Die Relevanz des Körpers in Beratung und Therapie psychisch traumatisierter Menschen
Zusammenfassung
Mit dieser Diplomarbeit möchte ich die Relevanz des menschlichen Körpers in der beratenden und therapeutischen Praxis mit psychisch traumatisierten Menschen untersuchen und deutlich machen. In meiner persönlichen Ausbildung sowie in meinem Studium der Sozialpädagogik habe ich viele Theorien und Hintergründe verschiedener psychosozialer Beratungstechniken und psychotherapeutischer Ansätze kennen gelernt, die mir als sehr sinnvoll und in der Praxis als sehr relevant erscheinen.
In Selbsterfahrungsprozessen mit Tanz, körperorientierten Visualisierungstechniken und im Studium tanz- und bewegungstherapeutischer Methoden ist mir aufgefallen, wie sinnvoll auch diese Methoden in der Anwendung, sowohl in der psychosozialen Beratung als auch in der psychotherapeutischen Praxis sein können. Doch bisher finden körperlicher Prozesse und Bedürfnisse in diesen Bereichen immer noch mangelnde Beachtung. Deshalb ist es mir wichtig zu untersuchen, welche Auswirkungen der Körper mit seinen somatischen Symptomen auf seelische Prozesse hat und wie mit Hilfe körperorientierter Verfahren psychisches Leid geheilt werden kann.
Das Thema Trauma und seine Entstehung, und wie es möglich ist, oder ob es überhaupt möglich ist, ein Trauma zu heilen, beschäftigen mich schon seit vielen Jahren. Im persönlichen Leben, in Selbsterfahrungsgruppen und fortlaufenden Weiterbildungen in körpertherapeutischen Methoden bin ich immer wieder mit Traumatisierungen konfrontiert worden. Ich machte die Erfahrung, dass besonders die Themen sexueller Missbrauch und andere Formen sexualisierter Gewalt mit in die Auseinandersetzung von therapeutischen Methoden gehören, genauso wie sie die Dynamik der Gruppen, die sich für Ausbildungen und/oder Fort- und Weiterbildungen im therapeutischen und beratenden Bereich bilden, beeinflussen.
Die Komplexität der psychologischen, körperlichen und sozialen Zusammenhänge wurde immer deutlicher und veranlassten mich dazu, mir ein umfassendes Verständnis der verschiedenen Ebenen zu verschaffen. Besonders in meiner Arbeit als Masseurin mache ich die Erfahrung, dass sich durch die Körperarbeit auch psychische Blockaden lösen können, so dass für mich die Rolle des Körpers als Container für psychische, geistige und somatische Erlebnisse mit ihren Auswirkungen nur zu deutlich ist. Ich machte die Erfahrung, dass Menschen manchmal heftige kathartische Gefühlszustände in der Behandlung erlebten, ohne einen Zusammenhang zu ihrer […]
Leseprobe
Einleitung
Mit dieser Diplomarbeit möchte ich die Relevanz des menschlichen Körpers in der beratenden und therapeutischen Praxis mit psychisch traumatisierten Menschen untersuchen und deutlich machen.
In meiner persönlichen Ausbildung sowie in meinem Studium der Sozialpädagogik habe ich viele Theorien und Hintergründe verschiedener psychosozialer Beratungstechniken und psychotherapeutischer Ansätze kennengelernt, die mir als sehr sinnvoll und in der Praxis als sehr relevant erscheinen. In Selbsterfahrungsprozessen mit Tanz, körperorientierten Visualisierungstechniken und im Studium tanz- und bewegungstherapeutischer Methoden ist mir aufgefallen, wie sinnvoll auch diese Methoden in der Anwendung, sowohl in der psychosozialen Beratung als auch in der psychotherapeutischen Praxis sein können. Doch bisher finden körperlicher Prozesse und Bedürfnisse in diesen Bereichen immer noch mangelnde Beachtung. Deshalb ist es mir wichtig zu untersuchen, welche Auswirkungen der Körper mit seinen somatischen Symptomen auf seelische Prozesse hat und wie mit Hilfe körperorientierter Verfahren psychisches Leid geheilt werden kann.
Das Thema Trauma und seine Entstehung, und wie es möglich ist, oder ob es überhaupt möglich ist, ein Trauma zu heilen, beschäftigen mich schon seit vielen Jahren. Im persönlichen Leben, in Selbsterfahrungsgruppen und fortlaufenden Weiterbildungen in körpertherapeutischen Methoden bin ich immer wieder mit Traumatisierungen konfrontiert worden. Ich machte die Erfahrung, dass besonders die Themen sexueller Missbrauch und andere Formen sexualisierter Gewalt mit in die Auseinandersetzung von therapeutischen Methoden gehören, genauso wie sie die Dynamik der Gruppen, die sich für Ausbildungen und/oder Fort- und Weiterbildungen im therapeutischen und beratenden Bereich bilden, beeinflussen.
