Lade Inhalt...

Quo vadis, Gewerkschaft?

Eine institutionenökonomische Analyse

©2003 Diplomarbeit 102 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Entwicklung des deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems wurde von Gewerkschaften seit ihrer Entstehung im Jahre 1848 maßgeblich beeinflusst. Ausgehend von dem radikalen gesellschaftlichen Umbruch durch die industrielle Revolution und der damit verbundenen Ausbeutung und politischen Unterdrückung der Arbeitnehmer, entwickelten sich Gewerkschaften als „Gegenmacht“ (Schneider 2000) gegenüber dem Kapital. Ihr Haupanliegen war, die Interessen der in ökonomischer und sozialer Hinsicht benachteiligten lohnabhängigen Bevölkerung zu instrumentalisieren und durchzusetzen.
Im Laufe der Entwicklungsgeschichte, konnten Gewerkschaften dabei nicht nur wirtschaftliche und soziale Verbesserungen erzielen, sondern waren auch an der Etablierung gesellschaftlicher Grundrechte beteiligt. Stellvertretend stehen hierfür das Wahlrecht und die Vereinigungsfreiheit. Aber auch der Auf- und Ausbau der parlamentarischen Demokratie, welche noch heute die Stabilität des demokratischen Systems in Deutschland garantiert, ist u. a. der Gewerkschaftstätigkeit zuzuschreiben. In diesem Rahmen konnten sie ihren Machtanspruch im politischen Prozess so ausbauen und verfestigen, dass die Durchsetzung von wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen ohne Gewerkschaften heute kaum mehr möglich ist. Salopp formuliert, sind Gewerkschaften Teil des „sozialen Gewissens“(Deppe 2003) der deutschen Bevölkerung geworden.
Die gegenwärtige Situation in Deutschland vermittelt allerdings ein widersprüchliches Gewerkschaftsbild. Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, leere Staatskassen und globaler Wettbewerb sind die Bedingung, mit denen die politischen Entscheidungsträger - also auch Gewerkschaften - akut konfrontiert sind. Sie haben weitestgehend sozialpolitische Reformen mit massiven Einschnitten ins „soziale Netz“ (Deppe 2003) zur Folge. Dazu gehören Leistungskürzungen bzw. drastische Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen, bei der Arbeitslosenversicherung oder im Rentensystem. In diesem Rahmen geraten auch gewerkschaftliche Errungenschaften wie der Kündigungsschutz, die Mitbestimmung, oder allgemeiner, die Tarifautonomie, zunehmend ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Dem gegenüber erscheinen Gewerkschaften als unflexible und bürokratische Apparate, die in erster Linie die Verteidigung ihrer eigenen, traditionellen Interessen und die der Arbeitsplatzbesitzer zum Ziel haben. Dabei sind sie, so vermittelt der Eindruck, alten Dogmen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7827
Hille, Martin: Quo vadis, Gewerkschaft? - Eine institutionenökonomische Analyse
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Universität Bayreuth, Universität, Diplomarbeit, 2003
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

I
Inhaltsverzeichnis
A
BBILDUNGSVERZEICHNIS
... II
A
BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
... III
1 E
INLEITUNG
... 1
2 G
EWERKSCHAFTEN IN
D
EUTSCHLAND
... 4
2.1 B
EGRIFFSABGRENZUNG
... 4
2.2 F
UNKTIONEN DER
G
EWERKSCHAFTSPOLITIK
... 6
2.2.1 S
CHUTZFUNKTION FÜR
A
RBEITNEHMER
... 6
2.2.2 G
ESELLSCHAFTLICHE
G
ESTALTUNGSFUNKTION
... 7
3 S
OZIOÖKONOMISCHE
B
ESTIMMUNGSGRÜNDE GEWERKSCHAFTLICHER
O
RGANISATION
... 9
3.1 G
ESELLSCHAFTLICHE
B
ESTIMMUNGSGRÜNDE
:
D
AS
G
EGENMACHTKONZEPT
... 9
3.2 Ö
KONOMISCHE
B
ESTIMMUNGSGRÜNDE
:
D
ER
T
RANSAKTIONSKOSTENANSATZ
... 13
4 G
EWERKSCHAFTEN IM SOZIOÖKONOMISCHEN
S
TRUKTURWANDEL
... 19
4.1 U
RSACHEN DES
S
TRUKTURWANDELS
... 20
4.2 F
ELDER DES SOZIOÖKONOMISCHEN
S
TRUKTURWANDELS
... 21
4.2.1 T
RANSFORMATION DER
A
RBEITSWELT
... 21
4.2.2 T
RANSFORMATION DER
L
EISTUNGSERSTELLUNG
... 23
4.2.3 S
YSTEMVERÄNDERUNG DURCH
G
LOBALISIERUNG
... 25
4.2.4 G
ESELLSCHAFTLICHE
T
RANSFORMATION
... 28
4.3 G
EWERKSCHAFTSKRISE DURCH
S
TRUKTURWANDEL
... 29
4.4 C
HRONOLOGIE DER
G
EWERKSCHAFTEN IM
S
TRUKTURWANDEL
... 31
5 E
RKLÄRUNG DER
G
EWERKSCHAFTSTÄTIGKEIT ANHAND ÖKONOMISCHER
T
HEORIEN
... 34
5.1 D
IE
T
HEORIE DER
I
NTERESSENGRUPPEN
... 34
5.1.1 G
EFANGENENDILEMMA DURCH RENT
-
SEEKING
... 35
5.1.2 G
EFANGENENDILEMMA DURCH
T
RITTBRETTFAHRER
... 37
5.2 D
IE
I
NSIDER
-O
UTSIDER
-T
HEORIE
... 40
5.3 D
IE
P
FADABHÄNGIGKEIT
... 44
5.3.1 E
XOGENE
P
FADABHÄNGIGKEIT
... 44
5.3.2 E
NDOGENE
P
FADABHÄNGIGKEIT
... 49
6 Q
UO VADIS
,
G
EWERKSCHAFT
?... 53
6.1 A
UFLÖSUNG DER
G
EWERKSCHAFTEN
?... 53
6.2 M
ODERNISIERUNG DER INSTITUTIONELLEN
A
NREIZSTRUKTUREN
... 55
6.2.1 A
USDEHNUNG DES
L
EISTUNGSWETTBEWERBS
... 56
6.2.2 Ü
BERWINDUNG VON
D
ILEMMASTRUKTUREN
... 60
6.2.2.1 K
LEINGRUPPEN
... 62
6.2.2.2 S
ELEKTIVE
A
NREIZE
... 63
6.3 G
EWERKSCHAFTSPOLITISCHER
M
ENTALITÄTSWANDEL
... 66
7 R
ESÜMEE
... 68
A
NHANG
:
E
XPERTENINTERVIEW
... 71
L
ITERATURVERZEICHNIS
... 86

