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Gesundheit und gesundheitliche Versorgung von Migranten in der BRD

©2003 Diplomarbeit 138 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Untersuchungen besagen, dass viele Migranten höheren Gesundheitsrisiken, Krankheitshäufigkeiten, einer überdurchschnittlichen Sterblichkeit und früher im Leben auftretenden chronischen Erkrankungen ausgesetzt sind.
Ursachen für gesundheitliche Probleme von Migranten sind sowohl in ihrem intraindividuellen Gesundheitsverhalten, als auch in mangelnden Voraussetzungen des bundesdeutschen Gesundheitssystems zu finden, welches in vielen Bereichen erst gar nicht in der Lage erscheint, adäquat zu versorgen. Dabei stellen sprachliche Barrieren eines der Hauptprobleme dar (siehe Kap. 6.1).
Den Fragen, ob dies verifizierbar ist, von welchen Faktoren dies im Falle der Zutrefflichkeit abhängig ist und welche Möglichkeiten bestehen – oder implementiert werden können – das bundesdeutsche Gesundheitssystem auf die Risikogruppe „Migranten“ zu fokussieren gehen bisher nur wenige wissenschaftliche Arbeiten ein. Ein Großteil der umfangreichen Literatur zu Migration und Gesundheit basiert auf nicht repräsentativen Studien oder Befragungen bis hin zu persönlichen Erlebnisberichten.
Eine weitere Problematik liegt in der Tatsache, dass die BRD sich historisch gesehen nie als Einwanderungsland verstanden hat. Heute muß sich die Bundesrepublik Deutschland allerdings de facto als Immigrationsland begreifen. Aus dieser Diskrepanz ergeben sich letztendlich für Migranten gerade im Hinblick auf gesundheitliche Versorgung gewisse – und hier noch ausführlich zu beschreibende - Schwierigkeiten. Sicherlich hat sich in der politischen – und gesellschaftlichen Diskussion bezüglich Integration und Assimilation von Migranten in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, es gibt derzeit viele – auch politisch iniziierte Foren, Interessenvertretungen und Programme, doch ist die Integrationspraxis der BRD bislang nicht systematisch entwickelt. Gelungene – oder nicht erreichte Integration – hat für Migranten auch immer etwas mit Gesundheit und Wohlbefinden zu tun.
Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft mit differierenden Interessenlagen werden wissenschaftliche Erkenntnisse über die Bedeutung, über das Ausmaß und die Gründe von gesundheitlichen Störungen in der Bevölkerung benötigt. Es ist erforderlich, in Bezug auf Gesundheit und gesundheitliche Versorgung von Migranten, eine öffentliche gesundheitspolitische Diskussion anzuregen oder zu unterhalten um politische Entscheidungsprozesse zu unterstützen.
Die Bereitstellung der notwendigen Voraussetzungen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7557
Brosch, Wilfried: Gesundheit und gesundheitliche Versorgung von Migranten in der BRD
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Universität Bielefeld, Universität, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

2
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Vorbemerkung:
Im folgenden Text wird bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen auf die ex-
plizite Anführung der weiblichen Form verzichtet, um eine größere Übersichtlichkeit zu ermögli-
chen. Selbstverständlich sind implizit immer Frauen und Männer mit den jeweiligen Bezeich-
nungen gemeint.
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ...
- 7 -
Teil 1
Theoretischer Rahmen und forschungsleitende Vorgehensweise
1.1
Problemstellungen
...
- 12 -
1.2
Material und Methoden
...
- 14 -
1.3
Zielsetzung ...
- 15 -
1.4
Vorgehen und Aufbau
...
- 17 -
1.5
Vorschau auf die einzelnen Kapitel
...
- 18 -
1.6
Relevanz des Themas für die gesundheitswissen-
schaftliche Forschung
...
- 20 -
1.7
Methodische Probleme zur Migrationsforschung
- 24 -
Teil 2
Empirische Untersuchungen in Deutschland
2.1
Historische Entwicklung der Problematik in der BRD
- 27 -
3.
Verteilung von Migranten in der BRD ...
- 31 -
3.1
Räumliche Verteilung der ausländischen Bevölkerung
nach Bundesländern
...
- 32 -
4.
Gesundheitsstatus von Migranten ...
- 34 -

3
4.1
Derzeitige oder in jüngster Zeit abgeschlossene
Forschungsprojekte zur gesundheitlichen Ver-
sorgung von Migranten in der BRD
...
- 35 -
4.2
Einzelne Krankheitsbilder unter Migranten in der BRD
- 37 -
4.2.1
Zahngesundheit ...
- 37 -
4.2.2
Infektionskrankheiten
...
- 39 -
4.2.3
Säuglings- und Müttersterblichkeit
...
- 44 -
4.2.4
Unfallhäufigkeit
...
- 45 -
4.2.5
Psychische und psychiatrische Erkrankungen ...
- 46 -
4.2.5.1
Kulturpsychiatrische Aspekte der Migration
...
- 49 -
4.2.5.2
Psychiatrische Erkrankungen türkischer Arbeits-
migranten
...
- 51 -
4.2.6
Cardiovasculäre und maligne Erkrankungen ...
- 52 -
4.2.7
Krankheiten des Magens und der Verdauungsorgane
- 53 -
5.
Gesundheitsstatus und gesundheitliche Versorgung
einzelner Bevölkerungsgruppen ...
- 55 -
5.1
Arbeitsmigranten ...
- 56 -
5.1.1
Beteiligung am Erwerbsleben in der BRD
...
- 58 -
5.2
Ältere
Migranten ...
- 60 -
5.2.1
Zustand ­ und Bedarf in der Altenpflege von Migranten
- 63 -
5.2.2
Ethnische Rückbesinnung im Alter
...
- 66 -
5.2.2.1
Ethnizität ­ Ressource oder Belastung im Alter? ...
- 66 -
5.3
Frauen als Minoritäten in der deutschen Gesellschaft
- 66 -
5.4
Kinder ­ und jugendliche Migranten
...
- 70 -
5.5
Illegale Migranten in der BRD
...
- 73 -
5.5.1
Gründe für einen illegalen Status von Immigranten
- 77 -
5.6
Migranten türkischer Nationalität ...
- 77 -
5.7
Deutschstämmige Spätaussiedler aus der ehemaligen
UdSSR
...
- 79 -
5.7.1
Drogensucht unter jugendlichen Aussiedlern ...
- 80 -
5.8
Migranten unter laufenden Asylverfahren
...
- 81 -

4
6. Spezifische
Schwierigkeiten in Bereichen der gesund-
heitlichen Versorgung von Migranten
...
- 85 -
6.1
Probleme der sprachlichen Verständigung
...
- 87 -
6.1.2
Die Sprachmittler ...
- 90 -
6.1.3
Kinder als Dolmetscher ...
- 90 -
6.2
Kulturell
determinierte
Schwierigkeiten ...
- 91 -
6.3
Wohnsituation der Ausländer in der BRD
...
- 92 -
6.4
Probleme der Eingliederungsprozesse
...
- 93 -
7.
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen für
Migranten
...
- 94 -
7.1
Rechtliche
Rahmenbedingungen
...
- 94 -
7.2
Politische Rahmenbedingungen ...
- 95 -
7.3
Hilfekulturen
...
- 96 -
7.4
Versuch einer Analyse für die BRD ...
- 97 -
8.
Derzeitige
Programme zur Förderung der gesundheit-
lichen Versorgung von Migranten in der BRD und
anderen Nationen
...
-100 -
8.1
Empowerment
...
-101 -
8.1.1
Bedeutung von Empowerment ...
-101 -
8.1.2
Empowerment-Ansätze in der Gesundheitsförderung
-102 -
8.2
Programme in der BRD
...
-103 -
8.3
Aktivitäten der Schweiz
...
-108 -
8.4
Programme in Österreich
...
-108 -
9.
Politische und strukturelle Anforderungen an ein
transkulturelles Gesundheitswesen
...
-110 -
10.
Schlußbetrachtung und Reflektion
...
-112 -
Abbildungsverzeichnis
...
- 5 -
Abkürzungsverzeichnis ...
- 118 -
Definitionen und Abgrenzungen ...
- 120 -

