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Generationengerechtigkeit in Deutschland

Eine Analyse mit Hilfe des Generational-Accounting-Ansatzes

©2003 Diplomarbeit 91 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit den Anschlägen des 11. September 2001, der Flutkatastrophe im Sommer 2002 und der weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmendaten in der ersten Jahreshälfte 2003 ist das Interesse um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gelangt. Im Vordergrund stehen dabei vor allem die Nachhaltigkeit der Sozialversicherungszweige sowie die öffentliche Verschuldung, die – verstärkt durch wachsende Arbeitslosigkeit – zukünftige Generationen mehr und mehr belasten. Eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Zusammenhänge zeigt, dass den jungen und nachfolgenden Generationen tragfähige Zukunftschancen zu eröffnen sind; aber auch den Interessen der älteren Generationen ist Rechnung zu tragen.
Belastungen für zukünftige Generationen sind beispielsweise bei der Staatsverschuldung – durch die Zinsbelastungen – klar erkennbar. Diese explizite ist von der impliziten Verschuldung abzugrenzen, die im Steuer- und Sozialsystem „versteckt“ ist. Der Wirtschaftswissenschaftler BERND RAFFELHÜSCHEN errechnet mit Hilfe der Generationenbilanz eine „Nachhaltigkeitslücke“ in Höhe von 6,8 Billionen Euro im deutschen Steuer- und Sozialsystem. Da Staatshaushalte und Sozialkassen mehr Ansprüche verbriefen als die Systeme sicherstellen können, ergibt sich eine Differenz zu Lasten zukünftiger Generationen: die Nachhaltigkeitslücke. Mittels des Generational Accounting (zu deutsch: Generationenbilanzierung) kann die Frage beantwortet werden, welche fiskalischen Lasten jungen und heute noch nicht lebenden Generationen überlassen werden. International vergleichbare Generationenbilanzen liegen bereits für die meisten Länder der Europäischen Union sowie u. a. für die USA vor. Sie zeigen, dass die Mitgliedstaaten der EU sowie andere Industrienationen vor ähnlichen Problemen stehen wie Deutschland.
Die Debatte um die Zukunftsfähigkeit des deutschen Sozialstaats beschränkt sich teilweise auf die in den Generationenverträgen verankerte Rentenversicherung. Denn in diesem Sektor wird der intergenerational umverteilende Charakter fiskalpolitischer Aktivitäten besonders deutlich. Aber die Generationenverträge beinhalten wesentlich mehr: Staatsverschuldung, ökologische Probleme, Lehrstellenmangel, Jugendarbeitslosigkeit, Defizite in der Schul- sowie Hochschulausbildung etc. Teile dieser gesellschaftlichen Probleme werden vom Konzept des Generational Accounting erfasst, andere bleiben darin unberücksichtigt.
Gang der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7665
Haupt, Thomas: Generationengerechtigkeit in Deutschland - Eine Analyse mit Hilfe des
Generational-Accounting-Ansatzes
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Universität der Bundeswehr München, Universität der Bundeswehr, Diplomarbeit,
2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

I
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen... III
Abkürzungsverzeichnis ... IV
Symbolverzeichnis ... V
1. Problemdarstellung, Zielsetzung, Vorgehensweise ... 1
1.1 Problemdarstellung... 1
1.2 Zielsetzung ... 2
1.3 Vorgehensweise... 2
2. Intergenerative
Gerechtigkeit... 5
2.1
Bedeutungszuwachs intergenerativer Gerechtigkeit ... 5
2.2 Begriffsbestimmung
,,intergenerative Gerechtigkeit"... 7
2.2.1 Dogmengeschichte ... 8
2.2.2
Grenzen in der praktischen Umsetzung ... 11
2.3
Dimensionen intergenerativer Gerechtigkeit... 13
3. Der Generational Accounting-Ansatz ... 15
3.1
Definition und Aussagekraft des Generational Accounting... 15
3.2
Aufstellen von Generationenkonten... 16
3.3
Vorteile und Grenzen des Generational Accounting... 18
3.4
Die deutsche Generationenbilanz... 20
3.5
Ursachen der Nachhaltigkeitslücke ... 24
3.5.1 Demographische
Entwicklung ... 24
3.5.2
Umfang und Struktur des Sozialsystems... 27
3.5.3 Lasten
der
Wiedervereinigung ... 28
4. Erfassung ausgewählter Dimensionen der Generationengerechtigkeit durch
das Generational Accounting ... 32
4.1 Gesetzliche
Rentenversicherung ... 33
4.1.1
Stellung der Gesetzlichen Rentenversicherung innerhalb
des deutschen Systems der Alterssicherung... 33

II
4.1.2
Intertemporale Budgetrestriktion der Gesetzlichen
Rentenversicherung... 36
4.1.2.1
Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung... 36
4.1.2.2
Finanzierungssystem der Gesetzlichen
Rentenversicherung ... 38
4.1.2.3
Versicherter Personenkreis in der Gesetzlichen Rentenversi-
cherung ... 41
4.2 Staatsverschuldung... 45
4.2.1
Auswirkungen staatlicher Verschuldung auf die intertemporale
Budgetrestriktion des öffentlichen Sektors ... 45
4.2.2
Ziele staatlicher Verschuldung... 46
4.2.3
Rechtliche Schranken der Staatsverschuldung... 49
4.2.4
Entwicklung der öffentlichen Verschuldung in Deutschland ... 51
4.2.5
Auswirkungen der öffentlichen Verschuldung ... 54
4.3
Ökologische Dimension der Generationengerechtigkeit... 55
4.3.1
Erfassung ökologischer Aspekte durch das Generational
Accounting ... 55
4.3.2
Das Verhältnis von Ökonomie zu Ökologie ... 56
4.3.2
Ökologische Trends im Spannungsverhältnis zwischen
Ökonomie und Ökologie ... 58
5. Ansatz zur Herstellung intergenerativer Gerechtigkeit... 63
5.1
Zusammenfassung der Ergebnisse ... 63
5.2
Umgestaltung des Faktors Arbeit ... 65
5.3
Umsetzungsschwierigkeiten und Ausblick ... 68
Literaturverzeichnis... 70

