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Die Britische Presseberichterstattung zur Deutschen Wiedervereinigung in der "Times" und im "Guardian"

©1997 Magisterarbeit 135 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Als am 3. Oktober 1990 die britische Premierministerin Margaret Thatcher das vereinigte Deutschland als Freund, Verbündeten und Partner willkommen hieß, markierte sie damit den vorläufigen Schlußpunkt einer turbulenten Entwicklung, die ein Prüfstein für die deutsch-britischen Beziehungen gewesen war. Auch wenn britische Experten schon Ende der achtziger Jahre die osteuropäischen Reformbewegungen intensiv beobachtet und Veränderungen in der deutschen Frage prognostiziert hatten, war London wie alle anderen Hauptstädte von der Schlagartigkeit der Ereignisse, die mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 ihren Lauf nahmen, überrascht worden.
Großbritannien war durch die unvorhergesehene Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf drei Ebenen betroffen: Als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges bestanden besondere Rechte und Verpflichtungen gegenüber Deutschland als Ganzem; im Rahmen der militärischen NATO-Partnerschaft war Großbritannien Schutzmacht der Bundesrepublik und West-Berlins; schließlich bestanden intensive wirtschaftliche und politische Verflechtungen mit Westdeutschland als Partner innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Ohne die Zustimmung aller Siegermächte – und damit auch Großbritanniens – wäre die Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht möglich gewesen. Im Rahmen von NATO, EG und den Zwei–plus–Vier–Beratungen über die deutsche Einheit hat die britische Politik den Weg der Wiedervereinigung maßgeblich mitbestimmt.
Zunächst jedoch avancierte Premierministerin Thatcher zur profiliertesten Gegnerin des deutschen Einigungsprozesses. Auch die britische Bevölkerung stand der sich abzeichnenden Wiedervereinigung im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr skeptisch gegenüber.
Dieser Stimmungsumschwung und die Tragweite, die die deutsche Wiedervereinigung für Großbritannien hatte, wirft die Frage auf, inwieweit die Entwicklung der Jahre 1989 bis 1990 das Deutschlandbild der Briten beeinflußt hat. Für die Analyse dieses Bildes bietet sich eine Untersuchung der Berichterstattung über die deutsche Entwicklung in der britischen Presse an. Eine solche Untersuchung, die im Rahmen dieser Arbeit erfolgen wird, kann Aufschluß geben über die Gründe für die vergleichsweise großen Vorbehalte der Briten gegenüber der deutschen Wiedervereinigung.
Im Verlauf dieser Arbeit wird untersucht, inwieweit sich in den Berichten über die Wiedervereinigung Deutschlands zwischen 1989 und 1990 eine […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7577
Kruse, Nikolaus: Die Britische Presseberichtserstattung zur Deutschen
Wiedervereinigung in der "Times" und im "Guardian"
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Universität Hamburg, Universität, Magisterarbeit, 1997
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

I
NHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG ...1
1.1. Q
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-
UND
F
ORSCHUNGSSTAND
... 7
1.2. G
ANG DER
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NTERSUCHUNG
...10
2. IMAGES, PRESSE UND ÖFFENTLICHE MEINUNG...14
2.1. N
ATIONALE
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ORURTEILE UND
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TEREOTYPE
...15
2.2. D
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RESSE ALS
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EINUNG
...17
3. DAS BRITISCHE DEUTSCHLANDBILD VOR
1989
...23
3.1. D
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EILUNG
D
EUTSCHLANDS UND DIE
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EZIEHUNGEN ZUR
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UNDESREPUBLIK
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3.2. D
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4. DIE BERICHTERSTATTUNG ÜBER DIE WIEDERVEREINIGUNG...36
4.1. D
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EG ZUR
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INHEIT
...38
4.2. M
AUERÖFFNUNG
...58
4.3. S
ICHERHEITSASPEKTE
...63
4.3.1. Das Sicherheitsrisiko Deutschland ...64
4.3.2. NATO-Mitgliedschaft...68
4.4. W
IRTSCHAFTLICHE
A
SPEKTE
...73
4.4.1. Deutsche Wirtschaftsmacht ...73
4.4.2. Europäische Gemeinschaft ...77
4.5. D
EUTSCHER
N
ATIONALISMUS
...80
4.5.1. Die Diskussion um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze...81
4.5.2. Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit ...85
4.6. D
IE
B
EWERTUNG DER BRITISCHEN
P
OLITIK
...88
4.6.1. Der Widerstand Margaret Thatchers ...89
4.6.2. Die Ridley-Affäre und das Chequers-Seminar...92
4.7. D
IE
B
EWERTUNG DER DEUTSCHEN
P
OLITIK
...98
4.8. C
ONOR
C
RUISE
O'B
RIEN
... 104
5. DAS PROFIL DER DEUTSCHLANDBERICHTERSTATTUNG IM VERGLEICH112
6. EIN VERÄNDERTES DEUTSCHLANDBILD? FAZIT UND AUSBLICK... 118
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ... 123

Einleitung
1
,,We are on the road to the Fourth Reich: a pan-
German entity, commanding the full allegiance of
German nationalists, and constituting a focus for
national pride."
Conor Cruise O'Brien
1
1. E
INLEITUNG
Als am 3. Oktober 1990 die britische Premierministerin Margaret Thatcher das
vereinigte Deutschland als Freund, Verbündeten und Partner willkommen hieß
2
,
markierte sie damit den vorläufigen Schlußpunkt einer turbulenten Entwicklung, die
ein Prüfstein für die deutsch-britischen Beziehungen gewesen war. Auch wenn
britische Experten schon Ende der achtziger Jahre die osteuropäischen
Reformbewegungen intensiv beobachtet und Veränderungen in der deutschen Frage
prognostiziert hatten
3
, war London wie alle anderen Hauptstädte von der
Schlagartigkeit der Ereignisse, die mit der Öffnung der Berliner Mauer am
9. November 1989 ihren Lauf nahmen, überrascht worden
4
.
Großbritannien war durch die unvorhergesehene Wiedervereinigung
5
der beiden
deutschen Staaten auf drei Ebenen betroffen: Als Siegermacht des Zweiten
Weltkrieges bestanden besondere Rechte und Verpflichtungen gegenüber
Deutschland als Ganzem; im Rahmen der militärischen NATO-Partnerschaft war
Großbritannien Schutzmacht der Bundesrepublik und West-Berlins
6
; schließlich
1
Conor Cruise O'Brien: Beware a Reich resurgent. In: Times, 31.10.1989, S. 18.
2
,,We face the future as friends, allies, and partners". Grußbotschaft Margaret Thatchers an Helmut Kohl.
Zitiert nach: Guardian, 4.10.1990, S. 11.
3
So etwa Deutschlandexperte David Marsh Anfang 1989: ,,There is a trap ahead, and the West could be
caught badly unprepared. The trip-wire lies in the German Democratic Republic". David Marsh: The
Germans. Rich, Bothered and Divided. London 1989, S. 323.
4
Vgl. Yvonne Klein: Großbritannien nach der Wiedervereinigung. In: Die Politische Meinung. Monatsschrift zu
Fragen der Zeit. Nr. 310, Jahrgang 40, September 1995, S. 19-24, hier: S. 20.
5
Die Frage, ob der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten als Vereinigung oder als
Wiedervereinigung zu bezeichnen ist, hat sich für die britischen Beobachter eindeutig beantwortet. Von
Beginn an wurde der Einigungsprozeß in den britischen Zeitungen als reunification bzw. re-unification
beschrieben, wobei mit dieser Bezeichnung in der Regel eine Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR
verbunden war. Die Times verurteilte die Unterscheidung zwischen den Worten unification und reunifcation als
trügerisch: ,,It is a specious distincion. It glosses over the fact that both communists and Social Democrats,
though once firm advocates of the neutral reunited Germany for which they campaigned 40 years ago, had
until last November vehemently dismissed any active desire to abolish East German independence as
,revanchism'." Times, 22.2.1990, S. 15.
6
Diese Schutzmachtfunktion bestand schon seit 1950, nachdem die drei Westmächte nach einer Konferenz in
New York bekanntgegeben hatten, daß sie einen Angriff auf die Bundesrepublik oder West-Berlin als Angriff

Einleitung
2
bestanden intensive wirtschaftliche und politische Verflechtungen mit West-
deutschland als Partner innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Ohne die
Zustimmung aller Siegermächte -- und damit auch Großbritanniens -- wäre die
Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht möglich gewesen. Im Rahmen von
NATO, EG und den Zwei--plus--Vier--Beratungen über die deutsche Einheit hat die
britische Politik den Weg der Wiedervereinigung maßgeblich mitbestimmt.
Die offizielle britische Haltung zu einer möglichen Wiedervereinigung
Deutschlands war klar festgelegt. Im Deutschlandvertrag hatten sich die westlichen
Alliierten in den fünfziger Jahren verpflichtet, ,,zusammenzuwirken, um mit friedlichen
Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland"
7
.
Diese Position war in den folgenden Jahrzehnten immer wieder bestätigt worden,
zuletzt hatte der damalige Außenminister John Major im September 1989 bei einem
Besuch in Bonn die Gültigkeit des Deutschlandvertrages unterstrichen
8
. Mit der
zunehmenden Aktualität, die die Wiedervereinigungsdebatte durch die De-
stabilisierung in der DDR erhielt, wurden die britischen Stellungnahmen zur deutschen
Frage jedoch reservierter. Premierministerin Thatcher verkündete noch im Dezember
1989, daß die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe
9
, und
avancierte in der Folgezeit zur profiliertesten Gegnerin des deutschen Einigungs-
prozesses. Auch die britische Bevölkerung stand der sich abzeichnenden Wieder-
vereinigung im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr skeptisch
gegenüber. Je wahrscheinlicher die politische Einigung wurde, desto geringer wurde
die Zahl ihrer Befürworter. Im Januar 1990 standen nur noch 45 Prozent aller Briten
der deutschen Einheit positiv gegenüber, nachdem im Oktober 1989 noch 70
Prozent der Briten die Einheit befürwortet hatten
10
.
auf sich selbst ansehen würden. Vgl. Hermann Proebst: Deutsch-britische Beziehungen nach dem Krieg. In:
Karl Kaiser/ R. Morgan (Hgg.): Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der
Bundesrepublik. München, Wien 1970 [Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik, Bd. 29], S. 183-192, hier: S. 187.
7
Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten
(Deutschlandvertrag), in der geänderten Fassung vom 23.10.1954, Artikel 7, Absatz 2. Abgedruckt in:
Joachim Jens Hesse/ Thomas Ellwein (Hgg.): Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. 7.,
völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage Opladen 1992. Bd. 2: Materialien, S. 27-30, hier: S. 29.
8
,,Wir stehen zu unserer Verpflichtung, die wir Mitte der fünfziger Jahre eingegangen sind". Zitiert nach: Die
Tageszeitung (taz), 25.9.1989, S. 3.
9
So etwa am Rande des NATO-Gipfeltreffen am 4. Dezember 1989 in Brüssel. Vgl. Times, 5.12.1989, S. 1.
10
Zahlen aus: Richard Davy: Großbritannien und die Deutsche Frage. In: Europa-Archiv 4/1990, S. 139-144,
hier: S. 140. Die Ergebnisse entstammen einer Umfrage von Economist und New York Times. Ein ähnliches
Bild zeichnen die Ergebnisse von Umfragen im Auftrag der Europäischen Gemeinschaft. Danach waren im