5
Literaturverzeichnis
...
- 123 -
Tabellenverzeichnis ...
- 5 -
Anhang A: Tabellen
Anhang B: Fragen zur Gesundheitssituation. Große Anfrage Bündnis Grüne
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1
Sozialwissenschaftliches Modell
...
- 21 -
Abb. 2
Durchschnittliche Dauer von Asylgerichtsverfahren
vor den Verwaltungsgerichten (Hauptsacheverfahren)
der Jahre 1995-1999
...
- 84 -
Abb. 3
Aussiedler - und Spätaussiedler 1950-2000 ...
- 80 -
Abb. 4
Abb. 5
Personen ausländischer Herkunft über 60 Jahre
- 61 -
Abb. 6
Interkulturelle Gesundheitsförderung
... -102 -
Abb. 7
Erfordernis von Vernetzungen für Migranten ...
- 14 -
Tabellenverzeichnis
Tab. 2
Aufenthaltsdauer der ausländischen Bevölkerung Anhang A:
Tab. 3
Zeitpunkt der Wahrnehmung der ersten Schwanger-
schaftsvorsorgeuntersuchung nach Staatsangehörig-
keit in NRW
... Anhang A:
Tab. 4
Zugänge an Tbc in der deutschen und der zugewan-
derten Bevölkerung je 100.000 Einwohner in NRW
- 41 -
Tab. 5
Kariesprävalenz deutscher und nichtdeutscher Schul-
kinder 1994 in Bielefeld ...
- 38 -
Tab. 6
Erwerbspersonen nach Stellung im Beruf und Staats-
angehörigkeit
...
- 59 -
Tab. 7
Rückkehrabsicht und Heimatverbundenheit türkisch-
stämmiger
Migranten
nach
bestimmten Merkmalen
- 78 -
Tab. 8
Anteil der deutschen und ausländischen Schüler der

6
Schuljahre 1994-1999 in %
...
- 72 -
Tab. 9
Verfügbare Mittel des Bundesarbeitsministeriums für
ausländische Arbeitnehmer und ihre Familienange-
hörigen im Jahre 2001
...
- 59 -
Tab. 10
Ausländische Wohnbevölkerung nach ausgesuchten
Staatsangehörigkeiten von 1995-2000 ...
Anhang A:
Tab. 11
Anzahl der HIV-Infizierten weltweit
...
- 43 -
Tab. 12
Angestrebter Durchimpfungsgrad der WHO: 95 %
- 43 -
Tab. 13
Krankheitsverteilung deutscher und ausländischer
Arbeitnehmer
...
- 53 -
Tab. 14
Krankheiten unter Arbeitsmigranten ab 55 Jahren
- 58 -
Tab. 15
Ausländische Ärzte in der BRD 2001 ...
- 85 -

7
Einleitung
Ein Land mit nur einer Sprache und einer Sitte ist schwach und
gebrechlich. Darum ehre die Fremden und hole sie ins Land.
----------------------------------------------------------
Stefan I., König von Ungarn (969-1038)
Weltweit erfolgten 1990 rund 120 Millionen internationale Migrationen. Die jähr-
liche Wachstumsrate lag zwischen den Jahren 1965 und 1990 bei 1,9 %. Inner-
halb der Migrationsströme Europas liegt die Bundesrepublik Deutschland (BRD)
mit Abstand zu anderen Staaten Europas an der Spitze. Zwischen 1983 und
1993 wanderten ca. 7,3 Mio. Menschen in die BRD ein. Zum Vergleich:
·
ca. 7.300.000 in die BRD
·
ca. 900.000 in die Schweiz
·
ca. 761.000 nach Frankreich
·
ca. 693.000 in die Niederlande
·
ca. 567.000 nach Großbritannien
Bezüglich der Ottawa-Charta der WHO gelten Migranten als vulnerable Gruppe,
da die mit der Migration verbundenen Belastungen zu erheblichen Beeinträchti-
gungen der Gesundheit führen können. Blettner et al. (2002) betonen, dass e-
pidemiologische Forschungsergebnisse zu Morbidität und Mortalität von
Migranten kein einheitliches Bild ergeben.
In dieser Diplomarbeit werden ausdrücklich auch Autoren aus der Politik zitiert,
die Problematik von Gesundheitszustand und Migration hat in den meisten
Fraktionen eine erste Sensibilisierung erfahren. Public Health Einflüsse sind
eng an politische Entscheidungsträger gebunden und notwendige Reformen
können nur dann erfolgen, wenn Politik und Umwelt von deren Notwendigkeit
überzeugt werden können. Auf der 2. Fachtagungsreihe ,,Gesund in eigener
Verantwortung?" äußerte sich der Staatsekretär des Bundesministeriums für
Gesundheit, Erwin Jordan, im Eröffnungsreferat zum Thema ,,Migration und
Gesundheit. Perspektiven der Gesundheitsförderung in einer multikulturellen
Gesellschaft". Jordan nannte die wissenschaftlich belegten Erkenntnisse bezüg-

8
lich Gesundheit versus Krankheit im Kontext sozialer Ungleichheit. Er nannte
ungünstige Einkommensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, einen niedrigen Bil-
dungsstand, Geschlechtsspezifität, Alter, Familiengröße, Wohnort und Nationa-
lität als Einflußgrößen für Krankheit und Gesundheit. ,,Zwar haben formal alle
Bürger Zugang zur gesundheitlichen Versorgung unabhängig von Einkommen,
Geschlecht oder Nationalität", doch wirken sich obengenannte Faktoren negativ
auf die Gesundheitschancen der Bevölkerung aus"
(vgl. Jordan 2001)
.
Chancengleichheit und den gleichberechtigten Zugang aller Bürger zu sämtli-
chen Einrichtungen ­ auch des Gesundheitswesens ­ zu gewährleisten ver-
pflichtet sowohl das bundesdeutsche Grundgesetz als auch die von der WHO
formulierten gesundheitspolitischen Ziele
(vgl. Weilandt et al. 2000, S. 3)
.
Im Oktober 1997 begann der erste gesamtdeutsche Gesundheitssurvey, eine
repräsentative Untersuchung zum Gesundheitszustand der Bevölkerung in
Deutschland. Im Rahmen dieses Projekts, das vom Robert Koch-Institut im Auf-
trag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wurde, konnten 7124
Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren zu gesundheitsrelevanten Themen be-
fragt und einer medizinischen Untersuchung unterzogen werden. Mit den Er-
gebnissen des Bundes-Gesundheitssurvey werden aktuelle Informationen be-
reitgestellt, die den gesundheitspolitischen Entscheidungsprozeß unterstützen
sollen. Darüber hinaus wurde geplant, Ende 2000 einen Public Use File mit
bevölkerungsrepräsentativen Daten für die epidemiologische Forschung zur
Verfügung zu stellen. Der repräsentative, bundesweite Gesundheitssurvey 1998
hat gezeigt, dass der Gesundheitszustand und der Zugang zur gesundheitli-
chen Versorgung in einem engen Verhältnis zur sozialen Lage der Menschen
stehen. Zu den benachteiligten zählen auch Migranten.
Die Folgen einer jahrzehntelangen Leugnung eines Einwanderungstatbestan-
des werden in allen Bereichen unserer Gesellschaft deutlich. Ebenso wie es
gesamtgesellschaftlich bislang an einer differenzierten Migrations- und Integra-
tionspolitik fehlt
(vgl. Bade 1994, S. 58 ; Weiland et al. 1997, S. 76)
, hat auch das Ge-
sundheitswesen eine adäquate Reaktion auf die Versorgungssituation von
Migranten bislang vermissen lassen
(vgl. David et al. 2000, S. 7-8; Habermann 1998, S.
153-165; Schnepp 1997, S. 16-23)
.
Handlungsbedarf kann im Sinne von Public Health aufgrund einer einschrän-
kenden rechtlichen Bedingung zur medizinischen Behandlung für bestimmte