III
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1 Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise ... 4
Abbildung 2 Dimensionen der Generationengerechtigkeit ... 14
Abbildung 3 Generational Accounts für das Basisjahr 1996 ... 21
Abbildung 4 Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland 2001 und 2050 ... 26
Abbildung 5 Aufbau der Alterssicherung in Deutschland und Struktur der
Alterseinkommen
2002 ... 33
Abbildung 6 Entwicklung der öffentlichen Schulden in Deutschland 1970-2001... 52
Abbildung 7 Ursachen und ausgewählte Folgen der intergenerativen Ungerechtigkeiten
in
Deutschland... 65
Abbildung 8 Arbeitsverhältnisse in der Zukunft... 66
Abbildung 9 Empowerment-Spirale... 67
Tabelle 1
Arten von Zahlungsströmen zwischen öffentlichem Sektor und Bürger ... 33

IV
Abkürzungsverzeichnis
BIP Bruttoinlandsprodukt
BMF
Bundesministerium der Finanzen
CESifo
Center for Economic Studies & Ifo Institute for Economic Research
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
G-7
Gruppe der sieben wichtigsten Industrieländer
GG Grundgesetz
GRV Gesetzliche
Rentenversicherung
PVA Populationsgefährdungsanalyse
SGB Sozialgesetzbuch
StWG
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft

V
Symbolverzeichnis
i, j, k, s
Laufindizes
D maximales
Lebensalter
g Produktivitätszuwachs
G
Ausgabenströme des öffentlichen Sektors
h
durchschnittliche Höhe der Steuern, Beiträge, Transfers der/s Angehö-
rigen einer Generation an den/vom öffentlichen Sektor
N
Gegenwartswert der Netto-Transferströme einer Generation an den/vom
öffentlichen Sektor
P
Anzahl der noch lebenden Mitglieder einer Generation
r
Zinsen vor Steuern
t Basisjahr
T
Netto-Transferströme einer Generation an den/vom öffentlichen Sektor
W
g
Netto-Vermögen des öffentlichen Sektors

1
1. Problemdarstellung, Zielsetzung, Vorgehensweise
,,Mehr und mehr werden Auswirkungen von
Problemen kurzfristig angegangen, anstatt
die Ursachen langfristig zu bekämpfen."
1
1.1 Problemdarstellung
Seit den Anschlägen des 11. September 2001, der Flutkatastrophe im Sommer 2002 und der
weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmendaten in der ersten Jahreshälfte 2003
ist das Interesse um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands verstärkt in das öffentliche Bewusst-
sein gelangt. Im Vordergrund stehen dabei vor allem die Nachhaltigkeit der Sozialversiche-
rungszweige sowie die öffentliche Verschuldung, die ­ verstärkt durch wachsende Arbeitslo-
sigkeit ­ zukünftige Generationen mehr und mehr belasten. Eine holistische Sichtweise ge-
sellschaftlicher Zusammenhänge zeigt, dass den jungen und nachfolgenden Generationen
tragfähige Zukunftschancen zu eröffnen sind; aber auch den Interessen der älteren Generatio-
nen ist Rechnung zu tragen.
Belastungen für zukünftige Generationen sind beispielsweise bei der Staatsverschuldung ­
durch die Zinsbelastungen ­ klar erkennbar. Diese explizite ist von der impliziten Verschul-
dung abzugrenzen, die im Steuer- und Sozialsystem ,,versteckt" ist. Der Wirtschaftswissen-
schaftler B
ERND
R
AFFELHÜSCHEN
errechnet mit Hilfe der Generationenbilanz eine ,,Nachhal-
tigkeitslücke" in Höhe von 6,8 Billionen Euro im deutschen Steuer- und Sozialsystem.
2
Da
Staatshaushalte und Sozialkassen mehr Ansprüche verbriefen als die Systeme sicherstellen
können, ergibt sich eine Differenz zu Lasten zukünftiger Generationen: die Nachhaltigkeitslü-
cke. Mittels des Generational Accounting (zu deutsch: Generationenbilanzierung) kann die
Frage beantwortet werden, welche fiskalischen Lasten jungen und heute noch nicht lebenden
Generationen überlassen werden. International vergleichbare Generationenbilanzen liegen
bereits für die meisten Länder der Europäischen Union sowie u. a. für die USA vor. Sie zei-
gen, dass die Mitgliedstaaten der EU sowie andere Industrienationen vor ähnlichen Problemen
stehen wie Deutschland.
1
B
ECKER
(1998), S. 84.
2
Im Jahr 2000 betrug die Nachhaltigkeitslücke nach R
AFFELHÜSCHEN
noch 4,1 Billionen Euro. Der Wert für
2003 (6,8 Billionen Euro) ergibt sich unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts im Gesundheitswe-
sen. Vgl.
O
.
V. (2003a), S. 11.

2
Die Debatte um die Zukunftsfähigkeit des deutschen Sozialstaats beschränkt sich teilweise auf
die in den Generationenverträgen verankerte Rentenversicherung. Denn in diesem Sektor wird
der intergenerational umverteilende Charakter fiskalpolitischer Aktivitäten besonders deut-
lich. Aber die Generationenverträge beinhalten wesentlich mehr: Staatsverschuldung,
ökologische Probleme, Lehrstellenmangel, Jugendarbeitslosigkeit, Defizite in der Schul- so-
wie Hochschulausbildung etc.
3
Teile dieser gesellschaftlichen Probleme werden vom Konzept
des Generational Accounting erfasst, andere bleiben darin unberücksichtigt.
1.2 Zielsetzung
Ziel dieser Arbeit ist es, die Beziehungen herauszuarbeiten, die in Deutschland zwischen den
Generationen bestehen und damit den Begriff der Generationengerechtigkeit prägen. Dazu
wird auf den Generational Accounting-Ansatz zurückgegriffen, mit dem sich die fiskalischen
Belastungen zukünftiger Generationen ebenso darstellen lassen wie die intergenerativen Um-
verteilungseffekte, die in Deutschland bestehen.
Dabei wird hinterfragt, welche ökonomischen Zusammenhänge von einer Generationenbilanz
erfasst werden. So kristallisiert sich heraus, welche Aussagekraft das Generational Accoun-
ting in Bezug auf einen umfassenden Begriff der Generationengerechtigkeit besitzt. Darüber
hinaus wird untersucht, welche Faktoren für das Entstehen der Nachhaltigkeitslücke verant-
wortlich sind und wie diese Differenz zu Lasten nachfolgender Generationen abgebaut wer-
den kann.
1.3 Vorgehensweise
Im sich anschließenden Kapitel wird zunächst der Begriff der Generationengerechtigkeit in
einem umfassenden Sinne mit seinen Dimensionen definiert. Es werden zentrale Forderungen
erarbeitet, die mit einer Verantwortung für zukünftige, gegenwärtige und gegenüber früheren
Generationen einhergehen. Mit der Messbarkeit der Gerechtigkeit zwischen den Generationen
wird auf den Generational Accounting-Ansatz übergeleitet.
Im dritten Kapitel wird das Konzept des Generational Accounting vorgestellt und dessen
Vorgehensweise erläutert. Nach einer Betrachtung der Methodik wird auf die Probleme und
3
Vgl. F
RIEDRICH
-E
BERT
-S
TIFTUNG
(1997), S. I.