Einleitung
3
Dieser Stimmungsumschwung und die Tragweite, die die deutsche Wieder-
vereinigung für Großbritannien hatte, wirft die Frage auf, inwieweit die Entwicklung
der Jahre 1989 bis 1990 das Deutschlandbild der Briten beeinflußt hat. Für die
Analyse dieses Bildes bietet sich eine Untersuchung der Berichterstattung über die
deutsche Entwicklung in der britischen Presse an. Welchen Einfluß die Presse-
berichterstattung beider Länder auf das deutsch-britische Verhältnis hat, ist in jüngster
Zeit wieder durch die Affäre um einen Zeitungsartikel über den damaligen britischen
Außenminister Malcolm Rifkind deutlich geworden:
Eine Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) hatte im Februar
1997 bei einem Besuch des britischen Außenministers in Bonn festgestellt, daß ,,der
Jude Rifkind -- ironisch apologetisch --"
11
in seiner Rede ein Zitat Martin Luthers
benutzt hatte
12
. Die Bezeichnung ,,Jude" rief einen Sturm der Entrüstung in der
britischen Presse hervor, und der Vorfall entwickelte sich zum bestimmenden
Medienereignis der folgenden Tage
13
. Zahlreiche Politiker forderten, Premierminister
John Major solle eine Entschuldigung der deutschen Regierung verlangen
14
. Erst
nachdem Rifkind selbst erklärt hatte, er betrachte die Angelegenheit als erledigt, legte
sich die Aufregung in der britischen Öffentlichkeit
15
.
Die Sensibilität der britischen Presse, die in der Affäre um den FAZ-Artikel zum
Ausdruck gekommen ist, läßt eine intensive und emotionale Beschäftigung der
November 1989 71 Prozent der Briten für eine deutsche Wiedervereinigung; im Frühjahr 1990 hatte sich die
Zahl der Befürworter auf 64 Prozent reduziert. Damit lag Großbritannien deutlich unter dem Durchschnitt in
der Europäischen Gemeinschaft, der bei 78 Prozent im November 1989 bzw. 71 Prozent im Frühjahr 1990
lag. Vgl. Eurobarometer. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Gemeinschaft. Herausgegeben von
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften [Kurztitel: Eurobarometer], Nr. 34, Dezember 1990, S. A
26.
11
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 20.2.1997, S. 2.
12
Rifkind hatte den britischen Widerstand zu einer weiteren Integration der Europäischen Union mit den Worten
kommentiert: ,,Hier stehe ich, ich kann nicht anders". FAZ, 20.2.1997, S. 2.
13
Der Daily Telegraph hatte den FAZ-Artikel am Tag nach Veröffentlichung in einer kurzen Meldung erwähnt
und als ,,most tactless comment" verurteilt. Daily Telegraph, 21.2.1997, S. 29. Die BBC machte daraufhin die
Affäre zur Hauptnachricht, zahlreiche Zeitungen berichteten auf ihrer Titelseite über den Vorfall. Vgl. u.a. die
Times, die die Affäre im Kontext sah mit einer ,,changing sensitivity of German journalistic language". Times,
22.2.1997, S. 1f. Der Daily Telegraph kritisierte die Weigerung der FAZ, sich zu entschuldigen. Daily
Telegraph, 22.2.1997, S. 1.
14
Der frühere Labour-Schattenaußenminister Gerald Kaufmann erklärte: ,,It is disgusting. I was absolutely
appalled when I saw it. Words fail me. I cannot express my irritation strongly enough. The Prime Minister
should do something about it". Der konservative Abgeordnete Ivan Lawrence verlangte: ,,The Germans ought
to apologise without being asked. It stirs up our worst forebodings about closer political union with Germany.
I expect John Major will demand an apology". Zitiert nach Times, 22.2.1997, S. 2. Weder die
Bundesregierung noch die FAZ sahen jedoch einen Anlaß, sich für den Gebrauch des Wortes ,,Jude" zu
entschuldigen. Vgl. FAZ, 24.2.1997, S. 2.

Einleitung
4
britischen Zeitungen mit dem ungleich bedeutenderen Prozeß der deutschen Wieder-
vereinigung vermuten. Im Gegensatz zur französischen, sowjetischen und ameri-
kanischen Reaktion auf den Einigungsprozeß ist eine umfassende Analyse der
britischen Berichterstattung bislang noch nicht erarbeitet worden
16
. Eine solche
Untersuchung, die im Rahmen dieser Arbeit erfolgen wird, kann jedoch Aufschluß
geben über die Gründe für die vergleichsweise großen Vorbehalte der Briten
gegenüber der deutschen Wiedervereinigung. Es ist zu vermuten, daß sich die
Vorbehalte, die sich in den Meinungsumfragen und in der Reaktion der britischen
Regierung gezeigt hatten, in der Schwerpunktsetzung und Kommentierung der
britischen Zeitungen widerspiegelten. Vor diesem Hintergrund sollen für die Analyse
der Deutschlandberichterstattung in der britischen Presse folgende zentrale Fragen
beantwortet werden:
· Welche Bedeutung wurde der deutschen Entwicklung von Beginn an
beigemessen, und zu welchem Zeitpunkt stand für die britische Presse eine
Wiedervereinigung als mögliches Ergebnis der Entwicklung auf der
Tagesordnung? Welche Themen erschienen aus britischer Sicht dabei besonders
relevant?
· Ist durch die intensive Beschäftigung mit der deutschen Entwicklung in der
britischen Presse eine Veränderung im Deutschlandbild festzustellen?
Die Fülle von Material, die für eine Analyse der britischen Berichterstattung in
Frage kam, machte eine Auswahl der Quellen erforderlich. Zunächst wurde die Basis
der Untersuchung auf nationale Tageszeitungen eingegrenzt, da sie durch ihre
tägliche Erscheinungsweise eine kontinuierliche und umfassende Berichterstattung
bieten. Innerhalb der Tageszeitungen wurde die Basis für die Untersuchung auf die
einflußreichen quality papers
17
eingeschränkt, denen im Vergleich zu den britischen
15
Rifkind erklärte: ,,Ich habe weder die Absicht, die Sache weiter zu verfolgen, noch wünsche ich, daß jemand
anders es tut". Zitiert nach FAZ, 24.2.1997, S. 2
16
Für die Reaktion in den übrigen drei alliierten Staaten vgl.: Nikolai Pawlow: Die deutsche Vereinigung aus
sowjetisch-russischer Perspektive. Frankfurt a. M. 1996; Susanne von Bassewitz: Stereotypen und Massen-
medien. Zum Deutschlandbild in französischen Tageszeitungen. Wiesbaden 1990; Jens Knappe: Die USA
und die deutsche Einheit. Amerikanische Deutschlandpolitik im Kontext von veröffentlichter und öffentlicher
Meinung 1989/90. München 1996.
17
Die britische Presselandschaft wird in der Regel aufgeteilt in seriöse quality papers, die sich an eine
intellektuell gehobene Leserschaft richten, und in populars, die mit hoher Auflage auf ein Massenpublikum
zielen. Aufgrund ihres größeren Formats werden die quality papers auch als broadsheets bezeichnet,
während für die meist kleinformatigen Massenblätter auch der Begriff tabloids gebraucht wird. Vgl. Colin

Einleitung
5
Massenblättern, den tabloids, ein größeres politisches Gewicht zugeschrieben
wird
18
. Von den quality papers wurden die Times und der Guardian für die Analyse
berücksichtigt.
Die Auswahl von Times und Guardian ist in ihrer überragenden Stellung in der
britischen Presselandschaft begründet. Die auflagenstärkste Zeitung aus dem Bereich
der quality papers ist zwar der Daily Telegraph
19
, sein politischer Einfluß wird trotz
der hohen Auflage jedoch seit jeher als gering eingestuft. Francis Williams stellte
1946 fest, der Daily Telegraph folge ,,editorially a policy of rather dull safety first [...].
To read the Telegraph is rather like carrying a neatly-rolled umbrella"
20
. Bis heute
wird dem Telegraph eine zu große Nähe zur konservativen Partei vorgeworfen; seine
unkritische Berichterstattung zur Zeit der konservativen Regierung brachte ihm den Ruf
ein, ,,superloyal"
21
zu sein. Times und Guardian hingegen gelten in ihrer jeweiligen
Zielgruppe als Meinungsführer: ,,In ihren politischen Ausrichtungen sind sie für die
seriöse Tagespresse repräsentativ. Sie füllen das Feld vom Linksliberalismus bis hin
zum liberalen Konservativismus"
22
. Abbildung 1 verdeutlicht die unterschiedliche
0
20
40
60
80
Conservative
Labour
%
Times
Guardian
Abbildung 1: Leserschaft -- politische Ausrichtung (1989)
23
Ausrichtung von Times und Guardian bezüglich ihrer Leserschaft. Die Times als
Seymour-Ure: The British Press and Broadcasting since 1945. Oxford, Massachusetts 1991 [Making
Contemporary Britain], S. 27f.
18
Zur Erklärung der unterschiedlichen Bedeutung von quality papers und tabloids für die öffentliche Meinung
vgl. Kapitel 2.2.
19
Neben den auflagenstarken tabloids wie der Sun (Auflage: 4,2 Millionen Exemplare) oder dem Daily Mirror
(Auflage: 3,2 Millionen) war der Daily Telegraph im untersuchten Zeitraum mit 1,1 Millionen Exemplaren die
mit Abstand größte Zeitung unter den qualities. Times und Guardian folgten auf den Plätzen zwei und drei mit
jeweils rund 440.000 Exemplaren. Zahlen aus: Seymour-Ure, S. 28f.
20
Francis Williams: Press, Parliament and People. London 1946, S. 177f.
21
Seymour-Ure, S. 198.
22
Winfried Böttcher: Deutschland aus britischer Sicht. 1960-1972. Wiesbaden, Frankfurt a.M. 1972, S. 14.

