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Der Wasserbau - Eine Collage

©2002 Diplomarbeit 460 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Arbeit stellt eine freie Reflexion auf den Wasserbau dar. Sie trägt - das Ingenieurwesen ergänzend – philosophische, kulturwissenschaftliche und künstlerische Züge und eignet sich ganz allgemein als Hintergrund- und Horizonterweiterung – speziell für den Ingenieur. Konkrete Anwendung kann diese Studie auch als Vorlage für die Vorlesungs- bzw. Seminargestaltung an Hochschulen bieten, die sich mit dem Thema Wasserbau beschäftigen und ihr Angebot über das rein fachtechnische hinaus ergänzen wollen.
Das Werk gliedert sich in fünf Teile. Der kurze, einführende Prolog (10 S.) steht am Anfang und gibt über Aufgabenstellung, Inhalt und Vorgehensweise Aufschluss. Es folgen drei eigenständige Bände zu Menschen (116 S.), Wasser (112 S.) und Wissenschaft (85 S.), die ohne vorgegebene Reihenfolge rezipiert werden können. Sie sind voneinander unabhängig und jeweils in sich geschlossen. Am Ende schließt der Kommentar (des Autors, 134 S.) mit Aufgreifen der drei Themenblöcke und ihrer Kommentierung die Arbeit ab.
Der Wasserbau - als ingenieurische Disziplin, wissenschaftliche Institution und als menschliches Unterfangen - bildet den Gegenstand dieser Arbeit.
Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, in freier Reflexion über den Wasserbau, ein Bild desselben zu entwerfen, welches Zusammenhänge innerhalb des Wasserbaus, sowie Verflechtungen desselben nach außen hin aufzeigt.
Er möchte seine Kräfte in den Dienst des Wasserbaus stellen und aus diesem heraus Betrachtungen anbringen, die den Bereich des klassischen Wasserbaus zunächst verlassen, aber für diesen im Rückschluß von Interesse und Nutzen sind - und nach Meinung des Autors auch von Bedeutung sein dürften.
Seine Betrachtungen sollen Anregung bieten und der Disziplin des Wasserbaus ergänzend zur Seite stehen.
Als Ausgangspunkt seiner möglichst umfassenden Betrachtungen über den Wasserbau wählt er einen Zugang über die begriffliche Definition des Wasserbaus, sucht sich anhand dieser an den Kern des Wasserbaus anzunähern und von dort aus seine Reise rund um den Wasserbau zu beginnen.
Wasserbau bezeichnet laut Wörterbuch: den Bau von Anlagen im Wasser.
Diese Definition ist, was Aufgabe und Tätigkeit des Wasserbaus als Ingenieurwissenschaft angeht, zu eng gefaßt und zudem überkommen. Allerdings ist diese Definition als Ausgangspunkt geeignet, sich anhand ihrer dem heutigen Stand des Wasserbaus zu nähern und gleichzeitig auf eine weiter gefaßte Begriffsbestimmung des Wasserbaus […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7418
Parodi, Oliver: Der Wasserbau - Eine Collage
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Universität Fridericiana Karlsruhe (TH), Technische Universität, Diplomarbeit,
2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

D
ER
W
ASSERBAU
--
E
INE
C
OLLAGE
Aufgabenstellung und Prolog


Institut für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik
Universität (TH) Karlsruhe
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Franz Nestmann
DIPLOMARBEIT
für Herrn cand. Ing. Oliver Parodi
Wielandtstr. 2, 76137 Karlsruhe
Aufgabenstellung
Ergänzend zu den täglich anfallenden, oft sehr spezifischen Problemen im Wasser-
bau und deren technischen Lösungen sollen am Institut für Wasserwirtschaft und
Kulturtechnik an der Fridericiana im Rahmen dieser Arbeit Betrachtungen angestellt
werden, die einen Einblick in das Wesen des Wasserbaus bieten. Hierzu steht kein
konkretes, wasserbauliches Projekt im Blickpunkt der Untersuchung, sondern die
Gesamtheit der menschlichen Anstrengungen, die unter dem Begriff des Wasserbaus
summiert werden.
Dabei sollen eine Standortbestimmung und Einordnung der ingenieurischen Arbeit
in unserer Welt und die langwährenden und vielseitigen Einflüsse des Wasserbaus
aufgezeigt werden. Zudem sollen Zusammenhänge über den Fachbereich des Was-
serbaus hinaus sichtbar werden.
Die Erarbeitung hat interdisziplinär zu erfolgen und soll eine möglichst breite Sicht
auf den Wasserbau vermitteln. Hierzu sind Recherchen in Bereichen anzustellen, die
sich besonders dadurch kennzeichnen, daß sie nicht dem Standardingenieurwissen
zugehören und einen vom Wasserbau verschiedenen Zugang zur Welt vermitteln.
So soll eine Sammlung entstehen, welche die Gedankenwelt der Ingenieure und
Wasserbauer ergänzt. Eine weitere Konkretisierung der Aufgabe entfällt. Ausdrück-
lich besteht diese aber in der freien Reflexion über den Wasserbau.
Es wird ein kreativer Umgang mit der Thematik verlangt. Dem Bearbeitenden wird
dabei die Freiheit über die inhaltliche und formale Ausgestaltung gegeben. Der Titel
ist frei zu wählen.
Zielpublikum soll der universitär gebildete Ingenieur, im speziellen der Wasserbauer
sein.
Tag der Ausgabe:
01. 08. 2000
Tag der Abgabe:
30. 09. 2000
Betreuung:
Prof.
F.
Nestmann
Prof.
W.
Konold


Prolog
1
Prolog
Der Wasserbau - als ingenieurische Disziplin, wissenschaftliche Institution und als
menschliches Unterfangen - bildet den Gegenstand dieser Arbeit.
Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, in freier Reflexion über den Wasserbau, ein
Bild desselben zu entwerfen, welches Zusammenhänge innerhalb des Wasserbaus,
sowie Verflechtungen desselben nach außen hin aufzeigt.
Er möchte seine Kräfte in den Dienst des Wasserbaus stellen und aus diesem her-
aus Betrachtungen anbringen, die den Bereich des klassischen Wasserbaus zunächst
verlassen, aber für diesen im Rückschluß von Interesse und Nutzen sind - und nach
Meinung des Autors auch von Bedeutung sein dürften.
Seine Betrachtungen sollen Anregung bieten und der Disziplin des Wasserbaus
ergänzend zur Seite stehen.
Als Ausgangspunkt seiner möglichst umfassenden Betrachtungen über den Was-
serbau wählt er einen Zugang über die begriffliche Definition des Wasserbaus, sucht
sich anhand dieser an den Kern des Wasserbaus anzunähern und von dort aus seine
Reise rund um den Wasserbau zu beginnen.
Wasserbau bezeichnet laut Wörterbuch: den Bau von Anlagen im Wasser.
1
Diese Definition ist, was Aufgabe und Tätigkeit des Wasserbaus als Ingenieurwis-
senschaft angeht, zu eng gefaßt und zudem überkommen. Allerdings ist diese Defini-
tion als Ausgangspunkt geeignet, sich anhand ihrer dem heutigen Stand des Wasser-
baus zu nähern und gleichzeitig auf eine weiter gefaßte Begriffsbestimmung des
Wasserbaus zuzusteuern, welche der Autor der gesamten vorliegenden Arbeit
zugrundelegt und anhand derer er seine Gedanken ausführt.
Mit dem in der Definition verwendeten Begriff des `Bauens' bleiben die gesamte
Forschung in den Laboratorien und im freien Feld über die physikalischen, chemi-
schen, biologischen und ökologischen Eigenschaften von Wasser unberücksichtigt.
Diese möchte ich ohne Einschränkung auch dem Wasserbau unterstellen. Von `Anla-
gen' zu sprechen, macht sicherlich Sinn, wenn es um großtechnische Projekte wie
Staudämme, Kanäle und Klärbecken geht. Es läßt sich aber auch ein Trend erkennen,
der von massiven Eingriffen weg, mehr zu kleineren, ökologisch verträglicheren
Lösungen führt. Die Entfernung einer Uferbefestigung oder die Zugabe von Sedi-
ment in einen Flußlauf, heute gängige wasserbauliche Praxis, läßt sich schwer mit
dem Verständnis einer `Anlage' decken. `Im Wasser', um auf den letzten Teil der
Definition einzugehen, stehen, wenn es sich denn um wasserbauliche Anlagen han-
delt, diese auch nicht zwangsläufig, sondern haben oft sogar die gegensätzliche
Funktion und dienen zur Umschließung, zur Fassung des Wassers. So haben Was-
server- und entsorgungsnetze in der Siedlungswasserwirtschaft, Druckstollen im
Kraftwerksbau und Bewässerungsanlagen in der Kulturtechnik die Aufgabe, Wasser
zu fassen und definiert zu leiten. Diese bis hier geschilderten Aufgaben sind dem
Wasserbau zuzuordnen, gehen aber über die oben genannte Definition hinaus.
Man könnte nun auf diesem Wege fortfahren, sich dem Wasserbau zu nähern, und
versuchen selbigem - Gegenstand dieser Arbeit - über die Summe seiner Tätigkeiten
1
Wahrig, 1994.

Prolog
2
und Arbeitsfelder gewahr zu werden. Der Autor möchte jedoch einen anderen Weg
einschlagen.
Anstatt sich in einer endlosen Aufzählung zu verlieren, in der ohnehin die Gren-
zen der Zuständigkeiten des Wasserbaus zu den benachbarten Disziplinen, bei-
spielsweise der Physik, Chemie, Ökologie, der Stadtplanung oder Agrarwissenschaft
verwischen, möchte der Autor das Gemeinsame all dieser wasserbaulichen Tätigkeiten
suchen und dieses in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen über den Wasserbau
stellen.
Nicht die Summe der wasserbaulichen Tätigkeitsfelder, sondern ihr größter ge-
meinsamer Teiler wäre also zu bilden. Wasserbau wird so nicht im Sinne einer Ab-
grenzung gegenüber anderen Fachbereichen definiert, sondern über eine Gemein-
samkeit beschrieben, die jeglicher wasserbaulicher Tätigkeit innewohnt. Das Au-
genmerk soll also auf dem Gemeinsamen all dieser wasserbaulichen Aufgabenberei-
che liegen. Der Autor möchte dieses in eine Aussage fassen, die nicht ausschließlich,
aber vor allem den Wasserbau beschreibt:
Menschen behandeln Wasser mit Wissenschaft.
Dieser Zusammenhang kann jeglicher wasserbaulichen Unternehmung zugrunde
gelegt werden. Er bildet das Gemeinsame, den größten gemeinsamen Teiler des
Wasserbaus.
2
Dieser Zusammenhang bleibt allerdings sehr allgemein und bedarf
näherer Erläuterung:
Mit dem `Be-handeln' von Wasser sind hier sämtliche Handlungen gemeint, die
sich praktisch, aber auch theoretisch, experimentell und virtuell mit dem stofflichen
Element Wasser auseinandersetzen. Ein Experiment, das die Qualität von Abwasser
zum Gegenstand hat, be-handelt Wasser in diesem Sinne genauso, wie es eine com-
putergestützte Strömungssimulation oder der Bau einer Wasserkraftanlage tun. `Mit
Wissenschaft' beinhaltet in diesem Kontext sowohl die reine wissenschaftliche For-
schung, als auch ihre Ergebnisse und ihre letzten Endes technischen Umsetzungen.
So werden im Bau einer Wasserkraftanlage - oder auch im Rückbau eines Flu-
ßabschnittes - eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse in technische Maßnah-
men umgesetzt.
Unter die Aussage: im Wasserbau behandeln Menschen Wasser mit Wissenschaft, möchte
der Autor seine Arbeit stellen und den Wasserbau gemäß diesem Zusammenhang
gesamtheitlich betrachten.
Steht bei einer gängigen wasserbaulichen Arbeit, bezogen auf die obige Aussage,
eine höchst spezifische Handlung im Mittelpunkt der Arbeit, ein Projekt, ein Versuch,
ein Computermodell, das ein konkretes wasserbauliches Problem `behandelt', so
möchte der Autor seine Betrachtungen gewollt von diesem `Behandeln' lösen und
vielmehr die dieses Handeln umgebenden Kategorien: den Menschen, das Wasser und
die Wissenschaft betrachten. Diese Kategorien bilden für den Wasserbau immanent
wichtige Elemente seines Wesens und charakterisieren in ihrem Zusammenhang
sämtliche wasserbaulichen Unternehmungen. Diesen Elementen und ihrem Zusam-
menhang im Wasserbau ist diese Arbeit gewidmet.
2
Falls der ein oder andere Chemieingenieur, Braumeister oder Installateur anhand dieses zu weit gefaßten
Wasserbaubegriffes sich plötzlich bei den Wasserbauern wiederfindet, so sei er herzlich eingeladen, als solcher
den Ausführungen des Autors zu folgen.