Die Komplexität der psychologischen, körperlichen und sozialen Zusammenhänge wurde immer deutlicher und veranlassten mich dazu, mir ein umfassendes Verständnis der verschiedenen Ebenen zu verschaffen. Besonders in meiner Arbeit als Masseurin mache ich die Erfahrung, dass sich durch die Körperarbeit auch psychische Blockaden lösen können, so dass für mich die Rolle des Körpers als Container für psychische, geistige und somatische Erlebnisse mit ihren Auswirkungen nur zu deutlich ist. Ich machte die Erfahrung, dass Menschen manchmal heftige kathartische Gefühlszustände in der Behandlung erlebten, ohne einen Zusammenhang zu ihrer Vergangenheit herstellen oder das Erleben verbalisieren zu können. Andererseits kam es auch vor, dass sie plötzlich nicht mehr präsent schienen, wie wenn sie sich von ihrem gefühlsmäßigen Erleben abgeschnitten hätten. Daher ist es für mich von besonderen Interesse, mich als Körpertherapeutin wie Sozialpädagogin, mit dem sehr komplexen Thema der Traumaarbeit und ihren Störungs- und Heilungskonzepten auseinander zusetzen und die Relevanz des Körpers für Heilungsprozesse zu untersuchen und darzustellen.
In den ersten Kapiteln der Diplomarbeit werden neben der Geschichte der Psychotraumatologie relevante Konzepte der psychologischen Fachliteratur vorgestellt. Diese beleuchten die Ursachen, Folgen und häufig auftretende Symptome von psychischen Traumatisierungen, sowie den Stressorfaktoren, die zu einer Traumatisierung und einem posttraumatischen Belastungssyndrom führen. Dies wird ergänzt durch die neurobiologischen Zusammenhänge und psychophysiologischen Auswirkungen von Traumatisierungen.
Im Folgenden werden Traumatisierungen durch sexualisierte Gewalt mit ihren Auswirkungen und möglichen Folgeerscheinungen ausführlich geschildert, um dann auch die psychosomatischen Folgen und das Körperbild der gewaltbetroffenen Frauen näher zu erklären.
Zusammen mit den Phasen der Traumatherapie werden verschiedene verhaltenstherapeutische und psychoanalytische Ansätze in der Behandlung psychischer Traumatisierungen beschrieben, sowie das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) und die imaginative traumazentrierte Psychotherapie vorgestellt.
In Kapitel 9 werden die Imagination und andere Stabilisierungsverfahren als ein wesentlicher Teil der Traumatherapie herausgearbeitet. Im folgenden Kapitel stelle ich einen weiteren körperorientierten Ansatz von Peter A. Levine vor, der die Fähigkeit beschreibt, traumatische Erfahrungen zu transformieren.
Über die Transformierung von Traumata wird übergeleitet zur Spiritualität, die sich als ein wesentlicher und heilsamer Erfahrungsschatz in der Arbeit mit traumatisierten Menschen erweist.
Anschließend wird die beratende und therapeutische Beziehung als ein grundlegender und wichtiger Aspekt in der Behandlung aufgezeigt. Auch hier wird die Relevanz des Körpers als Körperresonanz in der beratenden und therapeutischen Beziehung behandelt.
Aus diesen Untersuchungen ergeben sich neue Gedanken und Perspektiven für die sozialpädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen, die ich vor den Schlussbemerkungen ausführe.
Die folgende Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Traumatisierungen durch sexualisierte Gewalt. Im Rahmen meines Studiums konnte ich durch meine Praktika berufliche und persönliche Erfahrungen in einer Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten, sowie in einer Beratungsstelle für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen und Mädchen in Berlin, sammeln.
Anzumerken ist hier, dass sich in der Fachliteratur der Begriff des »sexuellen Missbrauchs« eingebürgert hat, der jedoch impliziert, dass es so etwas wie einen legitimen Gebrauch von Kindern oder Frauen gibt. Deutlicher ist deshalb der Begriff der »sexuellen Ausbeutung«, da er die Komponenten der Macht und den Moment der Unterdrückung beinhaltet. In dieser Arbeit werden beide Begriffe synonym benutzt. Genauso werde ich den Begriff des ´Opfers´ vermeiden, um einer Stigmatisierung entgegen zu wirken und statt dessen die Begriffe ´Betroffene´ bzw. ´Überlebende´ sexualisierter Gewalterfahrungen oder ´traumatisierte Menschen´ benutzen. Außerdem werde ich mich hauptsächlich auf Frauen beziehen, da sie durch sexualisierte Gewalt in stärkerem Maße betroffen sind und auch von Frauen beraten werden oder zu Frauen in Psychotherapie gehen.
1. Geschichte der Psychotraumatologie
Die Menschen wussten schon immer, dass die Konfrontation mit überwältigenden und schreckeneinflößenden Situationen zu störenden, immer wiederkehrenden Erinnerungen und Erregungszuständen oder Vermeidungsstrategien führen können.
Die Schilderungen von Kriegen und anderen traumatischen Erfahrungen durchzieht die klassische Literatur, angefangen bei Homer in der Geschichte „Ilias“ bis zu Charles Dickens Roman „Oliver Twist“.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Trauma beginnt, besonders für die Anhänger der Psychoanalyse, im Jahre 1896, als Sigmund Freud ( 1856 – 1939 ) seine Abhandlung Zur Ätiologie der Hysterie veröffentlichte.
Doch genau genommen wurde die Hysterie von Jean Martin Charcot (1825 – 1893 ) erforscht, einem Lehrer von Freud. Der renommierte Neurologe und Psychiater behandelte im Pariser Krankenhaus Salpetière Bettler, Prostituierte und Geisteskranke.
Charcot bewies, dass die Symptome von Hysterikerinnen psychisch bedingt sind (Herman 1993, S.22). Er stellte fest, dass beobachtbare Symptome überwiegend bei Frauen, die Epilepsie gleiche Anfälle hatten und die bei ihnen im Innern etwas gelöst zu haben schienen, durch Hypnose ausgelöst und auch vermindert oder geheilt werden konnten.