II
Abbildungsverzeichnis
A
BBILDUNG
1:
O
RGANIGRAMM DES
DGB. ... 5
A
BBILDUNG
2:
G
EFANGENDILEMMA DURCH
K
ONKURRENZDRUCK
... 36
A
BBILDUNG
3:
G
EFANGENENDILEMMA DURCH
T
RITTBRETTFAHRER
. ... 39
A
BBILDUNG
4:
A
RBEITSKÄMPFE INTERNATIONAL
1992
­
2001... 46
A
BBILDUNG
5:
DGB
M
ITGLIEDERENTWICKLUNG
1994
­
2003 ... 60

III
Abkürzungsverzeichnis
DGB D
EUTSCHER
G
EWERKSCHAFTSBUND
EU
E
UROPÄISCHE
U
NION
E
U
GH E
UROPÄISCHER
G
ERICHTSHOF
IG
I
NDUSTRIEGEWERKSCHAFT
I
U
K I
NFORMATIONS
-
UND
K
OMMUNIKATIONSTECHNOLOGIE
TK
T
RANSAKTIONSKOSTEN
NIÖ N
EUE
I
NSTITUTIONENÖKONOMIK

1
1 Einleitung
Die Entwicklung des deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems wurde
von Gewerkschaften seit ihrer Entstehung im Jahre 1848 maßgeblich beein-
flusst. Ausgehend von dem radikalen gesellschaftlichen Umbruch durch die
industrielle Revolution und der damit verbundenen Ausbeutung und politi-
schen Unterdrückung der Arbeitnehmer, entwickelten sich Gewerkschaften als
,,Gegenmacht" gegenüber dem Kapital. Ihr Haupanliegen war, die Interessen
der in ökonomischer und sozialer Hinsicht benachteiligten lohnabhängigen
Bevölkerung zu instrumentalisieren und durchzusetzen.
1
Im Laufe der Ent-
wicklungsgeschichte, konnten Gewerkschaften dabei nicht nur wirtschaftliche
und soziale Verbesserungen erzielen, sondern waren auch an der Etablierung
gesellschaftlicher Grundrechte beteiligt. Stellvertretend stehen hierfür das
Wahlrecht und die Vereinigungsfreiheit. Aber auch der Auf- und Ausbau der
parlamentarischen Demokratie, welche noch heute die Stabilität des demokrati-
schen Systems in Deutschland garantiert, ist u. a. der Gewerkschaftstätigkeit
zuzuschreiben.
2
In diesem Rahmen konnten sie ihren Machtanspruch im politi-
schen Prozess so ausbauen und verfestigen, dass die Durchsetzung von wirt-
schafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen ohne Gewerkschaf-
ten heute kaum mehr möglich ist.
3
Salopp formuliert, sind Gewerkschaften Teil
des ,,sozialen Gewissens" der deutschen Bevölkerung geworden.
Die gegenwärtige Situation in Deutschland vermittelt allerdings ein wider-
sprüchliches Gewerkschaftsbild. Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, leere
Staatskassen und globaler Wettbewerb sind die Bedingung, mit denen die poli-
tischen Entscheidungsträger ­ also auch Gewerkschaften ­ akut konfrontiert
sind.
4
Sie haben weitestgehend sozialpolitische Reformen mit massiven Ein-
schnitten ins ,,soziale Netz" zur Folge. Dazu gehören Leistungskürzungen bzw.
drastische Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen, bei der Arbeitslosenversi-
1
Vgl. Schneider (2000), S. 484.
2
Vgl. Schneider (2000), S. 483f.
3
Vgl. Uellenberg-van Dawen (1997), S. 190.
4
Vgl. Deppe (2003), S. 2.

2
cherung oder im Rentensystem. In diesem Rahmen geraten auch gewerkschaft-
liche Errungenschaften wie der Kündigungsschutz, die Mitbestimmung, oder
allgemeiner, die Tarifautonomie, zunehmend ins Kreuzfeuer der öffentlichen
Kritik.
5
Dem gegenüber erscheinen Gewerkschaften als unflexible und bürokra-
tische Apparate, die in erster Linie die Verteidigung ihrer eigenen, traditionel-
len Interessen und die der Arbeitsplatzbesitzer zum Ziel haben. Dabei sind sie,
so vermittelt der Eindruck, alten Dogmen verhaftet und versuchen die aktuel-
len sozioökonomischen Probleme mit dem Antagonismus von Arbeit und Kapi-
tal zu lösen. Der Einwand lautet deshalb, dass Gewerkschaften mit ihren Er-
rungenschaften den Reformprozess zu einem modernen Wirtschafts- und Ge-
sellschaftssystem blockieren. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie als ,,Fundamen-
talopposition" und ,,Neinsager" sich gegen fast jede grundlegende Reformbe-
wegung stellen und damit die Anschlussfähigkeit Deutschlands an den Moder-
nisierungsprozess, bremsen. Trifft dies zu, ist das Versäumnis sich mit der
eigenen Position im wirtschaftlichen- und gesellschaftlichen Veränderungspro-
zess auseinanderzusetzen für eine Arbeitnehmerorganisation fatal, wenn sie ihr
gesellschaftspolitisches Mandat weiter beanspruchen will.
6
Deshalb ist seit
einiger Zeit die Tendenz zu beobachten, dass Gewerkschaften in der heutigen
Gesellschaft politische Gestaltungskraft einbüßen und im Politikprozess nur
noch zweitklassig agieren.
7
Ihre derzeitige Performance, die sich vor allem
durch einen kontinuierlichen Mitgliederrückgang und ein dauerhaften Reputa-
tionsverlust als tragende Säule des deutschen Sozialmodells auszeichnet,
scheint die ,,Stillstandskrise" der Gewerkschaften zu untermauern.
8
Insgesamt zeigt diese erste, rudimentäre Bestandsaufnahme, dass bei den Ge-
werkschaften zwischen Verbandsinteressen und Gemeinwohlinteressen sowohl
Harmonien als auch Konflikte existieren. Ersteres scheint dabei für die wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Entwicklung von Vorteil zu sein ­ letzteres
hingegen von Nachteil. Die gegenwärtig schlechte wirtschaftliche Situation in
5
Vgl. Deppe (2003), S. 1.
6
Vgl. Rulff (2003), S.11.
7
Vgl. Heuser (2003), S. 17.
8
Vgl. Hassel (2003)