Einleitung
6
klassisches konservatives Blatt spiegelt ihre politische Ausrichtung in der konservativ
geprägten Leserschaft wider. Dagegen rechneten sich im untersuchten Zeitraum zwei
von drei Guardian-Lesern zu den Anhängern der Labour Party.
Die Times war und ist nahezu ein Synonym für die britische Zeitung
24
. Das einfluß-
reiche konservative Blatt wurde 1785 unter dem Namen The Daily Universal Register
gegründet und 1788 in The Times umbenannt. In den folgenden zwei Jahrhunderten
wechselte die Zeitung mehrfach ihren Besitzer. Nach der Übernahme durch die
kanadische Thomson Gruppe im Jahre 1966 und mehreren gescheiterten Versuchen,
das Blatt in den siebziger Jahren zu modernisieren, wurde es 1981 vom australischen
Medienunternehmer Rupert Murdoch übernommen
25
. Zum Murdoch-Besitz gehören
neben zahlreichen amerikanischen und australischen Zeitungen und Fernsehsendern
auch die britischen Sonntagszeitungen News of the World und Sunday Times sowie
die auflagenstärkste britische Boulevardzeitung Sun. Nach der Übernahme durch
Murdochs News Corp. stieg die Auflage der Times stark an, diese Steigerung wurde
jedoch mit einer ,,Boulevardisierung" des Blattes erkauft
26
.
Der Guardian wurde 1821 von John Edward Taylor in Manchester gegründet
27
.
Seine liberale Ausrichtung wurde geprägt durch den späteren Besitzer und Chef-
redakteur C. P. Scott, ,,one of the great Liberal voices of British journalism for half a
century into the 1920"
28
. Scott war selbst zeitweilig Abgeordneter für die Liberal
Party. Bis heute ist der Guardian im Besitz des Scott--Trust, einer Stiftung, die von den
Erben C. P. Scotts kontrolliert wird. Lange Zeit war der Guardian die einzige
nationale Tageszeitung, die nicht aus London stammte. Dies änderte sich erst 1961,
als auch die Guardian-Redaktion nach London wechselte und aus dem ur-
sprünglichen Namen Manchester Guardian die Bezeichnung Manchester wegfiel
29
.
Der Guardian gilt wie die Times als seriös und unabhängig, jedoch mit einer Affinität
23
Quelle: Market and Opinion Research International (MORI), vgl. Times, 20.12.1989, S. 30.
24
Vgl. die Einschätzung Winfried Böttchers: ,,Absolut unabhängig; Ruf als ,Stimme Großbritanniens', jedoch
kein Regierungsorgan; in der Haltung zum liberalen Konservatismus neigend". Böttcher, S. 367.
25
Vgl. Seymour-Ure, S. 110f.
26
Vgl. dazu jüngst Alexander von Schönburg: Changing Times. In: Die Zeit, 24.10.1997, S. 63.
27
Der ursprüngliche Name war daher Manchester Guardian.
28
Seymour-Ure, S. 37.
29
Vgl. Geoffrey Taylor: Changing Faces. A History of The Guardian 1956--1988. London 1993, S. 28.

Einleitung
7
zur Labour Party
30
, er ist ,,das Blatt der liberalen Intelligenzija"
31
. Nach eigener Ein-
schätzung sieht der Guardian seine politische Ausrichtung vergleichbar mit der
deutschen Frankfurter Rundschau
32
.
Die gegensätzliche politische Ausrichtung von Times und Guardian, die im
Rahmen dieser Arbeit die Analyse eines breiten Meinungsspektrums ermöglicht, legt
neben den oben angeführten erkenntnisleitenden Fragen eine weiteren Fragestellung
nahe:
· Inwieweit ist ein Unterschied in der Berichterstattung von Times und Guardian zu
erkennen? Unterschied sich die Bewertung der deutschen Entwicklung aus
konservativer und aus linksliberaler Sichtweise?
1.1. Quellen- und Forschungsstand
Die Quellenbasis dieser Arbeit bilden die Ausgaben von Times und Guardian
zwischen Juli 1989 und Oktober 1990
33
. Beide Zeitungen lagen für den
untersuchten Zeitraum vollständig in gedruckter Form vor. Hilfreich für die
Untersuchung war, daß der Guardian für das Jahr 1990 zusätzlich als CD-ROM
34
zugänglich war.
Zur Einordnung der Berichterstattung von Times und Guardian in den Kontext der
deutschen und britischen Presseberichte erwies sich der Bestand des Presseausschnitts-
archivs des Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung (HWWA) als nützlich
35
. Des
weiteren wurden die Online-Archive der Times, des Independent und des Daily
Telegraph genutzt, die eine Recherche der aktuellen Deutschlandberichterstattung in
30
Vgl. die Bewertung Böttchers: ,,Unabhängig; neben der Times das seriöse Blatt Großbritanniens; in der
Haltung zum Links-Liberalismus neigend". Böttcher, S. 367.
31
Schönburg, S. 63.
32
,,Frankfurter Rundschau, politically the German equivalent of the Guardian". Guardian, 14.7.1990, S. 3.
33
Für die Begründung des Zeitraumes vgl. Kapitel 1.2.
34
The Guardian on CD-ROM. London 1990.
35
Im Ausschnittsarchiv des HWWA wurden aus britischer Sicht vor allem die Financial Times, der Guardian und
der Economist berücksichtigt, aus deutscher Sicht insbesondere die Welt, die Tageszeitung (taz) und die
Süddeutsche Zeitung.

Einleitung
8
Großbritannien ermöglichten
36
.
Die britische Presseberichterstattung über Deutschland ist Bestandteil zahlreicher
Arbeiten über die deutsch-britischen Beziehungen. Unter den Autoren hervorzuheben
sind hier in den letzten Jahren Regi Schnepper, die in ihrer Dissertation die Reaktion
der Presse auf die Staatsbesuche deutscher Bundespräsidenten in Großbritannien
analysiert
37
, und Joachim Glaeßner, der das Deutschlandbild in den britischen
Zeitungen kurz vor der Wende des Jahres 1989 zusammenfaßt
38
. Eine kurze
Übersicht über die Reaktion der britischen Öffentlichkeit auf die Wiedervereinigung
ist bei Günter Heydemann zu finden
39
. Heydemann stützt sich in seiner Analyse auf
eine Sammlung von Presseartikeln über die deutsche Entwicklung, die von der
deutschen Botschaft in London zusammengestellt worden ist. Einen weiteren kurzen
Überblick über die britische Reaktion auf den deutschen Einigungsprozeß hat Julian
Bullard zusammengestellt
40
. Bullard, der zwischen 1984 und 1988 britischer
Botschafter in Bonn war, kommentierte während der Wendezeit selbst die deutsche
Entwicklung als Gastautor für den Guardian
41
. Eine umfassende Darstellung der
britischen Berichterstattung über die deutsche Vereinigung existiert bislang jedoch
nicht.
Grundlegend für das Deutschlandbild der Briten in den ersten Jahren nach dem
Zweiten Weltkrieg ist die Untersuchung von Donald C. Watt
42
. An die Ergebnisse von
Watt anknüpfend hat Winfried Böttcher eine Analyse des britischen Deutschland-
36
Alle drei Zeitungen bieten im Internet eine Volltextsuche über ausgewählte Artikel der letzten beiden
Jahrgänge an. Die Angebote sind unter folgende Internet-Adressen erreichbar: Times: http:www.the-
times.co.uk; Independent: http://www.independent.co.uk; Daily Telegraph: http://www.telegraph.co.uk.
37
Regi Schnepper: Nationenbilder im Wandel. Zur Entwicklung von Deutschlandbildern in Großbritannien.
Diss. Duisburg 1990. Einen anderen Weg zur Untersuchung des Deutschlandbildes der Briten wählt Stefanie
Hortmann. In ihrer Dissertation analysiert sie Befragungen britischer Gaststudenten in Deutschland. Stefanie
Hortmann: Deutschland aus britischer Sicht. Eine Untersuchung der Deutschlandbilder britischer Studenten in
Nordrhein-Westfalen. Diss. Duisburg 1992.
38
Joachim Glaeßner: Don't trust the Germans! Anmerkungen zum Deutschlandbild in der britischen Presse. In:
Deutschland Archiv 22 (1989), Nr. 9, S. 1027-1034.
39
Günther Heydemann: Partner or rival? The British perception of Germany during the process of unification
1989-1991. In: Harald Husemann (Hg.): As others see us: Anglo-German perceptions. Frankfurt a.M. 1994,
S. 123-147 [Kurztitel: Heydemann, Partner or rival].
40
Julian Bullard: Die britische Haltung zur deutschen Wiedervereinigung. In: Josef Becker (Hg.):
Wiedervereinigung in Mitteleuropa. Außen- und Innenansichten zur staatlichen Einheit
Deutschlands. München 1992 [Schriften der philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, Nr. 43],
S. 27-42 [Kurztitel: Bullard, Britische Haltung].
41
Bullard schrieb regelmäßig für den Guardian, aber auch die Times veröffentlichte vereinzelt seine
Kommentare. Vgl. Julian Bullard: Case for the dated gladiators. In: Times, 12.12.1989, S. 16.