Er konzentrierte sich hauptsächlich auf die Symptome der Hysterie, die sich wie neurologische Störungen äußerten: motorische Lähmungen, sensorische Ausfälle, Krampfanfälle und Amnesien, doch das Innenleben seiner Patientinnen interessierte ihn weniger. Geäußerte Gefühle waren für ihn »Vokalisationen«, die kategorisiert wurden.
Charcot ging davon aus, dass die Hysterie durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen werden kann. Zwei Schüler von Charcot haben hier weiter geforscht. Zum einen Pierre Janet (1859 – 1947), der die Meinung vertrat, dass schwere seelische Störungen, Symptome seien, die durch Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch oder andere schwere Traumata ausgelöst wurden. Schon damals beschrieb er Zustände der Dissoziation und der posttraumatischen Belastungsstörung in gleicher Weise, wie sie heute diskutiert werden. Zu seiner Zeit lief er jedoch mit seinen Beobachtungen ins Leere. Erst vor etwa fünfzehn Jahren wurden seine Arbeiten von der Gruppe um Onno van der Hart, Bessel van der Kolk und Judith Herman wieder entdeckt. (Sachsse 2002, S.480)
Der andere Schüler Charcots war Sigmund Freud. Anschließend an sein Praktikum in Paris bei Charcot arbeitete er in Wien mit Josef Breuer (1842 – 1925) zusammen. Beide tauschten sich über ihre Arbeit mit ihren Patientinnen aus und wendeten die Hypnosetechnik von Charcot an. Sie machten die Erfahrung, dass die Hypnose allein nicht ausreichend war, um ihren Patientinnen Erleichterung zu verschaffen und kamen so zu dem Schluss, dass auch Gespräche, in denen eine »Abreaktion« oder »Katharsis« von seelischen Spannungen stattfinden konnte, therapeutisch wirksam war. Das war der Anfang für die »psychologische Analyse«, von Freud dann später die »Psychoanalyse« genannt.
Diese Männer begannen mit den Frauen zu sprechen. „Ein kurzes Jahrzehnt lang lauschten Männer der Wissenschaft mit vorher wie später unbekannter Hingabe und Respekt auf das, was Frauen zu sagen hatten“ (Herman 1993, S.23). Oft stundenlange Zusammenkünfte mit Patientinnen trugen bei den Kollegen Janet, Freud, sowie Breuer Früchte. Sie kamen zu dem Schluss, dass Hysterie ein Zustand ist, der durch schwere seelische Störungen verursacht wird. Gefühlsreaktionen auf diese traumatischen Ereignisse verursachen Bewusstseinsveränderungen, die wiederum hysterische Symptome hervorrufen.
Freud ging in seiner Arbeit so vor, dass er seine Patientinnen in Hypnose versetzte und sie von ihren Erlebnissen berichten ließ. Auf diesem Wege stellte er fest, dass jeder hysterischen Symptombildung anscheinend eine Erfahrung sexualisierter Gewalt in Kindheit oder Jugend voranging. Das beschrieb und belegte er dann in seinem Fachvortrag Zur Ätiologie der Hysterie mit achtzehn Fallstudien. Der wurde jedoch in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutiert und seine Publikation führte sogar dazu, dass Freud selbst in Fachkreisen ausgegrenzt wurde. Zwei Jahre später veröffentlichte er einen neuen Aufsatz: Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen , was heute als sogenannter »Widerruf« bezeichnet wird. Hierin distanziert er sich von seinen früheren Behauptungen und vertritt nun die Meinung, die Hysterie hätte ihren Ursprung eher in sexuell gefärbten Phantasien seiner Patienten, als dass sie auf realen Ereignissen beruhten.
Somit war nicht mehr das Trauma relevant, sondern die gegenwärtigen Phantasien waren diejenigen, „die in innerpsychischen Prozessen zu einem Trauma geformt werden konnten“. (Sachsse 2002, S.481)
Auch noch viele Jahre später waren andere Psychoanalytiker der Meinung, dass Traumata weniger wichtig sind als Phantasien, so dass Traumatisierungen, von denen Patientinnen berichteten, als Phantasien behandelt wurden. Sexualisierte Gewalt, sogenannter sexueller Missbrauch, wurde als Ausdruck »ödipaler Phantasien« angesehen.
Aus diesen Überbleibseln seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie entwickelte Freud die Psychoanalyse . Zwar setzte er sich weiter mit der Sexualität und ihrer psychologischen Relevanz auseinander, doch blieb das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen stattfanden, im Dunkeln.
Auch in der Wissenschaft spielte das Thema Trauma, besonders in Bezug auf sexualisierte Gewalt in der Kindheit bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhundert keine große Rolle.
Es gab noch einen weiteren Bereich, in dem es notwendig wurde, sich mit dem Thema Traumatisierung auseinanderzusetzen. So kam es schon im 19. Jahrhundert dazu, dass sich Menschen nach Verkehrsunfällen, Eisenbahnunglücken oder Arbeitsunfällen an Maschinen über psychische sowie physische Schäden beklagten, wie z.B. unvermitteltes Zittern, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen etc.. Erklärt wurden diese Symptome mit der Irritation der Wirbelsäule und des Rückenmarks, zu der es bei den Verletzungen kam, d.h. durch die Somatogenese, bei der organische Ursachen die seelischen Leiden verursachen. Der Aspekt der Somatogenese ist bis heute ein aktuelles Thema in der Psychotraumatologie.
Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern, stellten die Hypothese auf, dass das Wesentliche am Trauma der Schock und der Schreck seien, also nicht die Verletzungen an der Wirbelsäule, sondern die Irritationen im Gehirn. Als erster vertrat diese These der Forscher Hermann Oppenheim (1858 – 1919), der 1889 schrieb: „ Aus den körperlichen Veränderungen heraus entwickeln sich seelische Symptome“. Diese seien zwar seelischer Natur, in ihrem Hintergrund gebe es jedoch eine körperliche Verursachung (Sachsse 2002, S.483).
Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass es auch noch eine dritte Gruppe gab, die traumatisierte Menschen als Versicherungsbetrüger und Simulanten hinstellte, die nach einem Arbeitsunfall oder einem Eisenbahnunglück gar nicht wirklich krank seien und es eher auf das Geld von der Versicherung oder der Rente abgesehen haben, weil sie nicht mehr arbeiten wollten (Sachsse 2002, S.483).
Diese drei Hypothesen, die der Somatogenese, der Psychogenese und der Simulation, werden bis heute in der wissenschaftlichen Erforschung des Trauma diskutiert. Die psychogenetische Sichtweise stand der Somatogenese, bei der körperliche Prozesse an seelischen Symptombildungen beteiligt sind, lange Zeit gegenüber. Durch aktuelle Forschungen und Untersuchungen in der Neurobiologie und der Psychophysiologie gibt es jedoch in der Gegenwart zunehmend wieder eine Annäherung und die Erkenntnis, dass beide Ansätze nicht von einander getrennt werden können.
Die Entwicklung der Psychoanalyse, zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit der Erforschung der Hysterie der Frauen als deren archetypische, psychische Störung, kann als die erste Phase in der wissenschaftlichen Geschichte der Traumatologie bezeichnet werden.
Anzufügen ist, dass die Erforschung des Phänomens der Hysterie auch von politischen und gesellschaftlichen Strömungen beeinflusst war. Zum Ende des 19. Jahrhunderts ging es in Frankreich darum, endlich die Demokratie zu etablieren und zu stärken. So galt es, sich mit der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Ideen gegen den Klerus und die Aristokratie durchzusetzen. Dafür nutzte Charcot seine Forschungen. Er gab die sogenannten »Dienstagsvorlesungen«, an denen Schauspieler, Politiker, Studenten und Wissenschaftler teilnahmen. Doch die Vorführung der Symptome von hysterischen Frauen entpuppten sich als politisches Theater. Auch wenn die Wissenschaftler sich als Retter rühmten und meinten die Frauen durch ihre Forschungen aus ihrer Unterdrückung und Erniedrigung herauszuholen, ging es jedoch nie um die gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau.
Der erste Weltkrieg als historisches und erschütterndes Ereignis, läutete die zweite wichtige Phase in der Diskussion von Traumatisierungen ein. Ein großes Thema zu dieser Zeit war die »Schützengraben- bzw. Kriegsneurose«. Bei den Soldaten trat eine Symptomatik auf, die so in dieser Form noch nicht beobachtet worden war. Frontsoldaten verfielen plötzlich in unkontrolliertes Zittern. Die Hypothese lag nah, dass es somatogen durch den Granatenschock bedingt war, denn in den Schützengräben kam es während der Explosionen zu starken Erschütterungen, die sich auf die Wirbelsäule schädigend auswirkten. In dieser Zeit wurde jedoch ebenfalls die Meinung vertreten, die sogenannten `Kriegszitterern´ seien Vaterlandverräter und Drückeberger, die sich dem Kampf entziehen wollten.
Heute weiß man, dass die Situation der Soldaten in den Schützengräben hochgradig traumatisierend war. Sie hatten keine Wahl, egal ob sie handeln wollten oder nicht, sie mussten den strategischen Plänen folgen, waren hilflos in den Schützengräben eingeschlossen und mussten mit ansehen, wie ihre Kameraden starben.
Es gab verschiedene Therapeuten in Europa und den USA, die sich mit den traumatisierten Soldaten beschäftigten und mit ihnen im Sinne der Psychoanalyse Gespräche durchführten. So entwickelte Erich Simmel in Berlin ein psychoanalytisches Modell für eine stationäre Psychotherapie (Sachsse 2002, S.484). In den Vereinigten Staaten öffnete der Psychiater Abraham Kardiner, ein Schüler Freuds, eine Praxis für Psychotherapie in New York. Er musste aber feststellen, dass er den Soldaten kaum helfen konnte. Aus den Forschungen und Behandlungen ging allerdings klar hervor, dass Soldaten, die ständig großer Gefahr ausgesetzt waren, eine extreme emotionale Abhängigkeit von Kampfgefährten und Vorgesetzten entwickelten.
Im zweiten Weltkrieg wurde dann eine neue Militärpsychiatrie praktiziert, indem erkrankte Soldaten möglichst nur kurz von ihren Kameraden getrennt wurden. Kurze Therapien wurden bevorzugt und wegen ihrer kathartischen Wirkung wurde auch wieder mit Hypnose gearbeitet (Herman 1993, S.38ff ).
Nach dem zweiten Weltkrieg und der Beendigung des Holocaust haben jüdische Vereinigungen die Traumaforschung stark vorangetrieben. Sie wollten verhindern, dass die Folgen des Holocaust und dessen Opfer in Vergessenheit gerieten.