3
Grenzen der Generationenbilanzierung eingegangen. Anhand der deutschen Generationenbi-
lanz werden die umverteilungswirksamen Zahlungsströme auf der Ausgabenseite des Staats-
haushaltes den durchschnittlichen Kohortenbelastungen durch Steuern und Beiträge gegen-
übergestellt. Die Ursachen der sich ergebenden Nachhaltigkeitslücke werden im Anschluss
analysiert.
Im vierten Kapitel ­ Kern dieser Arbeit ­ wird betrachtet, welche Aspekte der intergenerati-
ven Gerechtigkeit in einer Generationenbilanz berücksichtigt werden. Gesichtspunkte der
Generationengerechtigkeit werden hierzu nach ihrer Wirkung auf den Bürger geordnet. Als
Beispiel aus dem Bereich der Sozialversicherung wird auf die umlagefinanzierte Rente einge-
gangen, deren fiskalpolitische Auswirkungen für den Bürger unmittelbar spürbar und die auch
durch das Generational Accounting erfasst werden. Die Staatsverschuldung, deren Wirkungen
für den Bürger indirekt bemerkbar sind, findet im Generationenkonto einer Kohorte Einzug
über die intertemporale Budgetrestriktion des Staates. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen
wird ebenso wenig vom Generational Accounting einbezogen wie ökologische Schäden. Aber
auch solche Faktoren belasten die Zukunftschancen nachfolgender Generationen. Darüber
hinaus sollen innerhalb dieser ausgewählten Dimensionen der Generationengerechtigkeit wei-
tere Ursachen der Nachhaltigkeitslücke identifiziert werden.
Im fünften Kapitel folgt eine Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse. Im Anschluss
daran wird ein Ansatz zur Herstellung gerechter Verhältnisse zwischen den Generationen ­
und damit zum Abbau der Nachhaltigkeitslücke ­ vorgestellt.
Die ersten vier Kapitel dieser Arbeit fungieren als Problemanalyse; sie fragen danach, wie die
Nachhaltigkeitslücke im Rahmen intergenerativer Gerechtigkeit zu bewerten ist und wie ihr
Entstehen zu erklären ist. Lösungsansätze zum Abbau der Nachhaltigkeitslücke werden darin
bewusst noch nicht vorgeschlagen. Die Qualität der Problemlösung zeigt sich in der Problem-
erkennung. Daher wird erst im fünften Kapitel ein Lösungsansatz entwickelt. Die folgende
Abbildung verdeutlicht dieses Vorgehen.

4
Abbildung 1: Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise
Problemerkennung
Problemlösung
Quelle: Eigene Darstellung.
Kapitel 5
Ansatz zur
Herstellung
generationen-
gerechter
Lebens-
verhältnisse
Kapitel 2
Kapitel 1
Kapitel 3
Kapitel 4
Erfassung
ausgewählter
Dimensionen der
Generationen-
gerechtigkeit
durch das
Generational
Accounting
Generationen-
gerechtigkeit in
Deutschland
Generational
Accounting
Problem-
darstellung,
Zielsetzung,
Vorgehens-
weise

5
2. Intergenerative Gerechtigkeit
,,Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,
auf dass du lange lebest in dem Lande,
das dir der Herr, dein Gott, geben wird."
4
2.1 Bedeutungszuwachs intergenerativer Gerechtigkeit
Fragen intergenerativer Gerechtigkeit finden bereits in der Bibel Erwähnung,
5
wurden von
P
LATON
und A
RISTOTELES
vertieft und sind auch heute noch Grundthema politischer Philoso-
phie.
6
Dennoch ist es bislang nicht gelungen, eine umfassende Theorie intergenerativer Ge-
rechtigkeit zu entwickeln.
7
Vielmehr ist eine politische und gesellschaftliche Debatte darüber
zu beobachten, was unter Generationengerechtigkeit zu verstehen ist.
In diese Diskussion schalten sich unterdessen einige Autoren mit Warnungen vor einem kurz
bevorstehenden Krieg zwischen den Generationen ein,
8
während andere Sichtweisen auf eine
ungebrochenen Solidarität verweisen, deren Ursprünge sich in der Familie finden.
9
Was dabei
vielen Betrachtungen fehlt, ist eine holistische Sichtweise intergenerativer und gesellschaftli-
cher Zusammenhänge. Allzu oft wird einseitig auf die Bedürfnisse der Älteren verwiesen oder
die nachwachsenden Generationen zu sehr in der Vordergrund gestellt. Zwar ist Kinderge-
schrei ,,Zukunftsmusik",
10
und die Älteren sind auf Grund ihrer besonderen Erfahrungen und
ihres Wissens als wertvolles Kapital zu sehen.
11
Allerdings gilt als Ausgangspunkt für das
Verständnis intergenerativer Gerechtigkeit in dieser Arbeit: Die gesamte Gesellschaft trägt
eine Verantwortung nicht nur für ihre eigene Entwicklung, sondern zudem sowohl für zukünf-
tige Generationen als auch gegenüber früheren Generationen.
12
4
D
EUTSCHE
B
IBELGESELLSCHAFT
(1985), S. 80.
5
Eine erste Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit findet sich in der Schöpfungsgeschichte: ,,Und Gott
sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war gut." D
EUTSCHE
B
IBELGESELLSCHAFT
(1985), S. 4. Die
theologische Interpretation dieses zentralen Satzes ist, dass der Mensch mit Gott zur Kooperation aufgerufen
ist, um die Erde zu beherrschen, zu gestalten und zu bewahren. Vgl. dazu O
RTH
(1996), S. 44.
6
Vgl. hierzu auch D
ORNHEIM U
.
A
. (1999), S. 7.
7
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 55-105.
8
Vgl. dazu u.
a. L
EE
(1996), S. XI (,,war between generations"), P
RICE
(1997), S. IX (,,The battle over the
future of old age"), S
ACHS
(2002), S. 45 (,,Kampf um den knappen Umweltraum").
9
Vgl. dazu u. a. H
ONDRICH
(2002), S. 8, K
OHLI
(2002), S. 137.
10
Vgl. K
ÖSTERS
(1999), S. 15.
11
Vgl. O
OMEN
-R
UIJTEN
(1993), S. 8.
12
Die Verantwortung nicht nur für zukünftige, sondern auch gegenüber früheren Generationen ergibt sich aus
einem Verständnis der Gesellschaft als ,,intergenerational community": Denn unsere Zivilisation ist begrün-
det auf den Leistungen und Fehlern unserer Vorfahren, und unsere Handlungen beeinflussen das Leben unse-
rer Nachkommen. Vgl. dazu A
UERBACH
(1995), S. 223-231.