3
Deutschland führt aber dazu, dass sich die öffentliche Debatte stark auf die
Nachteile, die gewerkschaftliches Handeln mit sich bringen, konzentriert. Die
Betrachtung auf eine Seite zu beschränken ist aber tendenziell verfehlt, um eine
gehaltvolle Analyse über die derzeitige Gewerkschaftspolitik und ihrer Ent-
wicklung abzugeben. Dem Anspruch einer zweiseitigen Analyse ein Stück
näher zu kommen, ist deshalb Gegenstand der folgenden Ausarbeitung.
Zu diesem Zweck wird im zweiten Abschnitt zunächst das Aufgabenspektrum
der Gewerkschaften dargestellt. In Abschnitt drei wird dann das theoretische
Fundament gelegt, anhand dessen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Implikationen der Gewerkschaftspolitik dargestellt werden können. Inwiefern
diese den realpolitischen Bedingungen standhalten, ist dann Inhalt des vierten
Abschnitts. In diesem Rahmen wird die Gewerkschaftspolitik mit dem sozio-
ökonomischen Strukturwandel konfrontiert. Um die Dilemmata und Analo-
gien, zwischen Gewerkschaftstheorie und Realpolitik hervorzuheben, wird in
Abschnitt fünf auf eine Reihe ökonomischer Modelle zurückgegriffen. Sie sollen
auch als Grundlage für den in Abschnitt sechs dargestellten Ausblick der ge-
werkschaftlichen Entwicklung dienen. Die Arbeit schließt mit einer kurzen
Zusammenfassung und einer Darstellung der Ergebnisse in Abschnitt sieben.

4
2 Gewerkschaften in Deutschland
2.1 Begriffsabgrenzung
Die Gewerkschaften in Deutschland verstehen sich als Verbände zur Wahr-
nehmung der Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Arbeitgebern. Als solche
sind ihre Aktivitäten in erster Linie auf die Verbesserung der Lohn-, Gehalts-
und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten ausgerichtet. Obwohl
Gewerkschaften als autonome Interessengruppen in Wirtschaft, Staat und Ge-
sellschaft agieren, dehnen einige von ihnen ihre Aktivitäten ausdrücklich auch
auf den kulturellen Bereich aus. D. h., dass wirtschaftliche, politische und sozia-
le Interessen, welche für die gesamte Gesellschaft gelten, in Arbeitnehmerinte-
ressen integriert werden.
9
Folglich erfüllen Gewerkschaften zwei Aufgaben:
Erstens eine Schutzfunktion für Arbeitnehmer, und zweitens eine gesellschaftli-
che Gestaltungsfunktion.
Fakt ist, dass in Deutschland nicht nur eine Vielzahl an Branchen existieren,
sondern auch eine Vielzahl an Gewerkschaften. Das führt zu der Frage, nach
welchem Organisationsprinzip die Gewerkschaften aufgestellt sind. Konkret
bedeutet das, welche Gewerkschaft für wen zuständig ist? Unterschieden wird
hierbei zwischen zwei Arten von Gewerkschaften: Die Einheitsgewerkschaft, und
die Multibranchengewerkschaft. Die Einheitsgewerkschaft vertritt die Interessen
aller Gewerkschaftsmitglieder eines Betriebes. Unabhängig von deren Berufs-
gruppe, deren politischer Orientierung oder deren sozialem Status, werden die
Interessen kollektiv wahrgenommen. Gleichzeitig wird die Existenz einer ande-
ren Gewerkschaft in demselben Betrieb abgelehnt.
10
Verkürzt gesagt: ,,Ein Be-
trieb ­ eine Gewerkschaft." Die Multibranchengewerkschaft hingegen kann als
Steigerung der Einheitsgewerkschaft bezeichnet werden. Sie vereint nicht nur
die Interessen ihrer Mitglieder eines Betriebes, sondern mehrerer Branchen, wie
es beispielsweise bei der IG Metall und ver.di der Fall ist. Sie führen eine ganze
Ansammlung verschiedener Branchen unter ihrem Dach zusammen. Die IG
Metall von der Goldschmiedeindustrie über die Holz- und Kunststoffindustrie
9
Vgl. Streithofen (1967), S. 152.
10
Vgl. Leminsky (1987), S. 67.

5
bis hin zur Textil- und IT-Industrie.
11
Ver.di vertritt hingegen mit insgesamt 13
Fachbereichen die Interessen ihrer Mitglieder aus den Branchen Verkehr, Han-
del, Finanzdienstleistungen, Telekommunikation u. a.
12
Die zahlreichen Einheits- und Multibranchengewerkschaften sind zwar in der
Lage, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln. Das heißt aber nicht, dass
zwischen ihnen gemeinsame Zielvorstellungen vorhanden sind ­ im Gegenteil.
Es existiert ein Interessenpluralismus, der nicht selten zu intergewerkschaftli-
chen Konflikten führt.
13
Notwendig ist deshalb ein Dachverband, der die Inte-
ressen der Gewerkschaften koordiniert, Streitigkeiten schlichtet und ein einheit-
liches Vorgehen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ermöglicht.
14
Der bekann-
teste seiner Art in Deutschland, ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).
Ihm gehören acht Einzelgewerkschaften (s. Abb. 1) mit insgesamt 7,7 Millionen
Mitgliedern an.
15
Abbildung 1: Organigramm des DGB.
16
Zweck des DGB ist die Zusammenfassung seiner Gewerkschaften zu einer
wirkungsvollen Einheit. Auf den Gebieten der Wirtschafts-, Sozial- und Kul-
turpolitik ermittelt er gemeinsame Interessen, verdichtet diese und transfor-
miert sie in Politikvorschläge. Konkret handelt es sich hierbei um einen Integra-
11
Vgl. o. V. (2003), A.
12
Vgl. o. V. (2003), B.
13
Vgl. Hassel (1999), S. 112.
14
Vgl. Streithofen (1967), S. 167.
15
Quelle: DGB (Stand: Januar 2003).
16
Quelle: o. V. (2003), C.