Im Zusammenhang mit Entschädigungsgesetzen mussten Definitionen erstellt werden. Es wurde die Frage diskutiert, inwieweit akute Belastungssituationen zu posttraumatischen Zuständen führen können. Damals ging man davon aus, dass die posttraumatischen Symptome drei bis sechs Monate andauern und sich dann auch wieder legen können. Es wurde weiter postuliert, dass wenn eine Störung länger anhält, davon ausgegangen werden muss, dass schon eine neurotische Disposition vorgelegen hat. Oft wurde die Meinung vertreten, dass ein gesunder Mensch einfach alles verkraften kann (Sachsse 2002, S.485). Doch in den sechziger Jahren gab es weiter regen Austausch zwischen verschiedenen Gruppen von Forschern, die bald klar erkannten, dass es Extremtraumatisierungen gibt, denen die Wenigsten gewachsen sind und es somit zu schweren seelischen Belastungssymptomen kommen muss.
Während des Vietnamkrieges und der Entstehung der Antikriegsbewegung erreichte in den USA die Traumaforschung ihren Höhepunkt. „Nach dem Vietnamkrieg waren in den Vereinigten Staaten bis zu einer Million Veteranen von posttraumatischen Störungen betroffen“. (Sachsse 2002, S.486)
Ein weiteres wichtiges Traumathema haben die Frauenbewegungen in Westeuropa und den USA erst vor relativ kurzer Zeit ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt: sexuelle und innerfamiliäre Gewalt.
Wenn Frauen noch um die Jahrhundertwende in den Behandlungszimmern über ihre traumatischen Erfahrungen gesprochen haben und nicht wirklich ernst genommen wurden, so konnten sie jetzt in geschützten Räumen der Frauengruppen über ihre Vergewaltigungen sprechen und sie fanden Glauben. Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts begannen feministische Frauen, Forschungsinstitute zu gründen, die sich speziell mit sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen befassten. Anders als in früheren Arbeiten floss jetzt persönlicher, emotionaler Kontakt mit in die Untersuchungsergebnisse ein (Herman 1993, S.47). Die Untersuchungen bestätigten, dass sexuelle Übergriffe auf Frauen und Kinder erschreckend häufig vorkamen. Aus dieser Bewegung heraus wurden zahlreiche Projekte für Frauen und Kinder aufgebaut. Damit wurde ein Tabu der patriarchalen Gesellschaft gebrochen, wodurch die Bearbeitung des Traumas für die Einzelnen überhaupt erst möglich wurde.
Die Frauenbewegung brachte diese Themen in die Öffentlichkeit und musste allerdings erst einmal klarstellen, dass jede Vergewaltigung eine Gewalttat ist und dass sich die Behandlung der Betroffenen verändern muss. So entstanden zahlreiche Zentren und Selbsthilfeeinrichtungen, die den Überlebenden von Vergewaltigungen praktische, juristische, emotionale und psychologische Unterstützung anboten. Es wurden auch Untersuchungen zu den psychologischen Folgen von Vergewaltigungen angestellt. Diese zeigten, dass die Symptome denen ähnelten, die auch bei den Kriegsveteranen beobachtet worden waren. Von der Frauenbewegung wurden zusätzlich Hilfezentren für Betroffene von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch eingerichtet, die außerhalb der traditionellen psychiatrischen Kliniken entstanden. Sie hatten bedeutenden Einfluss auf Diskussionen über strukturelle Gewalt gegen Frauen und Kinder und sie beteiligten sich an der Formulierung des Konzeptes der »posttraumatischen Belastungsstörung», PTBS.
In der Betrachtung der Geschichte der Psychotraumatologie wird deutlich, wie sehr politische und soziale Bewegungen die Erforschung psychischer Traumata vorangetrieben haben und ohne diese wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen wären. Diese Auseinandersetzung mit psychischen Traumatisierungen hat das Verständnis der menschlichen Psyche in einem beträchtlichen Umfang erweitert.
Es zeigt sich jedoch auch, dass die eindeutigen somatischen Symptome, die mit Traumatisierungen verbunden sind, bis in die Gegenwart hinein nur getrennt von der Psyche betrachtet wurden, oder die psychischen Symptome getrennt von den somatischen Beschwerden gesehen wurden.
2. Was ist ein psychisches Trauma?
Ein psychisches Trauma kann als seelische Verletzung verstanden werden, wenn man weiß, dass das Wort Trauma aus dem griechischen kommt und Wunde, Verletzung bedeutet.
Eine Traumatisierung findet dann statt, wenn man sich völlig hilflos und ohnmächtig einer bedrohlichen Situation ausgeliefert fühlt und die natürlichen Reaktionen der Kampf oder Fluchtbereitschaft nicht mehr möglich sind (Reddemann, Sachsse 1997, S.115). Ist diese Macht eine Naturgewalt wird von einer Katastrophe gesprochen, wird die Gewalt durch Menschen ausgeübt, spricht man von einer Gewalttat. (vgl. Herman, 1993, S.53)
So wie der menschliche Organismus in seinem Abwehrsystem und in seiner Widerstandskraft überfordert werden kann, so können extreme Belastungen auch seelische Störungen hervorrufen.
Ein Trauma wird von stresserzeugenden Ereignissen ausgelöst, mit denen der Organismus völlig überfordert ist und solche Erfahrungen liegen oft außerhalb der möglichen Bewältigungsstrategien des Menschen. Sie werden als lebensbedrohliche Ereignisse wahrgenommen, die das eigene Leben und Integrität komplett verunsichern.
