Zwischen Nazipropaganda und Realität
Die Einstufung der Bevölkerung von Belarus während des 2. Weltkrieges als Hilfsvolk oder als Untermenschen
©2003
Diplomarbeit
111 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Die British Broadcasting Corporation trat im Herbst 1940 an Thomas Mann mit der Bitte heran, über ihren Sender in regelmäßigen Abständen kurze Ansprachen an das Deutsche Volk zu richten, in denen er Kriegsereignisse kommentieren und eine Einflussnahme auf die Zuhörer versuchen sollte. Im September 1942 schrieb er, als Vorwort für die entstehende Sammlung dieser Reden, folgenden Gedankengang, der notwendigerweise in seiner Gänze wiedergegeben werden muss: Der Führer hat seiner Verachtung des deutschen Volkes, seiner Überzeugtheit von der Feigheit, Unterwürfigkeit, Dummheit dieser Menschenart, ihrer grenzenlosen Fähigkeit, sich belügen zu lassen, oft Ausdruck gegeben und nur jedes Mal vergessen, eine Erklärung dafür hinzuzufügen, wie es ihm gelingt, gleichzeitig in den Deutschen eine zur Weltherrschaft bestimmte Herrenrasse zu sehen. Wie kann ein Volk, von dem psychologisch feststeht, dass es sogar gegen ihn niemals revoltieren wird, eine Herrenrasse sein? Ich bitte den Geschichtshelden, diese Frage einmal zwischen zwei Schlachtenplänen einer logischen Prüfung zu unterziehen.
Genau diese Frage ist es auch, die sich der Autorin in Betrachtung der belarusischen Situation zur Zeit deutscher Besatzung aufdrängte, da sich hier eine ähnlich ungeklärte Frage auftut. Wie sollte es gelingen, die sich widersprechende Politik der Volksaufklärung und Propaganda mit der kriegerischen Realität zu verbinden? Ist dies überhaupt möglich, d.h. können Gründe für diese Widersprüche angegeben werden; Fakten und Geschehnisse, die diese Politik zwar nicht rechtfertigen, sie jedoch sinnvoller erscheinen lassen? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage wird Aufgabe dieser Arbeit sein.
Die Arbeitshypothese, zu deren Bestätigung oder Widerlegung die vorliegende Arbeit im Schlussteil der Arbeit kommen wird, sagt aus, dass die deutsche Besatzungspolitik den Typus eines Hilfsvolkes für die Belarusen aus rein ökonomischen und kriegspolitischen Gründen konstruierte. Weiterhin, um dies zu präzisieren, geschah dies nur als eine Reaktion auf die sich (für die Deutschen) verschlechternden Kriegsumstände. Wie mit einem möglichen Widerspruch zwischen dem Hilfsvolk-Konstrukt und der Realität umgegangen wurde, ist zwar eine mindestens ebenso interessante Fragestellung, müsste aber in einem anderen Untersuchungskonzept beantwortet werden und kann daher hier nur am Rande behandelt werden.
Die Arbeit untergliedert sich in zwei Hauptteile, welche die […]
Die British Broadcasting Corporation trat im Herbst 1940 an Thomas Mann mit der Bitte heran, über ihren Sender in regelmäßigen Abständen kurze Ansprachen an das Deutsche Volk zu richten, in denen er Kriegsereignisse kommentieren und eine Einflussnahme auf die Zuhörer versuchen sollte. Im September 1942 schrieb er, als Vorwort für die entstehende Sammlung dieser Reden, folgenden Gedankengang, der notwendigerweise in seiner Gänze wiedergegeben werden muss: Der Führer hat seiner Verachtung des deutschen Volkes, seiner Überzeugtheit von der Feigheit, Unterwürfigkeit, Dummheit dieser Menschenart, ihrer grenzenlosen Fähigkeit, sich belügen zu lassen, oft Ausdruck gegeben und nur jedes Mal vergessen, eine Erklärung dafür hinzuzufügen, wie es ihm gelingt, gleichzeitig in den Deutschen eine zur Weltherrschaft bestimmte Herrenrasse zu sehen. Wie kann ein Volk, von dem psychologisch feststeht, dass es sogar gegen ihn niemals revoltieren wird, eine Herrenrasse sein? Ich bitte den Geschichtshelden, diese Frage einmal zwischen zwei Schlachtenplänen einer logischen Prüfung zu unterziehen.
Genau diese Frage ist es auch, die sich der Autorin in Betrachtung der belarusischen Situation zur Zeit deutscher Besatzung aufdrängte, da sich hier eine ähnlich ungeklärte Frage auftut. Wie sollte es gelingen, die sich widersprechende Politik der Volksaufklärung und Propaganda mit der kriegerischen Realität zu verbinden? Ist dies überhaupt möglich, d.h. können Gründe für diese Widersprüche angegeben werden; Fakten und Geschehnisse, die diese Politik zwar nicht rechtfertigen, sie jedoch sinnvoller erscheinen lassen? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage wird Aufgabe dieser Arbeit sein.
Die Arbeitshypothese, zu deren Bestätigung oder Widerlegung die vorliegende Arbeit im Schlussteil der Arbeit kommen wird, sagt aus, dass die deutsche Besatzungspolitik den Typus eines Hilfsvolkes für die Belarusen aus rein ökonomischen und kriegspolitischen Gründen konstruierte. Weiterhin, um dies zu präzisieren, geschah dies nur als eine Reaktion auf die sich (für die Deutschen) verschlechternden Kriegsumstände. Wie mit einem möglichen Widerspruch zwischen dem Hilfsvolk-Konstrukt und der Realität umgegangen wurde, ist zwar eine mindestens ebenso interessante Fragestellung, müsste aber in einem anderen Untersuchungskonzept beantwortet werden und kann daher hier nur am Rande behandelt werden.
Die Arbeit untergliedert sich in zwei Hauptteile, welche die […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
ID 7389
Voigt, Theresa: Zwischen Nazipropaganda und Realität. Die Einstufung der Bevölkerung
von Belarus während des 2. Weltkriegs als Hilfsvolk oder als Untermenschen
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Freie Universität Berlin, Universität, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany
Seite
I. Einleitung
1
Exkurs nationalsozialistischer Definitionen
5
II. Realität
9
1. Belarus
9
a) Die Geschichte der Region bis 1941
10
·
BSSR bis 1939
14
·
Die Östlichen Gebiete bis 1939
15
·
1939-1941
16
b) Bevölkerungsentwicklung bis 1941
18
2. Deutsche Besatzungspolitik 1941 1944
22
a) Deutsche Entscheidungsträger und Verwaltung
23
b) Belarusen und ihre Stellung in der deutschen Verwaltung
29
·
Weißruthenische Lokalverwaltung
29
·
Polizei, Schutzmannschaften und Heimatwehr
30
·
Weißruthenisches Selbsthilfewerk
32
c) Deutsche Interessen, Pläne und deren Durchführung
32
·
Hungerplan
35
·
Agrarordnung
37
·
Arbeitskräftepolitik
39
·
Kulturpolitik
40
3. Reale Behandlung der Belarusischen Bevölkerung
42
III. Propaganda
44
1. `Volksaufklärung' und Propaganda im III. Reich
48
a) Presse
51
b) Propaganda, Sprache und Untersuchungsmethoden
55
2. Minsker Zeitung
58
a) Untersuchte Teilfragen
63
·
Freund und Feind
63
·
Deutsche, Vertrauen und Dank
65
·
Weissruthenen, Sprache und Bauernvölker
66
·
Agrarordnung
70
b) Untersuchungsergebnis der Minsker Zeitung
71
3. Propagandistische Einstufung der Belarusischen Bevölkerung
72
III. Ergebnis
75
Anhang
79
I Anzahl und Nationalitäten der Bevölkerung der BSSR 1941 und 1897
79
II Protokoll einer Staatssekretärssitzung vom 21.5.1941
80
III Wirtschaftspolitische Richtlinien vom 23.5.1941
81
IV Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten
83
V Schreiben des Generalkommissars in Minsk zur Propaganda vom 12.2.1944
85
VI Definitionen des Brockhaus 1937/1938
86
VII Karten
87
Dokumente des Nationalarchivs der Republik Belarus
89
Ausgewählte Artikel der Minsker Zeitung
92
Bibliographie
99
9
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1
I. Einleitung
Die British Broadcasting Corporation trat im Herbst 1940 an Thomas Mann mit der Bitte
heran, über ihren Sender in regelmäßigen Abständen kurze Ansprachen an das Deutsche Volk
zu richten, in denen er Kriegsereignisse kommentieren und eine Einflussnahme auf die
Zuhörer versuchen sollte. Im September 1942 schrieb er, als Vorwort für die entstehende
Sammlung dieser Reden, folgenden Gedankengang, der notwendigerweise in seiner Gänze
wiedergegeben werden muss:
,,Der Führer hat seiner Verachtung des deutschen Volkes, seiner
Überzeugtheit von der Feigheit, Unterwürfigkeit, Dummheit dieser Menschenart, ihrer grenzenlosen Fähigkeit,
sich belügen zu lassen, oft Ausdruck gegeben und nur jedes Mal vergessen, eine Erklärung dafür hinzuzufügen,
wie es ihm gelingt, gleichzeitig in den Deutschen eine zur Weltherrschaft bestimmte Herrenrasse zu sehen. Wie
kann ein Volk, von dem psychologisch feststeht, dass es sogar gegen ihn niemals revoltieren wird, eine
Herrenrasse sein? Ich bitte den Geschichtshelden, diese Frage einmal zwischen zwei Schlachtenplänen einer
logischen Prüfung zu unterziehen
."