9
Gruppen, wie z.B. Asylbewerbern bestehen oder allgemein in der unzureichen-
den Fokusierung von Versorgungsabläufen für Migranten.
Der Gesundheitszustand älterer und hochaltriger Migranten ist aufgrund der
Häufigkeitsverteilung von chronischen Krankheiten und Multimorbidität in dieser
Altersgruppe besonders zu berücksichtigen.
Trotz der unbefriedigenden Datenlage wird der Gesundheitszustand der heute
ins Rentenalter kommenden Arbeitsmigranten bzw. der älteren ausländischen
Bevölkerung allgemein als schlecht eingeschätzt. Erstaunlich ist dies, da diese
Population im jüngeren Alter einen überdurchschnittlich gesunden Bevölke-
rungsanteil bereitstellte. Die von deutschen Ärzten in den Anwerbeländern
durchgeführten Gesundheitsuntersuchungen, (diese waren Voraussetzung für
die Anwerbung) und die individuellen wie familiären Entscheidungsprozesse,
die eine gute Gesundheit als Voraussetzung für ein erfolgreiches Migrationspro-
jekt ansahen, führten zu einer positiven gesundheitlichen Selektion der in die
alten Bundesländer kommenden Menschen. An der Gruppe der älteren Migran-
ten kann somit insbesondere ein ,,healthy migrant effect" untersucht werden.
Aus den unterschiedlichsten Gründen, gibt es keine empirische Datenbasis, die
Aussagen über den Gesundheitszustand von Migranten erlauben würde. Es
gibt bereits methodische Probleme zur Frage der Definition: ,,Wer ist ein
Migrant"? Weiland et al. (2000, S. 7) geben an, dass eine genaue sprachliche
Zuordnung oder Definition der Zielgruppe aus verschiedenen Gründen proble-
matisch ist.
Gesundheit ­ und gesundheitliche Versorgung von Migranten ist ein komplexes
Thema. Maßgeblich daran beteiligt sind zahlreiche gesellschaftliche, strukturel-
le, gesetzliche und intraindividuelle Gegebenheiten. Gesundheit von Migranten
läßt sich deshalb nicht isoliert betrachten. Die Hinzuziehung anderer For-
schungsbereiche wie etwa Städteplanung, Arbeits- und Lebenswelt, Bildungs-
standard sowie aktuelle politische Entwicklungen sind notwendig und nehmen
deshalb in dieser Arbeit teilweise einen breiten Raum ein. Im Zeitalter der Glo-
balisierung beschränken sich gesellschaftliche Anforderungen an ,,Gesundheit"
von Menschen nicht mehr auf eine Nation allein. Sowohl globale Organisatio-
nen (WHO-Projekte) als auch europäische Initiativen und Gesetzgebungen
zwingen vielfach einen bestimmten Standard auch national zu erreichen. Dazu

10
gehört auch, einer sozial ungleichen Verteilung von Gesundheitsrisiken und von
gesundheitsfördernden Ressourcen zu begegnen.
Unter Berücksichtigung oben genannter Aspekte wird in dieser Arbeit der Ver-
such unternommen, Unterschiede sowohl des gesundheitlichen Status als auch
Differenzen in der strukturellen gesundheitlichen Versorgung von Migranten
gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu erarbeiten. Notwendigerweise
werden deshalb zahlreiche Faktoren wie soziale Schicht, Geschlechtszugehö-
rigkeit, Altersmerkmale, Familienstruktur, Erwerbsstatus, Beschäftigungsver-
hältnis, Lebensstil, Lebenslage und die Zugehörigkeit zu einer Nationalität von
Bedeutung sein.
Die soziale Verursachung von Krankheit wurde bereits seit Mitte des 19. Jahr-
hunderts diskutiert
(vgl. Soziale Lage und Gesundheit 2001, S. 24)
. Eine Diplomarbeit,
die unter ,,Public Health" Gesichtspunkten erstellt wird, berücksichtigt zwangs-
läufig soziale, gesetzliche, strukturbedingte und aktuell politische Strömungen.
In Bezug auf Migration und Gesundheit ist dies kein leichtes Unterfangen, legt
man zugrunde, dass allein im Jahre 1986 eine Bibliographie auf 1204 Neuer-
scheinungen zur Migration verweißt. Eine umfangreiche Aufstellung von Fach-
zeitschriften ist darin noch nicht enthalten
(vgl. Odrich et al. 1990)
. 17 Jahre später
ist das Interesse an der Migrationsthematik ­ auch im wissenschaftlichen Um-
feld ­ weltweit um ein vielfaches angewachsen, unter Zuhilfenahme der digitali-
sierten Medien (Internet) kaum noch zu katalogisieren. Dies möge bitte bei der
Schwerpunktsetzung und Akzentuierung vorliegender Arbeit berücksichtigt wer-
den.
Nach Schmitt (1993, S. 1) ist die Idee des Weltbürgertums eine alte Mensch-
heitssehnsucht. Diese zieht sich ,,durch den Humanismus und Idealismus hin-
durch bis hin zur Erklärung der Menschenrechte durch die UNO". Die Notwen-
digkeit ,,kosmopolitischen Denkens" ­ auch in Deutschland ­ ergibt sich nicht
zuletzt aus dem Zerfall des Ostblocks. Die Rückführung ehemals deutscher
Staatsangehöriger in die BRD ist ein prägnantes Beispiel für eine Identitätssu-
che in einem fremden Land. Hier kommen bezüglich ,,Gesundheit und Krank-
heit" Public Health Erkenntnisse besonders anschaulich zur Anwendung.
Hurrelmann (1999) führt die Bedeutung der persönlichen und biographischen
Entwicklung eines Menschen im Kontext von Gesundheit und Krankheitsent-
stehung an. Demnach basieren beispielsweise Herz- Kreislauferkrankungen,

11
maligne Tumore, Krankheiten der Atmungs- und Verdauungsorgane, Muskel-
und Skeletterkrankungen, Hautkrankheiten und psychische sowie psychosoma-
tische Erkrankungen aus der Situation ,,langdauernder Überlastungen" von kör-
perlichen, psychischen und sozialen Regelungskreisen und Bewältigungskapa-
zitäten. Diese Betrachtungsweise umschließt in Bezug auf ,,Gesundheit und
Krankheit" einen Paradigmenwechsel. Das Konzept der pathogenetischen Ori-
entierung in der Medizin reicht heute nicht mehr aus, um allseits befriedigende
Antworten zu geben. Die Gesundheitswissenschaften bedienen sich deshalb
einer erweiterten Sichtweise, diese schließt beispielsweise das ,,saluto-
genetische Modell"
(vgl. Definitionen:)
ein. Dieses Konzept postuliert Widerstands-
ressourcen in genetischen, organischen und psychosozialen Dimensionen. Die-
se interagieren mit Stressoren in psychosozialen-psychischen und biochemi-
schen Bereichen eines Menschen. Stellungnahme und eventuelle Verhaltens-
modifikation sind im SGM von der Art der Lebenserfahrung, dem Kohörenzsinn
als dem Gefühl des Vertrauens in die eigene Sinnstiftung, den individuellen Co-
ping Strategien und dem vorherrschenden Stresszustand abhängig. Es findet
sich nun eine Position auf dem Kontinuum von Krankheit und Gesundheit. Das
Konzept des SGM führt weg von der pathogenetischen Orientierung der Medi-
zin und den damit vergesellschafteten ,,blinden Flecken" im Krankheitsver-
ständnis. Es fahndet stattdessen nach Bedingungen, die zu einer Gesunderhal-
tung oder Bewältigungsmöglichkeit bei bestehender Krankheit (z.b. chronische
Erkrankungen) von Menschen beitragen.
Medizinethnologische Modelle zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit
werden durch das SGM von Antonovsky
(ebenda)
bereichert. Einen wesentlichen
Gesichtspunkt nimmt hier der Aspekt des sogenannten Kohärenzgefühls (sense
of coherence) ein. Im Sinne Antonovsky´s wird ein Kohärenzgefühl als Fähigkeit
definiert, die eigene Lebenserfahrung verstehen und als in sich stimmig inter-
pretieren zu können. Für Migranten in der BRD wird demnach das Kohärenz-
gefühl nicht zuletzt auch davon beeinflußt, in welchem Ausmaße sie Möglichkei-
ten sehen, selbst Kontrolle über eine eigene Lebensgestaltung in ihrer neuen
Lebenswelt zu übernehmen.