Um ein Trauma zu erfassen, müssen die Symptome, die es hervorruft genau erkannt werden. Für die Heilung kommt es weniger auf die präzise, intellektuelle Definition eines Traumas an, als vielmehr auf das Wissen, wie sich ein Trauma anfühlt.
Psychische Traumatisierungen sind immer mit Gefühlen »intensiver Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und drohender Vernichtung« verbunden ( Herman, 1993, S.54).
Im Vergleich der psychischen Traumatisierung mit dem psychischen Stress, beinhaltet die Reaktion auf Stress homöostatische Mechanismen, die zu selbsterhaltenden Maßnahmen und zur Umverteilung von Ressourcen führen. Dagegen kommt es bei einer Traumatisierung und der posttraumatischen Belastungsstörung zu einer Reihe von ineinandergreifenden pathogenen Prozessen und Symptomen.
1980 wurde die psychische Traumatisierung, die bis dahin keinerlei wissenschaftliche Kategorisierung bekommen hatte, erstmals als »posttraumatische Belastungsstörung« im Diagnosehandbuch der American Psychiatric Association aufgenommen und als »außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung« liegend definiert. Diese Definition kann jedoch auch kritisch betrachtet werden, wenn man bedenkt, dass Vergewaltigung, Misshandlungen und andere Formen familiärer Gewalt für viele Frauen und Kinder zu ihrem Alltag gehören und somit schon nicht mehr `außerhalb´ der menschlichen Erfahrung liegend, wahrgenommen wird.
Es bedarf einer komplexen Herangehensweise ein Trauma zu definieren, da es relativ zu sehen ist, was für einen Menschen ein außergewöhnlich belastendes Ereignis ist.
2.1 Ursachen für Traumata
Ursachen und auslösende Ereignisse für Traumata sind nach Peter A. Levine (1998, S.63):
- Fötaltrauma ( Intrauterintrauma )
- Geburtstrauma
- Verlust eines Elternteils oder eines nahestehenden Familienmitglieds
- Krankheiten, hohes Fieber, unabsichtliche Vergiftungen
- körperliche Verletzungen, einschließlich Stürzen und Unfällen
- sexueller und emotionaler Missbrauch, körperliche Misshandlungen einschließlich schwerwiegende Verlassenheitserlebnisse und körperlicher Züchtigungen
- Miterleben von Gewalttätigkeiten
- Naturkatastrophen wie Erdbeben, Feuer und Überschwemmungen
- bestimmte medizinische Behandlungen und Untersuchungen
- chirurgische Eingriffe, insbesondere Mandeloperationen unter Ätherbetäubung; Operationen an den Ohren
- Anästhesien
- längere zwangsweise Ruhigstellung (Verformung und Schienung der Beine oder des Rumpfes bei kleinen Kindern aus verschiedensten Gründen )
Dass Operationen als traumatisch empfunden werden, überrascht viele Menschen. Auch wenn der medizinische Eingriff von dem Menschen rational als notwendig verstanden wird, können die körperlichen Ereignisse jedoch als lebensbedrohlich empfunden werden. Auf der zellulären Ebene nimmt der Körper wahr, dass ihm eine Wunde zugefügt wurde, die so groß ist, dass sie ihn in Todesgefahr bringen kann. Die instinktive Wahrnehmung des Nervenssystems und dessen Störung ist eine der Hauptursachen für die Entstehung von posttraumatischen Symptomen, worauf in den folgenden Kapiteln ausführlich eingegangen werden soll.
Am häufigsten entstehen Traumata durch körperliche Gewalt oder durch Gewaltandrohungen, schwere Unfälle sowie das Zeuge sein von Unfällen oder Gewalt.
Am häufigsten tritt PTBS auf bei Vergewaltigungen (im engen Sinne definiert, d.h. ohne sexuelle Belästigung), Kriegsteilnahme, bei Misshandlungen und sexuellem Missbrauch in der Kindheit (Maercker 2003, S.15).
3. Folgen und Symptome von psychischen Traumatisierungen
Die Folgen eines Traumas sind je nach Alter des Betroffenen, der Art des Traumas und der darauf folgenden Reaktion sehr unterschiedlich. Sie hängen auch davon ab, welche Unterstützung dem Betroffenen im Nachhinein zu Verfügung steht.
Die Reaktion des Organismus auf ein bedrohliches Ereignis ist für die Folgen und Symptome wichtiger, als das ursächliche Ereignis selbst.
In einem Zustand der Bedrohung entstehen im Organismus Wahrnehmungsveränderungen. Selbsterhaltungskräfte wie Hunger, Müdigkeit oder Schmerz werden ausgeblendet, Angst und Wut werden mobilisiert. Mit diesen Veränderungen von Empfindungen, stellt sich der Betroffene auf Kampf oder Flucht ein.