1
Genau diese Frage ist es auch, die sich der Autorin in
Betrachtung der belarusischen Situation zur Zeit deutscher Besatzung aufdrängte, da sich hier
eine ähnlich ungeklärte Frage auftut. Wie sollte es gelingen, die sich widersprechende Politik
der ,Volksaufklärung' und Propaganda mit der kriegerischen Realität zu verbinden? Ist dies
überhaupt möglich, d.h. können Gründe für diese Widersprüche angegeben werden; Fakten
und Geschehnisse, die diese Politik zwar nicht rechtfertigen, sie jedoch ,sinnvoller'
erscheinen lassen? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage wird Aufgabe dieser Arbeit
sein.
Die Arbeitshypothese, zu deren Bestätigung oder Widerlegung die vorliegende Arbeit im
Schlussteil der Arbeit kommen wird, sagt aus, dass die deutsche Besatzungspolitik den Typus
eines Hilfsvolkes für die Belarusen aus rein ökonomischen und kriegspolitischen Gründen
konstruierte. Weiterhin, um dies zu präzisieren, geschah dies nur als eine Reaktion auf die
sich (für die Deutschen) verschlechternden Kriegsumstände. Wie mit einem möglichen
Widerspruch zwischen dem Hilfsvolk-Konstrukt und der Realität umgegangen wurde, ist
zwar eine mindestens ebenso interessante Fragestellung, müsste aber in einem anderen
Untersuchungskonzept beantwortet werden und kann daher hier nur am Rande behandelt
werden. Ein weiterer Punkt, der im Rahmen unserer Arbeit nicht behandelt wird, ist der
Partisanenkampf auf belarusischem Gebiet, da sich dieser unseres Erachtens nach lediglich
verstärkend auf die zu untersuchenden Faktoren ausgewirkt hat. Ein eigener, andersgearteter
* Mann, Thomas, Deutsche Hörer! Fünfundzwanzig Radiosendungen nach Deutschland, Insel-Verlag,
Leipzig 1970, S.30. Diese Radiosendung fand im Juli 1941 statt.
1
Ebenda, S.6.
2
Impuls für unsere Fragestellung war demnach nicht in dem Maße erkennbar, als dass es den
zusätzlichen Zeit- und Arbeitsaufwand (zu Kosten anderer Punkte) gelohnt hätte.
Einleitend erscheinen uns einige wichtige Bemerkungen im Allgemeinen zu Belarus und der
Forschungslage darüber sowie Erklärungen verwendeter Begrifflichkeiten notwendig.
Belarus wurde in der Geschichte der westlichen Wissenschaftslandschaft verhältnismäßig
wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erste Ausnahmen bildeten dabei Arbeiten von Jäger oder
Engelhardt, die während des I. und II. Weltkrieges entstanden waren
2
und an die sich nach
Ende des Zweiten Weltkrieges die ,Standardwerke' von Vakar und Dallin
3
anschlossen. Erst
in den letzten zehn Jahren (die Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Reaktorunglück
in Tschernobyl
nicht inbegriffen) scheint ein beständiges Interesse an Belarus erwacht zu sein.
Eine steigende Anzahl von Arbeiten legt diese Vermutung zumindest nahe
4
. Ein solches
Interesse, insbesondere wenn es dauerhaft sein sollte, ist wünschenswert. Es könnte den
Mangel eines Überblicks über die Gesamtzusammenhänge sowie die noch immer bestehenden
Lücken im Forschungsstand beheben.
5
Diese Lücken zeigen sich insbesondere in der von uns
untersuchten Thematik: von uns wurde keine Arbeit gefunden, die sich mit eben dieser doch
sehr deutlichen Diskrepanz zwischen realer Politik und der Propaganda auseinandersetzte.
6
Kann man zwar auf einigen, schon erwähnten, geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zur
deutschen Besatzungszeit aufbauen, so mangelt es auf der anderen Seite an Arbeiten über das
Pressewesen, speziell im benannten Untersuchungszeitraum und -ort. Es bleibt zu hoffen, dass
hier auch in größerem Rahmen (das gesamte ,Ostland' betreffend) ein Forschungsinteresse
einsetzt; könnte man dies doch insbesondere noch mit den Auswirkungen bis in die heutigen
Tage verbinden. Dies könnte den Transformationsforschern vielleicht einen neuen
Erklärungsansatz liefern. Man darf daher auf kommende Arbeiten (wie auch auf hilfreiche
Übersetzungen belarusischer oder russischer Forschungen für sprachunkundige Forscher)
gespannt sein. Hierbei muss erwähnt werden, dass von der Autorin aus gleichem Grund keine
2
Vgl.: Curschmann, Fritz, Die Weißruthenen; Jäger, Walther (Hrsg.), Weißruthenien, 1919; Engelhardt,
Eugen Freiherr von, Weißruthenien, Berlin 1943; Rhode, G, Die Weißruthenen; Scheibert, P, Der
weißruthenische politische Gedanke; Vaatz, A, Baltikum und Weißruthenien, alle zitiert nach: Siebert, Dana,
Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921-1941). Die Zerstörung patriarchalischer
Familienwirtschaft, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, S.24.
3
Vakar, Nicholas P., Belorussia The Making of a Nation, Harvard University Press, Cambridge 1956;
Dallin, Alexander, Deutsche Herrschaft in Rußland, Düsseldorf 1958.
4
Vgl. u.a. die Arbeiten von: Bernhard Chiari, Rainer Lindner, Heinz Timmermann, Christian Gerlach, Martin
Dean, Dirk Holtbrügge, Dietrich Beyrau, Jan Zaprudnik. Ein intensiv beforschtes Feld, welches hier auf Grund
der Thematik überhaupt nicht berücksichtigt wurde, ist die Transformationsforschung. Dazu vgl. u.a. die
diversen Aktuellen Analysen oder Berichte des Bundesinstituts für Osteuropäische Studien BIOST,
http://www.biost.de
.
5
Selbst Gerlach, der eine der jüngsten, und sehr ausführlichen, Arbeiten geschrieben hat, bestätigt diesen
Wunsch. Gerlach, Christian, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in
Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburger Edition, Hamburg 2000.
6
Mit der Einschränkung des deutschen, englischen und französischen Sprachraumes.