Prolog
3
Somit behandelt diese Arbeit kein konkretes, technisch verdichtetes Problem,
führt nicht zu einer ähnlich konkreten Lösung und wird auch nicht produktiv - in
dem Sinn, daß sie die Entwicklung eines konkreten wasserbaulichen Produktes för-
dert, oder allgemeiner, den technischen Fortschritt vorantreibt. Vielmehr wohnt
dieser Arbeit mit ihren weitläufigen Betrachtungen ein interpunktierendes, reflektie-
rendes und retardierendes Moment inne, was Gelegenheit und Freiraum schafft, in
einer gänzlich anderen Weise produktiv zu wirken. So schwingt auch in allen Kapi-
teln die Frage nach dem `Warum', warum Menschen Wasserbau betreiben, immer
offen oder unterschwellig mit.
Bleibt dem Autor noch, vorneweg einige erläuternde Worte über die Mittel und
Form der Darstellung dieser Arbeit anzubringen.
Aus der Aufgabenstellung heraus ergibt sich, daß der Autor zu Mitteln der Dar-
stellung greift, die den Bereich der reinen analytischen Wissenschaft verlassen. Ins-
besondere aus der Reflexion des Menschen, der Supervision der Wissenschaft und
der ganzheitlichen Betrachtung des Wasserbaus folgt der - im weiteren genauer
ersichtliche - Sachverhalt, daß die Wissenschaft als alleiniges Werkzeug der Abbil-
dung nicht ausreichend sein kann.
Das manifestiert sich im Inhalt und der offenen Form dieser Arbeit.
Diese Arbeit umfaßt Einleitung und Anhang, die einzig fix positioniert am Anfang
und Ende stehen. Dazwischen befinden sich vier eigenständige Themenbereiche, die
in eigenständigen Heften vorliegen. Die Reihenfolge, in der sich der Leser diesen
Themengebieten widmet, bleibt ganz seinem Belieben überlassen. Die Themenberei-
che bilden in sich geschlossene Einheiten, beziehen sich zwar des öfteren motivisch
aufeinander, können aber für sich allein stehen und verstanden werden. Gemeinsam
bleibt den Themen ihr Zusammenhang im Wasserbau und ihre Relevanz für den
Wasserbauer, einen Menschen, der Wasser mit Wissenschaft behandelt.
Lassen sich die einzelnen Themengebiete in beliebiger Reihenfolge lesen, so sind
die Kapitel innerhalb der Themenkomplexe einer Ordnung unterworfen. Auch diese
Kapitel sind eigenständig und ließen sich ohne Kenntnis des voranstehenden Kapi-
tels lesen, dennoch stellt die feste Abfolge eine gewollte dar.
Der Leser findet Kapitel, die im wesentlichen Autoren anderer Disziplinen zitie-
ren. Diese Vorgehensweise erscheint dem Autor gerechtfertigt, da er seine Aufgabe
nicht in der Schaffung neuen Wissens in den jeweiligen Disziplinen, beispielsweise
der Kunstgeschichte, Anthropologie oder Philosophie sieht, sondern - als Sammler,
Bewahrer und Vermittler - dieses Wissen dem Wasserbau zur Verfügung und zur
Internalisierung ans Herz legen möchte.
Das vierte Heft, der Kommentar des Autors, kann ebenso zu einem beliebigen
Zeitpunkt in beliebiger Abfolge der Unterkapitel gelesen werden. Vornehmlich aber
möge der Leser im Falle der Verwirrung und bei Aufkommen der Frage nach dem
Sinn oder der Berechtigung einer Collage in Form dieser Einzelhefte, zum Kommen-
tar greifen, um dort Ergänzendes über die Motivation des Autors, seine Intention
sowie über die Themen Wasser, Menschen, Wissenschaft, deren Zusammenhänge im
und als Wasserbau, und das Umfeld des Wasserbaus zu erfahren. Dies kann zur
Klärung der einen oder anderen Frage beitragen.
Als Absolvent zum Wasserbauingenieur erstellt der Autor diese Arbeit als Kon-
klusion seines Studiums.

Prolog
4
Das Bild, die Collage des Wasserbaus, das in dieser Arbeit entsteht, wird mögli-
cherweise ungewohnt erscheinen, ist es doch weit entfernt von einer nüchternen
Beschreibung des Wasserbaus. Es ist ein lebendiges und farbenfrohes Bild, ein mög-
liches unter vielen, aber auch eines, das es sich lohnt - für den Wasserbau - zu erstel-
len.

Prolog
Alle Kunst ist zugleich Oberfläche
und Symbol.
Wer unter die Oberfläche geht,
tut es auf eigene Gefahr.
Oscar Wilde

Menschen behandeln Wasser mit Wissenschaft
Inhalt
D
ER
W
ASSERBAU
-
E
INE
C
OLLAGE
Inhalt
Aufgabenstellung und Prolog
Hefte in nicht vorgegebener Reihenfolge:
Wissenschaft
K
AP
.
I W
ISSENSCHAFT
-
E
INE
D
ENKGESCHICHTE
K
AP
.
II W
ARUM GIBT ES EIN WISSENSCHAFTLICHES
Z
EITALTER
?
K
AP
.
III W
ISSENSCHAFT ALS
K
UNST
Wasser
K
AP
.
I W
ASSER
-
F
AKTEN UND
E
RSTAUNLICHES
K
AP
.
II W
ASSER
-
E
IN SOZIALER
S
TOFF
K
AP
.
III W
ASSER
-
E
IN GEISTIGES
K
ULTURGUT
Menschen
K
AP
.
I D
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M
ENSCH
-
E
IN ÖKOLOGISCHES
W
ESEN
K
AP
.
II D
IE HYDRAULISCHE
G
ESELLSCHAFT
K
AP
.
III D
ER
M
ENSCH
-
E
IN KULTURELLES
W
ESEN
Kommentar und Anhang

Wissenschaft


Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
Inhalt
1
Inhaltsverzeichnis
V
ORWORT
... 3
KAPITEL I
WISSENSCHAFT - EINE DENKGESCHICHTE ... 5
E
INLEITUNG
... 7
P
YTHAGORAS
... 9
P
LATON UND
A
RISTOTELES
... 11
D
AS
M
ITTELALTER UND DIE CHRISTLICHE
L
EHRE
... 13
D
IE
R
ENAISSANCE UND DIE AUFKOMMENDE MODERNE
W
ISSENSCHAFT
... 14
D
IE
W
URZELN VON
A
TOMISMUS UND
M
ATERIALISMUS
... 20
N
EWTONS
S
YNTHESE
... 22
E
INSTEINS
T
HEORIEN
... 24
D
IE
Q
UANTENTHEORIE VON
B
OHR BIS
S
CHRÖDINGER
... 26
E
WIGKEIT UND
E
VOLUTION HEUTE
... 29
S
CHLUß
... 30
KAPITEL II
WARUM GIBT ES EIN WISSENSCHAFTLICHES ZEITALTER?... 33
E
INLEITUNG
... 35
W
ARUM GIBT ES EIN WISSENSCHAFTLICHES
Z
EITALTER
? ... 36
KAPITEL III
WISSENSCHAFT ALS KUNST ... 51
E
INLEITUNG
... 53
1.
K
UNST ALS
W
ISSENSCHAFT
-
E
IN
R
ENAISSANCE
-E
XPERIMENT
... 56
2.
K
UNST
-
Z
WEI
T
HEORIEN
... 59
Fortschrittsidee... 59
Stilpluralismus ... 63
Kurze Zusammenfassung... 66
3.
W
ISSENSCHAFT UND
K
UNST
-
D
IE
W
IRKLICHKEIT
... 67
4.
W
ISSENSCHAFT ALS
K
UNST
... 73

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
Inhalt
2
5.
Z
USAMMENFASSUNG
... 81
S
CHLUßWORT
... 83

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
Vorwort
3
Vorwort
Wasserbau zählt zu den Ingenieurwissenschaften.
Der Wasserbauer schafft Wissen und wendet Wissenschaft in seinem täglichen Tun
unentwegt an.
Im Wasserbau wird Forschung betrieben, sowie die Ergebnisse dieser baulich um-
gesetzt. Sowohl in der Forschung als auch in der Umsetzung finden die Methoden
der Wissenschaft Anwendung. Logischer Aufbau, Objektivität, abstrakte genormte
Darstellung, sowie strenge Prüfbarkeit und Reproduzierbarkeit der gewonnenen
Aussagen sind die maßgeblichen Charakteristika wissenschaftlichen Arbeitens. Sie
werden auch dem Wasserbau zugrunde gelegt. Die Wissenschaft bildet den Kanon
aller Ingenieure, auf Wissenschaft berufen sie sich, und aus ihr heraus erhalten sie
schlußendlich ihre berufliche Daseinsberechtigung. Die Wissenschaft bildet glei-
chermaßen das standardisierte Werkzeug des Wasserbauers, mit dem er sich seinem
Gegenstand Wasser nähert.
Aber die Wissenschaft ist mehr als nur Werkzeug, sie bildet einen Großteil unseres
geistigen Hintergrundes und durchzieht unseren gesamten Alltag. Seit die Religion
ihren Status als welterklärende Institution verloren hat, nimmt die Wissenschaft
diese Funktion ein. Mit ihr wird die Entstehung des Kosmos, die Entstehung des
Lebens, unser Menschsein, unsere Position in der Welt und unser Werdegang erklärt.
Aber auch viel profanere Dinge führen uns immer wieder auf die Wissenschaft zu-
rück. So entspringt die gesamte uns umgebende Alltagstechnik wissenschaftlichen
Erkenntnissen. Gleich ob wir den Lichtschalter betätigen oder den Wasserhahn öff-
nen, dahinter verbergen sich eine Unmenge wissenschaftlicher Errungenschaften.
Ganz zu schweigen von der High Tech, die unseren Alltag auch immer tiefgreifender
durchdringt und die als Allgemeingut von jedermann gebraucht wird. Die Wissen-
schaft ist eines unserer weitreichendsten Kulturgüter.
Nun verhält es sich aber mit der Wissenschaft bei den Ingenieuren und Wissen-
schaftlern ähnlich wie es sich mit vielen anderen kulturellen Errungenschaften ver-
hält: sie werden im Laufe der Zeit selbstverständlich, werden, ohne Herkunft und
Sinn zu hinterfragen, einfach benutzt. Wenige Menschen werden bei jeder Mahlzeit,
die sie zu sich nehmen, dessen bewußt, daß sie dies mit Messer und Gabel tun. Nun
ist es natürlich unmöglich und zudem nicht sinnvoll, bei jeder Handlung sich des
gesamten kulturellen Hintergrundes bewußt zu sein (man würde mit Messer und
Gabel in der Hand schlichtweg vor dem vollen Teller verhungern).
Da es sich jedoch bei der Wissenschaft und der dahintersteckenden Denkweise des
abendländischen Rationalismus um einen wahrhaft elementaren Bestandteil unserer
Kultur handelt (hier unterstelle ich einen gewissen Unterschied zu Messer und Ga-
bel) und auch die Anwendung dieser mit weitreichenderen Folgen verbunden ist,
erhöht dies die Dringlichkeit einer bewußten Anwendung. Es ist notwendig sein
Werkzeug, auf dessen Dienst man sich so grundlegend verläßt, zu kennen, es von
Zeit zu Zeit auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen, um es von Mal zu Mal wieder
sachgerecht einsetzen zu können.
In den folgenden Aufsätzen soll in bescheidenem Umfang die Wissenschaft aus
ihrer bloßen Anwendung ins Licht der Reflexion geholt werden.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
Vorwort
4
Es lohnt sich einen Augenblick zu verweilen, die sonst so produktive Maschinerie
der Wissenschaft anzuhalten, und einige Gedanken an das Wesen dieser zu ver-
schwenden.