12
Teil 1
Theoretischer Rahmen und forschungsleitende Vorgehensweise
1.1 Problemstellungen
Untersuchungen besagen, dass viele Migranten höheren Gesundheitsrisiken,
Krankheitshäufigkeiten, einer überdurchschnittlichen Sterblichkeit und früher im
Leben auftretenden chronischen Erkrankungen ausgesetzt sind
(vgl. Collatz 1995,
S. 37)
. Im Einzelnen werden für die Risikogruppe Migranten in der Literatur häu-
fig folgende Angaben statuiert:
·
Schwangerschafts- und Geburtsverläufen von Migrantinnen, Fehlge-
burtshäufigkeit ist bei Migrantinnen weitaus höher
(vgl. Gesundheit von Zu-
wanderern 2000, S. 29-35; Weiland et al. 1997; Korporal & Geiger 1990; )
;
·
erhöhte Krankheitsepisoden im Säuglings- und Kindesalter (psychoso-
matische Befindlichkeitsstörungen, Infektionskrankheiten, Unfälle, Behin-
derungen)
(vgl. Kap. 4.2.2 - 4.2.3 - 4.2.4 - 4.2.5)
;
·
Erkrankungen im Erwachsenenalter (überdurchschnittliche betriebliche
Erkrankungsraten und Unfälle, psychosomatische Befindlichkeits- und
sexuelle Störungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Erkrankungen des
Skelett- und Stützsystems, Müttersterblichkeit)
(vgl. Kap. 5.1 und 5.2 )
;
·
früher und häufiger im Vergleich zur Restbevölkerung auftretenden chro-
nischen Erkrankungen im Alter;
·
gehäuftes Auftreten diffuser, relativ unspezifischer Krankheitsbilder, die
in ihrer Symptomatik und Häufigkeit kulturell unabhängig beschrieben
werden
(vgl. Kap. 4.2.5 )
;
·
erhöhtes
Autreten
spezifischer Probleme im Zusammenhang mit
Rauschmittelkonsum sowie erhöhten Prävalenzen psychischer Störun-
gen
(vgl. Brucks 1994, S. 5-20)
;
·
ein vielfach früheres Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit wegen Krank-
heit
(vgl. Armut und Gesundheit 2001, S. 3)
.
Ursachen für gesundheitliche Probleme von Migranten sind sowohl in ihrem
intraindividuellen Gesundheitsverhalten, als auch in mangelnden Vorausset-

13
zungen des bundesdeutschen Gesundheitssystems zu finden, welches in vielen
Bereichen erst gar nicht in der Lage erscheint, adäquat zu versorgen. Dabei
stellen sprachliche Barrieren eines der Hauptprobleme dar (siehe Kap. 6.1).
Den Fragen, ob dies verifizierbar ist, von welchen Faktoren dies im Falle der
Zutrefflichkeit abhängig ist und welche Möglichkeiten bestehen ­ oder imple-
mentiert werden können ­ das bundesdeutsche Gesundheitssystem auf die
Risikogruppe ,,Migranten" zu fokusieren gehen bisher nur wenige wissenschaft-
liche Arbeiten ein. Ein Großteil der umfangreichen Literatur zu Migration und
Gesundheit basiert auf nicht repräsentativen Studien oder Befragungen bishin
zu persönlichen Erlebnissberichten.
Eine weitere Problematik liegt in der Tatsache, dass die BRD sich historisch
gesehen nie als Einwanderungsland verstanden hat. Heute muß sich die Bun-
desrepublik Deutschland allerdings de facto als Immigrationsland begreifen.
Aus dieser Diskrepanz ergeben sich letztendlich für Mirgranten gerade im Hin-
blick auf gesundheitliche Versorgung gewisse ­ und hier noch ausführlich zu
beschreibende ­ Schwierigkeiten. Sicherlich hat sich in der politischen und ge-
sellschaftlichen Diskussion bezüglich Integration und Assimilation von Migran-
ten in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, es gibt derzeit viele ­ auch poli-
tisch initiierte Foren, Interessenvertretungen und Programme, doch ist die Integ-
rationspraxis der BRD bislang nicht systematisch entwickelt. Gelungene ­ oder
nicht erreichte ­ Integration hat für Migranten auch immer etwas mit Gesundheit
und Wohlbefinden zu tun.
Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft mit differierenden Interessenlagen
werden wissenschaftliche Erkenntnisse über die Bedeutung, über das Ausmaß
und die Gründe von gesundheitlichen Störungen in der Bevölkerung benötigt.
Es ist erforderlich, in Bezug auf Gesundheit und gesundheitliche Versorgung
von Migranten, eine öffentliche gesundheitspolitische Diskussion anzuregen
oder zu unterhalten um politische Entscheidungsprozesse zu unterstützen.
Die Bereitstellung der notwendigen Voraussetzungen für eine gelungene Migra-
tion sowie für eine positive Bewältigung der Folgen der Migrationsbewegung
machen auch in der BRD mit seinen unterschiedlichsten Regionen zum Teil
weitreichende Entscheidungen erforderlich. Letztendlich muß die gesundheitli-
che Versorgung von Migranten unter einer ,,ganzheitlichen Migrations-, Integra-
tions- und Minderheitenpolitik" verstanden werden. Dieser Ansatz sollte auf kul-

14
turelle, juristische, wirtschaftliche, bildungs- und arbeitsmarktpolitische Aspekte
gerichtet sein
(vgl. Kiesel et al. 1994, S. 8)
.
Wie diffizil etwa die erforderliche Vernetzung der Akteure des Gesundheitswe-
sens oder etablierter Einrichtungen sein kann verdeutlicht Abb. 7. Auch werden
in dieser Grafik die verschiedenen Dimensionen verdeutlicht. Politisch besteht
die Herausforderung darin, sämtliche Einrichtungen für die Problematik der
gesundheitlichen Versorgung von Migranten zu sensibilisieren.
Abb. 7
Erfordernis von Vernetzungen für Migranten
------------------------------------------
(Quelle: Geiger 2000, S. 45)
Mit der Feststellung der gesellschaftlichen Relevanz und Dringlichkeit für die
Problematik der gesundheitlichen Versorgung von Migranten müssen auch wis-
senschaftlich fundierte Lösungsmöglichkeiten bereitgestellt werden.
1.2
Material und Methoden
Diese Arbeit ermittelt im Rahmen einer Literaturanalyse sowie der Analyse poli-
tischer Programme und Entwicklungen den derzeitigen gesundheitlichen Ver-
sorgungsstatus und Versorgungsbedarf von Migranten in der BRD. Die Versor-
gungsbedürfnisse von Zuwanderern sollen anhand von Migrationsschicksalen,

15
Lebenssituationen (wohnen, arbeiten, Familie, Gesellschaft, Gesetzgebung)
sowie körperlichen und psychischen Erkrankungen diskutiert werden.
Die Literaturrecherche erfolgte selbstverständlich auch unter Zuhilfenahme des
Internets. Die von mir verarbeiteten Seiten sind zum wiederaufrufen im Litera-
turverzeichnis entweder unter dem jeweiligen Autor oder unter Internet Online
verzeichnet.
Die Bezeichnung von Kindern und Jugendlichen als Migranten bereitet beson-
dere Schwierigkeiten, da diese nicht immer selbst über Migrationserfahrungen
verfügen, sondern oftmals in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Für
sie wurden daher Bezeichnungen wie Jugendliche mit Migrationshintergrund,
mit ausländischem Pass oder Kinder von Migranten gewählt.
In einzelnen Fällen wird für diese Arbeit auch Literatur aus schwerpunktmäßig
anderen Bereichen bearteitet. Spezifische Fachrichtungen ­ häufig an Fach-
hochschulen etabliert ­ befassen sich zumeist sehr intensiv mit einzelnen Fak-
toren der Integration von Migranten. Beispielsweise ist hier der Blickwinkel ,,Mig-
ration und Urbanität" zu nennen, der auf den ersten Anschein hin nur sekundär
etwas mit Gesundheit von Migranten zu tun hat. Die Gesundheitswissenschaf-
ten, welche sich als interdisziplinäre Wissenschaft versteht, die wirtschaftliche,
religiöse, politische und soziale menschliche Ausdrucksformen in ihren Interak-
tionen untersucht, muß auch Konzepte und Ergebnisse von Nachbarwissen-
schaften in ihre Forschungen miteinbeziehen. Auf diese Arbeit bezogen heißt
dies: Um forschungsleitend interdisziplinär Wirklichkeitszusammenhänge der
gesundheitlichen Versorgung von Migranten aufzeigen zu können, werden
(auch) Anleihen aus der allgemeinen Migrationsforschung, den Pflegewissen-
schaften, der Gerontologie, der Medizin, der Psychologie und Soziologie vorge-
nommen.
1.3 Zielsetzung
Die in der Literatur häufig beklagte Unter- und Fehlversorgung
(vgl. Soziale Lage
und Gesunheit 2001, S. 54-55)
soll in dieser Arbeit hinterfragt werden. Es wird der
Versuch unternommen, bisherige Annahmen auf ihre Validität zu prüfen. Be-
züglich Migration und Gesundheit kann oftmals davon ausgegangen werden,
dass nicht fehlende Informationen an sich das Problem für den heute beste-