6
tionsprozess gewerkschaftsinterner Willensbildung. Am Ende dieses Prozesses
steht der gewerkschaftliche Standpunkt, den der DGB mit der Öffentlichkeit
kommuniziert.
17
Im Folgenden wird daher der Gewerkschaftsbegriff synonym
mit dem DGB verwendet, weil er als repräsentativer Dachverband seine Einzel-
gewerkschaften vertritt.
2.2 Funktionen der Gewerkschaftspolitik
Was die inhaltlichen Hauptfunktionen der Gewerkschaftspolitik betreffen, so
kann an die in Abschnitt 2.1 bereits erwähnte Schutzfunktion für Arbeitnehmer
und gesellschaftliche Gestaltungsfunktion angeknüpft werden.
2.2.1 Schutzfunktion für Arbeitnehmer
Im Rahmen der Schutzfunktion für Arbeitnehmer kommen zwei zentrale An-
liegen gewerkschaftlicher Politik zum Ausdruck. Hierbei handelt es sich um die
Mitbestimmung und die Tarifautonomie.
Die Mitbestimmung entspricht generell dem Wunsch der Arbeitnehmer nach
Partizipations- und Mitgestaltungsmöglichkeiten innerhalb der betrieblichen
Entscheidungsprozesse.
18
Es geht dabei um die Berücksichtigung der sozialen
und personellen Belange der Mitarbeiter bei den wirtschaftlichen und finanziel-
len Planungen der Unternehmensleitung. Das bedeutet, dass unternehmerische
Interessen aufgrund von Machtasymmetrie nicht einseitig zu Lasten der Ar-
beitnehmer durchgesetzt werden sollen.
19
Organisiert wird die Mitbestimmung
der Arbeitnehmer über den Aufsichtsrat
20
bzw. den Betriebsrat.
21
Beide Einrich-
tungen fungieren als Sprachrohr der Beschäftigten und vertreten deren Belange
gegenüber der Unternehmensführung.
17
Vgl. Leminsky (1987), S. 71.
18
Vgl. Kluge/Schiemann (2002), S. 10.
19
Vgl. Vetter (1980), S. 50.
20
Siehe hierzu: Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) vom 28.10.1994, §1 (Erfasste Unternehmen)
und §7 (Zusammensetzung des Aufsichtsrates). Die Mitglieder des Aufsichtsrates sind paritä-
tisch auf Anteilseigner und Arbeitnehmer verteilt. Unter den Arbeitnehmervertretern befindet
sich ein Gewerkschaftsfunktionär. In einer Pattsituation ist die Stimme des Vorsitzenden aus-
schlaggebend. In Deutschland fallen rund 800 Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Mitar-
beitern unter diese Vorschrift.
21
Siehe hierzu: Betriebsverfassungsgesetz
(BetrVG) vom 22.06.2001, §2 Abs. 1 (Stellung der
Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber), §87 (Mitbestimmungsrechte) und §99
Abs. 2 (Zustimmungsverweigerungsrecht).

7
Die Tarifautonomie hingegen befindet sich auf einer höheren Ebene als die
Mitbestimmung. Nämlich nicht auf der direkten Stufe der Arbeitgeber-
Arbeitnehmer-Beziehungen, sondern auf der ihrer Verbände. Sie sind die Tarif-
parteien. Für die Gewerkschaften bedeutet das folgendes: Sie haben das Recht,
die Lohn- und Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder mit den Arbeitgeberver-
bänden eigenverantwortlich und kollektiv zu verhandeln, sowie vertraglich
festzuschreiben. Das Ergebnis solcher Verhandlungen ist der Tarifvertrag.
22
Dieser regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien. Er enthält
darüber hinaus Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendi-
gung von Arbeitsverhältnissen ordnen.
23
2.2.2 Gesellschaftliche Gestaltungsfunktion
Die Größe und die Unabhängigkeit von Staat, Parteien und Unternehmen ver-
setzen Gewerkschaften in die Lage, auch als politischer Machtfaktor aufzutre-
ten.
24
D. h., dass sie nicht nur Einfluss auf betriebsinterne Arbeitsbedingungen
ausüben, sondern auch auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Das
beinhaltet die Integration der Arbeitnehmer in eine demokratische Gesellschaft.
Folglich treten die Gewerkschaften als soziale Organisationen auf, die in der
Öffentlichkeit das soziale Element der Arbeit zur Geltung bringen.
25
In diesem Rahmen haben sie grundsätzlich zum Ziel, das Gemeinwohl
26
zu
fördern. Beispielhaft für Gemeinwohlförderung ist die Verfolgung zweier
universeller Ansprüche. Erstens, Vollbeschäftigung herzustellen, und zweitens,
die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen Widersacher zu schützen.
27
Naturgemäß versuchen Gewerkschaften dabei, sozialstaatliche Kriterien in ihr
22
Siehe hierzu: Tarifvertragsgesetz (TVG) vom 29.10.1974, § 1.
23
Vgl. Brocker (1976), S. 6, 10, 24. Die Tarifautonomie kommt in § 1 des Gesetzes über die Fest-
setzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11. Januar 1952 zum Ausdruck: ,,Die Regelung
von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen erfolgt grundsätzlich in freier Vereinbarung
zwischen den Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge." Der staatliche Gesetzgeber selbst
wird nur subsidiär tätig.
24
Vgl. Leminsky (1987), S. 69.
25
Vgl. Streithofen (1967), S. 165.
26
Gemeinwohl ist das von allen Mitgliedern der Gesellschaft, gemeinsame Interesse. Im Para-
digma des methodologischen Individualismus ergibt sich das Gemeinwohl aus dem Konsens
der Betroffenen. Siehe Gabler-Volkswirtschafts-Lexikon (1996), S. 409.
27
Vgl. Wölke (1982), S. 34f.