Kapitel I
Wissenschaft - Eine Denkgeschichte


Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
7
Einleitung
Wasserbau beruft sich auf Wissenschaft.
Wissenschaft ist eine geschichtliche. Wer ihr Wesen verstehen will, muß sich in der
Zeit bewegen. Ihr Gesicht hat sich über Generationen gewandelt, ihr Zuständigkeits-
bereich verlagert, ihre Ergebnisse haben sich geändert. Diente die Wissenschaft in
der Antike zum Erkenntnisgewinn, zur Wissensmehrung über die Beschaffenheit der
Welt, so stehen heute praktische Anwendungen und technische Umsetzungen der
wissenschaftlichen Ergebnisse im Vordergrund. Wissenschaft um des Wissens Willen
wandelte sich zur zweckgerichteten Wissenschaft.
Die Wissenschaft, die sich als starres Gebilde, als festgefügtes Methodengebäude
zeigt, als normiertes Streben nach Erkenntnis, und als solches im Schein des Zeitlosen
erstrahlt, war zu jeder Zeit Ausdruck eines bestimmten Weltverständnisses. Ihre
Disziplinen waren und sind Spiegel eines oder mehrerer Weltbilder, die sich in An-
satz, Methode und Ziel der jeweiligen wissenschaftlichen Forschung niederschlugen,
zeitweise friedlich koexistierten, sich teilweise aber auf das Schärfste bekämpften.
2
Im weiten Feld der heutigen Bereiche der Wissenschaft lassen sich wesentliche E-
lemente entdecken, die uns an die Hand genommen Jahre oder auch Jahrhunderte
zurückführen und ihre Herkunft in Ideen enthüllen, die auf längst vergangenen
Kosmologien fußen.
An dieser Stelle muß auf den viel verwendeten Begriff der Wissenschaft noch nä-
her eingegangen werden. Mit der Wissenschaft ist in diesem Zusammenhang kein
bestimmter wissenschaftlicher Fachbereich gemeint -auch nicht die Summe all die-
ser- sondern das allen Wissenschaften Gemeinsame: ihre Methode, ihre Wissenschaft-
lichkeit
. Da sich die Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften etwas von den
empirischen unterscheiden, Wasserbau aber auf den empirischen Wissenschaften
3
,
hauptsächlich Physik, Biologie und Chemie aufbaut, sei hier vornehmlich auf die den
empirischen Wissenschaften eigene Methode verwiesen.
Wir unternehmen nun eine Reise zu den Gesinnungen unserer Vorfahren und ih-
ren berühmten Vertretern. Es werden Skizzen der Philosophien von Pythagoras über
Descartes bis hin zu den physikalischen Weltbildern von Bohr und Heisenberg vor-
gestellt. Zudem wird bei vielen der genannten Persönlichkeiten, die als Wissenschaft-
ler und Vorbilder an rationalem, strukturiertem Denken Ruhm erlangten, ein höchst
irrationaler Zug, religiöser oder mystischer Art aufgezeigt, der so gar nicht zu unse-
rem heutigen sterilen Wissenschaftsverständnis passen will.
Die nun folgenden Ausführungen zeigen nicht die Meilensteine der Denkge-
schichte auf dem Weg zur heutigen wissenschaftlichen Weltsicht, sondern beleuch-
Bild vorstehende Seite:
Configuration, Max Ernst, 1974
2
Der wohl populärste Fall in dem zwei unvereinbare Weltbilder aufeinanderstießen, ist der Prozeß Galileis.
mehr darüber in:
Mittelstraß, J.: Die Galileische Wende - Das historische Schicksal einer methodischen Einsicht, Düsseldorf
1969.
Thomas, C. u. Feyerabend, P. (Hg.): Wissenschaft und Tradition, Zürich 1983, Kap.8: Der Fall Galileo Galilei.
3
Mit empirisch werden diejenigen Wissenschaften bezeichnet, die auf Erfahrung beruhen, ihre Erkenntnis aus
Beobachtung und Experiment ziehen.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
8
ten Szenen, deren Inhalt großen Einfluß auf die Wissenschaft im Laufe der Geschich-
te ausübte und deren Inhalt sich partiell bis in die heutige Zeit tradiert hat. Sie lassen
erahnen, wie sehr Wissenschaft auch heute von teilweise jahrhunderte alten Denk-
modellen geprägt ist und wie wenig sich praktizierte Wissenschaft von Überzeugung
und Weltsicht trennen läßt. Nicht ohne Grund war Physik und Philosophie bis in das
achtzehnte Jahrhundert unter einem Begriff, der Naturphilosophie, untrennbar ver-
bunden. Ein Narr, der Physik ohne Philosophie betrieben hätte. Heute dagegen wird
fachlich scharf getrennt. Naturwissenschaft hat nichts mit Philosophie zu tun, ist
unabhängig von ihr, eine reine Wissenschaft.
Welcher Art die Entwicklung der Wissenschaft war und ob sich diese rational
nachvollziehen läßt, darauf soll im zweiten Artikel eingegangen werden.
In unserer wissenschaftlich geprägten Zeit haben wir ein Erbe angetreten, das sich
über bald drei Jahrtausende zurückverfolgen läßt. Sich in einer Ingenieurwissen-
schaft auf Aussagen zu berufen, die Jahrhunderte zurückliegen, erscheint suspekt
oder erweckt zumindest den Verdacht auf grenzenlose Verstaubtheit. Doch auch
heute benutzen wir Denkschemata, die sich über Generationen hinweg gebildet ha-
ben. Und wenn wir wissenschaftlich arbeiten, stellen wir implizit Annahmen über
das Wesen der Welt, die so grundlegend wie alt sind, daß sie uns meist nicht einmal
bewußt werden. Soll der Leser beurteilen, ob er nicht den ein oder anderen Gedan-
ken in seinem Wissenschaftsbild, seinem persönlichen Weltbild oder dem seiner
eventuell praktizierten Wissenschaft im folgenden Text wiedererkennt.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
9
Pythagoras
Wir beginnen unsere Reise im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Pythagoras
4
(ca.
582-497vC.) gründete in Unteritalien den ethisch-politischen Bund der Pythagoreer.
In ihrer Lehre sind Einflüsse aus den antiken Kulturen Ägyptens, Persiens und Baby-
loniens zu erkennen. Sie übten sich in verschiedenen mystischen Praktiken und
forschten wie andere griechische Denker jenseits der sich wandelnden Welt der Er-
fahrung nach dem Göttlichen, nach etwas, das ohne Anfang und Ende ist. Sie fanden
dieses Prinzip in den Zahlen. Zahlen waren für sie das, was in der sich wandelnden
Welt stets gleich bleibt. Sie sind nicht nur Symbole der Ordnung, sondern die We-
sensstruktur der Dinge. Mit ihnen lassen sich Orte im Raum bezeichnen, räumliche
Ausdehnungen angeben und vor allem: Sie lassen sich zueinander ins Verhältnis
setzen, können Proportionen bilden. Somit wurden sie zum Prinzip der Naturgeset-
ze.
5
Die folgenreiche Entdeckung, daß sich Töne in mathematischen Verhältnissen
ausdrücken lassen, soll Pythagoras selbst gemacht haben. Auf einer gespannten Saite
bezeichnet das Längenverhältnis 1:2 die Oktave, das Verhältnis 3:2 die Quinte und
4:3 die Quart. Er stellte weiterhin fest, daß sich diese Ergebnisse beispielsweise auch
auf Metallstücke oder Flöten übertragen ließen. Es liegen hier nicht nur harmonische
Proportionen vor, die exakt angegeben und vom Verstand erfaßt werden können,
sondern auch noch hörbar sind. Diese Entdeckung beinhaltete eine erstaunliche Syn-
these von Qualität und Quantität, Ton und Zahl, ganz ähnlich wie in der Synthese
von Arithmetik und Geometrie die Zahlenverhältnisse und Proportionen als geomet-
rische Figur sichtbar und erfaßbar wurden. Verhältnis und Proportion waren hier
also nicht nur direkt sinnlich erfahrbar, sondern konnten zugleich als zeitlose Fun-
damentalprinzipien verstanden werden. Pythagoras wendete diese Harmonik auf
den bewegten Himmel an, und es entstand die Sphärenharmonie. Schlußendlich
faßte er den gesamten Kosmos
6
als ein großes System von harmonischen Verhältnis-
sen auf. Pythagoras soll behauptet haben, er könne diese kosmische Musik, die Har-
monie der Sphären , tatsächlich hören, wenn auch nicht mit dem normalen Gehör.
Die mystische Erfahrung der Pythagoreer stand nicht im Gegensatz zum Verstand
(lat. ratio), denn als ratio galt vor allem die Fähigkeit Verhältnis (lat. ratio) und damit
Proportionen zu erfahren.
Die Kosmogonie
7
der Pythagoreer enthielt zwei Urprinzipien: peras und apeiron,
die etwa mit Grenze und das Unbegrenzte übersetzt werden können. Dadurch, daß
dem Unbegrenzten Grenzen auferlegt wurden, wurde das Eine erschaffen. Einiges
von dem Unbegrenzten verblieb jedoch als Leere außerhalb des Kosmos und wurde
vom Einen eingeatmet, um den Raum zwischen den Dingen damit zu füllen. Aus
dem Einen, das sowohl gerade als auch ungerade ist, gingen die Zahlen hervor. Sie
4
mehr zu Pythagoras in:
van der Waerden u. Leendert, B.: Die Pythagoreer, München 1979.
5
Burkert, W.: Weisheit und Wissenschaft - Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S.40.
6
Pythagoras soll als erster die Welt, ihrer Harmonie wegen, als kosmos (griech. Ordnung, Schmuck) bezeichnet
haben.
7
Kosmogonie bezeichnet die philosophische Betrachtung der Welt hinsichtlich ihrer Entstehung.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
10
sind nach pythagoreischem Verständnis die Substanz des Kosmos, Grund und Trä-
ger aller Dinge und ihrer Zustände.
Eine gewisse Form der Zahlenmystik findet sich in vielen frühen vor allem schrift-
losen Kulturen. Zahlen sind dort nicht bloße Abstraktionen, sondern führen ein ge-
heimnisvolles Eigenleben, besitzen einen Charakter und ein ihnen zugeordnetes
Wirkungsfeld. Die Pythagoreer haben diese Zahlenmystik besonders weit getrieben
und ihren Kosmos darauf errichtet. Die Auffassung zu vertreten, sie seien die ersten
Naturwissenschaftler gewesen, ist, obwohl es des öfteren geschieht, nicht richtig,
denn tatsächlich war ihre Welterfahrung ganzheitlich und mystisch. Trotzdem hat
ihre Sicht der Dinge ihre Faszination bis heute beibehalten, und das nicht nur auf-
grund der immer stärker werdenden Methoden der rationalen Mathematik oder
aufgrund der Erfolge der mathematischen Physik, sondern viel
»
wichtiger ist das
Gefühl, daß es ein Erkennen gibt, welches zum Kern des Universums vordringt, uns
die Aussicht auf eine ebenso großartige wie tröstliche Wahrheit eröffnet und den
Menschen als eingebettet in eine universale Harmonie darstellt.
«
8
Die Weltsicht der Pythagoreer ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder von
Mathematikern und Naturwissenschaftlern aufgegriffen worden und hat die meisten
führenden Physiker inspiriert und motiviert.
8
Burkert, S.482.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
11
Platon und Aristoteles
Wie schon vor ihm die Pythagoreer war auch Platon (ca. 428-348vC.), Schüler von
Sokrates, auf der Suche nach dem Ewigen. Von den Pythagoreern beeinflußt und von
der Exaktheit der Mathematik beeindruckt, gelangte Platon
9
zu dem Postulat, Er-
kenntnis müsse real, einheitlich und endgültig sein. Die täglich erfahrbare Welt ist
jedoch erfüllt von einer Vielzahl sich wandelnder Dinge. Diese konnten also nur so
etwas wie Spiegelungen ewiger Urbilder oder Ideen sein, die jenseits von Raum und
Zeit existieren, unabhängig von bestimmten Manifestationen ihrer selbst in der Welt
der sinnlichen Erfahrung. Die ewigen Urbilder sind nicht anhand der Sinne wahrzu-
nehmen, sondern nur durch intellektuelle Intuition zu erfassen. Zu dieser Intuition
gelangt man jedoch nicht durch bloßes Denken, sondern durch mystische Einsicht.
Platon war der Auffassung, daß bestimmte Dinge der sinnlichen Welt, z.B. ein Baum,
ihr Urbild, in diesem Fall also die Baum-Idee, nachahmen und an ihr teilhaben, be-
ziehungsweise teilhaben wollen. Ein Baum sein heißt also eine besondere Ausprä-
gung der ewigen Baum-Idee sein.
Erkenntnis beginnt für Platon im Reich der unvollkommenen Sinnendinge, betrifft
aber nicht diese selbst, sondern ist vielmehr Aufstieg der mit Geist (Nous) begabten
Seele ins Reich des Unsinnlichen, der Ideen. Das kann nur durch eine Loslösung
(katharsis) vom Sinnlichen, dem Leib und den zeitlich-dinglichen Interessen, zu einer
rein geistigen Schau (theoria) der unstofflichen geschichtslosen Wesenheit hin erfol-
gen. Dieser Aufstieg wird in Gang gebracht durch Eros, den Dämon der Seele, näm-
lich ihr Streben nach Vollkommenheit, die für sie eben diese geistige Schau der voll-
kommenen Ideen ist. Die Triebfeder, der Eros, rührt aber daher, daß die Seele schon
einmal vor ihrer selbstverschuldeten Verbannung in das Grab des Leibes, im voll-
kommenen Reich der Ideen zu Hause war. Erkenntnis ist somit Wiedererinnerung.
Die Ideen selbst sind durchdrungen vom Seiendsten, von der Idee der Ideen, dem
Guten (agathon). Dieses verleiht den Ideen ihre Idealität, ihre Vollkommenheit. Vom
Menschen kann dieses selbst nicht erkannt werden. Die Welt der sinnlich erfahrbaren
Dinge wurde vom Demiurgen (griech. Werkmeister, göttlicher Weltschöpfer) aus
den vier Elementen: Feuer, Luft, Wasser, Erde und nach den Ideen hin im Licht des
agathon
geschaffen. Die Welt ist in Bewegung auf die Vollkommenheit hin.
Aus dieser Sicht heraus formuliert er seine Lehre vom Staat, den er als idealen ges-
taltet sehen will und dabei rigorose Maßnahmen, wie z.B. Untersagung von Eigenbe-
sitz, staatlich gelenkte Zeugung, Euthanasie, und anderes fordert. Auf Platons Staats-
lehre fußen alle abendländischen staatsphilosophischen Utopien. Seine Überlieferun-
gen sind in Dialogform abgefaßt, in denen Sokrates als Gesprächspartner eine zentra-
le Rolle spielt. Wie bei Sokrates bildeten auch bei Platon Reden und Tun, Theorie
und Praxis eine Einheit bis hin zur Verantwortung jeder einzelnen Person.
Aristoteles
10
(ca. 384-322vC.) war der Begründer einer anderen philosophischen
Strömung, die sich in wichtigen Punkten, obwohl er ein Schüler Platons war, wesent-
9
mehr zu Platon in:
Martin, G.: Platon in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbek bei Hamburg 1969.
10
mehr zu Aristoteles in:
Volkmann-Schluck, K.-H.: Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt a.M. 1979.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
12
lich von der seines Lehrers unterschied. Bestimmte für Platon die Mathematik den