3
russisch- oder belarusischsprachigen Texte verwendet wurden. Dies stellt sicherlich ein
Manko dar, konnte jedoch im Rahmen einer Diplomarbeit nicht behoben werden.
Ein auffallender Punkt in Arbeiten über Belarus ist die sehr variierende Benennung des
Landes und deren Erklärung. In den meisten wissenschaftlichen Arbeiten heißt es dazu bis
heute, dass die Herkunft des Landesnamen weitgehend ungeklärt sei.
7
So wurde u.a. schon
von der Belaja Rus, Belorussija, Belaja Rossija, Belorussland, Weißrußland oder gar von
Weißruthenien
8
gesprochen. Die Deutung dieser ,Weißen Rus' reichen von weiß wie frei (in
altslawischen Sprachen) bis zum weiß als Gegensatz zur Kiever und der Schwarzen Rus.
Diese Herkunftsdiskussion hat gerade nach der Unabhängigkeit 1991 wieder ein neues
Gewicht erhalten; wir wollen darauf jedoch nicht näher eingehen.
9
Wir verwenden, wie
inzwischen auch in dem Großteil der veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten neueren
Datums, den heutigen offiziellen Landesnamen Belarus. In den originalen Dokumenten
verbleibt natürlich die dort gebräuchliche Bezeichnung.
Ein weiterer zu klärender Sachverhalt bezieht sich auf die Frage nach dem einzugrenzenden
Untersuchungsgebiet. Gerade wenn man seinen Untersuchungszeitpunkt vor 1945 wählt, stellt
dies einen wichtigen und oft auch problematischen Punkt dar. Für unsere Untersuchung wird
als territoriale Basis Belarus in seinen heutigen Grenzen
10
gewählt. Gerlach führt zu dieser
Problematik aus, dass es ,,
eines der größten Forschungsprobleme [sei], dass sich die Historiker außerhalb
Weißrußlands und der Sowjetunion meist nach den deutschen Verwaltungseinteilungen richteten und deshalb
allenfalls das GK Weißruthenien
betrachteten... Dies führte zu Unkenntnis, Verengung der Fragestellungen und
verzerrten Schlußfolgerungen
", da der Großteil des heutigen Belarus schließlich außerhalb der
Grenzen des Generalkommissariats lag.
11
In dem weitestgehend einheitlichen belarusischen
Sprachraum machte die Propaganda schließlich auch nicht an der Kommissariatsgrenze halt.
7
Vgl. u.a.: Harder, Hans-Bernd, Humanismus in Weißrußland. Ein Aufriß des Problems, in: Scholz, Friedrich
(Hrsg.), Weißrußland und der Westen Beiträge zu einem internationalen Symposium in Münster vom 3.-6.Mai
1990, Dresden University Press, Dresden 1998, S.189.
8
Dana Siebert meint dazu: ,,Die eigentlich beste Bezeichnung ,,Weißruthenien" ist zu belastet, um noch
Verwendung zu finden und wirkt heutzutage zudem etwas verstiegen.", in: Siebert (1998), S. 24.
9
Gerade die seit 1991 verstärkt geführten Untersuchungen zur belarusischen Nation und Geschichte beziehen
sich immer wieder auf die Herkunft des Namens, welcher heute oft als Abgrenzung zu oder Annäherung an
Russland verwendet wird. ,,Whatever the source of this name, it is clear that it is very old and originally
corresponded to the territory where the ancestors of Belarusians lived and where the modern Republic of Belarus
is situated." in: Reshatau, Jauhen, Notes from the History of Belarus from ancient times to the present moment,
Minsk 1994,
http://www.belarusguide.com/historyI/history.html
, Oktober 2002.
10
Diese Grenzen unterscheiden sich von denen vor dem deutschen Angriff nur insofern, als ,,dass damals
auch das Gebiet um Bialystok und Lom
a dazugehörte, das die Sowjetunion 1944 an Polen zurückgab...und das
heute üblicherweise mit der deutschen Besatzungspolitik in Polen abgehandelt wird.", in: Gerlach (2000), S. 23.
11
Ebenda, S.13.
4
Die Arbeit untergliedert sich in zwei Hauptteile, welche die Realität und andererseits die
Propaganda behandeln. Dabei wird im ersten Teil, da er sich zur besseren Erklärbarkeit der
von den Deutschen bei ihrem Einmarsch vorgefundenen Verhältnisse zuerst mit der
Geschichte Belarus befasst, ein historisches Übergewicht nur schwer zu vermeiden sein. Zu
viele Faktoren müssen erwähnt werden, um die deutschen Anleihen an die Vergangenheit
verstehen zu können. Eine Bewertung hinsichtlich der realen Behandlung der einheimischen
Bevölkerung durch die Besatzer wird den ersten Teil abschließen. Dass dieser geschichtliche
Teil von immenser Bedeutung ist, betont auch Gorr: ,,
Der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz
öffentlicher Diskurse als mögliche Verführung oder Funktionalisierung vorhandener Bedürfnisse kann nicht
nachgegangen werden ohne Hereinnahme der Kenntnisse ihrer Umstände, das haben die Theoreme zum Diskurs
wie die wissenssoziologisch kategorisierten gesellschaftlichen Vorgänge deutlich gemacht. Deshalb müssen dazu
die gesellschaftlichen Voraussetzungen, auf die sich eine willkürliche, zweckgerichtete, diktatorische
Meinungsmanipulation bezieht, skizziert werden, - es geht dabei vor allem um jene Voraussetzungen, von denen
die propagandistische Politik des NS-Staates direkt oder indirekt profitierte und auf die sie sich bezog
."
12
Der zweite Teil widmet sich der Propaganda. Hierzu werden zuerst einige Propagandamodelle
behandelt, bevor eine kurze Darstellung der Presse des III. Reiches und einer Verortung der
Minsker Zeitung in diesen Strukturen gegeben wird. War Propaganda lange Zeit nur in
Verbindung gebracht worden mit diktatorischen oder totalitären Systemen, erkannte man
schließlich deren Bedeutung auch für die demokratisch organisierten Staaten. Doch bleibt die
Propaganda noch immer besonders für die Untersuchung von totalitären Staaten von
entscheidender Bedeutung. Denn sprachliche Äußerungen sind im öffentlichen Raum als
solche auch immer politisch, ,,
weil
sie
die
Wirklichkeit
gestalten
und
prägen
"
13
.
Nationalsozialistischer Propaganda kann man sich diskurstheoretisch nähern, um hierbei eine
mögliche Dialektik von textuellen und gesellschaftlichen Strukturen aufzudecken, oder aber
diskursanalystisch, um durch die Erkenntnis der zum Ausdruck kommenden Forderungen eine
Freilegung der gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen.
14
Wir werden den ersten der
erwähnten Weg gehen. Wurden die gesellschaftlichen Strukturen im vorhergehenden Kapitel
ausführlich geschildert, so dass ein Bild der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen
geliefert werden konnte, werden im dritten Kapitel unserer Arbeit die textuellen Strukturen
der ausgewählten Artikel der Minsker Zeitung detailliert untersucht. Wir wollen somit zu
einem Ergebnis im Hinblick auf die propagandistische Behandlung der Belarusen, oder im
deutschen Sprachverständnis: der Weissruthenen, gelangen. Diese diskurstheoretischen
Zugänge lassen sich gerade hier gut integrieren, da man ,,
vom Text zum Diskurs [nur] über die Frage
12
Gorr (2000), S.60.
13
Ebenda, S.57.
14
Ebenda.
5
nach der Aufgabe und Entstehung eines Textes
"
15
gelangt, und dieser Hintergrund genauso wie die
Propaganda selbst Gegenstand unserer Untersuchung ist,.