6
Intergenerative Gerechtigkeit kristallisiert sich demzufolge als komplexes, multi-
dimensionales Phänomen heraus, dessen Auswirkungen und Erscheinungsformen nicht nur
auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleiben.
13
Mehrere wissenschaftliche Zugän-
ge zur Frage nach Generationengerechtigkeit wurden daher entwickelt. Antworten liefern bei-
spielsweise die Theologie, die Philosophie, Naturwissenschaften sowie die Ökonomie.
14
Hinzu kommt die hohe Aktualität der Frage nach Generationengerechtigkeit. Gesichtspunkte
der Finanz- und Sozialpolitik, der Sicherheitspolitik sowie der Umweltpolitik lassen die inter-
generative Gerechtigkeit verstärkt in ein öffentliches Interesse rücken:
Finanz- und Sozialpolitik: Die ökonomische Situation Deutschlands Anfang 2003 spiegelt
erneut die strukturellen Probleme und die Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirt-
schaft wider: Im März betrug die Arbeitslosenquote bundesweit 11,1 v. H.
15
Durch die ge-
sunkene Erwerbstätigkeit gehen die Steuereinnahmen zurück,
16
was die Stabilität des
Bundeshaushalts 2003 bedroht. Auch in diesem Jahr wird Deutschland die Verschul-
dungsgrenze des europäischen Stabilitätspakts nicht einhalten können.
17
Dies führt dazu,
dass der finanzpolitische Spielraum nicht nur der gegenwärtig lebenden Generationen ein-
geengt wird. Neben den öffentlichen leiden auch die Sozialkassen an einer Finanznot,
18
was an einer nachhaltigen Entwicklung
19
der Systeme der sozialen Sicherung zweifeln
lässt. Sollen diese Lasten nicht in Gänze den nachfolgenden Generationen überlassen
werden, besteht Handlungsbedarf.
20
Sicherheitspolitik: Die Anschläge des 11. September 2001 führten nicht nur den USA auf
besonders grausame Weise ihre Verletzlichkeit und die Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus vor Augen. Auch wurde damit die Vorstellung zerstört, dass
13
Der globale Charakter intergenerativer Gerechtigkeit ergibt sich vor allem im Kontext einer Umwelt-
Betrachtung. Die bereits beginnenden Auswirkungen des globalen Klimawandels verdeutlichen dies. Trotz
dieser globalen Ebene sollte das Streben nach intergenerativer Gerechtigkeit auf Ebene der sozialen Organi-
sation beginnen. Vgl. dazu V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 2-29.
14
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. XIII sowie 14-15.
15
Der Osten Deutschlands ist mit rund 1,7 Mio. Arbeitslosen ­ das entspricht einer Quote von 19,6 v. H. (im
Westen 8,8 v. H.) ­ besonders betroffen. Vgl. dazu B
UNDESANSTALT FÜR
A
RBEIT
(2003).
16
Die Steuereinnahmen des Bundes sanken im ersten Quartal 2003 gegenüber dem Vorjahr um 5,1 v. H. Vgl.
dazu B
UNDESMINISTERIUM DER
F
INANZEN
(2003a), S. 11.
17
Bereits 2002 lag das deutsche Haushaltsdefizit bei 3,6 v. H. und damit über der Grenze des europäischen
Stabilitätspaktes (3 v. H. des Bruttoinlandsprodukts). Vgl. hierzu
O
.
V. (2003b), S. 11.
18
Ende 2002 lag in der Gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von etwa 3 Mrd. Euro vor. Vgl.
O
.
V.
(2003c), S. 15. Bei einem von der Bundesregierung für 2003 geschätzten Wirtschaftswachstum von 0,75 v. H.
ist ein Anstieg des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung von 19,5 v. H. auf 19,8 v. H. nach Ein-
schätzung der Rentenversicherer unausweichlich. Vgl.
O
.
V. (2003d), S. 13.
19
Unter einer nachhaltigen Entwicklung wird hier eine Entwicklung verstanden, die zukünftige Generationen
nicht belastet. Mehr zum Begriff der Nachhaltigkeit in Kapitel 2.2.1.
20
Vgl. H
ENKE
(2003), S. 11.