Charakter des eigentlichen Wissens (`Idealist'), so orientierte sich Aristoteles an den
naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Erfahrungen (`Realist').
Folglich bestritt Aristoteles die Existenz transzendenter Urbilder. Für ihn waren
die Urbilder in den Dingen selbst gegenwärtig. Das Urbild eines Baumes etwa exis-
tierte in bestimmten Pflanzen, die aufgrund dessen Bäume genannt werden, und
nicht etwa in einer losgelösten Baum-Idee. Das heißt, die Philosophie des Aristoteles
war animistisch (lat. animus Seele, Geist / griech. anemos Hauch, Wind). Er gewann
die Einsicht, daß die Natur belebt ist und daß allen Lebewesen eine Seele (griech.
psyche
) innewohnt. Im Gegensatz zu Platons Ideen sind diese Seelen den Dingen
nicht transzendent, sondern immanent, also zu den Lebewesen gehörig und in ihnen
zu finden. Die Seele einer Eiche zum Beispiel läßt den sich entwickelnden Keimling
zur reifen Wuchsform seiner Art, zur Blüte und zum Fruchttragen hinstreben. Die
Eichenseele gibt der Materie des Baumes ihre spezielle Form und lenkt seine Ent-
wicklung. Die Seele ist unlösbar mit dem Körper verbunden, sie enthält das Ziel und
bestimmt das Verhalten des Organismus. Sie gibt ihm seine Form und seinen Zweck
und ist der Ursprung seines zweckgerichteten Tuns.
11
Alle Naturprozesse waren für Aristoteles zielgerichtet. Sie strebten nach Zielen,
die der Natur selbst immanent sind. Die Natur ist lebendig und durchdrungen von
natürlichen Absichten. Sogar Steine haben eine Absicht, wenn sie fallen: Sie kehren
heim zur Erde, dem Ort , zu dem sie gehören.
Die Welt teilte sich für ihn nicht wie Platons in eine sinnliche und geistige, son-
dern ist ein einziger Kosmos als untrennbare Einheit des Geistes und der Materie, sie
ist der einzige Ort an dem Wirklichkeit geschieht. Gemeinsam war beiden Denkern
die Überordnung des geisthaften Gemeinsamen über das einzelne Seiende und die
Konstitution alles Einzelnen aus übereinzelnen Prinzipien.
Das Ewige fand Aristoteles in den Seelen, sie und das Ziel, das sie anstreben, sind
unwandelbar. Das erstrebte Ziel ist Gott. Gott ist kein Schöpfer im christlichen Sinne,
sonder das geliebte Idealziel und damit der ,,unbewegte Beweger", nach dem alles
strebt, es gleichzeitig aber nie erreichen kann.
Da aus den menschlichen Fähigkeiten die reine Theorie dem Idealziel am nächsten
kommt, ist sie das Höchste, was ihm vergönnt ist. Die theoretischen Wissensweisen
stehen somit im Rang höher als die praktischen, zu denen er z.B. Ethik und Politik
zählt, und auch als die handwerklichen. Die Aristotelische Ethik handelt im Kern
von der Tugend, die der gemischten Natur des Menschen entsprechend, als eine
mittlere zwischen zwei Extremen gefaßt wird.
Moraux, P. (Hg.): Aristoteles in der neueren Forschung, Darmstadt 1968.
11
Gilson, E.: From Aristoteles to Darwin and Back Again, Indiana 1984.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
13
Das Mittelalter und die christliche Lehre
Die Tradition Aristoteles wurde vom Christentum übernommen und adaptiert. Im
mittelalterlichen Europa kam es zu einer großen Synthese der Aristotelischen Philo-
sophie, die in die christliche Theologie einzudringen begann, und dieser.
Thomas von Aquin
12
(ca. 1225-1274nC.) begann mit der systematischen Entwick-
lung dieser Synthese, die später von verschiedenen Strömungen der Scholastik
13
weiter ausgeformt wurde. Diese Philosophie betrachtete die Natur als lebendig und
alle Arten von Lebewesen als beseelt. Gott hat diese Seelen in ihrer endgültigen Form
erschaffen, und sie verändern sich nicht mehr. Im menschlichen Bereich hingegen
gibt es eine fortschreitende Entwicklung, wie sich in der von Gott gelenkten Ge-
schichte der Juden, vor allem aber in der Inkarnation Gottes als Mensch Jesu, gezeigt
hat. Die Reise des Menschen vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Garten
Eden zu einer neuen Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung ist von den Propheten
verkündet worden, ist in Gottes Selbstoffenbarung offenkundig geworden und kann
fortgesetzt werden aufgrund des Glaubens an Gottes Absichten. Doch nur Menschen
können sich auf diese Weise entwickeln, die Seelen der übrigen Natur bleiben so wie
sie Gott erschaffen hat bis zum Jüngsten Tag.
Thomas von Aquin, Einer von christlicher Theologie und aristotelischer Philoso-
phie, trennt dennoch erstmals scharf zwischen Glauben und Wissen, Beten und Den-
ken, Theologie und Philosophie. Er führt diese Trennung anhand ihrer Quellen
durch: das übernatürliche Licht, als die Offenbarung erschließende Glaubensquelle
und das natürliche Licht, als eigentliche und erste Ursache aller natürlichen Erkennt-
nis. In ihren Ergebnissen vereinigt er Glaube und Wissen allerdings zu einem Ge-
samtgebäude.
Der christianisierte Animismus wurde zur orthodoxen Lehre an den mittelalterli-
chen Universitäten und wurde dort bis ins siebzehnte Jahrhundert und noch später
gelehrt. Die katholische Lehre greift heutzutage noch darauf zurück.
12
mehr zu Thomas von Aquin in:
Pieper, J.: Thomas von Aquin - Leben und Werk, München 1986.
13
Scholastik (von lat. scholasticus Lehrer) ist die in den mittelalterlichen Schulen ausgebildete philosophisch-
theologische Lehrweise, die sich weitgehend auf Aristoteles beruft. Ab dem neunten Jahrhundert entwickelt sich
diese Lehre und bleibt bis ins 17. Jahrhundert bestehen. Sie vermittelt so griechisch-antikes Denken an die
aufkommende Neuzeit.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
14
Die Renaissance und die aufkommende moderne Wissenschaft
Die pythagoreische und platonische Tradition trat mit den Anfängen der Renais-
sance
14
wieder auf den Plan. Die Väter der modernen Wissenschaft bezogen ihre
Inspiration aus diesen Philosophien, verknüpften sie miteinander und bauten deren
Ideen in das Fundament ihres neuen Wissenschaftsverständnisses ein. Die damals
gängigen aristotelischen Einflüsse lehnten sie ab.
Nikolaus van Kues
15
(1401-1464), ein spätmittelalterlicher Mathematiker und christli-
cher Philosoph, oft als der erste moderne Denker bezeichnet, entwarf ein pythagorei-
sches Weltbild, das einen nachhaltigen Einfluß auf die Naturphilosophie des sech-
zehnten und siebzehnten Jahrhunderts ausübte. Er sah die Welt als eine unendliche
Harmonie, eine Harmonie, die auf mathematischen Proportionen beruht. Erkenntnis
war für ihn stets Messung, bestand in der Bestimmung von Verhältnissen und war
daher ohne die Hilfe der Zahlen unmöglich. Er behauptete, daß
»
die Zahl das erste
Vorbild im Geist des Schöpfers
«
16
sei und daher nur mathematische Erkenntnis den
Anspruch der Gewißheit erheben könne.
17
Diese Welt ist unendlich nicht nur im Großen sondern auch im unendlich Kleins-
ten. Innerhalb dieser Welt gibt es keinen festen Ort und alle Bewegung bleibt deshalb
relativ. Die unendliche Welt nimmt an der Unendlichkeit Gottes teil. Da Gott unend-
lich ist, das verstandesmäßige Erfassen aber im Endlichen verweilt, ist Gott an sich
unfaßbar. Deshalb kann auch keine Religion den Absolutheitsanspruch der einzig
wahren Religion erheben.
Etwa einhundert Jahre später teilte Kopernikus
18
(1473-1543) mit von Kues nicht nur
dessen Vornamen, sondern auch seine Ansichten über eine harmonische Welt und
gelangte zur Auffassung dieses Universum sei ein Universum der Zahl. Was mathe-
matisch wahr sei, das sei auch
»
tatsächlich oder astronomisch war
«
.
19
Beeindruckt
von den antiken griechischen Philosophen und auf deren Autorität vertrauend, holte
er eine Vorstellung aus der Versenkung, die dort seit zwei Jahrtausenden schlum-
merte. Die Sonne sei Mittelpunkt des Universums und die Erde umkreise sie.
Der orthodoxen Lehrmeinung seiner Zeit nach, war die Erde eine Kugel, um die
sich Sonne, Mond und Planeten in konzentrischen Sphären drehten. Für Kopernikus
besaß die Idee eines heliozentrischen Weltbildes, nicht zuletzt einer gewissen Vereh-
rung der Sonne wegen, eine größere intellektuelle Anziehungskraft.
»
Wer in unse-
rem hochherrlichen Tempel könnte dieses Licht an eine andere oder bessere Stelle
14
Die Renaissance (franz. Wiedergeburt -der Antike-)ist eine der großen Geistesbewegungen, mit denen die
europäische Neuzeit beginnt. Die Entwicklung setzte Ende des vierzehnten Jahrhunderts in Italien ein. Sie
hinterließ in ganz Europa ihre Früchte in allen Bereichen der Kunst und Lebenskultur. Bedeutende Inhalte waren
das dem Diesseits zugewandte Weltgefühl, die Freiheit und Würde des einzelnen Menschen und die Hinwen-
dung zur immanenten Gesetzlichkeit der Natur. Mit ihr ist der Begriff des Humanismus eng verbunden.
15
mehr zu van Kues in:
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966.
16
übers. n: Burtt, E. A.: The Metaphysical Foundation of Modern Physical Science, London 1932, S.42.
17
Dijksterhuis, E. J.: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1961, S.225-233.
18
mehr zu Kopernikus in:
Kirchhoff, J.: Nikolaus Kopernikus, Reinbek bei Hamburg 1985.
19
übers. n.: Burtt, S.44.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
15
setzen als eben diese, von der aus es alle Welt zugleich erleuchten kann? Und nicht
zu Unrecht nennen manche es das Licht der Welt, andere die Seele, wieder andere
den Regenten.
«
20
Er berechnete die Umlaufbahn der Erde und der anderen Planeten. Allerdings
stützte er sich dabei auf das damals gängige, ,,falsche" ptolemäische Epizykel-
system
21
, verwarf es nicht, sondern integrierte mit großen Mühen seine neuen Er-
kenntnisse. So war das kopernikanische Weltbild in der wissenschaftlichen Theorie
eine Fehlentwicklung, aber in der Denkgeschichte ein denkwürdiger Augenblick und
wahrhaft revolutionär. Durch die Vertreibung der Erde und damit des Menschen aus
dem Mittelpunkt der Weltordnung, verliert der Mensch die Krone der Schöpfung
und wird mit anderen astronomischen Körpern in den bedeutungslosen Hintergrund
eines unendlichen Universums gedrängt.
Hier beginnt die Neuzeit, Glaube und Wissenschaft werden zu unversöhnlichen
Gegnern, deren Auseinandersetzungen sich bis in die Gegenwart erstrecken. Die
europäische Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos und dem Sinn seiner
Existenz hat durch Kopernikus erst ihre volle Schärfe bekommen, und sie ist weiter-
hin offen. Auch trennen sich hier die Wege der Beantwortung dieser Frage. Zurück
zur Denkgeschichte der Wissenschaft:
Die Abtrennung des Glaubens von der Wissenschaft vollzog sich aber nicht abrupt
und vollständig. Johannes Kepler
22
(1571-1630), Mathematiker, war gläubiger Christ
und auch sein Aufbau der Welt war durchzogen vom Geist Gottes.
Selbst von einem starkem Gefühl geleitet, daß die Sonne,
»
deren Essenz nichts als
das wahre Licht ist
«
, im Mittelpunkt stehe, unterstützte er das heliozentrische Welt-
bild und untermauerte es. Die Sonne war für ihn erstes Prinzip und erster Beweger
des Universums. Sie
»
allein, aufgrund ihrer Würde und Kraft, ist geeignet, diesen
Dienst des Bewegens zu versehen, und ist würdig, die Wohnstatt Gottes zu sein
«
23
.
Seinen eigenen Worten nach, war die entscheidende Entdeckung seines Lebens, die
Vision, die ihm die Radien der Planetenbahnen als die Radien der umschließenden
Kugeln der fünf vollkommenen platonischen Körper (Tetraeder, Kubus, Oktaeder,
Dodekaeder und Ikosaeder), offenbarte. In seinem Kosmos waltet die Musik mathe-
matischer Harmonien. Sie ist die allgegenwärtige Handschrift Gottes.
Er glaubte, daß die sinnliche Erkenntnis der Dinge dunkel, unklar und unzuver-
lässig sei. Gewißheit der Erkenntnis liegt für ihn ausschließlich in den quantitativen
Zügen der Welt, den mathematischen Harmonien. Die sich wandelnden Qualitäten
der Dinge, die wir sinnlich wahrnehmen können, bilden eine niedere Ebene der
Wirklichkeit, sie besitzen kein wahrhaftes Sein. Gott erschuf die Welt nach numeri-
schen Harmonien und den menschlichen Geist legte er so an, daß ihm wahres Erken-
nen nur mit Hilfe der Quantität möglich ist.
20
übers. n.: Burtt, S.45.
21
Ptolemäus (ca. 83-161nC.) konstruierte ein Universum, in dessen Mittelpunkt sich die Erde befand. Sonne,
Mond und Planeten umkreisten die Erde. Um jedoch die scheinbar unregelmäßigen Bewegungen der Planeten zu
erfassen, benötigte das ptolemäische Weltbild 40 Epizykel (Nebenkreise). Kopernikus stieß zwar die Erde aus
dem Mittelpunkt, behielt aber das geometrische System bei. Seine heliozentrische Erklärung wurde so in der
Theorie nicht einfacher sondern noch komplizierter als die geozentrische, er mußte nämlich den 40 bestehenden
noch weitere acht Epizykel hinzufügen.
22
mehr zu Kepler in:
Koestler, A.: Die Nachtwandler - Die Entstehungsgeschichte unserer Welterkenntnis, Stuttgart 1959.
23
übers. n.: Burtt, S.48.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
16
Kepler, Verfechter des heliozentrischen Weltbildes und Entdecker physikalischer
Gesetzmäßigkeiten, die bis heute ihre Geltung behalten haben, bettete seine Ergeb-
nisse in ein aus heutiger Sicht höchst irrationales und unwissenschaftliches Weltbild.
Seine Harmonices Mundi (1619), ein umfassendes Werk über Geometrie, Astronomie,
Astrologie, Theologie und Erkenntnistheorie
24
, sind der letzte Weltentwurf, der die
empirischen Wissenschaften in ein Gesamtverständnis von Gott, Mensch und Welt
einbindet.
Am Anfang der modernen Naturwissenschaft, deren rasante Entwicklung zu me-
chanistischer Weltsicht und der Trennung von Erkenntnistheorie und Ethik führen
wird, steht ein Mann, der die Einheit der Welt, die Einheit der Wissenschaft und die