Eine Traumatisierung findet dann statt, wenn ein Mensch einer Situation hilflos ausgeliefert ist und die freigesetzten Energien nicht eingesetzt werden können. Die erhöhte Alarmbereitschaft und Erregung bleibt im Körper bestehen und kann sich nicht entladen. Dieser Energiestau, bewirkt durch traumatische Erlebnisse, führt zu langfristigen Veränderungen der physiologischen Erregung und beeinflusst Gefühle, Wahrnehmung und Gedächtnis (Herman 1993, S.53). Die Symptome sind für den Traumatisierten unkontrollierbar. Oft empfinden sie intensive Gefühle, können sich aber nicht an das Ereignis erinnern, das diese ausgelöst hat oder sie erinnern sich detailliert an das Ereignis, empfinden jedoch nichts dabei. Der Selbstschutzmechanismus, der Gedächtnis, Wissen und Gefühl verbindet, funktioniert als Folge der traumatischen Erfahrung nicht mehr und lässt den Betroffenen die traumatischen Erfahrungen vom übrigen Bewusstsein trennen. Dieses Symptom wurde schon vor hundert Jahren von Janet als »Dissoziation« bezeichnet, die er als wesentliches pathologisches Element der »Hysterie« definierte. Es gilt auch heute noch als Hauptsymptom der PTBS. (Herman 1993, S.55)
3.1 Häufig auftretende Symptome
Die zahlreichen Symptome der posttraumatischen Störungen, die in jeweils unterschiedlichem Maße auftreten, lassen sich in vier Hauptkategorien einteilen:
1. starke Erregung ( hyperarousal )
2. Dissoziation
3. Intrusion ( Flashback und Wiedererleben)
4. Konstriktion ( Immobilität )
1. Starke Erregung ( hyperarousal )
Patienten mit posttraumatischen Störungen leiden unter Symptomen wie Beschleunigung der Herz- und Atemfrequenz, Hypervigilanz, Nervosität, Schlafstörungen, Angespanntheit, Zittern, Fahrigkeit, Gedankenrasen und manchmal Angstanfällen. Ein normales Grundniveau von wacher und entspannter Aufmerksamkeit fehlt und wird bei ihnen auf einen Zustand starker Erregung erhöht. Der Körper ist immer auf eine Gefahr vorbereitet und in Alarmbereitschaft. Oft sind die Betroffenen extrem schreckhaft und reagieren besonders stark auf unerwartete und spezifische Reize, die mit der Traumatisierung in Zusammenhang stehen. Durch die erhöhte Erregung im Wach-, sowie auch im Schlafzustand, leiden die Betroffenen unter schweren Schlafstörungen, wachen nachts öfters auf und sind sehr lärmempfindlich. Dies alles entsteht durch die physiologischen Auswirkungen der Traumatisierung auf das Nervensystems.
Peter Levine (1998) erklärt das Phänomen folgendermaßen:
Im Moment der traumatischen Situation mobilisiert der Körper seine Energieressourcen, um sich gegen eine potentielle Bedrohung zur Wehr setzten zu können. Wenn es ums nackte Überleben geht, wird enorm viel Energie mobilisiert. Diese Energie muss auch wieder neutralisiert werden, aber es ist nicht leicht, dies auch tatsächlich zu tun, denn auch dieser instinktive Prozess unterliegt nicht der bewussten Kontrolle der Betroffenen.
Traumatisierte Menschen haben oft ein tiefes Misstrauen gegenüber diesem Erregungszyklus, denn der Erregungszustand ist an die Erstarrung durch Angst gekoppelt. Um nicht mit dieser Angst konfrontiert zu werden, vermeiden es traumatisierte Menschen, den Erregungszyklus so zu einem Ende zu bringen, bis er sich entladen hat. Es entsteht ein Teufelskreis der Angst (s.a. Kapitel 4). Peter Levine (1998) beschreibt in seinem Buch „Trauma-Heilung“, wie wichtig es ist zu lernen, dem Erregungszyklus zu vertrauen und ihn zu zulassen.
In späteren Abschnitten wird auf die therapeutischen Methoden Levines (1998) näher eingegangen, um die Relevanz körperlicher Verfahren in der Arbeit mit traumatisierten Menschen hervorzuheben.
2. Dissoziation
Die Dissoziation besteht in einer teilweisen oder vollständigen Abspaltung von Aspekten des traumatischen Ereignisses und bedeutet somit eine Spaltung des Bewusstseins( Rothschild 2002, S.102).
Das Opfer eines traumatischen Ereignisses kann Elemente dieser Erfahrung abspalten und dadurch die belastende Wirkung des Vorfalls verringern.
Dissoziation scheint so eine wichtige Möglichkeit zu sein, eine traumatische Situation, ausgeliefert in völliger Hilflosigkeit und Ohnmacht, ohne Möglichkeit zu Kampf oder Flucht, auszuhalten und zu überleben.
In ihrer schwächsten Form manifestiert sie sich als eine Art Benommenheit. Beispiele aus dem Alltag sind etwa Tagträume oder das Fahren auf der Autobahn per `geistigem Autopiloten´.
Ihre stärkste Manifestation ist das Syndrom der sogenannten multiplen Persönlichkeit, bei der bestimmte Persönlichkeitsanteile völlig abgespalten werden und getrennt von einander ausgelebt werden.
Bei der Dissoziation ist die Wahrnehmung des eigenen inneren Empfindens gestört und fast immer ist dieser Zustand mit Verzerrungen des Zeitgefühls und der Wahrnehmung verbunden.
Das Lexikon der Psychologie definiert diesen Zustand als einen „Prozess, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen oder andere psychologische Aktivitäten ihre normale Relation zu anderen, beziehungsweise zur übrigen Person verlieren, sich abspalten und mehr oder minder unabhängig funktionieren. So können logisch unvereinbarte Gedanken, Gefühle und Einstellungen nebeneinander beibehalten und ein Konflikt zwischen diesen beiden vermieden werden.“
Eine dissoziative Amnesie sind Erinnerungslücken in Bezug auf bestimmte Ereignisse, Teilaspekte davon oder andere wichtige Informationen, die durch medizinische Faktoren nicht zu erklären sind.