7
mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ein ewiger Frieden angebrochen sei.
21
In diesem
Zusammenhang stellt sich eine Bedrohung dar, die von einigen Medien als ,,Zeitenwende"
beschrieben wird.
22
Die Gefährdung der Existenz der Menschheit
23
wird besonders deutlich, wenn Forderun-
gen nach Abrüstung und Nonproliferation atomarer, biologischer und chemischer Waffen
militärisch durchgesetzt werden, wie dies im dritten Golf-Krieg gegen den Irak der Fall
war. Damit rückt die essenzielle Frage intergenerativer Gerechtigkeit in den Vordergrund,
ob die Spezies Mensch überhaupt überleben soll.
24
Umweltpolitik: Die Flutkatastrophe des Sommers 2002 an Elbe und Mulde weckte nicht
nur ein hohes Maß an Solidarität in der deutschen Bevölkerung,
25
sondern darüber hinaus
Befürchtungen, die Natur schlüge zurück und räche sich für den Raubbau an ihr. Der Öf-
fentlichkeit wurde deutlich, dass der Klimawandel bereits begonnen hat und dass in Zu-
kunft mit einer erhöhten Zahl an Unwettern zu rechnen ist.
26
Die drei hier beschriebenen Ereignisse sorgen dafür, dass sich sowohl das Bewusstsein um die
eigene Zukunft als auch um die Zukunftschancen nachfolgender Generationen erweitert hat.
Fragen intergenerativer Gerechtigkeit beschäftigen in zunehmendem Maße auch die Öffent-
lichkeit.
27
Doch Antworten darauf können nur gegeben werden, wenn zuvor geklärt wurde,
was unter intergenerativer Gerechtigkeit zu verstehen ist.
2.2 Begriffsbestimmung ,,intergenerative Gerechtigkeit"
Intergenerative Gerechtigkeit ­ oder: Generationengerechtigkeit ­ stellt einen spezifischen
Aspekt des allgemeinen Problems der Gerechtigkeit dar.
28
21
Vgl. T
ODENHÖFER
(2003), S. 10.
22
Vgl. S
CHOLL
-L
ATOUR
(2003), S. 9.
23
Vgl. B
IRNBACHER
(1988), S. 13.
24
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 21.
25
Vgl. H
ONDRICH
(2002), S. 8. H
ONDRICH
sieht die Flutkatastrophe als einen Katalysator, der ,,ein Kapital an
unwillkürlicher Gemeinschaft, Rückbindungen und Solidarität" erzeugte.
26
Vgl. W
UPPERTAL
I
NSTITUT FÜR
K
LIMA
, U
MWELT
, E
NERGIE
(2003).
27
A
UERBACH
(1995), S. 46-47 kommt nach einer Untersuchung der Entstehungsgeschichte von Aufsätzen zu
intergenerativer Gerechtigkeit zu folgender These: Zeiten raschen sozialen Wandels, die Zukunftsängste för-
dern, erhöhen das Interesse an intergenerativer Gerechtigkeit.
28
D
ORNHEIM U
.
A
. (1999), S. 7 schlagen eine Unterteilung der Gerechtigkeit in vier Formen vor: Verteilungsge-
rechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und intergenerationelle Gerechtigkeit.

8
Aus den Möglichkeiten zur Bestimmung des Umfangs einer Generation
29
ist im Rahmen die-
ser Arbeit maßgeblich, dass sich eine Generation aus den Angehörigen eines Geburtsjahr-
gangs zusammensetzt. Diese Eingrenzung stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit
dem Instrument des Generational Accounting als zweckmäßig heraus.
Gerechtigkeitsbedarf entsteht aus den aus Güterknappheit resultierenden Anspruchskonflikten
und Verteilungsproblemen,
30
womit sich eine enge Verbindung zur Ökonomie ergibt.
31
Inter-
generativer Gerechtigkeitsbedarf ergibt sich daraus, dass sowohl jeder einzelne Mensch als
auch die Politik beinahe täglich Entscheidungen mit intergenerationalem Charakter trifft.
32
Unter den verschiedenen Gerechtigkeitsprinzipien
33
stellen sich zwei klassische Forderungen
heraus: Umverteilung und Selbstbeschränkung,
34
die ebenfalls für die intergenerative Gerech-
tigkeit von zentraler Bedeutung sind. Hier steht die Forderung nach ,,fairer Aufteilung der
Ressourcen und Lasten zwischen den Generationen" im Vordergrund.
35
Elementar damit ver-
bunden ist die Chancengleichheit, denn keine Generation auf dieser Erde hat mehr Rechte als
eine andere.
36
2.2.1 Dogmengeschichte
Bei der Gerechtigkeitsidee handelt es sich nicht um einen abstrakten Wert; vielmehr wird sie
von verschiedenen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich verstanden und
29
L
EE
(1996), S. 27-178 grenzt verschiedene Generationen über dominante Erfahrungen im Leben ihrer Ange-
hörigen ab. Für die Bevölkerung der USA identifiziert er sechs verschiedene Generationen (u. a. ,,The World
War II Generation", ,,The Baby-Boom Generation"). V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 43 kommt zu einer famili-
enbezogenen Definition, wonach z. B. Väter einer anderen Generation angehören als deren Söhne. Hieran an-
schlussfähig ist eine Bestimmung der Generationen über deren Status im Erwerbsleben: noch nicht Erwerbs-
tätige (Kinder, Jugendliche), Erwerbstätige, nicht mehr Erwerbstätige (Rentner, Pensionäre). In einem weite-
ren Sinne wird die Gesamtheit aller in einem bestimmten Zeitraum Geborenen einer Generation zugeordnet.
Vgl. dazu B
IRNBACHER
(1988), S. 23. Im Rahmen des Generational Accounting wird dieser Zeitraum auf ein
Jahr festgelegt.
30
Vgl. K
ERSTING
(2000), S. 20-21. K
ERSTING
sieht Gerechtigkeit als ,,typisch menschliches Optimierungspro-
gramm".
31
S
IEBERT
(2000), S. 17 bezeichnet Ökonomie als ,,die Kunst des Mangels oder die Lehre von der Knappheit".
32
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 94.
33
D
ORNHEIM U
.
A
. (1999), S. 7 nennen als solche Prinzipien: jedem das Gleiche oder nach seinem Wert als
Mensch überhaupt, jedem nach seiner Leistung respektive Leistungsfähigkeit, jedem nach seinen gesetzli-
chen Rechten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Dabei gilt die Gleichbehandlung gleicher und die Ungleich-
behandlung ungleicher Fälle. Vgl. O
ECHSLER
(1997), S. 51.
34
Vgl. K
ÖSTERS
(1999), S. 19.
35
B
UTTERWEGGE
/K
LUNDT
(2002a), S. 7.
36
Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 11-21.