Übereinstimmung des Menschen mit den Ordnungen des Kosmos denkt.
Abb. 1) Sonnensystem nach Kepler. Die Radien der Planetenbahnen entsprechen den
Um- und Inkreisradien der Platonschen Körper. (Sheldrake)
Galileo Galilei
25
(1564-1642) brachte die kopernikanische Wende zum Abschluß. Ein
von ihm verbessertes Fernrohr lieferte ihm schlußendlich die Beweise gegen das
geozentrische und für das heliozentrische Weltbild an die Hand.
Für ihn war Gott der Schöpfer eines mathematisch geordneten Universums.
»
Die
Philosophie steht in jenem großen Buch geschrieben - ich meine das Universum -, das
stets offen vor unseren Augen liegt; wir verstehen es jedoch nicht, wenn wir nicht
zuerst die Sprache erlernen, in der es geschrieben ist, und ihre Symbole erfassen.
24
In der hier weiter gefaßten Bedeutung des philosophischen Begriffes der Erkenntnistheorie ist eine Reflexion
auf Ursprung, Art und Reichweite des Erkennens gemeint.
25
mehr zu Galilei in:
Fölsing, A.: Galileo Galilei - Prozeß ohne Ende, München 1983.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
17
Dieses Buch ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Symbole sind
Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne deren Hilfe wir auch nicht
ein einziges Wort begreifen können und hilflos in einem dunklen Labyrinth umherir-
ren.
«
26
Diese mathematische Ordnung geht auf Gott zurück, der eine rigorose ma-
thematische Notwendigkeit in die Welt hineindenkt und damit eine absolute Gewiß-
heit wissenschaftlichen Erkennens aufgrund der mathematischen Methode ermög-
licht. Aus dieser Voraussetzung leitet Galilei eine klare Unterscheidung des Absolu-
ten, Objektiven, Unwandelbaren und Mathematischen vom Relativen, Subjektiven
und Vergänglichen ab. Ersteres ist der Bereich göttlicher und menschlicher Erkennt-
nis, letzteres der Bereich der Meinung und Täuschung. Die Dinge, die wir mit unse-
ren Sinnen zu erkennen vermögen, sind nicht die wirklichen oder mathematischen
Dinge, sie besitzen jedoch gewisse Eigenschaften, die zu wahrer Erkenntnis führen,
wenn sie mathematisch behandelt werden. Die Bibel zum Beispiel, das Buch der
Bücher, stand nach Galileis Auffassung nicht im Widerspruch mit seinem eigenen
Buch der Naturgesetze, vielmehr bildeten sie eine höhere Einheit. Dazu hätte man
die Bibel nur entmythologisieren und sie im Licht der neuen Wahrheit interpretieren
müssen.
Zahl, Menge, Position und Bewegung sind Primärqualitäten, ihnen haftet Wahr-
heit an, alle sinnfälligen Qualitäten sind hingegen sekundäre und untergeordnete
Wirkungen dieser primären und zudem subjektiv.
»
Geschmack, Geruch und Farbe
eines Gegenstandes, die in diesem Gegenstand zu existieren scheinen, sind nichts als
bloße Namen und haben ihren Ort einzig und allein in dem empfindenden Körper;
wird dieser entfernt, so werden damit auch alle diese Qualitäten zunichte.
«
27
Diese Unterscheidung war von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der
Naturwissenschaft, denn sie leitete die Verbannung der unmittelbaren Erfahrung aus
dem Reich der Natur ein. Bis zu Galilei hatte es als selbstverständlich gegolten, daß
Mensch und Natur Teile eines größeren Ganzen seien. Jetzt wurden alle Aspekte der
Erfahrung, die sich nicht auf mathematische Prinzipien zurückführen ließen, aus der
objektiven, äußeren Welt ausgeschlossen. Als die einzige Gemeinsamkeit zwischen
dem Menschen und dem mathematischen Universum blieb die Fähigkeit des Men-
schen übrig, anhand seines Verstandes die mathematische Ordnung der Dinge zu
erfassen.
Für die aufkommende moderne Wissenschaft war noch ein anderes von Galilei
postuliertes Kriterium von enormer Wichtigkeit, das des wiederholbaren Experi-
ments. Mit diesem Konzept wurde eine gewissermaßen objektive, unbeeinflußbare
Instanz zur Überprüfung mathematisch formulierter Hypothesen über die Natur der
Dinge geschaffen, Erkenntnis ließ sich nun messen und prüfen.
Er erweiterte somit nicht nur die Wahrheit über die Natur, sondern veränderte die
Natur der Wahrheit. Die von Galilei ans Licht gebrachten Sachverhalte beanspruch-
ten eine Gewißheit der Erkenntnis, die bis dahin nur Gott allein zukam.
Die Ergebnisse seiner Forschung machte er einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
und war so schon zeitlebens eine umstrittene Persönlichkeit. Seine aufrührerischen
Ansichten, die er seit jungen Jahren hegte, gipfelten in einem Prozeß vor der Heiligen
Inquisition, er wurde der Ketzerei beschuldigt und mußte dem Urteil nach dem
kopernikanischen Weltbild abschwören. Dieser Prozeß machte ihn zu einem Symbol
26
übers. n.: Burtt, S.64.
27
übers. n.: Burtt, S.75.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
18
der Auseinandersetzung zwischen modernem Denken und traditionell christlichem
Weltbild.
Er war der publikumswirksame Scheidepunkt zwischen Glaube und Wissen, Reli-
gion und Wissenschaft, Subjektivität und Objektivität und markierte somit den Be-
ginn der Neuzeit.
Noch ein ,,Beginn der Neuzeit" ereignete sich in Frankreich mit dem Gelehrten und
Philosophen René Descartes
28
(1596-1650). Er war ein Zeitgenosse Galileis und wie
jener distanzierte auch er sich von der Scholastik.
Descartes hatte den Anspruch, alle Wissenschaften zu kennen und zu bearbeiten.
Er sah ganzheitlich, die
»
gesamte Philosophie [...] also einem Baume vergleichbar,
dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle
übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen,
nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik. Unter Ethik verstehe ich dabei
die höchste und vollkommenste Sittenlehre, die, indem sie die gesamte Kenntnis der
anderen Wissenschaften voraussetzt, die letzte und höchste Stufe der Weisheit bildet.
So wie man nun weder von den Wurzeln noch vom Stamm der Bäume die Früchte
pflückt, sondern nur von ihren Zweigen, so hängt auch der hauptsächliche Nutzen
der Philosophie von denjenigen ihrer Teile ab, die man erst zu allerletzt lernen
kann.
«
Diese Worte stellte er seinem Werk Principia philosophiae (1644) als Einleitung
voran.
In seiner Lehre lassen sich viele Parallelen zu Galilei finden, auf dessen physikali-
sche Lehre er aufbaute. Nur führte er die Spaltung der Welt noch konsequenter
durch. Auf der einen Seite gab es jetzt ein mathematisches Universum, das gänzlich
von mathematischen Gesetzen beherrscht war, auf der anderen Seite einen rationalen
menschlichen Geist, der wie der Geist Gottes nicht-materieller Natur war, er war
Geistsubstanz ohne räumliche Ausdehnung. Die Natur, Pflanzen, Tiere und Men-
schenkörper wurden zu unbelebten Maschinen. Nur das rationale Bewußtsein war
nicht mechanisch, sondern geistiger Natur, und nur der menschliche Geist besaß die
gottähnliche Fähigkeit, der mathematischen Ordnung des Universums mit Hilfe
einer Universalwissenschaft, der Mathematik, gewahr zu werden. Mathematische
Erkenntnis bedeutete Gewißheit und Wahrheit. Wie Galilei war auch Descartes seit
Jugend von der Mathematik fasziniert und hatte wie er einen visionären Traum. In
diesem offenbarte ihm der Engel der Wahrheit, daß die Mathematik der einzige
Schlüssel sei, um die Geheimnisse der Natur zu enträtseln. Er war
»
von Begeisterung
erfüllt und entdeckte die Grundlagen einer wunderbaren Wissenschaft
«
29
.
In dieser war die Geometrie die Wissenschaft der ruhenden Körper und die Phy-
sik der sich im mathematischen Raum bewegenden Körper. Allein die Frage warum
sich überhaupt etwas im Weltall bewegt, konnte hiermit nicht beantwortet werden.
Descartes nahm an, Gott habe das materielle Universum in Bewegung gesetzt. Die
Welt ist also seit der Schöpfung nichts anderes als eine ungeheure Maschine, die
keinerlei Beeinflussung und auch nirgendwo eine Spur Freiheit oder Spontaneität
zuläßt. Alles bewegte sich seit der Schöpfung mechanisch, determiniert weiter.
28
mehr zu Descartes in:
Koyré, A.: Descartes und die Scholastik, (Nachdruck 1923), Darmstadt 1971.
29
Wallace, W.: Descartes, in Encyclopaedia Britannica, Übersetzung, New York 1910, S.79f.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
19
Descartes mechanische Naturphilosophie war eine bewußte Absage an die alte
scholastische Orthodoxie, in deren Lehre die Natur nach aristotelischer Tradition
durch und durch belebt war. Er verbannte die Seele und alle Absichten aus der Na-
tur. Allein der Mensch besaß Bewußtsein und konnte Absichten fassen, denn seine
Rationalität war geistiger und damit göttlicher Herkunft und konnte nicht der mate-
riellen Welt angehören. Seiner Auffassung nach tritt der Geist in der Zwirbeldrüse in
Wechselwirkung mit dem Gehirn. Einen Beweis, oder eine Erklärung, wie das ge-
schehe, konnte er nicht vorweisen. Heutzutage hat die Großhirnrinde die Zwirbel-
drüse als mutmaßlichen Sitz des Bewußtseins verdrängt, allerdings fehlen auch heu-
te noch schlüssige Erklärungen des Zustandekommens von Bewußtsein. Und der
Geist, der Descartes beschwor, hockt weiterhin in seiner Maschine.
30
Mit der Entmystifizierung der Natur erfolgt gleichzeitig eine Abwertung dieser.
Allem Leben, Willen, Intention und Heiligen beraubt, tritt sie zurück in den Schatten
menschlicher Größe und wird von dessen geistigem Licht als bloßes Objekt beleuch-
tet. Auf lange Sicht öffnet dies der Wissenschaft und Technik die Pforten, die ihnen
gegenüberstehende Welt wahrlich gottlos zu behandeln.
Gott -und das wird meistens nicht mit dem Namen Descartes in Verbindung ge-
bracht- wird im Gegenzug von allem irdischen geläutert und erstrahlt in seinem
Weltbild in einer nie gekannten Reinheit. Descartes Lehre war eine weit extremere
Form des Monotheismus, als die zeitgenössische Lehre der Kirche. Er hielt seine
Gottesvorstellung für erhabener und empfand nur Geringschätzung für die her-
kömmlichen Ideen.
»
Die Mehrheit der Menschen denkt Gott nicht als unendliches
und unbegreifliches Wesen, als den einzigen Urheber, aus dem alle Dinge strömen;
sie gehen nicht über die Buchstaben seines Namens hinaus.
«
31
Das von Descartes initiierte mechanistisches Weltbild überdauerte bis heute; die
ihm zugrunde gelegte Gottesvorstellung verblaßte frühzeitig.
30
Koestler, A.: Das Gespenst in der Maschine, Wien 1968.
31
Wallace, S.85.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
20
Die Wurzeln von Atomismus und Materialismus
In das Wissenschaftsverständnis des siebzehnten Jahrhunderts floß noch eine andere,
außer den bereits erwähnten, Tradition des antiken Griechenlands ein: der Atomis-
mus.
Die Philosophie des Atomismus wurde erstmals im fünften vorchristlichen
Jahrhundert von Leukipp und Demokrit vertreten.
Wie die Pythagoreer und Platon forschten die Atomisten nach einer unwandelba-
ren Wirklichkeit, die der sich verändernden Welt zugrunde liegt. Ihr Ansatzpunkt
war die Philosophie des Parmenides
32
(ca. 515-450vC.), der sich eine intellektuelle
Vorstellung vom höchsten, unwandelbaren Sein zu bilden versuchte. Er kam zu dem
Schluß, das Sein müsse eine undifferenzierte,
»
wohlgerundete Kugel
«
sein. Wahr-
haft sein konnte nur ein ewiges Ding, nicht die vielen Dinge, die sich verändern.
Unsere Erfahrungswelt enthält jedoch lauter Dinge, die ihre Gestalt ändern. Parme-
nides konnte darin nicht mehr als das Ergebnis einer Täuschung sehen. Diese Folge-
rung war für viele der nachfolgenden Philosophen unannehmbar. Sie bemühten sich
um plausiblere Theorien des absoluten Seins.
Die Antwort der Atomisten war: Das absolute Sein ist keine große, unveränderli-
che Kugel, sondern besteht aus vielen, undifferenzierten, unwandelbaren Dingen,
den materiellen Atomen, die sich durch die Leere bewegen. Diese Atome sind unzer-
störbar und damit ewig. Das Wort Atom bedeutet das, was nicht geteilt werden
kann. Veränderungen gehen auf Bewegung, Kombinationen und Umgruppierungen
dieser realen, aber unsichtbaren Teilchen zurück. Demokrit
33
(ca. 460-370vC.) ein
berühmter Vertreter des Atomismus hat den Worten Laertios
34
nach folgendes ge-
lehrt:
»
Prinzipien des Alls seien Atome und Leeres, alles andere sei bloßes Dafürhal-
ten. [...] Nichts entstehe aus dem Nichtseienden oder vergehe ins Nichtseiende. Die
Atome [...] bewegten sich im All wirbelartig und erzeugten so die Kompositionen
von Feuer, Wasser, Luft und Erde, denn auch dieses seien Systeme bestimmter Ato-
me, die durch ihre Festigkeit unaffizierbar und unveränderlich sind. Sonne und
Mond bestünden aus feinen und sphärischen Masseteilchen wie auch die Seele; sie
und der Verstand seien identisch. [...] Alles geschehe notwendig, denn die Wirbel-
bewegung sei die Ursache allen Geschehens, die er Ursache nennt. [...] Die Qualitäten
[der Wahrnehmung] existieren nur im Dafürhalten, real seien nur Atome und Lee-
res.
«
35
Mit den Göttern verhält es sich ähnlich, auch sie sind bloße Bilder, die sich im
physikalischen Prozeß der Weltentstehung entwickelt hätten und wie die Welt selbst
sterblich sind.
Heute finden wir die geistigen Ausläufer des Atomismus zum Beispiel ganz kon-
kret in der Chemie oder der Teilchenphysik wieder, in der
»
trotz der Ironie des ge-
32
mehr zu Parmenides in:
Hölscher, U.: Parmenides - Vom Wesen des Seienden, Frankfurt a.M. 1969.
33
mehr zu Demokrit in:
Müller, R.: Naturphilosophie und Ethik im antiken Atomismus, In: Philologus 124, 1980.
34
Diogenes Laertios hat im dritten Jahrhundert nach Christus Lebensbeschreibungen von 82 antiken Philoso-
phen überliefert. Sein Werk gilt als wichtiges, wenn nicht unumstrittenes historisches Dokument.
35
Laertios, D.: Leben und Lehre der Philosophen, Reclam, Stuttgart 1998, S.426.