Abschließend werden wir die Teilergebnisse gegenüberstellen, um unsere Arbeitshypothese
zu überprüfen. Da die Entscheidung zwischen ,Hilfsvolk' oder ,Untermenschen' letztlich
auch eine Frage der Macht über dieses Volk ist, soll dieser Punkt abschließend auch noch
kurz gestreift werden. Hierzu werden die realen Machtverhältnisse zwischen Diskursgestalten
(Deutsche) und Diskurszielen (Belarusen) anhand der gewonnenen Ergebnisse untersucht
werden
Exkurs nationalsozialistischer Definitionen
Wollen wir in unserer Arbeit ,Untermenschen' oder ,Hilfsvölker' untersuchen, so muss an
dieser Stelle kurz auf die nationalsozialistischen Rassentheorien
16
eingegangen werden.
·
Rassen
Das Gesetz des Lebens ist der Kampf ums Dasein. Diese darwinistische Grundformel
machten sich die Nationalsozialisten zu eigen. Es geht nicht mehr um ,,
Schlacht im kriegerischen
Sinn, sondern um Kampf im biologischen Sinn
", um eine Selektion des Stärksten und die Bewahrung
der am besten angepassten Rasse
17
. Die staatliche und biologische Idee der Reinheit der Rasse
löste schließlich den Kampf der Rassen ab.
18
Im Nationalsozialismus sollte schließlich der
Staatsrassismus den biologischen Rassenschutz garantieren.
Die einzelnen Rassen wurden in der NS-Ideologie u.a. durch die Art ihres Kampfes
unterschieden. Fischer, ein Anthropologe nationalsozialistischer Couleur, definierte Rassen
als Gruppen von Menschen mit bestimmten, bei ihnen reinerbig vorhandenen Erbanlagen, die
anderen Rassen fehlen würden.
19
Drei Typen wurden nun unterschieden in Kuli- oder
15
Ebenda, S.38. Hervorhebungen Theresa Voigt (im Folgenden Th.V.); ,,Es geht nicht darum, den Sinn der
Geschichte zu entdecken, sondern tatsächliche historische Verläufe (Diskurse) und ihre Regularitäten, Formen,
Strukturen aufzudecken oder allenfalls darum, ,die Sinne', die die Menschen ihrem Tun und Sein unterstellen
und das jeweilige Bewusstsein und Wollen der Menschen zu entdecken. Doch nicht zuletzt geht es darum, sich
damit kritisch und in der Absicht, menschliche Verhältnisse zu verbessern, auseinanderzusetzen.", in: Jäger,
Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 1993, S.222, zitiert nach: ebenda, S.40.
16
,,Die Rassenlehre war die entscheidende geistige Grundlage des Nationalsozialismus. Sie war nicht der
Grund zu seiner Machtergreifung[...]. Aber seine Rassenlehre war das Ziel dieser Macht, und durch sie in erster
Linie glaubten die Nationalsozialisten ihre Macht für alle Zeiten [...] erhalten zu können.", in: Saller, Karl, Die
Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Progress-Verlag, Darmstadt 1961, S.9.
Vgl. hierzu auch die Definitionen des Brockhaus von 1937/1938 im Anhang VI dieser Arbeit.
17
Foucault, Michel, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Merve Verlag, Berlin 1986, S.49f.
18
Sobald sich die Reinheit der Rasse an die Stelle des Kampfes der Rassen setzt, wird der Rassismus
geboren, in dem sich die Wendung der Gegenhistorie in einen Staatsrassismus vollzieht.[...]Der Rassismus ist
buchstäblich der revolutionäre Diskurs aber umgedreht. In: ebenda, S.50f.
19
Vgl. Saller auch allgemein zur Entwicklung der ns-Rassenideologie. Saller (1961), S.37.
6
Fellachenrassen
20
, Parasiten
21
sowie die Herren- und Kriegerrassen, deren bedeutendste
Form die nordische Rasse sei
22
und die
,,ein Recht darauf [hat], die Welt zu beherrschen"
.
23
Die Nürnberger Rassengesetze, insbesondere das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes
und der deutschen Ehre vom 15.9.1935, stellte eine wichtige Grundlage der Rassenpolitik
dar.
24
In der ,Rassenpolitik', 1943 vom Reichsführer SS/SS-Hauptamt herausgegeben, wird
rassisch niederen Völkern so die Fähigkeit abgesprochen, eine hochwertige Kultur zu
entwickeln; außerdem hätten solche Völker keine Geschichte. Dies sei nur natürlich, denn
dazu hätten diese auch nicht die notwendige Courage.
25
Nach der NS-Lehre konnte ,Gemeinschaft' nur aus der Gemeinschaft der Rassegleichen
bestehen; rassen-ungleiche Personen hatten an ihr keinen Anteil: dies ist das Prinzip der
rassischen oder ,völkischen' Ungleichheit der Menschen.
26
Das Wesentliche der NS-
Rassenlehre liegt nun aber nicht in der Behauptung von der Verschiedenheit der Rassen,
sondern in der Folgerung des Rechtes der stärkeren Rasse zur Herrschaft kraft Schicksal oder
Naturgesetz.
27
·
Weissruthenen
Von allgemeinen Vorgaben der nationalsozialistischen Rassenkunde her ist die eher positive
politische Einschätzung der Belarusen kaum zu begründen. So wurden sie als Mischform
,ostbaltischer' und ,osteuropider' Rassen definiert, was nicht unbedingt als vorteilhaft
gewertet wurde. Am 12.9.1940 war von Himmler, in seiner Funktion als Reichskommissar für
die Festigung deutschen Volkstums, bestimmt worden, Weißruthenen könnten wie Russen,
Tschechen u.a. nach individueller Überprüfung ,eingedeutscht' werden. Dies wurde durch
20
Unter der Fellachenrasse ist die Mehrheit der Erdbevölkerung, das Gros der Farbigen aus Asien und Afrika
sowie das ,ostbaltisch-ostisch-innerasiatische Volkstum Russlands' zu verstehen.
21
Dazu zählte das Judentum.
22
Das deutsche Volk sollte deren ,Vorvolk' darstellen. In: Zimmermann, K., Die geistigen Grundlagen des
Nationalsozialismus. Das Dritte Reich. Bausteine zum neuen Staat und Volk, Leipzig 1933, S.73ff., zitiert nach:
Hellfaier, Detlev, Versen, Johannes (Hrsg.), Antisemitismus Judenverfolgung Endlösung, Selbstverlag der
Lippischen Landesbibliothek, Detmold 1989, S.17.
23
Äußerung Hitlers zu Otto Strasse am 21.5.1930, zitiert nach: Wilenchik, Witalij, Die Partisanenbewegung
in Weissrussland 1941-1944, in: Historische Veröffentlichungen / Osteuropa-Institut an der Freien Universität
Berlin (Hrsg.), Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1984, Band 34,
S.179.
24
Hier spricht man davon, dass ,,die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des
Deutschen Volkes ist..." und bezieht diese Reinheit quasi als ,Einleitung' auf die Abgrenzung zu den Juden. Das
Zitat in: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (15.09.1935), Reichsgesetzblatt 1935
I, S. 1146-1147, zitiert nach: documentArchiv.de (Hrsg.),
http://www.documentArchiv.de/ns/nbgesetze01.html
,
Dezember 2002.
25
,,Races that do not have the courage to make history have no history.", Der Reichsführer SS/SS-Hauptamt,
Rassenpolitik, Berlin 1943, in:
http://www.calvin.edu/academic/cas/gpa/rassenpo.htm
, Dezember 2002
(Ausschnitte in englischer Übersetzung), S.6.
26
Majer, Diemut, ,,Fremdvölkische" im Dritten Reich, Schriften des Bundesarchivs, Harald Boldt Verlag,
Boppard am Rhein 1981, S.83.
27
Ebenda, S.84.
7
einen Erlass des Ostministeriums vom 13.7.1942 noch einmal bekräftigt. Dass jedoch der
sogenannte Rassestandpunkt nach den jeweiligen politischen Notwendigkeiten ausgerichtet
wurde, bekräftigt Gerlach und fügt einen Vorschlag des Militärverwaltungschefs bei der
Heeresgruppe Mitte als Beispiel an. So solle die NS-Rassenlehre abgewandelt werden, um
den Nationalsozialismus nach Russland exportieren zu können.