8
Ideen- und Handlungsspektrum einzubeziehen. Sie basieren auf folgenden
Prinzipien: soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und sozialer Frieden.
28
Daraus ergibt sich ein für Gewerkschaften typischer sozialpolitischer Forde-
rungskatalog. Im Rahmen der Wirtschaftspolitik vertreten sie z. B. die Lehre,
dass in einer Situation, in der Vollbeschäftigung nicht über Marktmechanismen
erreicht werden kann, der Staat mit sozialpolitischen Maßnahmen eingreifen
muss. Auf dem Arbeitsmarkt verfolgen sie hingegen das Ziel, allen arbeitsfähi-
gen Individuen den Erwerb eines existenzsichernden Einkommens zu ermögli-
chen. Das beinhaltet die Sicherung der Arbeitsvermittlung, der Berufsberatung
sowie die Aus- und Weiterbildung. Aus diesem Grund nimmt die gewerk-
schaftliche Sozialpolitik auf dem Arbeitsmarkt auch eine Produktivitätsfunkti-
on ein.
29
Auch hinsichtlich der Erhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundord-
nung ist der soziale Charakter der Gewerkschaftspolitik auffällig. In diesem
Rahmen wird die Tarifautonomie als Freiheitsrecht charakterisiert, da sie ein
von staatlicher Regelung freier Raum ist und gewährleisten soll, dass die Ak-
teure ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eigenverantwortlich bestim-
men können.
30
Daraus ergibt sich, dass die Arbeitnehmerinteressen mit denen
der Gesellschaft sehr eng verzahnt sind, sodass Gewerkschaften ihre Hand-
lungsoptionen mit den Präferenzen der Gesellschaft rückkoppeln müssen.
28
Vgl. Kath (1999), S. 477 ­ 542. Soziale Gerechtigkeit beinhaltet die Forderung nach einer
gerechten Distribution der in der Gesellschaft vorhandenen und erzeugten Güter auf ihre
Mitglieder. Soziale Sicherheit bezieht sich hinhegen auf die Vermeidung von Risiken, wie
Krankheit, Unfall, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Sozialer Frieden setzt den Konsens mit den
herrschenden gesellschaftlichen Grundsätzen voraus, z. B. durch die Berücksichtigung von
Minderheiten.
29
Vgl Kath (1999), S. 484.
30
Vgl. Ohm (1982), S. 223.

9
3 Sozioökonomische Bestimmungsgründe gewerkschaftlicher
Organisation
Organisationen prägen das Bild einer offenen Gesellschaft. Ihre Ausprägung ist
dabei vielfältig und allgegenwärtig. Als Unternehmen stellen sie Güter und
Dienstleistungen bereit und sind wichtige Nachfrager am Arbeitsmarkt. Als
Parteien dienen sie der Ausgestaltung des politischen Systems einer Nation.
Gewerkschaften fühlen sich hingegen in besonderem Maße für die Regelung
des Arbeitslebens, aber auch für die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens
verantwortlich.
31
Letztere sollen nun im Mittelpunkt der Untersuchung dieses
Abschnitts stehen. Die zentrale Frage, die damit verbunden ist, lautet, welchen
sozioökonomischen Mehrwert die Gewerkschaften für die Akteure am Markt
leisten können. Zur Beantwortung dieser Frage, werden nachfolgend zwei
bedeutende Erklärungsansätze herangezogen. In gesellschaftlicher Hinsicht das
so genannte Gegenmachtkonzept von Galbraith (1956), in dem Gewerkschaften
ein Machtgleichgewicht zwischen den verschiedenen Marktakteuren herstellen
können (3.1). In ökonomischer Hinsicht dagegen der so genannte Transaktions-
kostenansatz mit den Arbeiten von Williamson (1989) und Coase (1988), in
dessen Rahmen, Gewerkschaften die Kosten der Markbenutzung reduzieren
können (3.2).
3.1 Gesellschaftliche Bestimmungsgründe: Das Gegenmachtkonzept
Der Ansatz von den Gewerkschaften als ausgleichende Gegenmacht gegenüber
der Wirtschaft hat einen historischen Hintergrund. Er führt mit der Entstehung
des Kapitalismus und der industriellen Revolution zurück ans Ende des 19.
Jahrhunderts. Zu dieser Zeit lag ein Großteil der Gesamtproduktion in den
Händen weniger Großkonzerne.
32
Dieser kleinen Zahl von Arbeitsnachfragern
stand ein großes und immobiles Heer von Arbeitssuchenden gegenüber, die um
den Verkauf ihrer Arbeitskraft konkurrierten. Daraus entwickelte sich auf dem
Arbeitsmarkt eine ungleiche Distribution der Vermögen und Einkommen zu
Gunsten der Unternehmer gegenüber den Arbeitern. Die Arbeiter wurden
31
Vgl. Waldkirch (2001), S. 135.
32
Vgl. Galbraith (1956), S. 125.

10
infolgedessen in eine Art Unterordnungsverhältnis gepresst, in der sie durch
Lohndiktat und Fabrikordnungen zum Gegenstand von Regelungen gemacht
wurden. Das hatte zur Folge, dass die Rolle des Arbeiters als freiwillig han-
delndes Vertragssubjekt relativiert, wenn nicht gar aufgelöst wurde.
33
Die
asymmetrische Machtkonzentration der Industriellen ging sogar so weit, dass
die Unterwerfung der Arbeiter Ergebnis ihrer persönlichen, willensbestimmten
Absicht war.
34
Ferner konnten die Unternehmer ihre Machtposition dazu nut-
zen, ihr Eigeninteresse auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht durchzusetzen.
Sie waren in der Lage, der Politik die eigene Gesinnung aufzuoktroyieren und
damit die öffentliche Meinung einseitig zu beeinflussen.
35
Insgesamt herrschte ein oligarchisches System mit repressiver Machtausübung
durch die Großindustrie. Individuelle Präferenzen des Einzelnen oder einer
Gruppe konnten durch die ungleiche Machtverteilung negativ sanktioniert
werden, was dazu führte, dass die Arbeiter die Durchsetzung ihrer Bedürfnisse
von vornherein aufgaben.
36
Aber die zunehmende Machtkonzentration der Monopole und der damit ver-
bundene soziale Druck auf die Arbeiter stellte das gesamte Ordnungssystem in
Frage, sodass sich der Ruf nach Machtverteilung immer stärker ausbreitete.
Notwendig war eine Gesellschaftsordnung, die es den Bürgern erlaubte, ihre
individuellen Präferenzen so gut wie möglich zu verfolgen und zu erreichen.
Die Forderung der Arbeiter war vor diesem Hintergrund insbesondere ein
Vetorecht, mit dem sie kollektive Beschlüsse der Oligarchen einklagen konnten.
37
Konkret hatte man zum Ziel, die Billiglohnalternativen des Faktors Arbeit ein-
zuschränken bzw. vollständig zu eliminieren. Des weiteren sollten die Mecha-
nismen, die die Ausbeutung durch Eigeninteresse förderten, begrenzt werden.
Um diese Ziele zu erreichen, bildeten sich gewerkschaftliche Zusammenschlüs-
se aus Arbeitnehmern, die als organisatorische Gegenmacht gegenüber den
33
Nutzinger (1998), S. 314.
34
Vgl. Galbraith (1987), S. 169.
35
Vgl. Galbraith (1956), S. 125.
36
Vgl. Galbraith (1987), S. 17.
37
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 424ff.