16
henden Status darstellen, sondern vielmehr mangelnde Zugänglichkeit und Ü-
berschaubarkeit bereits vorhandener Daten. Aufgabe und Ziel meiner Diplom-
arbeit ist (im Public Health Sinne) die Einflussnahme in den Prozeß der planeri-
schen Entwicklung und Steuerung des Gesundheitssystems, um dessen Struk-
turen für die Bevölkerungsgruppe der Migranten zu optimieren.
Diese Arbeit soll dazu beitragen, wissenschaftlich belegte Erkenntnisse der ge-
sundheitsrelevanten Migrationsforschung für politische Entscheidungen plausi-
bel darzustellen.
Durch die in der Einleitung und Kapitel 1.1 dargestellten Rahmenbedingungen
und Entwicklungen ergeben sich vier grundlegende Fragestellungen:
1.) Wie läßt sich die Diskrepanz zwischen den geschilderten sehr divergieren-
den Entwicklungen erklären ?
2.) Können die heutige Organisation politischer Entscheidungsträger und Ge-
sundheitsunternehmen die anstehenden Herausforderungen bewältigen?
3.) Durch welche strukturellen oder prozessorientierten Maßnahmen können
sich Gesundheitsorganisationen besser auf den kontinuierlichen und be-
darfsgerechten Versorgungsablauf der gesundheitlichen Versorgung von
Migranten einstellen?
4.) Wie stellt sich das praktische Versorgungsangebot von Migranten derzeit in
seiner Entwicklung dar ?
Die für diese Arbeit zentrale These beruht auf zwei Säulen und lautet entspre-
chend:
1. ,,Eine gezielte Implementierung struktureller und formaler Bedingungen zur
gesundheitlichen Versorgung von Migranten kann deren allgemeinen Ge-
sundheitszustand verbessern und an denjenigen der ansässigen Bevölke-
rung angleichen.
2. ,,Eine Berücksichtigung und Einbindung der vorhandenen Ressourcen von
Einwanderern (Empowerment) führt objektiv zu einer Verbesserung der ge-
sundheitlichen Lage.

17
Als Ergebnis der Arbeit soll zunächst herausgestellt werden, dass und wie ein
gezielter Zugang zu allen Gesundheitsleistungen des bundesdeutschen Ge-
sundheitssystems auch für Migranten einen protektiven Effekt aufweist.
1.4 Vorgehen und Aufbau
Die hier vorliegende Diplomarbeit zu ausgewählten Problemen der Gesund-
heitslage von Migranten in der BRD soll als bilanzierende Übersicht der Ent-
wicklung wichtiger Mortalitäts- und Morbiditätskennziffern gegenüber der ein-
heimischen, deutschen Bevölkerung sowie als Ergänzung zu bereits vorliegen-
den Ergebnissen zum Gesundheitszustand dieser Bevölkerungsgruppe aus
epidemiologischen Studien verstanden werden.
Es sollen weiterführend Gestaltungsparameter, welche die anstehenden Ver-
änderungsprozesse im Gesundheitswesen für Migranten effizienter und zielge-
richteter steuern können aufgezeigt werden. In der BRD gibt es zahlreiche Mo-
dellprojekte zur Optimierung der gesundheitlichen Versorgung von Einwande-
rern. Wann immer möglich, werden ,,best practice" Modelle bewertend aufge-
zeigt. Hier bietet z.B. die WHO mit ihrem ,,Setting-Ansatz" als Kernphilosophie
zu Gesundheitsförderungsprojekten (,,Gesunde Städte", ,,Gesundheitsförderli-
che Schulen", ,,Gesundheitsförderliche Krankenhäuser") einen deutlichen Hin-
weis auf Interventionsmöglichkeiten für eine ,,soziale Einheiten".
Eine erklärende statistische Analyse der hier übernommenen Daten ist nicht
Gegenstand dieser Arbeit. Interpretationen ­ soweit vorgenommen ­ auf der
Basis deskriptiver Betrachtungen und das Aufzeigen von Kausalzusammen-
hängen sollen hier in erster Linie als Diskussionsgrundlage und Anreiz verstan-
den werden. Das Risiko einer Fehlinterpretation der vorhandenen Datenlage ist
nicht unerheblich und läßt sich nur durch eine kritische Haltung und Sachkennt-
nis geringhalten.
Wesentlicher Bestandteil dieser Diplomarbeit ist ­ ausgehend von epidemiolo-
gischen Ergebnissen zu Migration und Gesundheit ­ die Herausarbeitung einer
salutogenetischen Betrachtungsweise zum Thema (siehe Einleitung).

18
1.5 Vorschau auf die einzelnen Kapitel
Kapitel 1 beschäftigt sich mit den theoretischen Ausgangsbedingungen zum
Thema dieser Arbeit. Es wird die vielschichtige Problematik, das verwendete
Material und die Methodik der Herangehensweise zur Erarbeitung der Frage-
stellung herausgestellt. Kap. 1.6 bezieht sich auf spezifische Motive, weshalb
dieses Thema im Rahmen von Public Health erarbeitet wurde. Mit Kap. 1.7
werden bedeutsame Einschränkungen zur Aussagefähigkeit bisheriger ­ und
auch zukünftiger Forschungsergebnisse aufgezeigt.
Mit Kapitel 2 erfolgt der Einstieg in die empirischen Untersuchungen zum The-
ma ,,Migration und Gesundheit". Es hehandelt die historische Entwicklung zur
Migration in der Bundesrepublik Deutschland. Aufgezeigt werden sowohl Migra-
tionsprozesse der letzten Jahrzehnte als auch politische ­ und wissenschaftli-
che Entwicklungen.
Kapitel 3 verweißt auf die heutige Verteilung der bundesdeutschen Einwande-
rer. Da für die gesundheitliche Versorgung von Migranten und Migrantengrup-
pen wegen der erheblich differenten Verteilungsdichte in der BRD unterschied-
liche Versorgungslagen zu beschreiben sind, wird in Kap. 3.1 eine Aufteilung
nach Bundesländern und weiteren Regionen vorgenommen.
Kapitel 4 verdeutlicht anhand epidemiologischer Untersuchungen den heutigen
Gesundheitsstatus von Migranten in der BRD. Die meisten Erhebungen bezie-
hen sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren, häufig liegen keine neueren Un-
tersuchungen vor. Deshalb werden in Kap. 4.1 explizit derzeitige ­ oder in
jüngster Zeit abgeschlossene Forschungsprojekte zum Thema angeführt. Ab
Kap. 4.2 erfolgt eine Aufarbeitung spezifischer Krankheitsbilder unter Einwan-
derern.
Kapitel 5 behandelt den Gesundheitsstatus und die heutigen Versorgungsbe-
dingungen spezifischer Bevölkerungsgruppen von Migranten in der BRD. Einen
breiten Raum nimmt hier die Versorgung älterer Migranten ein. Aufgrund des
allgemeinen ,,healthy migrant effect" , besteht für diese Thematik ein umfang-
reiches Literaturangebot. Kap 5.2 beschäftigt sich mit den ,,alternden" Zuwande-

19
rern. Da sich eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen mit dieser
Thematik auseinandersetzen (Pflegewissenschaft, Psychologie, Psychiatrie,
Medizin u.v.m.) findet sich auch hierzu ein breites Literaturangebot. Insgesamt
wird in Kapitel 5 die große Herausforderung an sehr unterschiedliche Bedürfnis-
lagen zur Versorgung von Migrantengruppen deutlich.
Kapitel 6 nimmt Bezug auf spezifische Schwierigkeiten der gesundheitlichen
Versorgung von Einwanderern. Hier konnte nur eine kleine Auswahl aus einer
Vielzahl möglicher Problemsituationen getroffen werden. Da in der wissen-
schaftlichen Literatur zum Thema dieser Arbeit allzuhäufig sprachliche und kul-
turelle Schwierigkeiten genannt werden, nehmen diese beiden Faktoren auch
hier einen breiten Rahmen ein. Stellvertretend für existenzielle Grundlagen von
Menschen in einer Gesellschaft wird in Kap. 6.3 die Wohnsituation der Auslän-
der in Deutschland angeführt.
Kapitel 7 versucht einen Überblick zu rechtlichen ­ und politischen Rahmenbe-
dingungen für Einwanderer in der BRD zu ermöglichen. Da mit vorgegebenen
Rahmenbedingungen auch immer Strategieentwicklungen der Adressaten ver-
knüpft sind, habe ich in Kap. 7.3 mögliche gelebte ,,Hilfekulturen" von ausländi-
schen Mitbürgern aufgezeigt. Weil der heutige Status der gesundheitlichen Ver-
sorgung von Migranten primär von gesetzlichen und strukturell determinierten
Bedingungen abhängig ist, wurde meine Analyse für die heutige Versorgung
von Migranten im Kap. 7.5 plaziert.
Kapitel 8 zeigt aktuelle Programme der gesundheitlichen Versorgung von Zu-
wanderern auf. Hier werden sowohl Programme oder Aktionen in der BRD als
auch Ansätze und ,,good practice,, Modelle europäischer Staaten angeführt. In
der Literaturrecherche wurde deutlich, dass gerade Wohlfahrsverbände protek-
tive Konzepte zur Versorgung von ,,Minderheiten" entwickeln. Dieser Aspekt
wird in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur unzureichend berücksichtigt
bzw. aufgegriffen. Leider konnte auch diese Arbeit aufgrund der Rahmenbe-
schränkungen nur ansatzweise auf ehrenamtliche, gemeinnützige und kirchli-
che Initiativen eingehen. Kap. 8.1 beschäftigt sich nur abrissartig mit der
Selbstbefähigung von Menschen in der Gesundheitsförderung. ,,Empowerment"