28
Den relativ positiven Wertungen widersprachen allerdings Bildern von Zurückgebliebenheit
und Primitivität, welche schon vor der deutschen Besetzung verbreitet wurden.
29
Dieses Bild,
den deutschen Soldaten weitgehend eingeimpft und auf schon vorhandene Vorurteile
aufbauend, sollte sich als ,richtig' herausstellen: der Anblick von Ausgebombten,
Flüchtlingen, der Plünderung ausgesetzten Bauern und der vorhandenen Armut erzeugten u.a.
folgende, typische Äußerung: ,,
Wenn du dieses dreckige Volk hier siehst und diese erbärmlichen
Verhältnisse, dann kriegst Du das gruseln."
30
Im Erlass über die ,,Behandlung der europäischen
Völker" vom 15.2.1943 hingegen heißt es, da ,,
jede Kraft des europäischen Kontinents, also auch vor
allem der Ostvölker...in den Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus eingesetzt
" werden müsse,
verbiete es sich, ,,
diese Völker, insbesondere die Angehörigen der Ostvölker...herabzusetzen und in ihrem
inneren Wertbewusstsein zu kränken
" oder die künftige Neuordnung Europas in einer Weise
darzustellen, ,,
aus der die Angehörigen fremder Völker den Eindruck gewinnen könnten, als ob die deutsche
Führung sie in einem dauernden Unterwerfungsverhältnis zu halten beabsichtige
."
31
·
Herrenvolk
Die Deutschen waren die Herrenrasse, das Herrschervolk, und die Unterworfenen endeten
meist in der absoluten Rechtlosigkeit.
,,Nie werde ich daher anderen Völkern das gleiche Recht wie den
28
Russland hätte diese ,Unterstützung' durch deutsches Gedankengut jedoch mit wirtschaftlichen
Zugeständnissen zu bezahlen. Äußerung von Tesmer in: Erfahrungsbericht Militärverwaltung Mitte, zitiert nach:
Gerlach (2000), S.100.
,,In der Ostpolitik müssen wir das ist auch schon mit dem Führer abgestimmt eine Umstellung unserer
Propaganda und Politik vornehmen. Die bisherige Propaganda und Politik war darauf abgestellt, dass wir den
Ostraum denkbar schnell in unseren Besitz nehmen würden. Diese Hoffnung ist ja nicht in Erfüllung gegangen.
Wir müssen uns also hier auf eine längere Aktion einstellen und sind deshalb gezwungen, unsere Parole und
auch unsere Politik in grundlegenden Dingen zu ändern." 24.2.1942, in: Lochner, Louis P. (Hrsg.), Goebbels
Tagebücher. Aus den Jahren 1942-43, zitiert nach: Longerich, Peter, Propagandisten im Krieg Die
Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop, R.Oldenbourg Verlag, München 1987, S.93.
29
,,Rassisch wesentlich einheitlicher [als Russen und Ukrainer], allgemein viel weniger begabt, kulturell viel
stärker zurückgeblieben und ökonomisch geradezu ein ideales Ausbeutungsgebiet[...]seien die Weißrussen in
ihren vorwiegend waldigen und sumpfigen Siedlungsgebieten", Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im
osteuropäischen Raum,1938; ,,Die Weißruthenen sind das rückständigste, ärmste Bauernvolk diesseits des
Urals", so die Dienststelle Rosenberg. Beide zitiert nach: Gerlach (2000), S.101.
30
Feldpostbrief vom 6.7.1942, Raum Polozk, zitiert nach: Gerlach (2000), S.102.
31
Zitiert nach: Longerich (1987), S.99.
8
Deutschen zuerkennen. Unsere Aufgabe ist es, die anderen Völker zu unterwerfen. Das deutsche Volk sei
berufen, die neue Herrenschicht abzugeben
."
32
·
Hilfsvolk
Für den Terminus der Hilfsvölker findet sich bei den Nationalsozialisten keine genaue
Definition. Trotzdem soll er von uns verwendet werden, um einen Gegensatz zu den
,Untermenschen' zu schaffen, die sich allein aus dem Begriffsverständnis heraus noch unter
das Herrenvolk der Deutschen stellen lassen. Steht hilfreich für fördernd oder nützlich, Hilfe
gar für Beistand oder aktive Anteilnahme, helfen für unterstützen, förderlich sein, so wollen
wir ,Hilfsvolk' nicht als ein Volk verstanden wissen, welches Beistand leistet, sondern
welches ,nützlich', ,förderlich' und ,unterstützend' für die eigene (deutsche) Politik sei.
·
Untermenschen
33
Eine wissenschaftliche Definition des Begriffes ,Untermensch' kann es nicht geben, da ein
solches Etwas im eigentlichen Sinn seines Wortes gar nicht existiert. Deshalb können zu einer
Erklärung, was in nationalsozialistischer Ideologie darunter verstanden wurde, auch nur
Worte aus dieser Zeit beitragen. In diesem Zusammenhang ist ein SS-Propagandaheft zu
erwähnen, welches mehr als vier Millionen
34
mal in Deutschland verteilt worden war. Die
Rede ist von der Broschüre ,,Der Untermensch". Darin werden alle Völker des Ostens als
,,
filthy, mongoloid, animalistic trash
"
35
bezeichnet. Es ist bezeichnend, dass sich Goebbels für eine
Unterbindung der weiteren Verbreitung dieser Schrift einsetzte, sah er doch die fatalen
Auswirkungen, die diese Propaganda insbesondere im Hinblick auf die Ostarbeiter bewirkte.
Der Inhalt des ,Untermenschen' ließ sich nicht auf das Reich beschränken und war bald auch
in den besetzten Ostgebieten bekannt und stand hier diametral zur angepriesenen Chance der
angeworbenen Arbeiter im Reich. Im Frühjahr 1943 war die Propagandaschrift im Reich
schließlich rar geworden. Die 1934er (und 1942 wiederholte) Ausstellung ,,Das Sowjet-
Paradies", in der die Besucher über die ,,
dreadful conditions"
in der Sowjetunion unterrichtet
werden sollten
36
, kann sich ideologisch durchaus mit dem ,,Untermenschen" messen.
32
Rauschning, Hermann, Gespräche mit Hitler, zitiert nach: Gruchmann, Lothar, Nationalsozialistische
Großraumordnung Die Konstruktion einer ,,deutschen Monroe-Doktrin", Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 4/1962, S.74.
33
,,Die Drohung des ,Untermenschen' gehört zu jenen kategorischen und apokalyptischen Visionen der NS-
Rassepropaganda, die zur Legitimation von Gewalt und Abschreckung für Verbrechen bereitgehalten wird.", in:
Gorr (2000), S.111.
34
Gerlach (2000), S.100. Vgl. hier auch weitere Literaturangaben zu dieser Thematik.
35
Zitiert nach: Herzstein, Robert Edwin, The war that Hitler won The most infamous propaganda
campaign in history, Hamish Hamilton, London 1978, S.365f.
36
,,The present Soviet state is nothing other than the realization of that Jewish invention." Die Ausstellung
erzählt über "the gray misery of daily life" und "primitive conditions". Ebenso wie die zwei folgenden Zitate in:
Das Sowjet-Paradies. Ausstellung der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Ein Bericht in Wort und Bild,
9
,,
Wherever one looks"
, heißt es hier, ,,
there is poverty, misery, decay and hunger."
Die Broschüre gibt
zum Abschluss noch folgendes mit auf den Weg: ,,
Our battle is to free the East...and to save Europe
from the nightmare that has threatened it for millenia."
Lassen wir abschließend zu diesem Punkt noch das SS-Hauptamt zu Wort kommen:
,,Jene
biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit
Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit
menschenähnlichen Gesichtszügen geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. Im Inneren dieses
Menschen ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille,
primitivste Begierde, unverhüllteste Gemeinheit. Untermensch sonst nichts! Denn es ist nicht alles gleich, was
Menschenantlitz trägt."