Einleitung
9
bildes in den sechziger Jahren erstellt
43
. Böttcher untersuchte die britische Reaktion
auf politische Ereignisse in Deutschland empirisch anhand ausgewählter über-
regionaler Zeitungen. Einzelaspekte der historischen Entwicklung des britischen
Deutschlandbildes werden in dem von Bernd Jürgen Wendt herausgegebenen Band
,,Das britische Deutschlandbild im 19. und 20. Jahrhundert" untersucht
44
. Der
Sammelband enthält ein ,,outstanding survey"
45
von Gottfried Niedhart über die Be-
deutung von Perzeptionen und Images für die internationalen Beziehungen
46
. Eine
aktuelle Übersicht über die gegenseitige Wahrnehmung Deutschlands und Groß-
britanniens ist in dem 1994 erschienenen Sammelband ,,As others see us" zu finden,
das die Ergebnisse einer Konferenz über die deutsch-britische Perzeption
zusammenfaßt, die 1992 in Osnabrück stattfand
47
.
Eine gute allgemeine Darstellung von Deutschlandbildern im Ausland findet sich
bei Manfred Koch-Hillebrecht
48
. Als Referent im Presse- und Informationsamt der
Bundesregierung hatte er mehrere Jahre Untersuchungen über das Deutschlandbild
im Ausland durchgeführt. Zahlreiche Einzelaspekte zur Entwicklung des Deutsch-
landbildes im Ausland werden im von Günter Trautmann herausgegebenen Sammel-
band ,,Die häßlichen Deutschen?"
49
beleuchtet. Eine theoretisch fundierte Übersicht
über die unterschiedlichen Definitionen von Images und Stereotypen hat Gerhard
Prinz erarbeitet
50
.
Für die Geschichte der deutsch-britischen Beziehungen wurden im Rahmen dieser
42
Donald C. Watt: Britain looks to Germany. British Opinion and Policy to Germany since 1945. London 1965
[Kurztitel: Watt, Britain looks to Germany].
43
Winfried Böttcher: Deutschland aus britischer Sicht. 1960-1972. Wiesbaden, Frankfurt a.M. 1972.
44
Bernd Jürgen Wendt (Hg.): Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Bochum
1984 [Arbeitskreis Deutsche England-Forschung, Veröffentlichung 3] [Kurztitel: Wendt, Deutschlandbild].
45
Heydemann, Partner or rival, hier: S. 124.
46
Gottfried Niedhart: Perzeption und Image als Gegenstand der Geschichte von den internationalen
Beziehungen. Eine Problemskizze. In: Wendt, Deutschlandbild, S. 39-52 [Kurztitel: Niedhart, Perzeption]. Eine
konkret auf Großbritannien bezogene Darstellung von Perzeptionsmustern findet sich in: Gottfried Niedhart:
Das kontinentale Europa und die britischen Inseln. Wahrnehmungsmuster und Wechselwirkungen seit der
Antike. Mannheim 1993.
47
Harald Husemann (Hg.): As others see us: Anglo-German perceptions. Frankfurt a. M. 1994.
48
Manfred Koch-Hillebrecht: Das Deutschenbild, Gegenwart, Geschichte, Psychologie. München 1977
[Beck'sche Schwarze Reihe 162].
49
Günter Trautmann (Hg.): Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen
Nachbarn. Darmstadt 1991 [Ausblicke. Essays und Analysen zu Geschichte und Politik].
50
Gerhard Prinz: Heterostereotype durch Massenkommunikation. In: Publizistik 15, 1970, S. 195-211
[Kurztitel: Prinz, Heterostereotype]. Vgl. auch seine Untersuchung zum Deutschlandbild im britischen

Einleitung
10
Arbeit in besonderem Maße die Veröffentlichungen des Deutschen Historischen
Instituts in London berücksichtigt. Die Schriften des Instituts beleuchten zahlreiche
Einzelaspekte der Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien
51
.
Aktuelle Darstellungen der staatsrechtlichen Vereinigung Deutschlands finden sich
bei Philip Zeltikov und Condoleezza Rice sowie bei Karl-Rudolf Korte
52
. Für die
Analyse der britischen Reaktion auf die Wiedervereinigung wurde zudem das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel auf Artikel zum deutsch-britischen Verhältnis im
Untersuchungszeitraum durchgesehen. Der Spiegel begleitete mit zahlreichen
Analysen und Hintergrundberichten die Entwicklung der deutsch-britischen Be-
ziehungen während des Vereinigungsprozesses. Die Bedeutung des Spiegels ist auch
an der Einschätzung der britischen Beobachter zu erkennen. So urteilte etwa die
Times:
,,Herr Augstein [...] and his anonymous but well-informed London staff
have given the Thatcher government a hard time for years. But the prime
minister knows that Der Spiegel matters."
53
Aufsehen erregte der Spiegel im untersuchten Zeitraum in Großbritannien vor
allem durch ein kontroverses Interview mit Margaret Thatcher
54
und durch die Erst-
veröffentlichung des Chequers-Memorandums
55
.
1.2. Gang der Untersuchung
Im Verlauf dieser Arbeit wird untersucht, inwieweit sich in den Berichten über die
Economist: Gerhard Prinz: Heterostereotype durch Massenkommunikation. Wandlungen des
Deutschlandbildes im Economist von 1945-1955. Diss. Erlangen-Nürnberg 1968.
51
Für diese Arbeit verwendet: Adolf M. Birke: Britain and Germany. Historical Patterns of a Relationship. London
1987 [Kurztitel: Birke, Historical Patterns]; Ders./ Marie-Luise Recker (Hgg.): Das gestörte Gleichgewicht.
Deutschland als Problem britischer Sicherheit im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. München,
London, New York 1990 [Prinz-Albert-Studien, Bd. 8] [Kurztitel: Birke, Gleichgewicht]; Ders./ Hermann
Wentker (Hgg.): Föderalismus im deutsch-britischen Meinungsstreit. Historische Dimension und politische
Aktualität. München, New Providence, London, Paris 1993 [Prinz-Albert-Studien, Bd. 10] [Kurztitel: Birke,
Föderalismus]; Ders./ Günther Heydemann (Hgg.): Großbritannien und Ostdeutschland seit 1918. München,
London, New York, Paris 1992 [Prinz-Albert-Studien, Bd. 9] [Kurztitel: Birke, Ostdeutschland].
52
Philip Zelikow/ Condoleezza Rice: Germany Unified and Europe Transformed. Cambridge 1995. Deutsche
Ausgabe: Sternstunde der Diplomatie: Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas. Berlin 1997.
Karl-Rudolf Korte: Die Chance genutzt? Die Politik zur Einheit Deutschlands. Frankfurt, New York 1994
[Kurztitel: Korte, Chance genutzt].
53
Times, 18.7.1990, S. 17. Spiegel-Interviews und -Artikel wurden in der britischen Presse zudem häufig zitiert.
54
,,Alle gegen Deutschland - nein!" [Interview mit Margaret Thatcher]. In: Spiegel, 13/1990, S. 182.
55
,,Wer sind die Deutschen?" In: Spiegel, 29/1990, S. 109-112.

Einleitung
11
Wiedervereinigung Deutschlands zwischen 1989 und 1990 eine Veränderung im
Deutschlandbild der Briten ablesen läßt. Es wird gezeigt, welche Themen die Briten in
dieser Zeit besonders stark bewegt haben, wo die Schwerpunkte der Bericht-
erstattung lagen und wie die Politik der Bundesregierung und die Reaktion der
britischen Regierung bewertet wurden. Ziel dieser Arbeit ist es, die Rezeption der
Ereignisse in der britischen Presse zu analysieren, eine Darstellung des tatsächlichen
Verlaufs des Einigungsprozesses und der Reaktion der britischen Politik erfolgt im
Rahmen dieser Arbeit nur, soweit es die Fragestellung erfordert.
Beide Zeitungen wurden für den untersuchten Zeitraum vollständig untersucht. Der
Anfangspunkt im Juli 1989 wurde gewählt, um das Bild der Deutschlandbericht-
erstattung zu erfassen, das sich noch vor der erkennbaren Destabilisierung der DDR
im Herbst 1989 darstellte. Die Reaktion auf die formelle Wiedervereinigung am 3.
Oktober 1990 wurde als zeitlicher Abschluß der Analyse gewählt, da die
Kommentare und Analysen zum Tag der Wiedervereinigung einen vorläufigen
Schlußpunkt der Berichterstattung über den Einigungsprozeß darstellten und die
Anzahl der Artikel über Deutschland in der folgenden Zeit deutlich abnahm
56
.
Eine vollständige Durchsicht erschien sinnvoll, um die gesamte Bandbreite der
Berichterstattung zu erfassen und neben der klassischen Auslandsberichterstattung
auch die Reaktion etwa des Wirtschaftsressorts auf die Ereignisse in Deutschland zu
berücksichtigen. Zudem bietet eine kontinuierliche Analyse im Gegensatz zu stich-
probenartigem Vorgehen oder dem Rückgriff auf Ausschnittsarchive die Möglichkeit,
Muster in der Berichterstattung und sprachliche Nuancen zu erkennen. Des weiteren
schließt das lückenlose Vorgehen die Gefahr aus, daß zentrale Texte übersehen
werden.
Die Analyse beruht dabei weniger auf quantitativen Aspekten, d.h. auf dem
Umfang der Berichterstattung, da die Zahl der Artikel über die Entwicklung in
Deutschland stark von ,,konkurrierenden" Nachrichten abhing. Der Zusammenbruch
der DDR und die Diskussion um die Wiedervereinigung fiel zusammen mit mehreren
ähnlich bedeutsamen Ereignissen: Der Umsturz in Rumänien, die Unabhängig-
keitsbestrebungen innerhalb der UDSSR und die Demokratiebewegungen in Polen,
Ungarn und der CSSR machten ebenso Schlagzeilen wie der innenpolitische Streit
56
Die Auslandsberichterstattung wurde in beiden untersuchten Zeitungen schon seit August 1990 von dem
irakischen Überfall auf Kuwait bestimmt.

Einleitung
12
um die poll tax und die Führungskrise der konservativen Partei
57
. Der Umfang der
Deutschlandberichterstattung wurde durch diese Ereignisse reduziert, ohne daß die
Bedeutung der deutschen Entwicklung für Großbritannien kleiner geworden wäre. So
wurden Berichte über die Lage in Deutschland Anfang Dezember 1989 schlagartig
durch die Meldungen über den internen Machtkampf bei den britischen
Konservativen von der Titelseite verdrängt. Daher ist der Umfang der Deutschland-
berichterstattung nur bedingt aussagekräftig. Im Zentrum der Untersuchung stehen die
Leitartikel und Gastkommentare beider Zeitungen, da sie die Bedeutung, die der
deutschen Entwicklung beigemessen wurde, in ihrer Kommentierung deutlich wider-
spiegeln
58
. Dabei vertreten die namentlich gekennzeichneten Gastkommentare oft
eine pointiertere und weniger ausgewogene Sicht der Dinge als die Leitartikel, die als
gleichsam offizielle Stellungnahme der Zeitung gelten
59
.
Zunächst wird in Kapitel 2 eine kurze theoretische Einführung über die Definition
von Images und Stereotypen gegeben und dargestellt, inwieweit die Presse-
berichterstattung Rückschlüsse auf die öffentliche Meinung zuläßt. Da Urteile und
Vorurteile zwangsläufig auf historischen Erfahrungen beruhen und Images konti-
nuierlich in einem langen Prozeß entstehen, wird in Kapitel 3 die Entwicklung des
Deutschlandbildes in Großbritannien vor 1989 nachgezeichnet. Die Darstellung der
britischen Berichterstattung über die Wiedervereinigung in Kapitel 4 beginnt mit
einem chronologischen Überblick über den Zeitraum, der die grundlegenden
Tendenzen der Berichterstattung auf dem Weg zur staatsrechtlichen Vereinigung
aufzeigen soll. Insbesondere wird untersucht, wann die Diskussion um eine mögliche
Wiedervereinigung in der britischen Presse begann, für welchen Zeitpunkt sie
erwartet wurde, und wie sich die Erwartungen für die weitere Entwicklung in den
folgenden Monaten änderten. Daran anschließend werden einzelne Themen-
schwerpunkte der Berichterstattung analysiert und die Standpunkte von Times und
Guardian gegenübergestellt. Kapitel 5 faßt die Profile der Deutschlandbericht-
erstattung in beiden Zeitungen zusammen und vergleicht deren Entwicklung auch
57
Nach der Absetzung des europafreundlichen Finanzministers Lawson Ende Oktober und heftigen
Auseinandersetzungen um die Europapolitik der Regierung kam es am 5. Dezember 1989 zu einer
Kampfabstimmung zwischen Margaret Thatcher und Sir Anthony Meyer um die Führung der Conservative
Party. Thatcher gewann deutlich, der Streit um die Europapolitik ging jedoch unvermindert weiter.
58
Der besondere Stellenwert von Leitartikeln wird in Kapitel 2.2. erörtert.
59
Um diesen Unterschied kenntlich zu machen, werden in der vorliegenden Arbeit die Gastkommentare mit
Namen des Autors und Titel des Kommentars zitiert.