20
mußte aufgrund seiner Aktualität und Favorisierung in der Debatte der Gesund-
heitsförderung hier zwangsläufig mit aufgenommen werden.
Kapitel 9 versucht eine Bilanzierung politischer und struktureller Anforderungen
an ein ,,transkulturelles Gesundheitswesen" darzustellen. Hier gehen mögliche
Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel bewertend ein .
Kapitel 10 erlaubt zunächst vorangehende Ergebnisse dieser Arbeit zusam-
menzuführen. Daneben bietet sich in der Schlußbetrachtung und Reflektion
auch die Möglichkeit einen ,,eindeutigen" Bezug zur gesundheitswissenschaftli-
chen Betrachtungsweise herzustellen. Letztendlich wird mir in diesem Kapitel
erlaubt, eigene Reflektionen anzuführen.
1.6 Relevanz des Themas für die gesundheitswissenschaftliche
Forschung
Zielsysteme gesundheitlicher Versorgung unterliegen derzeit einer öffentlichen
Diskussion, welche die divergierenden Interessen in Bezug auf inhaltliche Ziele,
Aufgabengliederung und Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen nicht zu
einem Konsens führen konnte.
Legislative Veränderungen im Gesundheitswesen sind Ausdruck eines sich auf
makropolitischer Ebene vollziehenden, tiefgreifenden, gesellschaftlichen und
sozialen Wandels, der wiederum seinen Ursprung aus vielfältigen Entwicklun-
gen herleitet. Für den Bereich des Gesundheitswesens äußert er sich in einer
neuen Ausrichtung der Sozialpolitik, die geprägt ist durch die zur Verfügung
stehenden gesellschaftlichen Ressourcen, kulturellen Werte der Gesellschaft
und der kollektiven oder individuellen historischen Determinanten. Wissen-
schaftliche Forschung ­ und deren Ergebnisse ­ sollten von politischen Ent-
scheidungsträgern berücksichtigt werden und gegebenenfalls in gesellschaftli-
chen Rahmenprogrammen ihren Niederschlag finden. Die Ergebnisse gesund-
heitlicher Versorgung (outcomes) sind ­ wie in Abb. 1 ersichtlich ­ von äußerst
differenzierten Umgebungsfaktoren abhängig.

21
Abb. 1
Sozialwissenschaftliches Modell
----------------------------------------------------------------------------------------------------------
(Quelle: Schwartz & Busse 1998, S. 389; in Anlehnung an Weinermann 1971)
Ein wichtiger Aspekt liegt im Stellenwert der Gesundheit als nicht nur individuel-
lem grundlegendem menschlichem Anliegen, sondern als einer ökonomischen
Zielsetzung des Wirtschaftssystems, das Gesundheit sowohl in der Schaffens-
kraft seiner Humanressourcen als auch in seinem Kostenfaktor ,,Krankheit" oder
,,Gesundheitsversorgung" monetär bemißt
(vgl. Schwartz & Siegrist & Troschke, 1998,
S. 9)
. Gesundheit ist dabei allerdings kein homogenes Produkt oder eine eindeu-
tig definierte Dienstleistung. Traditioneller Weise wird die Vorstellung von Ge-
sundheit häufig durch den Begriff Krankheit abgegrenzt. Das Bundessozialge-
richt deklariert 1972 Krankheit als ,,ein regelwidriger Körper- und Geisteszu-
stand, dessen Eintritt entweder die Notwendigkeit einer Heilbehandlung ­ allein
oder in Verbindung mit Arbeitsunfähigkeit ­ zur Folge hat"
(vgl. Haubrock & Peters
1994, S. 18)
. Hingegen ist der Gesundheitsbegriff der WHO von 1946 sehr viel
breiter angelegt, nämlich als ,, ein Zustand vollkommenen körperlichen, geisti-
gen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von
Krankheit und Gebrechen". Die WHO Definition von ,,Gesundheit" unterlag in
den nachfolgenden Dekaden einem nicht unerheblichen Bedeutungswandel.
Ursprünglich als Output-Modell zu betrachten erlangt der heutige Gesundheits-
begriff der WHO anhand eines dynamischen Input-Konzeptes aus Potenzialen

22
und Ressourcen eine weiterreichende Bedeutung. Bezüglich der Gesundheit
eines Indivduums wird von einem Grundstatus ausgegangen, dieser läßt sich
entweder durch einen Zugewinn verbessern (health gain) oder durch einen Ver-
lust verschlechtern. Dabei kann die Verschlechterung sowohl spezifische
Krankheiten, als auch den allgemeinen Gesundheitszustand betreffen
(vgl. Peli-
kan & Halbmayer, 1999, S. 13)
. Darüber hinaus wird Gesundheit von der WHO als
fundamentales Menschenrecht und als weltweites soziales Ziel betrachtet
(vgl.
Rehn et al. 2001, S. 1)
.
Parallel zum oben angeführten Verständniss von Gesundheit gibt es zahlreiche
christlich, philosophisch und soziologisch geprägte Deutungsversuche. Mynarek
(1991, S. 65) führt dazu folgendes aus: ,,Aus der Tatsache, daß das Leben im
Menschen eine geistig-psychisch-körperliche Qualität hat, fließen weitreichende
Konsequenzen für die Gesundheit. Die erste und umfassendste Konsequenz ist
die: Wie der Geist selbst im Menschen nicht einfach vorhanden und verfügbar
ist, sondern erst fortschreitend erkannt, errungen und verwirklicht werden kann,
so ist auch echte menschliche Gesundheit keine einfache Gegebenheit, kein
unabwendbar mit der Geburt, den mitbekommenen Erbanlagen verhängtes
Schicksal, kein statischer Zustand, sondern etwas Werdendes, Wachsendes,
Reifendes. Nur äußerst selten werden wir deshalb vollkommenen Menschen mit
vollkommener Gesundheit begegnen, in der Regel ist man mit der Gesundheit
auf dem Weg, man wird gesund oder man wird krank".
Gesundheit versus Krankheit kann heute vor dem Hintergrund eines Paradig-
menwechsels verstanden werden. Die auf Antonovsky (1987) zurückgehende
zentrale Fragestellung, warum Menschen trotz vielfältiger Belastungen gesund
bleiben und wie Gesundheit wiederhergestellt wird verläßt die Sichtweise der
Pathogenese und wendet sich hin zur Betrachtung der ,,Salutogenese". Anto-
novsky formulierte den Begriff des ,,Kohärenzsinns" welcher im deutschen
Sprachgebrauch mit ,,Kontrollüberzeugung", ,,Selbststeuerung" oder ,,Selbst-
wirksamkeit" übersetzt werden darf
(vgl. Hurrelmann 1999, S. 113)
.
Nach Freidl (1994) ist Gesundheit als ein Prozeß zu betrachten, der ein dyna-
misches Gleichgewicht zwischen physikalischen, biologischen, psychischen
und sozialen Schutz-, Abwehr- und Anpassungsmechanismen auf der einen
Seite und potentiell pathogenen Noxen der Umwelt auf der anderen Seite bein-
haltet. Nach Rimann et al. (1993) muß Gesundheit deshalb vom Organismus