37
II. Realität
1. Belarus
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem wichtigen Teil der belarusischen
Geschichte: der Zeit der deutschen Besatzung im II. Weltkrieg von Mitte/Ende Juni 1941 bis
Anfang Juli 1944
38
.
Das Gebiet von Belarus war auf Grund seiner geographischen Lage und Merkmale das
Durchmarschgebiet in Richtung Moskau. Daraus ergab sich folgendes: Ein amerikanischer
Beobachter nannte Belarus im Jahr 1946:
,,the most devasted territory in the world"
und schreibt
weiter:
,,the ruins extend over the length and breadth of thousands of square miles ... Minsk itself is 80 per cent
destroyed ... Vitebsk is 95 per cent destroyed"
39
.
Den Auswirkungen dieses Krieges versucht die
Gedenkstätte in Chatyn, dem Dorf, welches 1943 von den deutschen Besatzern verbrannt
wurde, symbolisch zu begegnen: drei Birken stehen hier für die überlebenden Einwohner und
eine Flamme brennt für ein weiteres Viertel der belarusischen Bevölkerung, die während
dieses Krieges ums Leben kamen.
40
Zentralverlag der NSDAP, Berlin 1942, in:
http://www.calvin.edu/academic/cas/gpa/paradise.htm
, Dezember
2002 (Ausschnitte in englischer Übersetzung)
37
Saller (1961), S.134.
38
Die Besetzung von Minsk durch deutsche Truppen erfolgte am 27. Juni 1941, dessen Räumung am 2./3.
Juli 1944; Abschlußbericht des Stadtkommissars von Minsk, Becker, vom 27. Juli 1944 an den
Generalkommissar von Weißruthenien, Kurt von Gottberg, über die Räumung der Stadt Minsk am 2./3. Juli
1944, in: Kohl, Paul, Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941-1944. Sowjetische Überlebende
berichten, Geschichte Fischer, Frankfurt am Main 1995, S.242.
39
Zitiert nach Vakar (1956), S.209. Leider scheint es hier, zumindest in dieser Ausgabe, einen Fehler in
seiner Fußnotenbelegung zu geben, so daß die eigentliche Quelle dieser Angabe nicht erkenntlich ist.
40
Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von 10,6 Millionen (1939) wurden ca. 2,2 Millionen Zivilisten und
Kriegsgefangene ermordet. Gerlach (2000), S.11. Er bezieht sich auf die zusammengefassten Angaben der
staatlichen sowjetischen Untersuchungskommission.
10
Die Geschichte Belarus kann uns helfen, die Politik der Deutschen Besatzer und damit das
schreckliche Ergebnis dieses Krieges besser zu verstehen.
41
Denn die deutsche
Besatzungspolitik und Propaganda setzte nicht im luftleeren Raum, sondern an präzisen
Punkten des belarusischen Lebens an. Hier zeigt sich jedoch eine Problematik bezüglich einer
Polarisierung und ,,Neuschreibung" der belarusischen Geschichte, die sich auch (und vor
allem) nach 1991 fortgesetzt hat.
42
Auf diese Diskussion kann hier jedoch nur hingewiesen
werden.
a) Die Geschichte der Region bis 1941
43
Im 9. Jahrhundert entstand die Kiever Rus, der erste Slawische Staat, der aufgeteilt war in
kleinere Fürstentümer. Eines davon, Polack, kann als Kern des späteren Belarus angesehen
werden. Im Laufe des 13. Jahrhundert gingen große Teile der Kiever Rus an Litauen. Der so
entstandene Staat war das Großfürstentum Litauen, dessen offizielle Sprache als ein Vorläufer
des heutigen Belarusisch und Ukrainisch angesehen wird. Durch die Union von Krevo 1385,
basierend auf der Heirat des Litauer Großfürsten mit der polnischen Königin, kam es zu einer
Konföderation zwischen Polen und dem Großfürstentum Litauen, welche 1569 durch die
Union von Lublin in die ,Rech Paspalitaya' was soviel wie gemeinsamer Staat bedeutete
umgewandelt wurde. Kurze Zeit später, 1596 durch die Union von Brest, entstand die Unierte
Kirche, eine Vereinigung der Römisch-Katholischen mit der Orthodoxen Kirche, der im
Laufe der Zeit die Mehrheit der belarusischen Bevölkerung angehören sollte. Diese Zeit des
14. bis 16. Jahrhunderts wird oft auch als das Goldene Zeitalter der Belarusischen Kultur
bezeichnet.
44
Im Zuge der drei Teilungen der ,Rech Paspalitaya' in den Jahren 1772, 1793 und 1795 kam
das Gebiet der heutigen Belarus fast vollständig an das Russische Reich. Dies markiert einen
41
,,Fast alle Arbeiten zur deutschen Besatzungspolitik im Osten kranken daran, dass sie der Vorgeschichte zu
wenig Gewicht beimessen." In: Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Rolle der Kollaboration für die deutsche
Besatzungspolitik in Litauen und ,,Weißruthenien" Konzepte, Praxis, Probleme, Wirkungen und
Forschungsdesiderata, in: Röhr, Werner ( Hrsg.), Okkupation und Kollaboration (1938-1945), Europa unterm
Hakenkreuz, Hüthig Verlagsgemeinschaft, Berlin, Heidelberg 1994.
42
,,Die Polarisierung der belarussischen Geschichtsschreibung in zwei Lager früher: das sowjetische und
das nationale im Exil hat auch in... der R
÷
spublika Belarus' seine Fortsetzung erfahren. Beide Seiten bemühten
sich weiterhin um eine ,,positive" Geschichtsschreibung.", in: Siebert (1998), S.26f;
,,Die Besonderheit der Geschichtsschreibung Weißrußlands besteht darin, dass in ihr lange Zeit zwei
antiweißrussische Konzeptionen eine großrussische und eine großpolnische dominierten. ... Daher besteht die
vorrangige Aufgabe unserer Historiker heute darin,...die nationale Konzeption der Geschichte Weißrußlands
wiederherzustellen." Michas' Bic in: Lindner, Rainer, Historiker und Herrschaft Nationsbildung und
Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, R.Oldenburg Verlag, München 1999, S.11.
43
Vgl. Fedor, Helen, Belarus. Country studies, Federal Research Division Library of Congress, 1995,
http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/bytoc.html#by0077
, Oktober 2002.
44
Gemeint ist damit meist Francysk Skaryna , der 1517 eine Bibel in belarusischer Sprache druckte.
(Eigentlich war dies eher eine Vorform des heutigen Belarusisch und Ukrainisch
)
. Die Nationalsozialisten
bezogen sich gerne auf dieses Ereignis.
11
Wendepunkt und wird, je nach Geschichtsinterpretation, als Positivum
45
oder als Beginn der
Fremdherrschaft gewertet. Letzteres kann bekräftigt werden durch eine an diesem Zeitpunkt
einsetzende ,,Russifizierung": Die Universitäten von Polack und Vilnius wurden 1820 und
1832 geschlossen; 1839 löste Zar Nicholaus I. die Unierte Kirche auf (ihr gehörten Ende des
18. Jahrhunderts 70% der Bevölkerung an
46
) und zwang die Gläubigen, zur Orthodoxen
Kirche zu konvertieren. Des weiteren wurde die Verwendung des Namens ,,Belorussia"
untersagt und durch die Bezeichnung Nord-West Region ersetzt.
47
Ende des 19. Jahrhunderts verstärkten sich trotz industrieller Entwicklung und der
Abschaffung der Leibeigenschaft (1861) die Armut und Arbeitslosigkeit weiterhin. Es kam
schließlich in den verbleibenden Jahren bis zur Oktoberrevolution zu einer Auswanderung
von bis zu 1,5 Millionen Menschen.