9
gelebt.
37
Dabei wurde Gerechtigkeit nicht nur politisch bewertet, sondern erfuhr u. a. auch
materielle soziale oder rechtliche Festlegungen.
38
Unser modernes Verständnis intergenerativer Gerechtigkeit hat seine Wurzeln in der Bibel.
39
Die biblische Idee gehört ebenso wie die Analyse P
LATONS
40
zu den traditionellen Ansätzen
von Generationengerechtigkeit. Die Leiden künftiger Generationen werden danach als natür-
liche, tragische Konsequenz der Ungerechtigkeiten ihrer Vorgänger oder als Strafe Gottes für
die Unzulänglichkeiten der Vorfahren betrachtet. Grundlegend ist hier die Existenz eines ,,in-
tergenerational contract", auf dessen Bedingungen Verpflichtungen gegenüber künftigen Ge-
nerationen beruhen. Erst E
DMUND
B
URKE
leitete im 18. Jahrhundert einen Wandel hin zu ei-
nem modernen Verständnis von Generationengerechtigkeit ein.
41
Er akzeptierte nicht länger
die Existenz vertraglicher Bindungen zwischen Generationen und sah Zivilisation als ,,inter-
generational enterprise". Da alle Generationen Ansprüche auf die Vorzüge der Zivilisation
besitzen, hat keine Generation das Recht, die ,,intergenerational enterprise" zu verlassen.
42
Mit J
OHN
R
AWLS
setzte 1979 eine weitere Fortentwicklung der Idee der Generationengerech-
tigkeit ein.
43
Er wollte eine gerechte und faire Gesellschaftsordnung aufbauen, deren Ur-
sprung und Kern gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellungen sind. Unter dem ,,Schleier des
Nichtwissens" sollte eine wohlgeordnete Gesellschaft entstehen.
44
Seine Konzeption der Ge-
rechtigkeit als Fairness baut auf einem Generationenvertrag auf und enthält neben freiheitli-
chen Aspekten die implizite Forderung nach sozialem Ausgleich. Bei den Verteilungs-
grundsätzen sind auch die Rechte nachfolgender Generationen zu berücksichtigen. Der Aus-
37
Einen systematischen Überblick über die verschiedenen Vorstellungen von Gerechtigkeit im Zeitablauf gibt
D
INGELDEY
(1997), S. 4-48.
38
Vgl. D
ORNHEIM U
.
A
. (1999), S. 7.
39
Vgl. Fußnote 5 und A
UERBACH
(1995), S. 23.
40
P
LATONS
Hauptanliegen war, Gerechtigkeit in der Polis ­ im Sinne einer ,,intergenerational community" ­
herzustellen. P
LATON
sah eine solche Polis als ungerecht an, der es nicht gelingt, ihre Gesetze und Institutio-
nen an zukünftige Generationen weiterzugeben. Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 35-37.
41
B
URKE
kritisierte die Französische Revolution und entwickelte eine politische Staatsphilosophie, in der die
intergenerative Gerechtigkeit eine wichtige Stellung einnimmt. Er ersetzte die Säulen traditioneller Moral
(religionsbasierte Ethik, Gemeinschaft, Autorität) durch anthropozentrische Ethik und Individualität. Vgl. da-
zu A
UERBACH
(1995), S. 38-45.
42
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 42-45.
43
R
AWLS
` besonderer Verdienst bestand darin, dass er das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit aus dem Prinzip
der individuellen rechtlichen Freiheit ableiten konnte. Er war damit der erste, der sozial-liberale Vorstellun-
gen philosophisch begründete. Daher ist dieses Konzept von besonderer Bedeutung und auch grundlegend für
die intergenerativen Gerechtigkeitsvorstellungen dieser Arbeit. Vgl. dazu D
INGELDEY
(1997), S. 46-48, zur
Kritik an R
AWLS
S. 48-70.
44
R
AWLS
unterstellt eine künstliche und theoretische Gleichheit im Urzustand, um zu verhindern, dass sich
Einzelne beim Aufstellen der Grundordnung persönliche Vorteile verschaffen. Die Position in der Gesell-
schaft bleibt dabei ebenso hinter dem ,,veil of ignorance" verhüllt wie die Generationenzugehörigkeit. Vgl.
dazu D
INGELDEY
(1997), S. 31-36.

10
gleich zwischen den Generationen wird durch den Spargrundsatz festgelegt; außerdem ge-
nießt die materielle Verteilung von Gütern zwischen den Generationen Vorrang gegenüber
der Verteilung innerhalb der Generation.
45
Im Sinne R
AWLS
` hat keine Generation das Recht,
ihre Interessen höher zu gewichten als die Interessen zukünftiger Generationen.
Weiterhin von Bedeutung für das Verständnis von Generationengerechtigkeit ist das Konzept
der Nachhaltigkeit.
46
Der Ursprung des Nachhaltigkeitsgedanken findet sich in der Forstwirt-
schaft: Durchschnittlich dürfen nur so viele Bäume geschlagen werden, wie nachwachsen.
47
Maßgeblich für die hier verwendete Definition einer nachhaltigen Entwicklung ­ im Sinne
einer Entwicklung, die zukünftige Generationen nicht belastet ­ ist der Bericht der B
RUNDT-
LAND
-K
OMMISSION
sowie deren Verständnis von Nachhaltigkeit.
48
In den hier aufgezeigten Entwicklungsstufen der Idee der Generationengerechtigkeit sind die
Schlüsse der wichtigsten Denker zusammengefasst. Zu bestimmten Zeiten im geschichtlichen
Ablauf stieg das Interesse ­ und damit auch die Zahl verfasster Schriften ­ an intergenerativer
Gerechtigkeit an.
49
Dies geschah zuerst bei P
LATON
(427-347 v. Chr.), dann zur Zeit der Fran-
zösischen Revolution vor allem durch B
URKE
und zuletzt seit Beginn den 1970er Jahre.
50
Dennoch ist die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Generationengerechtigkeit bisher
nicht gelungen.
51
Dies erschwert es der Politik ­ aber auch jedem einzelnen Menschen ­, mo-
ralisch
52
im Sinne der intergenerativen Gerechtigkeit zu handeln.
53
Für diese Arbeit gilt die Theorie der Gerechtigkeit von R
AWLS
ebenso als Maßstab wie das
Konzept der Nachhaltigkeit: Keine Generation hat mehr Rechte als eine andere, woraus sich
45
Vgl. D
INGELDEY
(1997), S. 42-47.
46
Vgl. Fußnote 19.
47
Vgl. B
IRNBACHER
(1988), S. 10.
48
Vgl. S
ACHS
(2002), S. 88-90.
49
Vgl. Fußnote 27.
50
Mit der Veröffentlichung ,,The Limits to Growth" löste T
HE
C
LUB OF
R
OME
eine globale Debatte über die
Zukunft der Menschheit und der Erde aus. Vgl. dazu T
HE
C
LUB OF
R
OME
(2003).
51
Eine solche Theorie im umfassenden Sinne müsste nach A
UERBACH
(1995), S. 207 Antworten auf folgende
Fragen geben: Müssen wir bloß Schaden von zukünftigen Generationen abhalten oder gilt es darüber hinaus,
deren Wohlstand zu mehren? Haben wir eine Pflicht, die menschliche Spezies zu erhalten oder sind lediglich
solche Handlungen zu unterlassen, die zu deren Aussterben führen würden? In welchem Ausmaß sind die ge-
genwärtigen Generationen verantwortlich für ihre Handlungen? Haben wir Verpflichtungen gegenüber
vergangenen Generationen?
52
Moralisches Handeln orientiert sich an ,,geschichtlich gewachsenen Wertmaßstäben, Handlungsregeln und
Sinnvorstellungen". W
AIBL
(2001), S. 12.
53
K
ERSTING
bestätigt in Bezug auf den Sozialstaat dieses Ergebnis und vermisst eine ,,zuverlässige normative
Hintergrundtheorie". Dies führt zu einer ,,diffusen, erheblich gefühlslastigen, freilich in hohem Maße kon-
sensfähigen Gerechtigkeitspräsumption". K
ERSTING
(2000), S. 1.

