es kommt mit fortschreitender Krankheit zu einem Scheitern an den Anforderungen des Alltags. Verantwortungen, d.h. Aufgaben, werden mit den merkwürdigsten Argumenten abgegeben, um über Defizite hinweg täuschen zu können. Durch die Überforderung in der Alltagsbewältigung entsteht für Außenstehende der Eindruck scheinbarer Antriebsarmut oder eines Interessenverlustes. Durch diesen eingeschränkten Lebensstil werden überfordernde Tätigkeiten vermieden und Behinderungen verborgen.

„Frau F. sagte nur, daß sie einfach keine Lust mehr zum Stricken habe. Tatsächlich war es aber so, daß... sie sich über ihre Ungeschicklichkeit schämte“ (Mace, 1991, 56).

Soziale Kontakte werden eingeschränkt, um peinliche Situationen vermeiden zu können. Die verzweifelten „Selbstheilungsversuche“ führen zu einem sozialen Rückzug, was eine weitere Beschädigung des Selbstbildes zur Folge hat, denn gerade das Selbstbild wird durch soziale Beziehungen aufrecht erhalten, wir nehmen uns selber im Spiegel unserer sozialen Umgebung wahr.

„Da begrüßt sie jemand freudig auf der Straße, und sie hat den Namen vergessen und auch die genaue Beziehung zu dieser Person. Das löst Peinlichkeit aus. Als dieser Vorgang sich öfter wiederholt und häuft, beschließt meine Mutter in einer solchen Situation immer zu sagen: „Ach, guten Tag, aber ich bin sehr in Eile...“ (Fuhrmann, 2000, 26f.).

Durch die verminderte Merkfähigkeit und das eingeschränkte Denkvermögen, sowie auftretende Sprachstörungen (Aphasie) erlebt der Betroffene eine zunehmende Unfähigkeit an der Kommunikation in seiner Umgebung teilzunehmen.

„Wenn ich etwas gefragt werde, weiß ich es nicht. Früher habe ich alles gekonnt. Es ist nicht mehr so wie früher. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr denken“ (Furtmayr-Schuh, 1992, 84).

Beginnende Kommunikationsschwierigkeiten, verursacht durch den fortschreitenden Gehirnabbauprozess, erzeugen Frustration und isolieren den Erkrankten. Im späteren Verlauf der Erkrankung können Betroffene Sprache nicht mehr verstehen und sich nicht mehr äußern.

„Er versteht mich nicht so gut, und auch ich verstehe ihn nicht so gut“ (Furtmayr-Schuh, 1992, 85).

Trotz Anstrengungen führt die Alltagsbewältigung also aufgrund der fortschreitenden gestörten Denkfähigkeit und der Gedächtnisprobleme zu einer immer größer werdenden Überforderung.

„...da half dann auch kein Zettel mehr, weil er an den auch nicht mehr dachte“ (Marufke, 1995, 169).

Zgola beschreibt anhand der Tätigkeit „ein Bett machen“, welche geistige Leistungsfähigkeit erbracht werden muss, um diese alltäglichen Anforderung gewachsen zu sein (1989, 13f.) und auch Becker stellt recht anschaulich „nützliche Fähigkeiten beim Einkauf im Supermarkt“ (2000, 10f.) dar. Der Gedächtnisabbau (Informationsspeicherung und -abruf) und das beeinträchtigte Denkvermögen (Informationsverarbeitung) führen zu einem allgemeinen intellektuellen Leistungsabfall. Der Verlust an Selbstkontrolle betreffend der eigenen Lebensführung verursacht eine Kränkung des Selbstkonzepts, was „schmerzlich und beschämend“ erlebt wird (Furtmayr-Schuh, 1992, 84). Die Kompensation der kognitiven Veränderungen gelingt dem Erkrankten immer weniger und der misslungene Ausgleich lässt ihm seine Umgebung mächtig und überlegen erscheinen. Die für ihn unerklärbaren Gedächtnisverluste verursachen Angst vor Abhängigkeit und Bevormundung, somit reagiert der Betroffene bei Hinweisen auf Defizite mit Ablehnung und Gereiztheit, weil er sich in seiner Existenz bedroht fühlt. Die ablehnende Haltung als Folge des irritierten Selbsterlebens kann als „Coping- Muster“ (Becker, 2000, 7) betrachtet werden. Demenz lässt sich als ein Zustand charakterisieren, in dem ständig versucht wird die Auswirkungen der Erkrankung zu verbergen und die Selbstkontrolle zu bewahren.