11
Unternehmern auftraten. Als solche waren sie in der Lage, allen Arbeitnehmern
ihres Berufsstandes als ,,Sprachrohr" zur freien Meinungsäußerung (Voice) zu
verhelfen und damit ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern öffentlich
diskutieren zu können.
38
Die Voice-Funktion beinhaltet nach heutigem Demo-
kratieverständnis die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, die Versammlungs-
freiheit, die Pressefreiheit und das Petitionsrecht. Sie bilden die Basis für ein
funktionierendes Rückkopplungssystem zwischen Bevölkerung und Staat.
39
Erwähnenswert sind vor diesem Hintergrund die beiden ersten großen Errun-
genschaften der deutschen Arbeiterbewegung von Ferdinand Lassalle
40
aus
dem Jahr 1863. Das ,,eherne Lohngesetz" und die Durchsetzung des allgemei-
nen und direkten Wahlrechts. Um den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu
steigern, setzte Lassalle durch, dass der durchschnittliche Arbeitslohn nach den
Prinzipien von Angebot und Nachfrage das Existenzminimum übersteigt. Das
allgemeine und direkte Wahlrecht ermöglichte der Bevölkerung hingegen, als
Voice-Funktion ein Drohpotential gegenüber den politischen Entscheidungs-
trägern aufzubauen, um damit ihre materielle Lage verbessern zu können.
41
Darüber hinaus konnten die Gewerkschaften im Zeitablauf eine Reihe weiterer
machtausgleichender Errungenschaften verzeichnen. So haben sie mit der
Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen dazu beigetragen, dass ein gesell-
schaftlicher Pluralismus entstehen konnte. Dieser verkörpert eine Gesellschafts-
form, in der verschiedene und unabhängige gesellschaftliche Gruppen im
Wettbewerb um sozialen und politischen Einfluss stehen. Ideenvielfalt dient
dabei als geeignete Voraussetzung, falsche Theorien bzw. Irrtümer zu erkennen
und zu überwinden. Das bedeutet, dass mit einer Anzahl möglichst vieler al-
ternativer Standpunkte das Individuum vor einseitiger Beeinflussung und
Willkür einer Übermacht geschützt wird. Alleinige Herrschaftsansprüche sind
38
Vgl. Galbraith (1987), S. 170 und Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 424f.
39
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 425.
40
Lassalle, Ferdinand (1825 ­ 1864): Deutscher Politiker und Publizist, sowie Gründer und
Präsident des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV).
41
Vgl. Streithofen (1967), S. 58ff.

12
im Pluralismus ausgeschlossen.
42
Die Konkurrenz unter den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen erzeugt zudem eine ständige wechselseitige Kon-
trolle sowie die Suche nach gesellschaftlich tragfähigen Kompromissen. Damit
stellt der Pluralismus ein zentrales Strukturmerkmal einer demokratischen
Gesellschaft dar. Denn der Wettbewerb zwischen den Anspruchsgruppen ist
für einen fortschrittlichen und konsensualen Politikprozess unentbehrlich und
kann auf kollektive Akteure, wie Gewerkschaften, nicht verzichten.
43
In diesem
Zusammenhang haben Gewerkschaften auch die Funktion eines gesellschaftli-
chen ,,Stimmungsbarometers". Aufgrund ihrer Bürgernähe können sie Präfe-
renzen ermitteln, verdichten sowie in Politikvorschläge transformieren und
beziehen auf diese Weise die Individuen in die gesellschaftliche Kooperation
mit ein. Wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, hat die Funktion der Präfe-
renzermittlung auch einen ökonomischen Mehrwert. Sie verringert Informati-
onsbeschaffungs- und Verarbeitungskosten, die durch ,,rationale Ignoranz" der
Individuen entstehen.
44
Zusammengefasst: Gewerkschaften treten als Gegenmacht gegenüber Wirt-
schaft und Politik auf. Als solche spielen sie eine wichtige Rolle für die gesell-
schaftliche Wohlfahrtsentwicklung. Zum einen sorgen sie nach dem Prinzip der
Sozialstaatlichkeit für die soziale Absicherung und erhöhen damit die Akzep-
tanz und die Produktivität des Sozialstaates.
45
Zum anderen können sie die
Marktmacht eindämmen, weil sie in der Lage sind, monopolistische Spielräume
eines Wirtschaftsakteurs, die zu Ungunsten eines Anderen ausgenutzt werden,
einzuschränken.
46
Damit fördern sie insgesamt einen fortschrittlichen und kon-
sensualen Politikprozess zum Vorteil einer demokratischen Grundordnung.
42
Siehe hierzu: Gabler-Volkswirtschafts-Lexikon (2000), S. 2424 und Die große Microsoft Encar-
ta 99 Enzyklopädie, Stichwort Pluralismus.
43
Vgl. Gerecke (1997), S. 219.
44
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178.
45
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 440.
46
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 436.