Einleitung
13
unter quantitativen Aspekten. Im abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der
Untersuchung einer kritischen Würdigung unterzogen.

Images, Presse und öffentliche Meinung
14
,,For the most parts we do not first see, and then define,
we define first and then see."
Walter Lippmann
60
2. I
MAGES
, P
RESSE UND
Ö
FFENTLICHE
M
EINUNG
Jedes demokratische Gesellschaftssystem ist untrennbar mit den Prozessen der
Massenkommunikation verbunden. Den Medien kommt bei der Formung und Ent-
wicklung eines pluralistischen Gemeinwesens eine entscheidende Bedeutung zu. Für
die Geschichtswissenschaft muß die Untersuchung der Medien daher besondere
Beachtung finden. Presseerzeugnisse bilden einen unverzichtbaren Quellenfundus für
die Rekonstruktion und das Verständnis historischer Strukturen und Prozesse. Dabei ist
die Presse sowohl ,,Ausdruck und Ergebnis sozialer Prozesse, als auch eine eigene,
diese Prozesse beeinflussende gesellschafts- und geschichtsprägende Kraft"
61
.
Im Zusammenhang mit dieser zweifachen Funktion der Presse stellt sich die Frage,
inwieweit in der Presse ein Spiegel der öffentlichen Meinung gesehen werden kann
bzw. in welchem Maße die öffentliche Meinung durch die Presse geprägt wird.
Die Wechselwirkungen zwischen öffentlicher Meinung und Presse sind nicht
zuletzt für die Herausbildung und Entwicklung von Urteilen und Vorurteilen
gegenüber anderen Nationen von großer Bedeutung. Zum einen wird das Bild, das
in der Öffentlichkeit von einer anderen Nation entsteht, durch die Auslands-
berichterstattung der Medien entscheidend mitbestimmt. Auf der anderen Seite kann
die Berichterstattung selbst jedoch nicht unbeeinflußt vom vorherrschenden Fremdbild
einer Nation in der Öffentlichkeit bleiben, da die Journalisten und Redakteure selbst
Teil dieser Öffentlichkeit sind.
60
Walter Lippman: Stereotypes. In: B. Berelson/ A. Morris/ A. Janowitz (Hgg.): Reader in Public Opinion and
Communication. Glencoe 1953, S. 61-69, hier: S. 62.
61
Hartwig Gebhard: Das Interesse an der Pressegeschichte. Zur Wirksamkeit selektiver Wahrnehmung in der
Medienhistoriographie. In: Presse und Geschichte II, Neue Beiträge zur historischen
Kommunikationsforschung. München 1987, S. 9.

Images, Presse und öffentliche Meinung
15
2.1. Nationale Vorurteile und Stereotype
Die menschliche Wahrnehmung ist geprägt von Bildern und Mustern, der Mensch
,,denkt und handelt in Bildern"
62
. Diese Bilder beinhalten als subjektive Perzeption der
Realität zwangsläufig eine Vereinfachung und Verkürzung der Wirklichkeit, so daß
der Mensch die Umwelt nicht als vollständige Abbildung wahrnimmt, sondern nur
einen subjektiven Ausschnitt registriert. Diese Verkürzung der Realität bedeutet in der
Konsequenz, daß ,,Perzeptionen der Tendenz nach immer Fehlperzeptionen sind"
63
,
und es durch den Unterschied zwischen dem Bild des Betrachters und der Realität zu
kognitiven Dissonanzen kommt. Die Wahrnehmungen fügen sich durch Generali-
sierung und Zusammenfassung in der Vorstellung des Betrachters zu einem ver-
dichteten Bild zusammen, daß für ihn längerfristig gültig bleibt.
Die Begrifflichkeiten sind in der Forschung nicht eindeutig geklärt. In seiner ,,Kritik
der Vorurteilsforschung" faßt Heinz Wolf das Problem zusammen: ,,Es zeigte sich,
daß der eine Autor als ,Vorurteil' definierte, was dem zweiten als ,Attitüde', anderen
als ,Stereotyp', ,Image' usw. galt"
64
. Um eine Zusammenfassung der verschiedenen
Ansätze bemüht, unterscheidet Gerhard Prinz zwischen Einstellungen, Meinungen,
Vorurteilen, Stereotypen und Bildern
65
. Einstellungen (attitudes) sind nach Prinz
erfahrungsbedingte Verhaltensdeterminanten, während Meinungen im Vergleich
dazu eine ,,geringere objektive Orientierung"
66
bzw. eine geringere Erfahrung
gegenüber dem beobachteten Gegenstand beinhalten. Vorurteile drücken eine in der
Regel negative Haltung aus, die nicht auf genauer Untersuchung oder Erfahrung
basiert, sondern aufgrund der Mitgliedschaft des betrachteten Gegenstandes in einer
Gruppe, der bestimmte Attribute zugeschrieben werden. Als Stereotype definiert Prinz
festgefügte schematische Vorstellungen, die in einem langen Zeitraum entstehen und
nur schwer zu verändern sind. Stereotype beinhalten einen Komplex von Vorurteilen,
die sich gegenseitig stützen und daher eine ,,gestalthafte Ganzheit"
67
bilden. Ihre
62
Karl-Rudolf Korte: Deutschlandbilder. In: Werner Weidenfeld/ Karl-Rudolf Korte (Hgg.): Handwörterbuch zur
deutschen Einheit. Frankfurt a.M., New York 1992, S. 149-154 [Kurztitel: Korte, Deutschlandbilder], hier:
S. 149.
63
Niedhart, Perzeption, S. 40.
64
Heinz E. Wolf: Kritik der Vorurteilsforschung. Versuch einer Bilanz. Stuttgart 1979, S. 14.
65
Prinz, Heterostereotype, S. 195-198.
66
Prinz, Heterostereotype, S. 196.
67
Peter R. Hofstätter, zitiert nach Prinz, Heterostereotype, S. 196.

Images, Presse und öffentliche Meinung
16
Aussage kann einen gewissen Wahrheitsgrad haben, aber auch völlig falsch sein. Im
Gegensatz zum meist negativ besetzen Begriff des Stereotyps
68
ist der Terminus Bild
bzw. Image neutraler. Ein Bild kann sowohl Vorurteile als auch Urteile enthalten, im
Image kommen kognitive und affektive Aspekte gleichermaßen zum Tragen
69
Das Bild, das in der öffentlichen Meinung eines Landes über eine andere Nation
vorherrscht, wird in der Regel als Heterostereotyp oder Fremdbild bezeichnet. Es
unterscheidet sich von dem Bild über die eigene Nation, dem Autostereotyp, wird
aber durch das Eigenbild auch stark beeinflußt: Da die Urteilsbildung immer von
Faktoren wie Mentalität, Erwartungshaltung, Interessenlage und kulturellem Umfeld
bestimmt wird, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Eigenbild und Fremd-
bild
70
. Heterostereotype stellen für die Gesellschaft eine ,,herausragende Orien-
tierungsfunktion"
71
dar.
Der mit der Analyse kollektiver Nationenbilder zusammenhängende Begriff der
,,öffentlichen Meinung" ist in der Forschung äußerst umstritten. Einige Autoren gehen
so weit, ihn als gedankliche Einheit abzulehnen
72
. Im Rahmen dieser Arbeit wird die
öffentliche Meinung als Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung verstanden, die durch
die Massenmedien sowohl Ausdruck findet als auch von ihnen beeinflußt wird, und
die mit demoskopischen Mitteln ausgelotet werden kann
73
.
Die Wirkung von nationenbezogenen Images ist nicht eindeutig zu beurteilen.
Zunächst sind sie als historisch gewachsene Vorstellungen nicht der Grund für gute
oder schlechte Beziehungen zwischen zwei Staaten, sondern eine Reaktion auf die
68
,,Stereotype sind gefährlich; sie bereiten unter Umständen den Boden vor, auf dem sich Feindseligkeiten
leichter entwickeln können". Prinz, Heterostereotype, S. 198.
69
Prinz, Heterostereotype, S. 201. Vgl. auch die Abgrenzung von Bild und Stereotyp bei Bassewitz:
,,Entscheidend ist, daß in ein Bild auch tatsächlich und ungeförbt erfaßte Gegebenheiten eingehen, womit der
Terminus ,Bild' im Gegensatz zum Stereotyp neutraler wird". Bassewitz, S. 22.
70
Vgl. Niedhart, Perzeption, S. 48. Eine besondere Ausprägung von Heterostereotypen ist die Annahme eines
,,Nationalcharakters" für ein Volk, nach dem eine Nation bestimmte grundlegende Eigenschaften hat, die
andere Nationen nicht haben. Vgl. hierzu Prinz, Heterostereotype, S. 199.
71
Korte, Deutschlandbilder, S. 149.
72
So z. B. Franz Ronneberger, der den Begriff ,,öffentliche Meinung" als in Grunde unbrauchbar bezeichnet.
Für ihn stellen die Massenkommunikationsmittel den Raum der ,,Öffentlichkeit", in dem die unterschiedlichen
Meinungen, Absichten und Ziele in einer Art Wettbewerb gegenübertreten. Vgl. Franz Ronneberger: Die
politischen Funktionen der Massenkommunikationsmittel. In: Publizistik 9, Heft 4, 1964, S. 291-304, hier:
S. 291ff.
73
Auf den Zusammenhang von Massenkommunikationsmitteln und öffentlicher Meinung wird in Kapitel 2.2
näher eingegangen. Die Gleichsetzung von demoskopischen Ergebnissen mit der öffentlichen Meinung ist
jedoch nicht unproblematisch. Kritiker halten die Methoden der Meinungsforschung für nicht mehr als ein