„In dieser für sie einsamen, engen, kleinen, immer verwirrender werdenden Welt lebte nun meine Mutter. Sie erkannte noch, daß sie ohne Hilfestellung orientierungslos in allen Bereichen des Lebens wurde und setzte ihre ganze Kraft ein, diese Orientierungslosigkeit zu verbergen...“ (Fuhrmann, 2000, 27).

Erleben und Bewältigen einer Demenz bedeutet eine besondere Belastung für Erkrankte und deren Umfeld. Kitwood behauptet, dass „... nur eine sehr kleine Minderheit von Menschen in der Lage (ist) , dem Einsetzen einer Demenz ohne starke Abwehr ins Auge zu blicken, und wahrscheinlich erleben sie die Demenz auf relativ gutartige Weise“ (2000, 110f.). Ist die Diagnose „Demenz“ noch nicht gestellt, reagieren Angehörige oft mit Unverständnis auf die unvermeidlichen Fehlleistungen, die sie als Bösartigkeit, Unwillen, Trotz und Mangel an Motivation bewerten (vgl. Buijssen/Hirsch, 1997, 278). Bewältigungsversuche, die mit Verhaltensauffälligkeiten verbunden sind, werden häufig fehlinterpretiert. Die am häufigsten auftretenden Anpassungsversuche bestehen zusammenfassend in (nach BMFSFJ, 2002, 178):

Bagatellisieren,

Kompensieren,

Fassadenverhalten,

Vermeidungsstrategien und

Projektion auf die Umwelt.

3.3. Das Krankheitserleben der fortgeschrittenen Demenz

Neben dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, d.h. der Merkfähigkeit und des Denkvermögens kommt es im Krankheitsverlauf zunehmend zu Gedächtniseinbußen des Langzeitgedächtnisses. Um die Bedeutung der Erinnerung für die Identität zu verdeutlichen, wird noch einmal auf die verschiedenen Gedächtnisinhalte eingegangen. Das Langzeitgedächtnis besteht aus drei Gedächtnissystemen. Im prozeduralen Gedächtnis ist die Erinnerung für motorische Tätigkeiten und Fertigkeiten plaziert. Das semantische Gedächtnis speichert die Bedeutung von Worten und das episodische Gedächtnis beinhaltet autobiographische Informationen. Verbindet man die episodischen Gedächtnisinhalte mit Bewusstseinszuständen zeigt sich, dass dieses Gedächtnissystem für die Wahrnehmung der eigene Identität und das Selbstwertgefühls verantwortlich ist. Im biographischen Gedächtnis sind Personen und Ereignisse aus der Lebensgeschichte gespeichert und zwar mit einer emotionalen Bewertung. „Das episodische Gedächtnis steht im Zusammenhang mit dem... sich selbst erkennenden Bewußtsein. Es verleiht unseren Erinnerungen ihre einzigartige subjektive Färbung...“ (Zimbardo, 1992, 285). Durch den hirnorganischen Abbau fehlen dem Erkrankten zunehmend Informationen, der Betroffene verliert durch die zeitliche Verwirrtheit den „roten Faden“, Zusammenhänge reißen ab und die Kontinuität der Erfahrungen geht verloren. Die Fähigkeit zur Lebensgestaltung, Lebensrekonstruktion und Zukunftsplanung wird zunehmend schwieriger. Der Alzheimerkranke erlebt sein Dasein immer mehr als eine „verwirrende Folge von Filmschnipseln“ (Furtmayr- Schuh, 1992, 82).

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2003
ISBN (eBook)
9783832478667
ISBN (Paperback)
9783838678665
DOI
10.3239/9783832478667
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main – Soziale Arbeit und Gesundheit
Erscheinungsdatum
2004 (April)
Note
1
Schlagworte
demenz scham gedächtnis krankheit alzheimer
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Titel: Das Krankheitserleben dementiell veränderter älterer Menschen
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