Zwei Unterformen von Dissoziationen kommen zur Bewältigung einer traumatisierenden Erfahrung häufig vor:
Die Derealisation – der Betroffene verlässt geistig die unerträgliche Situation, und versetzt sich in eine andere Realität.
Bei der Depersonalisation steigen Betroffene aus ihrem Körpererleben aus, stehen wie neben sich oder betrachten sich die Szene von oben herab, um so wenig wie möglich selber zu durchleben.
Diese Formen der Dissoziation können als Schutz-, und Abwehrmechanismus verstanden werden, wenn eine Situation die normalen Bewältigungsstrategien übersteigt. So berichten Frauen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, von der Vorstellung, die Szenerie von außerhalb ihres Körpers wahrgenommen zu haben und Mitleid für `die Frau´ empfunden zu haben, der das zu passieren schien ( Classen, Koopman& Spiegel, 1993, in Butollo, 1999,46).
Die Dissoziation tritt folglich in verschiedenen Formen auf, bei denen es immer zu einer grundlegenden Trennung von Aspekten der Person kommt: entweder in Form einer Spaltung von Bewusstsein und Körper, einem Teil des Körpers und dem restlichen Körper, dem Ich und den Emotionen, Empfindungen und Gedanken oder in der Spaltung des Ich von der Erinnerung an einen Teil des Ereignisses oder ein Ereignis als Ganzes.
Dabei bleibt ungeklärt ob Körper und Psyche durch die Dissoziation versuchen, die Wirkung des Traumas zu mildern oder ob sich die Dissoziation als sekundäre Folge des Traumas zeigt.
Nach Bessel van der Kolk (1996 in Butollo 1999, S.46) ist die Dissoziation einer der Mechanismen, welcher bei selbstverletzendem Verhalten mit eine Rolle spielt. Gefühle des Abgespaltenseins von eigenen Empfindungen, Gefühle der Entfremdung gehen der Selbstverletzung meist voraus und befähigen den Betroffenen, den Schmerz vermindert wahrzunehmen. Trotzdem stellt sich das Gefühl ein, »auf den Boden zurückzukommen« und sich wieder lebendig zu fühlen.
3. Intrusion ( Flashbacks und Wiedererleben )
Lange nachdem die Gefahr vorüber ist, erleben Traumatisierte das Ereignis immer wieder so, als ob es gerade geschähe. Gegen ihren Willen und oft unvermittelt drängen sich die Erinnerungen an das traumatische Ereignis und die überwältigenden Gefühle in ihren Alltag. Die traumatisierende Situation reaktualisiert sich und wird noch einmal voll durchlebt. Diese Zustände laufen mit allen begleitenden Affekten, Emotionen und Körpergefühlen ab. Sie können im Wachzustand genauso wie im Schlaf als Alpträume erscheinen, bei denen die Betroffenen aus dem Schlaf gerissen werden.
Eine Form von Intrusionen sind Flashbacks. Diese werden durch »Trigger« wie z.B. durch ein Bild, einen Geruch, einen Film, eine Situation ausgelöst. Die Traumatisierungen werden so intensiv und lebensecht wiederholt, dass es sehr schwierig ist, sie in dem betreffenden Augenblick von der realen Situation zu unterscheiden. (Rothschild 2002 S.109)
Intrusionen bestehen aus einer intensiven Dichte von fragmentierten Gefühlen und Bildern ohne Worte, die der traumatischen Erinnerung eine gesteigerte Realität verleiht. Aufgrund vielfältiger Untersuchungen wird vermutet, dass traumatische Ereignisse die linguistische Kodierung im Gehirn außer Kraft setzen und das Zentrale Nervensystem deshalb auf die sensorischen und bildhaften Formen des Gedächtnisses zurückgreift (Herman 1993, S.61).
Zu den Intrusionen gehört, dass Menschen, die Traumatisierungen erfahren haben, diese Ereignisse in offener oder verschleierter Form zwanghaft wiederholen müssen. Manchmal setzten sie sich sogar der Gefahr einer weiteren Verletzung aus, nur im Versuch, diesen traumatischen Augenblick dann endgültig auszulöschen.
Mal sind die Wiederholungen bewusst gewählt, doch auch wenn sie bewusst sind, wirken sie doch oft unfreiwillig und zwanghaft.
Neuere Theorien, wie die von Mardi Horowitz erklären die Intrusionen als »Vervollständigungsprinzip«. Durch ein Trauma werden innere Selbstbilder und Weltvorstellungen vollkommen erschüttert, wenn nicht sogar zerstört.
„Horowitz vermutet, dass nicht assimilierte traumatische Erfahrungen in einem besonderen »aktiven Gedächtnis« gespeichert werden, das dazu neigt, die »Darstellung der Inhalte zu wiederholen«. Das Trauma kann erst dann überwunden werden, wenn das Opfer ein neues geistiges »Muster« entwirft, um das Geschehene zu verstehen.“ (Herman 1993, S.64)
Weil die Intrusion viele schmerzliche und starke Gefühle wecken kann, vermeiden Betroffene oft diese Trigger-Situationen oder auch die Situationen des Wiedererlebens, soweit es in ihrer Macht steht. Dies dient dem eigenen Schutz, doch verschlimmert es gleichzeitig die posttraumatische Störung, die zu einer Einengung des Bewusstseins, zum Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und zu einer emotionalen Verarmung führt. Oft entwickeln Betroffene zwanghaftes oder phobisches Vermeidungsverhalten, z.B. vermeiden Kellerräumen, Treppen, gewissen Orten und Kontakten, Dunkelheit im Zimmer etc.
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