13
3.2 Ökonomische Bestimmungsgründe: Der Transaktionskostenansatz
Wie eingangs unterstellt wurde, sind Gewerkschaften in der Lage, die Kosten
der Marktbenutzung zu beeinflussen. Hierbei handelt es sich um die so genann-
ten Transaktionskosten (TK).
Transaktionskosten stellen die ,,Reibungskosten" der Markbenutzung dar. Sie
entstehen generell bei wechselseitigen Austauschprozessen, wenn ein Gut oder
eine Leistung von einem Marktteilnehmer auf einen anderen übertragen wird.
Ronald H. Coase spricht in diesem Fall von den ,,Kosten der Benutzung des
Preismechanismus."
47
Sie beinhalten vor allem Suchkosten über relative Preise
und Vertragspartner, sowie das Aushandeln, den Abschluss und die Überwa-
chung von Verträgen.
48
Diese Kostenarten führen allerdings zum Abschluss
lückenhafter bzw. unvollständiger Verträge.
49
Das wiederum verleitet die Ver-
tragspartner dazu, ihre Vereinbarungen nicht einzuhalten, womit verschiedene
Fehlfunktionen am Markt verursacht werden ­ wie Missverständnisse, Konflik-
te oder Verzögerungen.
50
Die Verträge dennoch durchzusetzen, bestimmt letzt-
endlich die Höhe der Transaktionskosten. Nach Williamson sind hierfür grund-
sätzlich vier Verhaltensannahmen maßgeblich:
1. Existenz von TK durch begrenzte Rationalität
Begrenzt rationales Verhalten bedeutet, dass die Akteure am Markt nicht
in der Lage sind, perfekt rational zu handeln. Das bedeutet, dass bei ih-
nen aufgrund begrenzt kognitiver Fähigkeiten, im Hinblick auf Wissens-
umfang, Weitblick, Fähigkeiten und Zeit, Defizite vorhanden sind.
51
In
komplexen Handlungssituationen ist es utopisch, alle Ziele und Alterna-
tiven zu kennen und ihre Folgen abzuschätzen. Darüber hinaus ist es
schwer, sich durch entsprechende Vertragsklauseln gegen alle Unge-
wissheiten abzusichern. Die dafür notwendige Informationsbeschaffung-
47
Vgl. Coase (1998), S. 6.
48
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 66 und Richter/Furubotn (1996), S. 51f.
49
Vgl. Erlei (2001), S. 188.
50
Vgl. Williamson (1996), S. 12.
51
Vgl. Williamson (1996), S. 6.

14
und Verarbeitung wäre zu kostspielig. Die Konsequenz ist, dass es zum
Abschluss unvollständiger Verträge kommt.
52
2. Existenz von TK durch opportunistisches Verhalten
Die vertraglichen Lücken, die durch die begrenzte Rationalität entstehen,
können jedoch leicht zu Lasten des Vertragspartners missbraucht wer-
den. Hierbei handelt es sich um die Verfolgung des Eigeninteresses unter
Zuhilfenahme von Arglist bzw. Opportunismus.
53
Das besagt, dass wich-
tige Informationen vorsätzlich verschwiegen oder gefälscht werden. Und
zwar immer dann, wenn die Erfüllung der gegenseitigen Versprechen
nicht eingeklagt werden kann.
54
Dieser Mangel im Vertragswerk hat
dann wieder hohe TK in Form von Rechtsstreitigkeiten zur Folge.
3. Existenz von TK durch Unsicherheit
Verschärft wird opportunistisches Verhalten zudem durch das Vorhan-
densein von Unsicherheit. Die unsichere Vorhersehbarkeit zukünftiger
Verhaltensweisen und Ereignisse lädt insbesondere dazu ein, fehlende
Vereinbarungen in Verträgen auf Kosten des Vertragspartners auszunut-
zen. Die Folge sind wieder kostenintensive Rechtsstreitigkeiten.
55
4. Existenz von TK durch die Faktorspezifität
Die vierte Annahme, die zur Existenz unvollständiger Verträge führt, ist
die Faktorspezifität. Investitionen in Humankapital führen bspw. zur
Spezialisierung der Fähig- und Fertigkeiten einer Belegschaft. Investitio-
nen in Sachkapital hingegen zur Anschaffung oder Umrüstung einer
speziellen Maschine. Die Spezifität hat den Nachteil, dass sie an Wert
verliert, sobald sie für ihren vorgesehenen Einsatz keine Verwendung
52
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178.
53
Vgl. Erlei (2001), S. 189.
54
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 178f.
55
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 179f. und Williamson (1996), S. 10. Nach Williamson
fallen die TK insbesondere dann hoch aus, wenn die Rechtsstreitigkeiten vor Gericht ausgetra-
gen werden. Die Rechtsprechung muss sich nämlich auf die Anwendung allgemeiner Rechts-
vorschriften beschränken, da der Richter unter begrenzter Rationalität Recht spricht. Ihm fehlen
detaillierte Kenntnisse über den Streitfall. Zudem ist der Informationsverzerrung durch die
Streitparteien ausgesetzt.

15
mehr findet.
56
Sobald sich also ein Vertragspartner A spezialisiert, begibt
er sich in Abhängigkeit von Vertragspartner B. Da dieser das Abhängig-
keitsverhältnis sofort antizipiert, besteht für ihn der Anreiz, Vertrags-
partner A auszubeuten.
57
Aber auch der weiß wiederum ex ante um das
Risiko der Ausbeutung, die ihm durch die Faktorspezifität entsteht. Die
Folge ist, dass A das Risiko in sein Investitionskalkül einbezieht und die
Faktorspezifität logischerweise nicht optimal gestaltet. So kommt es
durch Unterinvestition in spezifisches Kapital zu Gewinneinbußen und
damit zu suboptimalen Ergebnissen für beide Vertragspartner.
58
Die Transaktionskostentheorie hat gezeigt, dass die Benutzung von Märkten
nicht kostenlos ist und es zu ineffizienten Marktergebnissen kommen kann. Die
Frage die sich daran anschließt ist, inwiefern Gewerkschaften dazu beitragen
können, die TK soweit zu reduzieren, dass Fehlallokationen auf dem Markt
vermieden werden können.
Laut Williamson existiert hier eine Koexistenz von Märkten und Organisatio-
nen. Er argumentiert, dass Organisationen die Kosten der vier Verhaltensan-
nahmen bewältigen können, indem sie dem Marktmechanismus bestimmte
Interaktionen entziehen und ihren eigenen Bedingungen unterwerfen.
59
Vor diesem Hintergrund stellt die Tarifautonomie ein ideales Beispiel der TK-
Reduzierung dar. Sie ermöglicht, dass sämtliche Lohn- und Arbeitsbedingun-
gen einer Branche oder eines Berufsstandes von den Tarifpartnern kollektiv
verhandelt werden und nicht individuell von Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern. Das hat einen kostenreduzierenden Effekt, weil Einzelverträge aufgrund
56
Der Verlust der durch den Einsatzwechsel des Faktors entsteht, wird als ,,Quasirente" be-
zeichnet. Sie stellt die Differenz des Faktoreinsatzwertes zwischen der erst- und der nächstbes-
ten Verwendungsweise dar.
57
Vgl. Erlei (2001), S. 189. Der Ausbeutungsversuch bezeichnet Williamson als ,,hold up". Er
stellt den Angriff auf die Quasirente dar. Ein exzellentes Beispiel bietet hierfür die Automobil-
industrie. Dort entstehen durch die hohe Produktspezialisierung der Zuliefererbetriebe so
starke Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber den Automobilherstellern, dass es nicht selten
zum ,,Preisdiktat" oder zu ,,Knebelverträgen" zu Lasten der Zulieferer kommt.
58
Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland (1999), S. 182. Suboptimale Ergebnisse entstehen zudem durch
die Nach- bzw. Neuverhandlung von Verträgen im Rahmen eines Ausbeutungsversuchs.
Williamson bezeichnet diese Kostenart als Governancekosten der Marktbenutzung.
59
Williamson (1996), S. 8 und Coase (1988), S. 33 ­ 49 und Waldkirch (2001), S. 144.