Images, Presse und öffentliche Meinung
17
Beziehungen
74
. Das reaktiv entstandene Bild in der öffentlichen Meinung kann jedoch
auf der anderen Seite nicht ohne Wirkung für das zukünftige Verhältnis zwischen den
Staaten bleiben. Auf der Ebene der Entscheidungsträger sind ,,Handlungsstrategien
nicht von dem Bild zu trennen, daß sich Politiker von ihrem Gegenüber machen"
75
.
Für die Auslandsberichterstattung einer Zeitung sind Heterostereotype von großer
Bedeutung. Der Rückgriff auf Images in der Auslandsberichterstattung ist geradezu
unvermeidbar durch die Notwendigkeit zur Komprimierung komplizierter Sach-
verhalte auf wenige Zeilen. Die komplexen Zusammenhänge in der Außenpolitik
überfordern oft die Aufnahmebereitschaft der Leserschaft
76
, zur Simplifizierung der
Berichterstattung ist daher das Verwenden von vertrauten Stereotypen und Schlag-
wörtern naheliegend. Das Gebot der Kürze und Vereinfachung und der durch den
Zwang zur Aktualität entstehende Zeitdruck machen den Gebrauch von ,,unscharfen,
einfachen und den Rezipienten wohlbekannten Floskeln"
77
zu einem redaktionellen
Erfordernis. In einem Zeitalter, in dem den Medien bei der Meinungsbildung ein
immer breiterer Raum zukommt, ist es sinnvoll, hier bei der Untersuchung von der
Präsenz und Modifizierung von Nationalbildern anzusetzen
78
.
2.2. Die Presse als Spiegel der öffentlichen Meinung
Die Analyse von zwei einflußreichen britischen Tageszeitungen im Rahmen dieser
Arbeit soll Aufschluß darüber geben, inwieweit der deutsche Einigungsprozeß eine
Veränderung im Deutschlandbild der britischen Öffentlichkeit bewirkt hat. Bei der
Bewertung der Zeitungsberichterstattung als Indikator für die britische Öffentlichkeit
,,wissenschaftlich verbrämtes Orakel". Lutz Spennenberg: Demoskopie. Informiert oder manipuliert? In: Die
Woche, 25. August 1994, S. 6.
74
Vgl. William Buchanan/ Hadley Cantril: How Nations see each other. A study in public opinion. Urbana
1953, S. 57: ,,Stereotypes should not be thought of as causative, but as symptomatic: ,These people threaten
us, they have fought against us, they are just across our border, we cannot understand what they say, hence
they must be cruel, conceited, domineering, etc.'". Ähnlich Prinz, der in nationalen Stereotypen ,,mehr
Symptom als Ursache des politischen Urteils und Handelns" sieht. Prinz, Heterostereotype, S. 204.
75
Niedhart, Perzeption, S. 42. Der Stellenwert von Images für kurzfristiges politisches Handeln ist jedoch nicht
klar einzuschätzen. Niedhart führt Beispiele sowohl für, als auch gegen den Einfluß von Images auf
tatsächliche Handlungsweisen an. Vgl. Niedhart, Perzeption, S. 48f.
76
Vgl. Bernhard C. Cohen: The Press and Foreign Policy. Princeton 1963, S. 259: ,,Most newspaper readers
find foreign affairs news rather complicated and difficult to understand".
77
Bassewitz, S. 5.
78
Vgl. Schnepper, S. 13.

Images, Presse und öffentliche Meinung
18
stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Presse
79
und öffentlicher
Meinung. Nach Franz Ronneberger ist die Rolle der Presse in der Gesellschaft durch
vier Funktionen bestimmt
80
:
· Sie stellt den Raum der Öffentlichkeit her, indem sie die Absichten, Ziele und
Handlungen der politisch handelnden Personen der breiten Masse zugänglich
macht.
· Sie wirkt an der politischen Sozialisation mit, indem sie den Einzelinteressen der
Bürger das nationale Gesamtinteresse gegenüberstellt.
· Sie übernimmt mit der politischen Kontrollfunktion Mitverantwortung am politischen
Prozeß.
· Sie erfüllt eine politische Bildungs- und Erziehungsfunktion.
Daß der Presse damit bei der Formung von nationalen Stereotypen ein hoher
Stellenwert zukommt, ist unstrittig. Auch im Zeitalter der elektronischen Medien nimmt
die Presse bei der außenpolitischen Berichterstattung einen ,,besonderen Rang"
81
ein.
Für Zeitungen gilt, daß sie auf dem Gebiet der Außenpolitik spezialisierter sind und
im Gegensatz zu Hörfunk und Fernsehen die Ereignisse ausführlicher und gründlicher
kommentieren. In diesem Zusammenhang entsteht zusätzlich ein Multiplikatoreffekt,
da Hörfunk und Fernsehen oft auf die umfangreichere Berichterstattung und
Kommentierung in der politischen Presse als Basis für die eigene Berichterstattung
zurückgreifen. Die größere Zugänglichkeit und geringere Vergänglichkeit einer
Zeitung im Vergleich zu den elektronischen Medien, die dem Leser eine bessere
Zeiteinteilung bei der Informationsaufnahme ermöglicht, bewirkt eine intensivere
Beschäftigung des Lesers mit dem Medium. Damit verbunden ist die Bevorzugung der
Zeitung durch ,,die gebildeten und daher einflußreichen Schichten der Be-
völkerung"
82
. Dies gilt insbesondere für die in dieser Arbeit untersuchten quality
papers. Abbildung 2 verdeutlicht den hohen Anteil der oberen sozialen Schicht (AB)
79
Im Rahmen dieser Arbeit ist mit dem Begriff Presse immer die politische Presse in Form von Tageszeitungen,
Wochen- bzw. Sonntagszeitungen oder Nachrichtenmagazinen gemeint.
80
Vgl. Ronneberger, S. 291-304.
81
Prinz, Heterostereotype, S. 205. Eine umfassende Untersuchung der Beziehungen zwischen Außenpolitik und
Presse ist bei Bernhard C. Cohen zu finden. Danach spielt die Presse in der Außenpolitik eine dreifache Rolle:
als Beobachter, als Teilnehmer und schließlich als Katalysator. Sie selbst sei ,,one of the most important
components in the public audience for foreign affairs". Vgl. Cohen, S. 262.
82
Prinz, Heterostereotype, S. 205.

Images, Presse und öffentliche Meinung
19
bei der Leserschaft von Times und Guardian.
0
10
20
30
40
50
60
70
The Times
Guardian
Sun
Daily Mirror
%
AB
C1
C2
DE
Abbildung 2: Leserschaft britischer Tageszeitungen nach sozialen Gruppen (1986)
83
Fast zwei Drittel der Times-Leser fallen in die obere Kategorie, beim Guardian gilt
dies für die Hälfte aller Leser. Der Vergleich mit den auflagenstarken tabloids Daily
Mirror und Sun veranschaulicht die überdurchschnittliche soziale Position der Times-
und Guardian-Leser: Der Anteil ihrer Leserschaft, der zur höchsten sozialen Gruppe
gehört, liegt bei nur sieben Prozent.
Auch innerhalb der Zeitungsleserschaft ist eine Differenzierung hinsichtlich der
sozialen Stellung zu erkennen; die Leser der Auslandsnachrichten gehören in der
Regel zu den gebildeteren Schichten: ,,Readership of foreign affairs news increases
with age, education, and economic status"
84
. Dadurch, daß die Auslands-
berichterstattung der quality papers führende Vertreter aus Politik, Wirtschaft und
Kultur erreicht, entsteht ein Multiplikatoreffekt mit nicht unerheblichem Einfluß auf das
Nationenbild vieler Menschen, die die im Vergleich zu den tabloids eher geringe
Auflage der broadsheets ausgleicht
85
. Vor allem Politiker lesen die Zeitungen
,,ausgiebig und intensiv"
86
, wodurch ein direkter Einfluß der Presse auf die
Entscheidungsträger entsteht. Nach Gerhard Prinz gilt der besondere Rang der Presse
83
Quelle: Seymour-Ure, S. 125f. Die Leserschaft ist anhand des Berufs aufgeteilt in vier sozio-ökonomische
Gruppen (social classes): AB (professional, administrative, managerial), C1 (other non-manual), C2 (skilled
manual) und DE (semi- or unskilled manual).
84
Cohen, S. 257.
85
Vgl. hierzu Winfried Böttcher: ,,Kenner der britischen Presse behaupten sogar, der politische Einfluß einer
Zeitung verhalte sich umgekehrt proportional zu ihrer Auflagenhöhe". Böttcher, S. 10f.
86
Beate Schneider: Von Friedensfürsten und Brandstiftern. Massenmedien und Internationale Politik. In:
Publizistik 29, 1984, S. 303-323, hier: S. 315.

Images, Presse und öffentliche Meinung
20
für die Entstehung des Auslandsbildes in besonderem Maße für Zeitungen mit
überregionaler Verbreitung, die durch eine lange Tradition und mittels klar
begründeter Stellungnahmen einen gefestigten internationalen Ruf haben und auf
eine gründliche Kenntnis internationaler Zusammenhänge verweisen können
87
. Dies
trifft sowohl auf die Times als auch auf den Guardian zu.
Einer Aussage über die öffentliche Meinung anhand von Tageszeitungen sind
jedoch Grenzen gesetzt. Die Presse als veröffentlichte Meinung ist nicht gleich-
zusetzen mit der Meinung in der Bevölkerung
88
. Zeitungen können zum Leitorgan der
öffentlichen Meinung werden, indem sie die von den Massen ausgehende
Ideenströmungen aufnehmen und ihnen Gestalt und Richtung geben. In diesem Sinne
reflektiert die Presse die Meinung der Öffentlichkeit, sie verstärkt im Volksbewußtsein
latent vorhandene Empfindungen und kanalisiert sie. Für auflagenstarke Massen-
blätter ist es von entscheidender Bedeutung, im Einklang mit der Bevölkerung-
smeinung zu sein, auf Dauer wird kein Massenmedium einer starken Mehrheits-
meinung widerstreben können. Eine Zeitung, die beständig gegen die Erwartungen
und Überzeugung ihrer Leserschaft verstößt, würde ihre Auflage und damit ihr
eigenes Überleben gefährden. Dagegen wird das Ziel der Auflagensteigerung am
ehesten erreicht, wenn eine Zeitung ,,weit verbreiteten, aber vielleicht nur dunkel
empfundenen Stimmungen [...] Ausdruck verleiht"
89
.
Auf der einen Seite verkörpert die Presse somit Strömungen und Haltungen der
Bevölkerung und formuliert die öffentliche Meinung, auf der anderen Seite übt sie
selbst Einfluß auf die Bildung der öffentlichen Meinung aus, indem sie das Urteil
Einzelner oder einer kleinen Gruppen der Masse nahebringt; durch ihre
Kommentierung der Ereignisse sind Zeitungen ,,selbst Interessenten im Interessen-
wettkampf"
90
. Der Einfluß der Zeitungen beruht vor allem auf dem Bewußtsein der
Lesers, daß eine bestimmte Idee oder Meinung, die veröffentlicht worden ist, im
selben Moment von einer großen Anzahl weiterer Menschen gelesen wird.
87
Vgl. Prinz, Heterostereotype, S. 205.
88
So stellten James Curran und Jean Seaton in einer Analyse der britischen Unterhauswahlen fest, daß die
Wahlergebnisse mit der veröffentlichten Meinung nicht übereinstimmten: ,,That National newspapers as a
whole did not simply mirror opinion in post-war Britain is underlined by their political affiliations. In eleven out
of twelve general elections since 1945, the Labour press underrepresented the Labour vote". James Curran/
Jean Seaton: Power without responsibility. The Press and Broadcasting in Britain. London/ New York 1985,
S. 119.
89
Karl Blücher: Die deutsche Tagespresse und die Kritik. Tübingen 1915.