Menschen behandeln Wasser mit WISSENSCHAFT
I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
21
spaltenen Atoms
«
36
immer weiter nach den Elementarteilchen, den Grundbausteinen
der Materie geforscht wird.
Im Atomismus liegt den sich wandelnden Phänomenen der Welt das Prinzip der
unwandelbaren und unzerstörbaren Atome zugrunde. Materie ist absolutes Sein.
Dies sind die Grundzüge der Philosophie des Materialismus, der in mancherlei Ges-
talt auch unsere heutige Welt noch beherrscht. Für Materialisten, anders als etwa für
Platonisten, gibt es so etwas wie universales Bewußtsein oder Geist oder Gott nicht.
Das menschliche Denken ist nur Auswirkung materieller Prozesse im Körper, und es
gibt keine andere Wirklichkeit als Materie in Bewegung. Diese uralte Philosophie
erhielt im siebzehnten Jahrhundert neue Impulse und Isaac Newton vereinigte den
Atomismus mit der Idee der ewigen mathematischen Gesetze zu einer doppelten
Unwandelbarkeit: unwandelbare bewegte Materie unter der Herrschaft unwandelba-
rer nichtmaterieller Gesetze.
Das naturwissenschaftliche Weltbild ist seither von dieser kosmischen Dualität der
physikalischen Wirklichkeit und der mathematischen Gesetze geprägt. Sind für uns
heute die Existenz physikalischer Naturgesetze und der mathematischen Theorien
dahinter unwandelbare Wahrheiten, so ist zumindest der Glaube daran alles andere
als ewig.
Unsere heutigen empirischen Wissenschaften stehen in der Tradition sowohl des
materialistischen wie auch des pythagoreisch-platonistischen Geistes. Manche Na-
turwissenschaftler, zum Beispiel viele Biologen, haben vor allem ihren materialisti-
schen Aspekt herausgestellt, für andere, darunter viele Physiker, war der platonische
Aspekt wichtiger.
36
Maroni, Antonius: Die Welt, polemisch und tendenziös, Erzingen 1999, Kap. 5: Die Physik, S. 101.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
22
Newtons Synthese
Descartes Weltmaschine bestand nicht aus Atomen im leeren Raum, denn in seinem
theoretischen Universum gab es keine Leere. Der scheinbar leere Raum war für ihn
voller Wirbel feinstofflicher Materie (vgl. Demokrit). Jeder Stern war das Zentrum
eines großen Wirbelsystems, und Planeten wie die Erde waren kleinere Wirbelsys-
teme, die vom großen Wirbel des Sonnensystems mitgerissen wurden. Das ganze
Universum war ein großes System von Strudeln verschiedener Größe und Ge-
schwindigkeit.
Das newtonsche Universum bestand demgegenüber aus unzerstörbarer, atomarer
Materie, die sich durch den Raum bewegt. Daß eine so gewaltige Masse wie die Erde
die Sonne umrundete, lag nicht an Wirbeln verbundener, feinstofflicher Materie,
sondern an immateriellen Kräften. Erde und Sonne waren durch die von Isaac New-
ton
37
(1643-1727) erstmals beschriebene Anziehungskraft, die Gravitation, deren
Fernwirkung den leeren Raum überbrückte, miteinander verbunden. Aufgrund der
Eigenschaft, auf eine für die Sinne nicht nachvollziehbare Weise Fernwirkung erzeu-
gen zu können, haftete der Gravitation etwas von einer Zauberkraft an. Tatsächlich
befaßte Newton sich jahrelang mit alchimistischen Forschungen und mit dem Studi-
um alter Lehren, die von kosmischer Intelligenz, von Engelskräften und von der
Weltseele sprachen. Der Einfluß dieser Interessen auf seine Lehre ist jedoch umstrit-
ten.
38
Jedenfalls aber kündet sein universales Gravitationsgesetz von einer Sicht, die
wir heute holistisch nennen würden. Jedes Materieteilchen zieht jedes andere an, alle
sind untereinander verbunden, beeinflussen sich gegenseitig. Für Newton konnte die
letzte Ursache dieser Kraft nicht in den Materieteilchen selbst liegen, sondern mußte
ein Ausdruck von Gottes Willen sein. Auch der mathematische Raum und die abso-
lute mathematische Zeit, in denen alle Materie existiert, waren nur Aspekte Gottes,
»
der alle Dinge als ihr Prinzip und Ort enthielt
«
. So beschäftigte sich Newton nicht
bloß mit Fragen der Naturphilosophie -unserer späteren Physik- und Mathematik,
wo er seine nachhaltigsten Entdeckungen tätigte, er begründete die Differentialrech-
nung, erfand die Gravitation und brachte die Optik entschieden voran, sondern be-
schäftigte sich auch intensiv mit der Theologie. Gott war allgegenwärtig.
»
Er ist ewig
und unendlich, allmächtig und allwissend; das ist, seine Dauer reicht von Ewigkeit
zu Ewigkeit; seine Gegenwart von Unendlichkeit zu Unendlichkeit: Er regiert alle
Dinge und weiß alle Dinge, die sind oder getan werden können [...
]
und indem er
stets und überall existiert, erzeugt er Dauer und Raum. [...] Er ist auf eine Weise, die
uns vollkommen unbekannt ist.
«
39
Andererseits brachte Newton die systematische Wissenschaft auf ihrem Weg ein
Stück weiter. Er forderte: Die konsequente Rückführung der Erscheinungen auf die
grundlegenden Ursachen verlangt,
»
die Wissenschaft von der Natur durch exakte
Beweise [zu] fördern
«
. Ein Satz, den heute jeder Naturwissenschaftler unterschrei-
37
mehr zu Newton in:
Wawilow, S. I.: Isaak Newton, Berlin (Ost) 1951.
38
näheres darüber auch in:
Westfall, R. S.: Never at Rest - A Biography of Isaac Newton, Cambridge 1980.
Dobbs, B.: The Foundations of Newton´s Alchemy, Cambridge 1975.
39
übers. n.: Burtt, S.257.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
23
ben würde. Bis dato wurde Wissenschaft nahezu ausschließlich durch Beobachtung
und Analyse von Naturphänomenen betrieben, jetzt sollte man den Erscheinungen in
einer künstlich geschaffenen, wohl definierten und rekonstruierbaren Umgebung,
dem Experiment nämlich, systematisch zu Leibe rücken. So kann man ihn als Be-
gründer der experimentellen Methode, der Empirie bezeichnen. Mit der Veranke-
rung des Experimentes in der Wissenschaft ändert sich auch die Stellung des Wis-
senschaftlers (des Menschen allgemein) zur Natur. War er bisher Beobachter und
gegebenenfalls Deuter von Phänomenen, die seinen Sinnen zugänglich waren, so
verläßt er mit dem Experiment seinen passiven Standpunkt, erschafft eine intellektu-
elle, isolierte, künstliche Welt, in der er, mittels Geräten und Apparaturen, die seine
sinnliche Wahrnehmung erweitern, Ergebnisse von der Natur der realen Welt gera-
dezu fordert.
Die theologische Seite von Newtons Denken geriet bald in Vergessenheit. Die un-
sichtbaren Kräfte, die ihm nach den Raum durchziehen, wurden der Materie selbst
zugeschrieben und nicht länger auf den Willen Gottes zurückgeführt. Als Gott
schließlich ganz aus dem Newtonschen Weltbild verschwand, blieb eine Weltma-
schine zurück, die nichts als leblose Kräfte und unbelebte Materie enthielt, gänzlich
regiert von ewigen mathematischen Gesetzen.
Dieses mechanistische Paradigma, bestätigt und erweitert durch die experimentel-
le Methode der Naturwissenschaft, erwies sich als erfolgreich. Viele physikalischen
Phänomene konnten jetzt anhand mathematischer Modelle verstanden werden, exak-
te Voraussagen wurden möglich. Vor allem aber war das mechanistische Paradigma
die denkbar beste Voraussetzung für etwas, das jetzt erstmals auf breiter Basis ange-
strebt werden konnte. Die Beherrschung und Ausbeutung der materiellen Welt.
Durch die fortschreitende Aufschlüsselung der Natur nach mechanistischen Ge-
sichtspunkten wurde die Entwicklung neuer Technologien möglich, mit deren Hilfe
sich die materielle Welt immer effektiver gemäß den Nutzenerwägungen des Men-
schen manipulieren ließ. Die Zeugnisse der Macht dieses Paradigmas sehen wir
heute überall um uns herum in den Gebilden der Technik, von denen unser Leben
abzuhängen scheint.