Im Zusammenhang mit den außen- wie innenpolitischen Problemen des Russischen Reiches
am Anfang des 20. Jahrhunderts (u.a. die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von
1904-1905 und die Revolution vom Januar 1905) kam es im Oktobermanifest 1905
48
zu einer
Ausweitung bürgerlicher Freiheiten, wie z.B. der Aufhebung des Verbotes der belarusischen
(und anderer nicht-russischer) Sprache(n). In Belarus entwickelte sich in dieser Zeit auch die
Zeitschrift Nasa Niva
49
. Sie versuchte, der damaligen belarusischen Identitätssuche und
Nationenbildung ein Forum zu sein. Ein erster Ansatzpunkt war dabei die belarusische
Sprache, da sich eine Identifikation als Belaruse entweder auf die Sprache bezog oder aber an
dem lokalen Bezugspunkt festmachte. So war unter der Landbevölkerung eine
Selbsttitulierung als ,,Hiesige"
50
sehr verbreitet. Aber, so Winderl, ,,w
hen the Tsarist empire was
on the verge of collapse at the turn of the century, however, societal structures were not in favor of a strong
national Belarusian integration. The functional elites did not share a Belarusian identity, they were dominated by
45
In der sowjetischen Geschichtsschreibung heißt es hierzu: ,,1772-1795 Wiedervereinigung Belorußlands
mit Rußland.", in: Baranowa, M.P., Pawlowa, N.G., Kurze Geschichte der Belorussischen sozialistischen
Sowjetrepublik, Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1985, S.147.
46
Unter der Landbevölkerung betrug der Anteil 80%. In: Bugrova, Irina, Politische Kultur in Belarus: eine
Rekonstruktion der Entwicklung vom Großfürstentum Litauen zum Lukaschenko-Regime, Untersuchungen des
Forschungsschwerpunktes Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Universität Mannheim,
Nr.18/1998, Online-Ausgabe,
http://www.uni-mannheim.de/fkks
, Oktober 2002, S.15.
47
Zur Transformation der belarusischen Gesellschaft innerhalb des Russischen Reiches vgl. ebenda, S.19ff.
48
Dies war eine Reaktion von zaristischer Seite auf Emanzipationsbestrebungen. Im April des gleichen Jahres
war es schon zum sogenannten Toleranzedikt gekommen, die Religionsausübung und -wahl betreffend. Lindner
(1999), S.54; Volks-Ploetz, Verlag Ploetz Freiburg, Würzburg 1995, S. 417.
49
Nasa Niva bedeutet ,,Unser Feld". Die Zeitung beschäftigte sich z.B. mit Fragen der kulturellen Bedeutung
kleiner Nationen und vermittelte Geschichtsbilder, die zwischen Mythos und Realität angesiedelt waren.
Besonders die Landbevölkerung war von ihr jedoch schwer zu erreichen, obwohl Nasa Niva auf Belarusisch
erschien. Einer der Gründe mag der geringe Alphabetisierungsgrad gewesen sein. In: Lindner (1999), S.105; Die
Zeitung erschien von 1906-1915. Einige Autoren verweisen auf ein Erscheinen bis 1918. In: Fedor (1995), S.10.
50
,,Tutejsyja" belarusisch: Hiesiger. In: Bugrova (1998), S.7; Vgl. Dazu auch: Dean, Martin,Collaboration
in the Holocaust Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941-44, St. Martin's Press, New
York 2000, S.10.
12
urban Russian administrators, urban Jewish merchants, and Polish landowners."
Er nennt diese Zeit kurz
,,
a short period of national agitation by a small nationalist elite"
51
.
Im I. Weltkrieg besetzten ab 1915 deutsche Truppen den westlichen Teil der Belarus, und die
Frontlinie sollte sich bis zur Oktoberrevolution kaum ändern. Die Deutschen Besatzer
versuchten u.a. durch die Eröffnung belarusischer Grundschulen und die Einführung eines
,,belarusischen Alphabets" die Bevölkerung für sich zu gewinnen.
52
Direkte Unterstützung
suchten sie bei den Nationalisten, u.a. beim Belarusischen National-Komitee, welches im
Dezember 1915 an einer Konferenz über die Wiederherstellung des Großfürstentums Litauen
als Konföderation beteiligt war.
53
Im östlichen Teil Belarus' kam es im Zuge der Februarrevolution zu Kämpfen, in deren
Anschluss am 8. März 1917 in Minsk der Stadtsowjet unter Beteiligung der Bolschewisten
gebildet wurde. Parallel dazu hielt die demokratische Nationalbewegung vom 25.-27.3.1917
in Minsk einen Kongress belarusischer Organisationen ab, der für die Belarus einen
autonomen Status innerhalb des sich formierenden sowjetischen Staates forderte. Gleichzeitig
wurde ein Belarusisches Nationalkomitee (BNK) gebildet. Vom 8.-12.7.1917 kam es
schließlich zur Gründung der ,Zentralrada' (Zentralrat) belarusischer Organisationen.
In der Belarus fanden die Bolschewisten
54
aktive Unterstützung weitestgehend nur bei
Arbeitern und Soldaten. Trotzdem konnten sie bei den Wahlen 1917
55
ein Ergebnis von ca.
49% der Stimmen erreichen und bauten dadurch ihre Macht aus. Innerhalb der Partei kam es
jedoch
bald
zu
Streitigkeiten
zwischen
nationalkommunistischen
und
zentral-
kommunistischen Strömungen. So akzeptierte erstere den von der Rada initiierten 1.
Allbelarussischen Kongress und nahm daran teil, während letztere am 18.12.1917 für dessen
Auflösung sorgte. Der Kongress hatte zuvor das Recht der Belarusen auf Selbstbestimmung
verkündet.
56
Parallel dazu fand in Minsk der 2. Außerordentliche Kongress der
Bauernsoldaten der Westfront statt.
57
Man muss in dieser Zeit also von einer parallelen
Entwicklung prosowjetischer und belarusisch-nationaler Bewegungen sprechen.
51
Winderl, Thomas, Nationalism, Nation and State, WUV Universitätsverlag, Wien 1999, S.79.
Hervorhebungen Th.V.
52
Vgl. Siebert (1998), S.35.
53
Ebenda. Diese Konföderation kam jedoch nicht zustande. Vgl. dazu Lindner (1999), S.115.
54
Sie organisierten sich seit Anfang September 1917 unter dem Namen ,,Nordwestliches Gebietskomitee der
RSDRP(b). In: Siebert (1998), S.38.
55
Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung fanden vom 12.-19.11.1917 statt. Genaue Ergebnisse
sowie deren Bewertung in: ebenda, S.39.
56
Nach der Auflösung blieb der ,,Rat des 1. Allbelarusischen Kongresses" in Illegalität bestehen. In: Lindner
(1999), S.40.
57
Vom 11. bis 15.12.1917.
13
Nach dem Scheitern von Friedensverhandlungen zwischen der russisch-kommunistischen
Regierung und Deutschland nahmen deutsche Truppen die Kriegshandlungen erneut auf. Die
nationalkommunistischen
Bolschewisten
in
Minsk
und
andere
belarusisch-
nationaldemokratische Gruppen begegneten den Deutschen offiziell mit Loyalitäts-
bekundungen.
58
Die Deutschen bemühten sich im Gegenzug, eine - wirtschaftlich abhängige -
,,unabhängige" Regierung zu installieren
59
. Als jedoch die Rada am 25.3.1918 die
Belarusische Nationalrepublik
60
ausrief,
,,bremste die deutsche Militärverwaltung"
. Da gleichzeitig
das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Besatzern nicht sehr gut war
61
, verwundert es
nicht, dass die belarusische Nationalbewegung in dieser Situation in mehrere Lager
zerbrach
62
. Als es schließlich nach der Novemberrevolution in Deutschland zum Abzug der
deutschen Truppen kam, war die BNR nicht in der Lage, die Rote Armee aufzuhalten. Diese
besetzte somit bis Februar 1919 nahezu das gesamte Gebiet - mit Ausnahme der westlichen
Gebiete um Hrodna und Br÷st - der heutigen Belarus. Gleichzeitig wurde schon am 1. Januar
1919 die Belorusische Sozialistische Sowjetrepublik
63
gegründet.