Images, Presse und öffentliche Meinung
21
Besonders wirksam ist diese Meinungssuggestion bei Themen, die den Leser nicht
unmittelbar berühren, aber dennoch soviel Interesse hervorrufen, daß er sich mit ihnen
auseinandersetzt
91
. Meist mangelt es hier dem Leser an ausreichendem Wissen zu
einem eigenen gefestigten Urteil. Dieses Kriterium trifft auf die Auslands-
berichterstattung in besonderem Maße zu
92
. ,,Das Presseurteil überträgt sich auf jenes
der Leser, es vermag es zu töten und sich an dessen Stelle zu setzen. Die Presse und
ihr Urteil wird zur Machtkomponente, zum Machtfaktor der großen Zahl, und die
Millionen, die hinter ihr stehen, bilden eine Gefolgschaft"
93
.
Die Einflußnahme einer Zeitung auf die Meinungsbildung erfolgt auf unter-
schiedlichste Weise: von der Auswahl der gedruckten Nachrichten über den Umfang,
der einzelnen Themen eingeräumt wird, bis hin zur offenen Meinungsäußerung in
Form eines Kommentars. Eine besondere Stellung nehmen hierbei die Leitartikel einer
Zeitung ein
94
. Sie sollen im Gegensatz zu Kolumnen und Gastkommentaren keine
Einzelmeinung darstellen, sondern als Stellungnahme der Zeitung bzw. der gesamten
Redaktion die Hauptnachrichten des Tages kommentieren
95
; sie sind ,,the soul of a
newspaper"
96
. Dieser ,,fast offizielle Charakter"
97
des Leitartikels läßt ihn als Ausdruck
und Urteil der öffentlichen Meinung erscheinen. Oft wird durch die Interpretation im
Leitartikel dem Leser erst die Wichtigkeit einer Nachricht vor Augen geführt.
Die öffentliche Meinung ist wie die veröffentlichte Meinung allerdings nur in den
seltensten Fällen homogen. Es liegen stets verschiedene ,,Meinungen in der Öffent-
90
Ronneberger, S. 295.
91
Vgl. Werner Danz: Die ,,öffentliche Meinung" im Prozeß der Meinungsbildung. Diss. Berlin 1957, S. 14.
92
Vgl. Prinz, Heterostereotype, S. 195: Vor allem die Sprachbarriere behindere das Verstehen von
fremdländischen Strukturen. Es sei evident, daß ,,mit Zunahme der räumlichen Distanz und der Komplexität
der Ereignisse die Schwierigkeit des Erfassens und Verstehens von Zusammenhängen außerhalb der eigenen
Landesgrenzen wächst."
93
Gerhard Muenzner: Öffentliche Meinung und Presse. Karlsruhe 1928, S. 78f.
94
Zur Definition des Begriffs Leitartikel vgl. Gerhard Albrecht Ritter: ,,Unter einem Leitartikel versteht man im
allgemeinen einen Zeitungsartikel, der an der Spitze oder an sonst wie bedeutsamer Stelle einer Tageszeitung
sich in kritischer Weise mit einer aktuellen Frage auseinandersetzt oder eine diese Frage berührende
allgemeine, die Leser orientierende Abhandlung enthält". Zitiert nach Gerhard Blasche: Der Leitartikel. Diss.
Wien 1953, S. 28.
95
Dies trifft in besonderem Maße auf die in dieser Arbeit untersuchten Zeitungen zu, da die Leitartikel in Times
und Guardian nicht namentlich gekennzeichnet sind, sondern durch die Anonymität ihren ,,offiziellen"
Charakter betonen. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Meinungsbildung werden die Leitartikel bei der
Darstellung der britischen Deutschlandberichterstattung in Kapitel 4 im Mittelpunkt stehen.
96
Thomas Barnes, im 19. Jahrhundert Chefredakteur der Times. Zitiert nach Brian McArthur: What the papers
think. In: Times, 23.7.1990, S. 25. Barnes gilt als Erfinder des anonymen Leitartikels.
97
Hans Künzel: Nationalität und Internationalität der Presse. Diss. München 1950, S. 82.

Images, Presse und öffentliche Meinung
22
lichkeit" vor, denen mittels unterschiedlicher Medien Ausdruck verliehen wird. Zu
,,der" öffentlichen Meinung avanciert dann die Ansicht, der eine Mehrheit in der
Bevölkerung anhängt
98
.
Es ist von der Forschung hinreichend belegt worden, daß der Einfluß der Presse
auf die öffentliche Meinung insbesondere bei der Auslandsberichterstattung
bedeutend ist. Die Frage, ob die Presse die Meinung der Bevölkerung widerspiegelt
oder ob sie diese Meinung vielmehr prägt und beeinflußt, ist im Rahmen dieser
Untersuchung letztlich unerheblich. In beiden Fällen sind die Zeitungen als Indikator
für die öffentliche Meinung anzusehen, und eine mögliche Änderung des Deutsch-
landbildes in der Presseberichterstattung läßt auf eine Änderung des Deutsch-
landbildes in der britischen Bevölkerung schließen, sei es durch die Einflußnahme der
Presse oder als Ursache der veränderten Berichterstattung.
98
Dieser Umstand wird im Rahmen dieser Arbeit dadurch berücksichtigt, daß zwei Zeitungen mit
unterschiedlicher politischer Ausrichtung analysiert werden.

Das britische Deutschlandbild vor 1989
23
,,The French may have been inconstant friends; but the
Germans have proved to be very constant enemies. "
Lord Vansittart
99
,,Germany has always looked east as well as west,
though it is economic expansion rather than territorial
aggression which is the modern manifestation of this
tendency. Germany is thus by its very nature a
destabilizing rather than a stabilizing force in Europe."
Margaret Thatcher
100
3. D
AS BRITISCHE
D
EUTSCHLANDBILD VOR
1989
Die Beziehungen Großbritanniens zu Deutschland waren seit jeher bestimmt von
dem britischen Wunsch nach einer balance of power, einem Gleichgewicht der
Kräfte auf dem Kontinent; die Beziehungen waren immer ,,Teil einer Dreiecks-
beziehung, in der Frankreich der dritte Partner war"
101
. Vor diesem Hintergrund war
das bestimmende Ereignis für das Deutschlandbild der Briten nicht erst die Konflikt-
situation des Zweiten Weltkriegs, sondern schon die Reichsgründung 1870/71, als
nach dem Krieg gegen Frankreich deutlich geworden war, daß die militärisch
erstarkten Deutschen das europäische Gleichgewicht bedrohten
102
. Die deutsche
Einigung in Versailles wurde von britischer Seite zunächst nicht durchweg negativ
gesehen. Das neue Deutschland wurde als Gegengewicht zu Frankreich und Rußland
begrüßt, und die Briten bewunderten die deutsche national efficiency auf dem Gebiet
der Wirtschaft und die Errungenschaften im sozialpolitischen Bereich
103
.
99
Lord Vansittart: Lessons of my Life. London, New York, Melbourne 1943. S. 223.
100
Margaret Thatcher: The Downing Street Years. Paperback edition, London 1995 [Kurztitel: Thatcher,
Downing Street Years], S. 791.
101
Donald C. Watt: Deutschland im Zwiespalt britischer Politik. In: Walter Hofer (Hg.): Europa und die Einheit
Deutschlands. Köln 1970, S. 119-158, hier: S. 152.
102
Vgl. Koch-Hillebrecht, S. 13. Auch Joachim Kuropka sieht die Reichsgründung als Ursprung britischer
Deutschlandbilder: ,,Geht man der Genese der verschiedenen Deutschlandvorstellungen nach, so bildet ihren
Ausgangspunkt die deutsche Einigung des Jahres 1871 und ihre Resonanz in Großbritannien". Joachim
Kuropka: ,,Militarismus" und das ,,Andere Deutschland". Zur Entstehung eines Musters britischer
Deutschlandinterpretation. In: Wendt, Deutschlandbild, S. 103-124, hier: S. 118.
103
Es gab jedoch auch kritische Stimmen zur Reichsgründung, vor allem aus den Reihen der britischen
Konservativen. Benjamin Disraeli sah in der deutschen Einigung ein Disaster für das europäische
Gleichgewicht, ,,and the country which suffers most, and feels the effects of this great change most, is
England". Zitiert nach Kuropka, S.
118. Zum ambivalenten Verhältnis der Briten zur deutschen
Reichsgründung vgl. auch Andreas Hillgruber: ,,In England etwa standen den Stimmen, die auf die künftigen
Gefahren hinwiesen, andere gegenüber, die die Gründung des deutschen Nationalstaates als einen
,normalen' Vorgang ansahen". Andreas Hillgruber: Die gescheiterte Großmacht. Düsseldorf 1984, S. 16.