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24
Einsteins Theorien
Das von Newton vermittelte, nur um Gott reduzierte Weltbild überstand die kom-
menden zwei Jahrhunderte praktisch unbeschadet. Man ergänzte und verfeinerte,
vieles wurde neu entdeckt aber im Wesentlichen ließ es sich unter Newtons Univer-
sum subsumieren.
Einsteins Relativitätstheorien brachten drei Grundpfeiler des newtonschen Welt-
gebäudes, die absolute Zeit, die Masse als autonome Größe und den absoluten
Raum, zum Einsturz. Albert Einstein
40
(1879-1955) entwarf seine erste Relativitäts-
theorie, die auf wenige Grundannahmen, wie etwa der Konstanz der Lichtgeschwin-
digkeit und dem Fehlen eines Weltäthers aufbauend, Raum und Zeit zu einem vier-
dimensionalen Kontinuum verband. Zudem vereinigte er die zuvor streng getrenn-
ten Begriffe von Masse und Energie und zeigte auf, daß Masse und Energie zwei
Seiten derselben Wirklichkeit sind. Seine spätere Allgemeine Relativitätstheorie führ-
te die Gravitation als Folge der Raumkrümmung aus. Dies war der Schlußstrich
unter der langen Geschichte der absoluten Entwürfe des Universum. Der in Raum
und Zeit unendliche und absolute Kosmos wurde gestürzt und man fand sich plötz-
lich in einem evolvierenden, relativen Universum wieder. Raum und Zeit sowie die
Materie und die immateriellen Kräfte sind auf einen mysteriösen Punkt zurückzu-
führen und haben sich ab da und von dort aus entwickelt.
Dieses sich verändernde, relative Universum brachte in keiner Weise die zeitlosen
mathematischen Regeln in Bedrängnis, sondern stellte vielmehr einen neuen Höhe-
punkt dar. Die Zeit wird mit dem Raum verbunden, sie wird geometrisiert, und alles
läuft letztlich auf eine universale Geometrie hinaus, die alle relativen Bewegungen zu
erfassen vermag. Selbst die Gravitation hat, laut Einstein, eine
»
geometrische Ursa-
che
«
.
Ein elementarer Unterschied zu sämtlichen voran stehenden Weltbildern ist das
Fehlen Gottes. Es handelt sich hier um ein rein physikalisches Weltbild. Haben die
zuvor genannten Denker ihr Kosmos vom Göttlichen durchdrungen gesehen oder
zumindest seine Entstehung auf Gott oder Götter zurückgeführt und dies in ihren
Werken verankert, so wird das Numinose bei Einstein vollständig ausgeklammert.
Gott wird zur Privatsache. Einsteins Relativitätstheorie behält in der Zeit zurückge-
hend Gültigkeit bis zu einem Augenblick unmittelbar nach dem Urknall, der Entste-
hung des Universums. Für den räumlichen und zeitlichen Nullpunkt verliert sie
diesen allerdings, und es werden auch keine metaphysischen Erklärungen gegeben.
Die Frage nach dem Urgrund des Seins, des `Warum' wird nicht gestellt.
Anders sieht es für die Person Einstein und die stillen philosophischen Implikati-
onen der Relativitätstheorien aus. Er sieht, wie so viele vor ihm, ein mathematisch
rational geordnetes Universum vor sich:
»
Das Individuum fühlt die Nichtigkeit
menschlicher Wünsche und Ziele und die Erhabenheit und wunderbare Ordnung,
welche sich in der Natur sowie in der Welt des Gedanken offenbart. Es empfindet
das individuelle Dasein als eine Art Gefängnis und will die Gesamtheit des Seienden
als ein Einheitliches und Sinnvolles erleben [...] Welch ein tiefer Glaube an die Ver-
40
mehr zu Einstein in:
Clark, R. W.: Albert Einstein - Leben und Werk, München 1974.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
25
nunft des Weltenbaues und welche Sehnsucht nach dem Begreifen, wenn auch nur
eines geringen Abglanzes der in dieser Welt geoffenbarten Vernunft muß in Kepler
und Newton lebendig gewesen sein, daß sie den Mechanismus der Himmelsmecha-
nik in der einsamen Arbeit vieler Jahre entwirren konnten!
«
41
Einstein selbst zweifelte nie an dem klassischen Konzept des Determinismus als
Basis für die Naturgesetze, so daß er nicht bereit war, den zeitgenössischen Errun-
genschaften der Quantentheorie, die zur Aufgabe des Determinismus auf der Atom-
ebene führten, zu folgen.
Mit der Relativitätstheorie wurden philosophische Fragestellungen aufgeworfen
und ihre Schlußfolgerungen boten viel Platz zur Interpretation. So äußerte Edding-
ton, einer der ersten Wissenschaftler, der Einsteins Relativitätstheorie ganz erfaßte
und mit der Auswertung einer Sonnenfinsternis 1919 erste Beweise für die Stimmig-
keit der Theorie erbrachte,
»
daß der Stoff der Welt Geist Stoff ist
«
. Aber
»
der Geist-
Stoff ist nicht in Raum und Zeit ausgebreitet; diese gehören dem zyklischen Schema
an, das letztendlich aus ihm abgeleitet ist
«
. Jeans, ein Zeitgenosse Eddingtons, ge-
langte zu ähnlichen platonischen Schlußfolgerungen:
»
Man stellt sich das Universum
am besten [...] als aus reinem Denken bestehend vor, einem Denken, das wir in Er-
mangelung eines umfassenderen Begriffs, als das Denken eines mathematischen
Denkers beschreiben müssen.
«
42
41
Einstein in: Dürr, H.-P. (Hg.): Physik und Transzendenz, Bern 1986, S.343.
42
Wilber, K. (Hg.): Das holographische Weltbild, Bern 1984, S.185.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
26
Die Quantentheorie von Bohr bis Schrödinger
Nachdem Experimente Anfang des 20. Jahrhunderts verdeutlichten, daß die bewähr-
ten Modelle, die Materie betreffend, nicht länger haltbar waren, entwickelte Niels
Bohr
43
(1885-1962) ein neues Atommodell.
Die entscheidende Hilfe leistete dabei die Quantenhypothese von Max Planck, in
der jener davon ausging, daß elektromagnetische Energie auf Atomebene nicht kon-
tinuierlich, sondern nur in diskreten Werten auftrete. Bohrs Atommodell war mög-
lich geworden, weil er den fundamentalen Gegensatz zwischen der Quantenhypo-
these und der klassischen, newtonschen Physik anerkannte. Er gelangte bei seinen
Forschungen zu der Erkenntnis, daß Beobachtungen an Atomen durch die experi-
mentelle Anordnung festgelegt werden, die sich gegenseitig ausschließen können. So
kann ein Atom je nach Experiment als Welle oder als Teilchen wahrgenommen wer-
den. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, ein und dasselbe Objekt zu erfassen.
Die Zusammengehörigkeit dieser Möglichkeiten bezeichnete er mit dem Begriff
`Komplementarität'. Ab seinem 35. Lebensjahr richtete sich sein Hauptaugenmerk,
obwohl er weiterhin an physikalischen Fragen zum Atommodell arbeitete, auf die
Interpretation der neuen Physik. In zahllosen Vorträgen und Aufsätzen diskutierte
er, wie
»
Atomphysik und menschliche Erkenntnis
«
zusammenhängen. Im Zentrum
seiner Überlegungen stand von Anfang an die Beobachtung, daß Widersprüche da-
durch überwunden werden können, daß sie gerade hervorgehoben werden.
Einstein, der zeitlebens seinem physikalischen Determinismus treu blieb, lag über
Jahrzehnte mit Bohr im Dialog und hat Bohrs philosophischen Lektionen widerspro-
chen, indem er die Vollständigkeit der quantenmechanischen Beschreibung der
Wirklichkeit bezweifelte. Dieser philosophische Streit, entbrannt aus der Quanten-
mechanik, dauert bis heute an.
1925 stellte Werner Heisenberg
44
(1901-1976), auf Bohrs Ergebnissen aufbauend, eine
Atomtheorie mit Namen Quantenmechanik auf. Diese Theorie bestimmt auch heute
die physikalische Weltdeutung der Materie. Die bekannteste Folgerung der Quan-
tenmechanik, die Unbestimmtheitsrelation, war für die Naturwissenschaften revolu-
tionär. Sie besagt, daß es nicht möglich ist, gleichzeitig zum Beispiel Ort und Ge-
schwindigkeit eines atomaren Objektes zu messen und zu kennen, beziehungsweise
daß die Begriffe Ort und Geschwindigkeit in atomaren Größenordnungen jeglichen
Sinn verlieren. Der strikte Determinismus, der jahrhundertelang das Universum
beherrschte, die Weltmaschine wurde auf dem Schlachtfeld des Kleinsten gestürzt.
Anstatt exakter Voraussagen, die Ziel jeder Naturwissenschaft sind, blieben nur noch
Wahrscheinlichkeiten. Auf der Suche nach den kleinsten Bausteinen unserer Welt,
entzog sich die Materie als etwas Festes, Exaktes und Vollkommenes, sowie es sich
Demokrit und alle späteren Atomisten vorgestellt hatten. Hier hat sich die moderne
43
mehr zu Bohr in:
Fischer, E. P.: Niels Bohr - Die Lektion der Atome, München 1987.
44
mehr zu Heisenberg in:
Dürr, H. P. (Hg.): Quanten und Felder - Physikalische und philosophische Betrachtungen zum 70. Geburtstag
von Werner Heisenberg, Braunschweig 1971.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
27
Physik, wie Heisenberg selbst schrieb
45
, für Platon entschieden. Denn die Grundbau-
steine unserer Welt sind keine physikalischen Gegenstände im gewöhnlichen Sinne,
sondern Formen, Strukturen oder eben Ideen.
Eine weiterer Punkt, den die heisenbergschen Entdeckungen deutlich machen, ist:
die Theorie sagt uns nicht nur, welche Größen wir beobachten können; die Theorie
sorgt auch dafür, daß höchstens solche Größen beobachtet werden können, die in der
Theorie auch vorkommen. Zudem nimmt der Experimentator eine entscheidende
Rolle im Experiment ein. Er entscheidet über den Verlauf seines Experimentes und
welches Ergebnis er erzielt, ist nicht passiver Zuschauer, sondern gestaltet seine
atomaren Vorgänge, die er eigentlich nur beobachten will, auf sonderbare Weise mit.
In langen Diskussionen gelangten Bohr und Heisenberg zu einer philosophischen
Interpretation der Atomtheorie, die heute als
»
Kopenhagener Deutung
«
bekannt ist,
und in deren Kern die Komplementarität und Unbestimmtheitsrelation liegen. Ne-
ben seinen bedeutenden Beiträgen zur Physik hat er in zahlreichen Vorträgen
»
Die
Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft
«
(1935) beschrieben und die
Beziehung von
»
Physik und Philosophie
«
erkundet. Dabei ging es Heisenberg dar-
um, den Zusammenhang mit dem antiken und dem klassischen Denken (Platon und
Goethe) aufzuzeigen. Sein wissenschaftliches Hauptziel lag darin, eine grundlegende
Theorie der Elementarteilchen zu schaffen, die nichtlineare Spinorttheorie, die als
moderne Verwirklichung von Platons Vorstellungen der Struktur der Materie auf der
Grundlage einfacher geometrischer Formen gelten konnte. Er suchte nach einer
hochsymmetrischen Feldgleichung, der `Weltformel', die den idealen Formen Platons
entsprechen sollte. Seine Lebenserinnerungen hat er als platonische Dialoge nieder-
geschrieben, in denen er und sein Sokrates, Niels Bohr, mit Anhängern der
verschiedenen traditionellen Denksysteme diskutierten.
Ein Jahr nach Heisenbergs Quantenmechanik formulierte 1926 Erwin Schrödinger
46
(1887-1961) seine Wellenmechanik. Die heutige Physik und Chemie sind undenkbar
ohne die Schrödinger-Gleichung und die Schrödingersche Wellenfunktion. Mit die-
ser Theorie versuchte er ein klassisches und anschauliches Bild der Atome zu ent-
werfen und die heisenbergsche Atommechanik zu überwinden. Er konnte sich mit
den Quantensprüngen, zu denen die Atome seit Planck gezwungen wurden, nicht
abfinden und fühlte sich zudem von Heisenbergs Theorie
»
abgeschreckt, wenn nicht
abgestoßen
«
. Doch zur allgemeinen Überraschung stellte sich noch 1926 heraus, daß
die Theorien von Schrödinger und Heisenberg äquivalent waren. Auch dann konnte
Schrödinger die Aufhebung einer kausalen Determiniertheit im atomaren Geschehen
nicht akzeptieren. Seine Bemühungen, die erkenntnistheoretische Lektion der Atome
zu lernen, führten ihn zu einer holistischen Sicht. Das eigentliche Charakteristikum
atomarer Systeme ist, daß sie ,,verschränkt" sind. Unter Verschränkung versteht er
dabei die Tatsache, daß atomare Objekte korreliert sein können, obwohl zwischen
ihnen keine direkte Wechselwirkung besteht. Damit offenbart sich ein ganzheitlicher
Zug der atomaren Wirklichkeit, der dem klassisch-physikalischen Denken fremd
geblieben ist.
45
Wilber, S.51.
46
mehr zu Schrödinger in:
Scott, W. T.: Erwin Schrödinger - An Introduction to his Writings, Amherst (Mass.) 1967.