23
eines Individuums ständig wiederhergestellt werden. Sämtliche Erklärungsver-
suche postulieren somit ein ,,bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis". Es
lößt das ,,reduktionistische morphologisch-physiologische Paradigma" ab.
Schwartz & Siegrist & Troschke (1998, S. 8) verweisen darauf, daß zwischen
drei Bezugssystemen für Gesundheit differenziert werden muß:
·
dem der Gesellschaft
·
dem der betroffenen Person und
·
dem der Medizin und anderer Gesundheitsprofessionen.
Ein bedeutender Blickwinkel bezüglich Gesundheit ­ und Krankheit ­ ergibt sich
für Migranten in der BRD aus der Arbeitswelt. Für Hurrelmann (1988, S. 12) hat
die Arbeitswelt insgesamt einen ganz entscheidenden Einfluß auf das körperli-
che, psychische und soziale Wohlbefinden eines Menschen. In diesem Zu-
sammenhang kann festgestellt werden, dass Betriebe ­ neben kommunalen
Einrichtungen ­ die wichtigsten Orte der Gesundheitsförderung für Erwachsene
darstellen. Schon in der Ottawa-Charta der 1. Internationalen Konferenz von
1986 finden sich speziell zur Arbeitswelt u.a. folgende Aussagen:
,,Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben ent-
scheidenden Einfluß auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesell-
schaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine
Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung
schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Le-
bensbedingungen"
(vgl. WHO/ EG/ BMJFFG; 1992, S. 89)
.
In der Arbeitswelt der hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesell-
schaften sind nicht mehr in erster Linie die physikalisch-chemischen und die
technischen Bedingungen für den Gesundheitszustand von Mitarbeitern ver-
antwortlich sondern vielmehr die psychischen und kommunikativen Noxen der
Über- und Unterforderung
(vgl. Hurrelmann 1999, S. 113)
.
Vorliegende Arbeit ist vor allem durch Public Health Gesichtspunkte determi-
niert. Public Health ist als Teilbereich der Gesundheitsforschung zu verstehen.
Nach Schwartz & Busse (1998, S. 3) hat Public Health zum Ziel, ,,ein ,,ange-
messenes Management kollektiver Gesundheitsprobleme" formulieren zu kön-
nen, ohne individuelle Präferenzen und Bedrüfnisse zu negieren. Innerhalb der

24
Epidemiologie beschäftigt sich Public Health mit der Gesamtbevölkerung oder
ihren Subsystemen und ­ Populationen. Schwartz & Busse (ebenda) geben als
Zielsetzung dieser Vorgehensweise nicht nur eine optimale Krankheitsbekämp-
fung, sondern insbesondere auch die Krankheitsverhütung und Gesundheits-
förderung (Prävention) an. Gesundheit ­ und gesundheitliche Versorgung von
Migranten in der BRD muß vor diesem Hintergrund verstanden werden.
1.7 Methodische Probleme zur Migrationsforschung
Zur Krankheits- und Versorgungssituation von Migranten liegen inzwischen eine
Reihe von Untersuchungen vor. ,,Die Aussagekraft ­ fast aller Studien ­ im Hin-
blick auf eine Gesamteinschätzung der gesundheitlichen Situation und Versor-
gung von Zuwanderern ist jedoch begrenzt
(vgl. Weilandt et al. 2000, S. 9)
. Ein-
schränkungen in der Aussagekraft einzelner Studien ergeben sich durch:
·
Den Zeitpunkt der Untersuchungen. Ergebnisse aus frühen Phasen des
Migrationsprozesses sind nicht mehr auf die momentane Situation über-
tragbar
(vgl. Geiger 2000, S. 24)
;
·
es gibt Begrenzungen bezüglich der untersuchten ethnischen Gruppen;
·
Studien sind häufig regional ausgerichtet und mit kleinen Fallzahlen be-
haftet;
·
häufig findet in den Studien eine Begrenzung auf bestimmte Altersgrup-
pen und/ oder Erkrankungsbilder statt;
·
Generalisierung von selektiven Erfahrungsberichten;
·
über die Gruppe der Aussiedler können kaum spezifische Aussagen be-
züglich des Gesundheitszustandes getroffen werden, da diese die deut-
sche Staatangehörigkeit besitzen und in den meisten Statistiken nicht
gesondert aufgeführt werden
(vgl. Geiger 2000, S.24; Empfehlung der Arbeits-
gruppe ... 2001, S. 2 )
;
·
der Gruppenvergleich Migranten zur Gruppe der deutschen Bevölkerung
wird dadurch erschwert, dass sich der Altersaufbau deutlich unterschei-
det. Das Durchschnittsalter der Migranten liegt wesentlich unter dem der
einheimischen Bevölkerung. Gerade in den höheren Altersgruppen wird
dies deutlich. Nur 3,7 % der zugewanderten Menschen in NRW sind

25
1997 älter als 64 Jahre, demgegenüber stehen innerhalb der deutschen
Population 17,5 %;
·
eine Analyse sozialmedizinischer Datenquellen ergibt nach Weilandt &
Altenhofen (1997, S. 77) ebenfalls Einschränkungen: die Sozialleistungs-
statistiken zu Rehabilitationsmaßnahmen, Berufskrankheiten und Ar-
beitsunfällen geben nur Auskunft über den Leistungsumfang versicherter
Personen. Demnach beziehen sich die Morbiditätsdaten ausschließlich
auf erwerbstätige Migranten;
·
ein zurückhaltendes Inanspruchnahmeverhalten der zugewanderten Be-
völkerung muß bei der Interpretation von Daten der Leistungsträger zu
Rehabilitationsmaßnahmen, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten be-
rücksichtigt werden;
·
werden gesundheitsrelevante Merkmale von Deutschen und Migranten
untersucht, gilt es, die Unterschiede in der sozialen Lage und den Be-
schäftigungsverhältnissen zu berücksichtigen, beide Kriterien haben ei-
nen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse;
·
da keine umfassenden Morbiditätsdaten verfügbar sind wird häufig auf
die Todesursachenstatistik zurückgegriffen. Altenhofen & Weber (1993)
geben zu bedenken, dass die Interpretation der Todesursachenstatisti-
ken durch verschiedene selektive Prozesse wie Zuwanderungsbe-
schränkung auf gesunde Arbeitsmigranten und Remigration bei schwe-
ren Erkrankungsverläufen erschwert ist. Auch ist das zu analysierende
Krankheitsspektrum a priori eingeschränkt, da zahlreiche Erkrankungen,
die als Todesursache keine Bedeutung haben, nicht berücksichtigt wer-
den. Aufgrund einer derartigen Datenbasis können z.B. keine Aussagen
über psychiatrische Erkrankungen oder Krankheiten des Muskel-Skelett
Systems getroffen werden;
·
nach Geiger (2000, S. 24) sind regional erhobene Daten nur bedingt re-
präsentativ, da jede Kommune oder Region ihr ,,eigenes interkulturelles
Gesicht" besitzt.
·
Razum & Zeeb (1998, S. 283-286) führen Datenschutz und Ressortden-
ken als Problemstellung für ein Zusammenführen relevanter Datensätze
an.

26
Insgesamt gibt es zahlreiche methodische Probleme einer Datenerhebung. In
den Statistiken der gesetzlichen Krankenkassen wird beispielsweise nicht nach
Staatangehörigkeiten unterschieden. Eine Gesundheits- und Sozialberichter-
stattung, die sich gesondert auf ethnische Minderheiten konzentriert befindet
sich in vielen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung noch im Aufbau. Ei-
nige amtliche Statistiken wie die Bevölkerungs- und Todesursachenstatistik so-
wie die Statistik der meldepflichtigen Erkrankungen sind zwar nach deutschen
und ausländischen Merkmalsträger gegliedert, differenzieren aber nicht nach
einzelnen Nationalitäten.
Um gesundheitswissenschaftliche Aspekte zur Versorgung von Migranten auf-
zeigen zu können fehlen bisher repräsentative epidemiologische Untersuchun-
gen. Methodologische Überlegungen, wie die zugewanderte Bevölkerung in
bestehende große Surveys einbezogen werden könnte, fehlen weitgehend.
Weilandt et al. (1997, S. 82) formulieren diesen Sachverhalt folgendermaßen:
,,... der empirischen Betrachtungen, die allesamt ausschnitthaft sind, da keine
umfassenden vergleichenden Erhebungen zwischen den beiden Bevölkerungs-
gruppen über die zahlreichen und komplexen Dimensionen gesundheitlicher
Befindlichkeit und Versorgung angestellt wurden".
Insgesamt wird im Bereich der Methodik und Datenerhebung ein großer und
spannender Forschungsbedarf insbesondere für Public Health ersichtlich.