11
eine Verantwortung für zukünftige Generationen ergibt.
54
Doch die praktische Umsetzung
dieser Verantwortung in tägliches Handeln stößt auf zahlreiche Grenzen.
55
2.2.2 Grenzen in der praktischen Umsetzung
Zeitpräferenz: Bei nahezu allen menschlichen Entscheidungen besteht eine Neigung hin
zu kurzfristigen Orientierungen.
56
Dies geschieht vor allen Dingen da, wo gegenwärtig
dringende Bedürfnisse mit in der Zukunft liegenden unbekannten Perspektiven konkurrie-
ren. Künftige Generationen sind noch in völliger Anonymität verborgen.
57
Diese Anony-
mität verwandelt sich jedoch dann in ganz konkrete Wirklichkeit, wenn man der Jugend
begegnet, die die Zukunft bereits repräsentiert.
58
Einige Autoren argumentieren, zukünftige Generationen hätten keine Rechte gegenüber
deren Vorfahren. Ohne diese wären sie schließlich nicht geboren worden. Aber selbst
wenn keine Rechte gegenüber den Vorfahren bestehen, sollte eine Chancengleichheit für
alle Generationen gewährleistet sein.
59
Zukünftige Generationen könnten andere kulturelle Werte vertreten oder andere Philoso-
phien eines guten Lebens bzw. von Gerechtigkeit verfolgen.
60
Dennoch haben auch künf-
tige Generationen einen moralischen Anspruch auf die Ressourcen dieser Erde, darunter
auch auf die kulturellen Schätze ­ und zwar unabhängig von deren Werten.
61
Eine letzte Begrenzung des Prinzips Generationengerechtigkeit ergibt sich daraus, dass die
Erde schlicht nicht genügend Ressourcen birgt, um die Bedürfnisse aller Generationen zu
befriedigen. Aber gerade diese Begrenzungen sollten die Menschheit bereits gegenwärtig
dazu bringen, möglichst nach einem Sparprinzip (auch schon von R
AWLS
formuliert) zu
leben. Denn die technologische und ökonomische Entwicklung stößt bereits heute an die
Grenzen dessen, was die Erde ertragen kann.
62
54
Eine Verantwortung für zukünftige Generationen lässt sich weiter moralisch damit festigen, dass künftige
Generationen vom guten Willen der gegenwärtigen abhängig sind. Der Egoismus einer Generation wäre ein
Missbrauch von Macht. Vgl. dazu V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 11.
55
Der mangelhafte theoretische Bezugsrahmen stellt bereits eine erste Grenze einer Verantwortung für künftige
Generationen dar.
56
V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 25 weist darauf hin, dass bereits heute eine ökologische Orientierung permanent
unter den entgegengesetzten ökonomischen und sozialen Zielsetzungen leidet.
57
Zudem zeigt die Diskussion um den Klimawandel, wie schwierig es ist, bereits jetzt Opfer zu bringen bzw.
Wandel einzuleiten. Es besteht also ein grundsätzliches Problem darin, sich gegenüber zukünftigen Generati-
onen rational zu verhalten. Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 2-12.
58
Vgl. K
ERSTING
(2000), S. 14.
59
Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 48-51.
60
Vgl. A
UERBACH
(1995), S. 17-19.
61
Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 131.
62
Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 36 und 84.