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I. Wissenschaft - Eine Denkgeschichte
28
Schrödinger beschäftigte sich auch mit der Antike. Die Philosophie der Griechen
entfaltete sich
»
noch ohne die verhängnisvolle Spaltung, die uns jahrhundertelang
gehemmt hat und heute unerträglich geworden ist
«
, die Spaltung nämlich von Na-
turwissenschaft und Philosophie beziehungsweise Religion. Er hoffte, daß sich im
atomaren Bereich irgendwann eine Ordnung zeigen wird, die die klassische Physik
gekannt hatte. Die Ganzheit der Quantensysteme konnte nur ein Schritt auf dem
Weg dorthin sein. Sein Buch
»
Was ist Leben?
«
übte einen großen Einfluß auf die
Biologie aus und beschleunigte ihre Umwandlung zur Molekularbiologie. In einem
Anhang über
»
Determinismus und freier Wille
«
bekennt sich Schrödinger zu der
Einsicht der indischen Philosophie, daß wir in Wirklichkeit alle nur Aspekte eines
einzelnen Wesens sind.
Aller platonischen Erkenntnis zum Trotz hat man in der Physik die Suche nach den
Grundbausteinen der Materie, ganz im Geiste der Atomisten, fortgeführt. Als man
immer weiter in den Atomkern eindrang, war man erstaunt auf so viele Quantenteil-
chen zu stoßen, hunderte wurden bis heute identifiziert. Und immer noch wird ver-
sucht sie in numerische Schemata zu zwängen, etwa acht- oder zehnköpfige Famili-
en, die als verschiedene Permutationen oder Kombinationen noch grundlegenderer
Teilchen aufgefaßt werden. Hier wird das Anliegen der Pythagoreer mit größter
Entschiedenheit weiterverfolgt: hinter der sich wandelnden Welt der Erfahrungen
eine ewige mathematische Wirklichkeit zu finden.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832474188
ISBN (Paperback)
9783838674186
Dateigröße
7.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – Bauingenieur-, Geo- und Umweltwissenschaften, Wasserwirtschaft und Kulturtechnik
Note
1,0
Schlagworte
wasser kultur philosophie reflexion kunst
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