27
Teil 2
Empirische Untersuchungen in Deutschland
2.1 Historische Entwicklung der Problematik in der BRD
Die Analyse von Migrationsprozessen ist seit ca. 100 Jahren Gegenstand ver-
schiedener wissenschaftlicher Fachrichtungen (Geographie, Ökonomie, Sozio-
logie, Demographie, Psychologie, Geschichtswissenschaft).
Während sich in den USA schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die
,,Chicago School" eine Migrationssoziologie etablierte, erfolgte nach Angaben
von Bös (1997, S. 58) eine intensive soziologische Auseinandersetzung von
Wanderungsbewegungen erst seit den 1960er Jahren.
Sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema Migration und Gesundheit ge-
wann in den 1960er und 1970er Jahren in der Literatur an Bedeutung. Zu-
nächst widmete sich die Forschung dem speziellen Problem der psychischen
Labilität, später auch den Fragestellungen, der Schichtzugehörigkeit ausge-
suchter Gruppen mit Migrationshintergrund. Sozialwissenschaftlich wurden v.a.
drei Aspekte hervorgehoben: Ermöglichung der Klassenmobilität (der Wechsel
aus einer sozialen Klasse in eine andere), psychosoziale Unterstützung und
ganz allgemein der Zunahme von Integrationsangeboten mit dem Ziel, die Un-
terschiede dieser Gruppe zur bundesdeutschen Bevölkerung zu verringern.
Diese, als ,,Assimilation" der Migrationsbevölkerung, bezeichnete Strategie wur-
de in den 70er Jahren wissenschaftlich ausgewertet, mit dem Ergebnis, dass
migrationsspezifische Problematiken zu wenig berücksichtigt wurden. Aufgrund
der zunehmenden Heterogenität des Migrationsumfeldes konnte die Idee des
,,gleichen Angebots für alle" (einheitliche Modelle für den Gesundheits- und So-
zialbereich) nicht genügen. Als Reaktion bildeten sich Ende der 1970er Jahre
vor allem aber in den 1980er Jahren eine Forschungsrichtung und eine Praxis
heraus, die sich auf folgende Aspekte konzentrierte:
·
Sprachliche Verständigung (Möglichkeiten der Kommunikation);
·
Berücksichtigung der migratonsspezifischen Charakteristiken;
·
Übertragung von Kompetenzen mit dem Ziel einer Hinführung zu eigen-
ständigen Problemlösungen (Empowerment).

28
Heute sind diese Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialbereich bekannt,
und es stellt sich in erster Linie die Frage, wie sich die Leistungserbringer auf
diese erhöhte Komplexität einstellen können.
Public Health Forschung zur Optimierung des Gesundheitszustandes in der
Migrantenbevölkerung kommt inzwischen zu dem Ergebniss der Favorisierung
von Gesundheitssystemen, die
·
erstens, Zugangsbarrieren minimieren;
·
zweitens, spezifische Programme für Personen bereitstellen, die auf-
grund ihres Migrationshintergrundes nur einen beschränkten Zugang in
ein sonst offenes Gesundheitssystem vorfinden (Pluralismus);
·
drittens, die eigenständige Verarbeitung von Problemen (Coping Strate-
gien) und die selbstbestimmte Umsetzung von Massnahmen (Empower-
ment aus den 1980er Jahren ) fördern.
Bereits 1955 schloss die BRD das erste ,,Gastarbeiterabkommen, einen Anwer-
bevertrag mit Italien ab. Gleichlautende Verträge folgten 1960 mit Griechenland
und Spanien, mit der Türkei 1961, mit Marokko 1963, Portugal 1964, Tunesien
1965 und mit dem damaligen Jugoslawien im Jahre 1968. Der Aufenthalt der
ausländischen Arbeitnehmer war im Zusammenhang mit dem sog. Rotations-
prinzip zunächst auf zwei Jahre ausgelegt. Nicht zuletzt auf Drängen der In-
durstie wurde diese Rotationsklausel am 30.09.1964 von der Bundesregierung
wieder aufgehoben
(vgl. BMFSFJ 2000, S. 36)
. Nun begann eine langsame Zunah-
me von Daueraufenthalten und damit eine Verlagerung des Lebensmittelpunk-
tes durch Familienzusammenführung in die BRD.
Ende 1973 wurde ein Anwerbestopp verfügt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren ca.
2,5 Mio. erwerbsstätige Ausländer in der BRD registriert. Besonders der Anteil
der jugoslawischen und türkisch-kurdischen Migranten wuchs beständig an.
Während sich für Migranten aus Italien, Spanien, Griechenland und Portugal die
formalen rechtlichen Bedingungen mit zunehmender EU-Integration verbesser-
ten, wurde türkischen und nordafrikanischen Einwanderungswilligen der weitere
Zuzug verweigert. Dennoch konnte kaum verhindert werden, dass immer mehr
Familienangehörige von Migranten in die BRD nachzogen, insbesondere ver-
zeichnete die türkisch-kurdische Community in den darauf folgenden Jahren

29
einen starken Zuwachs. Weilandt et al. (1997, S. 79) erwähnen den Anstieg der
ausländischen Wohnbevölkerung zu Beginn der 1980er Jahre und führen dies
ebenfalls auf die Einreise von Familienangehörigen (Follow-up Migration), deut-
lich höheren Geburtsraten der Migrantenpopulation und auf einen Zuwachs von
Flüchtlingen und Asylbewerbern zurück.
In der Phase der Anwerbepolitik wurden anknüpfend an die Tradition der Aus-
länderseelsorge der Kirchen (und der Vertriebenenbetreuung) primär die Wohl-
fahrtsverbände aktiv. Diese Einrichtungen übernahmen ­ gestützt auf Laienar-
beit und Ehrenamt ­ vielfältige Betreuungs- und Beratungsaufgaben. Einherge-
hend mit der praktischen Arbeit erfolgten durch Wohlfahrtsverbände auch Ta-
gungen und Dokumentationen
(vgl. Blechner 1998, S. 1)
. Eine Annäherung an die
Thematik des Älterwerdens von Migranten gaben u. a. Kosan (1987); Denne-
baum & Hummel & Winkler (1988); Aguirre & Kürsat Ahlers & Leyer (1990) so-
wie Rothe (1991). Dietzel-Papakyriakou erarbeitete 1993 die erste theoretische
Einbindung des Themas in Deutschland.
Sozialberatung für Arbeitsmigranten bildete den ersten Baustein der Integrati-
onsangebote des Bundes
(vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Auslän-
derfragen über die Lage der Ausländer in der BRD 2002, S. 37)
.
In der deutschen Gesetzgebung wurde der Begriff ,,Aussiedler" erstmals 1957
im Bundesvertriebenengesetz erwähnt. Dadurch bekamen auch Aussiedler ei-
nen Rechtsstatus wie die der Vertriebenen zugesprochen.
Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR stellen nach der türkischen Bevöl-
kerung die zweitgrößte Gruppe der Migranten dar. Jedes achte in Deutschland
geborene Kind hatte Ende der 90er Jahre Eltern mit ausländischer Staatsange-
hörigkeit. Die amtliche Statistik des Bundesverwaltungsamts in Köln gibt 1999
folgende Zahlen zur Migration an: Nach dem ,,Zerfall des Ostblocks" kamen
1986 (nur) 42.788 Aussiedlier nach Deutschland, auf dem ,,Zuzugs höhepunkt"
im Jahre 1990 waren es 397.067 Menschen. Der Anteil der Russlanddeutschen
war im gleichen Zeitraum von 753 auf 147.950 gestiegen. Im Jahre 1993 sind
von 218.888 Aussiedlern 207.347 aus der ehemaligen UdSSR.
Erste Übersichten die sich vornehmlich auf Arbeitsmigranten konzentrierten
gaben Özek (1977); Häfner (1980); Kentenich & Reeg & Wehkamp (1984); Col-
latz & Kürsat ­ Ahlers & Korporal (1985); Brodehl & Geiger & Korporal (1988)
sowie Leyer (1991). Collatz (1995) führt an, dass für Ausländer mit einem

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832475574
ISBN (Paperback)
9783838675572
DOI
10.3239/9783832475574
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bielefeld – Gesundheitswissenschaften
Erscheinungsdatum
2003 (Dezember)
Note
2,0
Schlagworte
migrationsforschung integration empowerment gesundheitsstatus ethnizität
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Titel: Gesundheit und gesundheitliche Versorgung von Migranten in der BRD
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