Das britische Deutschlandbild vor 1989
24
Seit dem ,,neuen Kurs" unter Kaiser Wilhelm II. verschlechterten sich die deutsch-
britischen Beziehungen jedoch zunehmend. Gegensätze in der Kolonialpolitik führten
zu Konflikten und die deutschen Schutzzölle verstärkten den Unmut über die deutsche
Handelskonkurrenz. Das neue, bisweilen aggressiv vorgetragene Selbstbewußtsein
des Kaiserreichs löste Irritationen in Großbritannien aus und verschärfte den deutsch-
britischen Antagonismus. In der britischen Wahrnehmung zeigte sich in der deutschen
Entwicklung das ,,reactionary Prussia", das dem ,,liberal England"
gegenüberstand
104
. Vor allem aber fühlten sich die Briten durch die deutsche
Flottenrüstung bedroht. Der Bau der deutschen Hochseeflotte unter Alfred von Tirpitz
berührte unmittelbar britische Sicherheitsinteressen und forderte eine entsprechende
britische Aufrüstung heraus. Das maritime Wettrüsten beeinträchtigte die Beziehungen
nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern führte durch die Agitation für höhere
Rüstungsausgaben und den daraus resultierenden naval scares auch zu einer
drastischen Verschlechterung des deutschen Ansehens in der britischen
Bevölkerung
105
. Durch diese Entwicklung avancierte das Deutsche Reich zum
Hauptfeind britischer Interessen, und die Briten suchten die Annäherung an den
einstigen Erzfeind Frankreich
106
.
Mit dem Ersten Weltkrieg war das deutsch-britische Verhältnis auf dem Tiefpunkt
angelangt, zum ersten Mal in der Geschichte führten Deutsche und Briten Krieg
gegeneinander: ,,From the British point of view something had gone badly wrong in
the history of Prussia Germany"
107
. Durch den Krieg festigte sich jedoch auch ein
zweigeteiltes Bild über die Deutschen, das die friedliebende deutsche Bevölkerung
unterdrückt und verführt sah von einer preußisch-militaristischen Führungsschicht, die
104
Paul Kennedy: The rise of the Anglo-German antagonism, 1860-1914. London 1980, S. 465 [Kurztitel:
Kennedy, Anglo-German antagonism].
105
Zur überragenden Bedeutung der Flottenrüstung und der naval scares für die Verschlechterung der deutsch-
britischen Beziehungen vgl. Robert K. Massie: Dreadnought. Britain, Germany and the coming of the Great
War. Pimlico edition, London, Melbourne, Sydney, Auckland, Johannesburg 1993; Kennedy, Anglo-German
antagonism; A.J.A. Morris: The Scaremongers. The Advocacy of War and Rearmament 1896-1914. London
1984.
106
Diese Veränderung des britischen Feindbildes läßt sich an den fiktionalen war-to-come stories ablesen, die vor
dem Krieg in Großbritannien sehr populär wurden. Während der Feind in den Romanen des 19. Jahrhunderts
in der Regel Frankreich war, wurde zur Jahrhundertwende eine Invasion der britischen Inseln durch die
Deutschen für die britischen Romanautoren zum wirklichkeitsnahen Bedrohungszenario. Vgl. u.a. Erskine
Childers: The Riddle of the Sands. A record of the secret service. London 1903; William Le Queux: The
Invasion of 1910, with a full account of the siege of London. London 1906. Eine grundlegende Darstellung
der Bedeutung von war-to-come stories findet sich bei Ignatius Frederick Clarke: Voices Prophesying War.
Future Wars 1763-3749. Second Edition, Oxford, New York 1992.
107
Birke, Historical patterns, S. 23.

Das britische Deutschlandbild vor 1989
25
es zu bekämpfen galt
108
. Der liberale Abgeordnete Dickinson prägte dieses Zwei-
Deutschland-Bild 1914 in einer Parlamentsdebatte über die Kriegsfinanzierung: ,,We
are fighting that military caste, and not the people of Germany. The people of
Germany have had nothing to do with this war"
109
. Mit der Fortdauer des Krieges
wurde das Bild des preußisch-militaristischen Deutschland zum Fokus der britischen
Propaganda, und die Berichte über vermeintliche Greueltaten deutscher Soldaten in
Belgien ließen das Bild des ,,anderen", friedliebenden Deutschland vorerst in den
Hintergrund treten. Prussianism wurde zum Schlagwort für alle negativen
Eigenschaften der Deutschen
110
. Dennoch bestimmte der scheinbare Gegensatz
zwischen einer aggressiven preußischen Führungsschicht, die den Krieg begonnen
hatte, und der friedliebenden deutschen Bevölkerung auch nach dem Krieg die
britische Wahrnehmung.
Schon bei Abschluß des Versailler Vertrages wurde in Großbritannien Kritik an
den als zu hart empfundenen Bestimmungen laut, die nicht den Kaiser, sondern das
deutsche Volk treffen würden
111
. Diese Einschätzung war eine der Grundlagen für die
Politik des Appeasement unter Premierminister Chamberlain, der das deutsche Volk
als ,,friedenserhaltenden Faktor" ansah
112
. Im Gegensatz dazu wurde die
Machteroberung der Nationalsozialisten als erneuter Ausdruck des wilhelminisch-
108
Die Entstehung dieses zweigeteilten Deutschlandbildes wird von einigen Autoren schon im frühen und
mittleren 19. Jahrhundert angesiedelt. Vgl. hierzu Bernd Jürgen Wendt: Einleitung. In: Ders., Deutschlandbild,
S. 7-36, hier: S. 34.
109
Parliamentary Debates, 5
th
Ser., Vol. 65, House of Commons (Hansard), col. 2092. Der Begriff des Zwei-
Deutschland-Bildes geht auf die Äußerung des liberalen Abgeordneten Wedgwood zurück, der in der
gleichen Debatte erklärte: ,,I wish the country would remember that there are two Germanys, and not one.
We are fighting the Junkers and the Hohenzollerns, and I pray that this war may end by smashing them. [...]
But there is another Germany - a lovable, peaceful Germany". Parliamentary Debates, 5
th
Ser. Vol. 65, House
of Commons (Hansard), col. 2094. Für die Entstehung des Zwei-Deutschland-Bildes vgl. grundlegend
Kuropka, S. 120f.
110
Für die Bedeutung der britischen Propaganda im Ersten Weltkrieg für das Deutschlandbild der Briten vgl. M.L.
Sanders, P. M. Taylor: British Propaganda during the First World War, 1914-1918. London 1982, S. 141ff.
Zu den negativen Eigenschaften der Deutschen wurden nun fast alle Aspekte der deutschen Geschichte
gezählt. Vgl. Birke, Historical patterns, S. 23: ,,Periods of German history that only decades before were seen
as particularly positive were now regarded as negative and this change was passed in silence".
111
So z. B. John Maynard Keynes: ,,The draft treaty constituted a breach of engagements and of international
morality". John Maynard Keynes: The Economic Consequences of the Peace. London, Basingstroke 1971
[The collected writings of John Maynard Keynes, Vol. II], S. 40. Diese Einschätzung entsprach direkt nach
dem Ende des Krieges aber nicht der Mehrheitsmeinung der Briten, das dominante Deutschlandbild war
eindeutig negativ geprägt. Vgl. Hortmann, S. 133.
112
Lothar Kettenacker: Preußen-Deutschland als Feindbild im Zweiten Weltkrieg. In: Wendt, Deutschlandbild, S.
145-168 [Kurztitel: Kettenacker, Preußen-Deutschland], hier: S. 148.

Das britische Deutschlandbild vor 1989
26
preußischen Nationalismus gedeutet
113
. Selbst als die Beschwichtigungspolitik
gegenüber Deutschland gescheitert war, unterschied Chamberlain in der
Kriegserklärung Großbritanniens zwischen der aggressiven deutschen Regierung und
dem friedliebenden deutschen Volk: ,,I am certain that all the peoples of Europe,
including the people of Germany, long for peace [...]. What stands in the way of such
a peace? It is the German Government, and the German Government alone"
114
.
Mit Beginn des Krieges war jedoch nicht nur die Politik des Appeasement
diskreditiert, sondern auch die Annahme einer friedlichen Gesinnung des deutschen
Volkes. Die Kriegsführung Deutschlands erzeugte einen ,,Haß der Briten auf die
Deutschen"
115
, der extremen Deutschlandkritikern wie Lord Vansittart Auftrieb gab.
Vansittart lehnte eine Trennung zwischen dem nationalsozialistischen Regime und
dem deutschen Volk strikt ab:
,,With honourable and impotent exceptions I therefore and hereby indict
the German nation, men and women, and now even adolescents, for the
immeasurable misery that they have brought to the world."
116
Aber erst gegen Ende des Krieges, als durch das Bekanntwerden der Greuel in
den Konzentrationslagern das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen
deutlich wurde, zerbrach die Zwei-Deutschland-Theorie endgültig. Die Tragweite der
Verbrechen ließ auf die Beteiligung bzw. das Mitwissen weiter Teile der deutschen
Bevölkerung schließen; die Bilder aus den Konzentrationslagern, die nun nicht mehr
als Teil der Kriegspropaganda aus zweiter Hand überliefert, sondern durch Presse-
fotos veröffentlicht worden waren, prägten in der britischen Bevölkerung ein ,,durch
den Abscheu vor den nationalsozialistischen Verbrechen geprägtes Deutschland-
bild"
117
. Das alliierte Programm einer Entnazifizierung der Deutschen verdeutlicht,
daß auch von staatlicher Seite nicht von einer Trennung zwischen dem national-
113
Vgl. Kettenacker, Preußen-Deutschland, S. 148: ,,Der Nationalsozialismus stellte sich [...] als die zeitgemäß
popularisierte und damit noch effektivere, wenngleich vulgarisierte Variante des preußisch-deutschen
Hegemoniestrebens dar". Die Parallele zwischen preußischem Nationalismus und Nationalsozialismus wurde
jedoch vor allem von Gegnern des Appeasement gezogen, Chamberlain selbst sah als Ursache des
Nationalsozialismus in erster Linie die Demütigungen des Versailler Vertrages. Vgl. Bernd Jürgen Wendt:
München 1938. England zwischen Hitler und Preußen. Frankfurt a. M. 1965 [Hamburger Studien zur
neueren Geschichte, Bd. 3], S. 21ff.
114
Parliamentary Debates, 5
th
Ser. Vol. 352, House of Commons (Hansard), col. 564.
115
Angelika Volle: Deutsch-Britische Beziehungen. Geschichte und Gegenwart. Berlin 1985 [Politik kurz und
aktuell, Nr. 43], S. 15: Nach einer Umfrage gegen Ende des Krieges gaben 54% der Briten an, ,,daß sie die
Deutschen haßten".
116
Vansittart, S. 235.
117
Hortmann, S. 135.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1997
ISBN (eBook)
9783832475772
ISBN (Paperback)
9783838675770
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Geschichtswissenschaft
Note
1,0
Schlagworte
margaret thatcher deutschlandbild öffentliche meinung deutsch-britische beziehungen conor cruise o´brien
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