16
von Informations- und Verhandlungskosten nicht nur zeitraubend und viel zu
kostspielig wären, sondern auch unvollständig.
60
Die Verträge zwischen den
Tarifparteien werden hingegen von Experten verhandelt, die über ein hohes
Maß an Sachkompetenz im Hinblick auf Lohn- und Arbeitsbedingungen verfü-
gen. Daraus ergibt sich, dass kollektive Verhandlungen vor dem Abschluss
außerordentlich komplexer Vertragsarten schützen.
Darüber hinaus bewirkt die Übertragung von tarifpolitischen Kompetenzen auf
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, dass erhebliches Konfliktpotential
aus den Betrieben auslagert wird und damit die betrieblichen Beziehungen
zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft entlastet werden.
61
Ferner sieht
Streeck den Vorteil, dass die Tarifautonomie als kollektive Wertebasis für den
Arbeitsmarkt angesehen werden kann. Arbeitsethik, Ehrlichkeit, Treu und
Glauben sowie Sorgfalt können innerhalb von Organisationen stärker gebün-
delt werden, als wenn sie dem individuellen Eigennutz überlassen werden
würden.
62
Insgesamt schränkt die Tarifautonomie damit die Möglichkeit zum
opportunistischen Verhalten des Individuums ein und schließt kostengünstig
Vertragslücken aufgrund hoher Fachkenntnis der Verhandlungspartner. Der
Tarifvertrag stellt folglich eine Ordnungs- und Friedensfunktion dar und leistet
einen aktiven Beitrag zur Ersparnis von Transaktionskosten.
Eine ähnliche Wirkung wie die Tarifautonomie hat die Mitbestimmung. Ent-
scheidungen über die zukünftige Entwicklung eines Unternehmens werden
nicht selten von gravierenden Interessensunterschieden zwischen der Ge-
schäftsführung und der Belegschaft begleitet. Da Entscheidungen aber häufig
unter Unsicherheit getroffen werden, sind sie für die Mitarbeiter nicht immer
frei von Verlusten. Das bedeutet, dass es zu Interessenskonflikten kommen
kann, wenn die Anliegen der Belegschaft unberücksichtigt bleiben. Um das
Konfliktpotential in kontrollierte Bahnen zu lenken, haben die Gewerkschaften
deshalb das Instrument der Mitbestimmung etabliert. Wie bereits erwähnt,
60
Vgl. Brocker (1976), S. 6.
61
Hassel (1999), S. 138.
62
Vgl. Streeck (2000), S. 30.

17
stellt sie mittels des Betriebs- bzw. Aufsichtsrates einen Kommunikationskanal
zwischen den Entscheidungsträgern und dem Personal eines Betriebes her.
Unter Transaktionskostenaspekten hat das den Vorteil, dass Rechtsstreitigkei-
ten außergerichtlich geregelt werden können und die Kosten der Gerichtsbar-
keit wegfallen. Darüber hinaus können intern oftmals befriedigendere Lösun-
gen erzielt werden als durch juristische Fachleute, die begrenzt rational Recht
sprechen.
Die Möglichkeit zur Konsensfindung und Kooperation durch Mitbestimmung
erhöht zudem die Arbeitszufriedenheit der Beteiligten. Die Kette positiver Re-
aktionen, die dadurch ausgelöst wird, lässt sich leicht nachzeichnen: Höhere
Arbeitszufriedenheit verringert die Fluktuationsrate eines Unternehmens. Das
führt dazu, dass dem Unternehmen betriebsspezifisches Humankapital erhalten
bleibt, was wiederum eine produktivitätssteigernde Wirkung hat.
63
Mitbestim-
mung ist deshalb ein wichtiges Instrument zur Transaktionskostensenkung.
Insbesondere dann, wenn es darum geht, Unsicherheit zu verringern und Fak-
torspezifität zu erhalten.
Wie gezeigt wurde, haben Gewerkschaften Handlungsoptionen, mit denen sie
Ineffizienzen bei der Ressourcenallokation vermeiden können. Dazu zählen
erstens die Flächen- und Branchentarifverträge, die im Rahmen der Tarifauto-
nomie kollektiv verhandelt werden und zweitens die Mitbestimmung. Sie er-
möglichen eine gezielte Vorausplanung für die Wirtschaftsakteure. Der ,,Schat-
ten der Zukunft" senkt folglich die Verhandlungskosten und verringert das
Opportunismusrisiko der Vertragspartner. Im Ganzen reduzieren sie damit die
Transaktionskosten der Marktbenutzung.
64
Allerdings sind Flächentarifverträge und Mitbestimmung nur so lange kosten-
günstiger, wie sie nicht eine unterdurchschnittliche technische Entwicklung
verursachen. Das bedeutet, dass Gewinneinbußen entstehen, weil die Tariflöh-
ne nicht unterschritten werden dürfen und der einzige Ausweg, um die Wett-
63
Vgl. Winkelhake (1994), S. 87.
64
Vgl. Erlei (2001), S. 188f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832478278
ISBN (Paperback)
9783838678276
DOI
10.3239/9783832478278
Dateigröße
797 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bayreuth – Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Erscheinungsdatum
2004 (März)
Note
2,0
Schlagworte
transaktionskostentheorie gegenmachtkonzept strukturwandel theorie interessengruppen pfadabhängigikeit
Zurück

Titel: Quo vadis, Gewerkschaft?
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
102 Seiten
Cookie-Einstellungen