12
Um die hier genannten Grenzen weiter abzubauen, hilft erneut eine Orientierung an R
AWLS
`
Vorstellungen intergenerativer Gerechtigkeit. R
AWLS
begründet seinen Generationenvertrag
auf der Vorstellung, dass es sich bei der Menschheit um eine intertemporale Gemeinschaft
handelt. Da aber zwischen zeitlich getrennt lebenden Generationen auch in einer intertempo-
ralen Gemeinschaft keine Kommunikation möglich ist, können zukünftige Generationen ge-
genüber gegenwärtig lebenden Generationen sprachlich nicht agieren. Die moralischen Vor-
stellungen gegenwärtiger Generationen stellen den einzigen Weg der Einflussnahme dar. Als
eine Minimalforderung solcher Moralvorstellungen soll hier gelten, dass irreversible Ent-
scheidungen prinzipiell zu unterlassen sind.
63
Eine andere Motivation, sich gegenüber zukünftigen Generationen moralisch zu verhalten,
kann aus der Liebe erwachsen, die Eltern ihren Kindern bei der Erziehung weitergeben.
64
Damit kommt der Familie eine bedeutende Stellung zu. Sie bildet das Rückgrat unserer Ge-
sellschaft. Als zusammenlebende Familienangehörige (gemeinsames Wohnen und Wirtschaf-
ten) lebten 1998 in Deutschland 56 v. H. der Bevölkerung.
65
Die klassischen Gerechtigkeits-
forderungen Umverteilung und Selbstbeschränkung
66
werden im familialen Verband täglich
gelebt.
67
Doch die familialen Verhältnisse haben sich auch in Deutschland seit der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert. Die Stabilität von Ehe, Elternschaft und Familie hat
abgenommen.
68
Und die neuen Lebensentwürfe von Frauen und Müttern sorgen dafür, dass
familiale Lebensformen ausdifferenziert werden.
69
Dies schwächt den Zusammenhalt von
Familiennetzen.
70
Zudem sind in der Familie neben dieser Entsolidarisierung Trends der
Segmentierung (verstärktes Gehen getrennter Wege), Privatisierung (Zurückziehen und Ei-
63
Vgl. hierzu auch Fußnote 12. Zudem sind mangelnde Planbarkeit und Vorhersagbarkeit unserer Handlungen
keine Entschuldigung für gegenwärtige Untätigkeit. Verstärkt wird dieses Argument dadurch, dass zukünfti-
ge Generationen geradezu davon abhängig sind, wie ihnen die Erde überlassen wird. Vgl. dazu A
UERBACH
(1995), S. 14-18.
64
Vgl. V
ISSER
'
T
H
OOFT
(1999), S. 46-47 und 87.
65
Damit lebten 1998 in Deutschland insgesamt 46 Mio. Menschen in den rund 13 Mio. Haushalten von Famili-
en mit Kindern. Vgl. B
UNDESREGIERUNG
(2001), S. 96.
66
Vgl. Fußnote 34.
67
Innerhalb der Familie bestehen zwischen den Generationen zahlreiche Hilfe- und Unterstützungsbeziehun-
gen, die nicht auf Einseitigkeit beruhen. Diese Leistungen werden als besonders verlässlich empfunden, kön-
nen aber auch zu belastenden Abhängigkeiten führen. Vgl. B
UNDESREGIERUNG
(2001), S. 103.
68
So betrug 1998 die Zahl nicht-ehelich geborenen Kinder in Deutschland 20 v. H. aller Neugeborenen. Im
selben Jahr wurden 12 bis 15 v. H. der Kinder mit der elterlichen Scheidung noch vor ihrer Volljährigkeit
konfrontiert. Weiterhin wird die reine Versorgerehe immer seltener. Vgl. B
UNDESREGIERUNG
(2001), S. 97-
100.
69
Vgl. B
UNDESMINISTERIUM FÜR
F
AMILIE
, S
ENIOREN
, F
RAUEN UND
J
UGEND
(2001), S. 45.
70
Der Einfluss familialer Milieus wird insbesondere zurückgedrängt durch öffentliche Einrichtungen (z. B.
Kindergärten), Peergroups, Medien, neue Informations- und Kommunikationstechniken. Vgl. B
UNDESMINIS-
TERIUM FÜR
F
AMILIE
, S
ENIOREN
, F
RAUEN UND
J
UGEND
(2001), S. 42.

13
geninteresse der Familien) und Kommerzialisierung (Bedeutungszuwachs der materiellen
Organisation des Zusammenlebens) erkennbar.
71
Dennoch bleibt die Familie ein generationen- und haushaltsübergreifendes Netz, in dem die
Lebensbewältigung gestützt und die individuelle Entfaltung der Familienmitglieder gefördert
wird.
72
Zusammenfassend genießt sie als ,,Aushandlungsort und emotionaler Rückhalt" hohe
Priorität, während sie als ,,Herkunftsmilieu und Stätte der Wertebildung" an Bedeutung ver-
liert.
73
Die Entwicklungs-, Sozialisations- und Lernprozesse in der Familie bilden die Grund-
lage für das eigene spätere Bestehen in der Gesellschaft.
74
Der Grundbestand der Familie wird also nicht dadurch gefährdet, dass eine umfassende Theo-
rie intergenerativer Gerechtigkeit bisher nicht entwickelt werden konnte. Da die Theorielücke
im Rahmen dieser Arbeit nicht geschlossen werden kann und soll, erfolgt eine Orientierung
an vier zentralen Forderungen der Generationengerechtigkeit: Umverteilung und Selbstbe-
schränkung, Chancengleichheit, Unterlassen irreversibler Entscheidungen. Diese Forderungen
erhalten einen konkreten Charakter bezogen auf die Dimensionen der Generationengerechtig-
keit, die im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.
2.3 Dimensionen intergenerativer Gerechtigkeit
Unter den Dimensionen intergenerativer Gerechtigkeit werden hier solche Lebenswelten ver-
standen, die beim Handeln der gegenwärtigen Generationen einen Zukunftsbezug aufweisen
und damit Chancen und Lebensbedingungen künftiger Generationen beeinflussen. Viele Be-
reiche des täglichen Handelns nehmen ­ meist unbewusst ­ Einfluss auf die Zukunftschancen
unserer Nachkommen.
75
Im Rahmen dieser Arbeit wird jedoch ausschließlich die soziale, die
ökonomische sowie die ökologische Dimension betrachtet.
76
71
Vgl. dazu B
UNDESREGIERUNG
(2001), S. 102.
72
B
UTTERWEGGE
(2002), S. 237 erkennt sogar eine ,,Renaissance der Familie". Er sieht die Wiederbelebung
von Familienideologie und traditionellen Haltungen als Indizien dafür. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale
Not sorgten dafür, dass Familie nicht zum Auslaufmodell werde. Die 14. S
HELL
J
UGENDSTUDIE
beweist den
hohen Stellenwert, die die Familie bei den Jugendlichen genießt. Vgl. D
EUTSCHE
S
HELL
(2002), S. 18.
73
Vgl. B
UNDESMINISTERIUM FÜR
F
AMILIE
, S
ENIOREN
, F
RAUEN UND
J
UGEND
(2001), S. 45.
74
Vgl. B
UNDESREGIERUNG
(2001), S. 101-117 und K
ÖSTERS
(1999), S. 111.
75
Vgl. Fußnote 32.
76
Eine weitere Dimension besteht z. B. im Bereich Sicherheit und Verteidigung. Aus der unzureichenden Ant-
wort der USA auf die Ursachen des internationalen Terrorismus ist zu befürchten, dass zukünftig mit weite-
ren Anschlägen oder Terrorwellen zu rechnen ist. Denn Gewalt erzeugt Gegengewalt. Vgl. S
CHOLL
-L
ATOUR
(2003), S. 9-60 und T
ODENHÖFER
(2003), S. 40-56 und 109-111. Nahrung, Wasser und Arbeit sind die lang-
fristigen Antworten auf Terror. Vgl. S
ACHS
(2002), S. 15. Folgt aber diese Antwort nicht, ist die Sicherheit
heutiger und zukünftiger Generationen in Gefahr.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832476656
ISBN (Paperback)
9783838676654
DOI
10.3239/9783832476656
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg – Wirtschafts- und Organisationswissenschaften
Erscheinungsdatum
2004 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
generationenvertrag generation nachhaltigkeitslücke sozialversicherung staatsverschuldung
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