Die polnische Armee drang schließlich in die westlichsten Gebiete Belarus' ein und besetzte
diese für ca. ein Jahr. Die antipolnische Einstellung und der Widerstand der Bevölkerung
gegen diese Besetzung konnten von den Kommunisten im Ostteil Belarus jedoch aufgrund
ihrer eigenen Diskreditierung bei der dortigen Bevölkerung nicht für eine schnellere
Rückeroberung des Gebietes genutzt werden.
Nach der Rückeroberung Belarus' wurde am 31.7.1920 in Minsk die ,,unabhängige SSRB"
64
ausgerufen, welche jedoch nur aus den Gebieten um Minsk und Sluck bestand. Der Rigaer
Vertrag vom 18. März 1921 brachte schließlich folgende Einigung: das westliche Drittel des
belarusischen Gebietes ging an Polen, der östliche Teil an Russland und das verbleibende
Mittelstück formte die zukünftige BSSR, welche im Dezember 1922 ein Gründungsmitglied
der UdSSR
65
wurde.
Nach wechselvollen Kriegsjahren und einer kurzen Phase nationaler ,,Eigenständigkeit" fand
sich Belarus nun aufgeteilt zwischen zwei Großmächten wieder.
66
Zu diesem Zeitpunkt
58
Siebert (1998), S.41.
59
Gerlach (2000), S.36f.
60
Belaruskaja Narodnaja R÷spublika (BNR), in: Siebert (1998), S.42. Die Rada hatte außerdem den am 3.
März 1918 unterschriebenen Vertrag von Brest-Litovsk abgelehnt.
61
,,Die Bildung von gemäßigten deutschen Soldatenräten erfolgte zu spät, um das Verhältnis von Besatzern
und Besetzten auf eine neue Grundlage zu stellen.", ebenda.
62
Vgl. ebenda, S.50ff.
63
Vakar (1956), S. 108; Belaruskaja Saveckaja Sacyjalistycnaja R÷spublika, im weiteren BSSR.
64
Saveckaja Sacyjalistycnaja R÷spublika Belarus. Siebert (1998), S.47.
65
oder SSSR: Savecki Sajuz Sacyjalistycnych R÷spublik. Wegen der Allgemeingebräuchlichkeit
verbleibt jedoch UdSSR anstelle von SSSR.
66
,,Die Grenze trennte die Belarus mittenzwei; hier verliefen weder ,,historische" noch ethnische Grenzen
das Nationalstaatsprinzip, das auf der Versailler Konferenz von Finnland bis Rumänien durchgesetzt worden
war, blieb hier vollkommen unberücksichtigt. ...der Sowjetseite verlangte es aber genauso wie der polnischen,
14
unterschieden sich die beiden Teile schon sehr. So hatte die östliche Belarus die Februar- und
Oktoberrevolution miterlebt; Brest z.B. wurde hingegen von den Deutschen direkt an die
Polen übergeben und die Landbevölkerung im westlichen Teil hatte wiederum die
Revolutionen nur durch die Rote Armee im Sommer 1920 ,,kennengelernt". Die Zeit bis
1939
67
wird im folgenden für beide Teile auf Grund der beschriebenen Entwicklung -
getrennt untersucht.
·
BSSR bis 1939
In der BSSR stellte die Neue Ökonomische Politik (NöP)
68
, 1921 auf dem X. Parteitag
beschlossen, eine - zeitlich begrenzte - Annäherung an kapitalistische Strukturen her und
konnte somit zu einer Belebung der Wirtschaft beitragen. Begleitet wurde dies von einer
national-kulturellen Liberalisierung, wobei Minsk in diesen Fragen eine gewisse Handlungs-
freiheit erhielt. Der Aufbau des Bildungswesens wurde in Angriff genommen; ein Zeichen
dessen war die Eröffnung der Universität in Minsk noch im Juli desselben Jahres.
In den Jahren 1924 und 1926 erhielt die BSSR die Gebiete ,,zurück", die im Zuge des Rigaer
Vertrages 1921 an Russland gegangen waren.
69
Die Liberalisierung endete jedoch schon 1927 mit dem XV. Parteitag
70
, auf dem die
Einleitung der Kollektivierung
71
der Landwirtschaft sowie eine verstärkte Industrialisierung
beschlossen wurden. Damit einhergehend setzte 1929 die erste Repressionswelle gegen die
Bevölkerung ein.
72
Durch die ,,
Vernichtung der Kulaken als Klasse
"
73
und die Kollektivierung
ein solches Gebiet sein eigen nennen zu können, auf welchem die Aussicht bestand, die jeweilige Herrschaft
ohne größere Schwierigkeiten installieren zu können." In: Siebert (1998), S.50.
67
Siebert führt zu dieser Zeit an: ,,Über die politische Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren gab
es eine solch scharfe Auseinandersetzung in der Historikerzunft schon allein deshalb nicht, weil sowohl die
Nichtkommunisten als auch die Kommunisten unter den Repressionen des Stalinregimes zu leiden hatten. Was
jedoch wirklich geschah und worüber in der Sowjetzeit verfälschend und unvollständig geschrieben wurde,
bleibt aber bis heute sehr unscharf... Letztlich bleiben auch die Gesamtdarstellungen dieser Epoche der BSSR
Flickwerk." in: ebenda, S. 26.
68
Novaja ökanamicnaja Polityka. Inhalte der NöP in: Wilenchik (1984), S.135f; Vgl. zur Politik der
Kommunistischen Partei in der BSSR 1921-29: Siebert (1998), S.58ff.
69
Vgl. Karte im Anhang VII dieser Arbeit. Vgl. ebenso Lindner (1999), S.177. Siebert führt mögliche
Gründe für die Erweiterung an: Siebert (1998), S.63. Um eine Größenvorstellung der Erweiterung zu vermitteln:
die Bevölkerung wuchs von 1,5 auf nahezu 5 Millionen Einwohner an. (Lindner nennt 4,2 Mio)
70
Er fand vom 2.-19. Dezember 1927 in Moskau statt und wurde auch ,,Parteitag der Kollektivierung"
genannt. In: Wilenchik (1984), S.136f.
71
Ausführliche Schilderung der Kollektivierungspolitik sowie der unterschiedlichen Situation in West- und
Ostbelarus in: Siebert (1998), S.92.
72
Die zweite Repressionswelle setzte 1933 ein, eine weitere schließlich 1937/38. Gründe dieser Repressionen
u.a. in: ebenda, S.74ff.
73
Als Folge des XVI. Parteitages der KPdSU (26.6.-13.7.1930), dem Parteitag ,,des breiten Vormarsches des
Sozialismus". In: Wilenchik (1984), S.136; Vgl. auch Siebert (1998), S.68. ,,Wer zum Kulaken gestempelt
wurde, blieb Willkür.", in: ebenda, S.129.
Ein Ergebnis dieser Politik sind z.B. die Massengräber von Kurapaty. In der Zeit von 1936 bis 1940
wurden hier die von den Staatsorganen Ermordeten vergraben. In: ebenda, S.78; Vgl. auch den folgenden
Artikel , ursprünglich 1988 veröffentlicht in der belarusischen Zeitung ,,Litaratura i Mastactva": Pazniak,
15
sollte die Landwirtschaft ,,gesäubert" werden. Gleichzeitig kam es zu einer verstärkten
Russifizierung, die sich u.a. in der Anpassung der belarusischen Sprache an russische Normen
wiederspiegelte. Auch durften Tageszeitungen nur noch in Russisch erscheinen.
74
Die Lebensgrundlage der belarusischen Bauern, die noch immer die Mehrheit der
Bevölkerung stellten
75
, wurde durch die Kollektivierungen vollkommen verändert - meist zum
Negativen. Das politische und kulturelle Leben lag danieder. Die Geschichte der dreißiger
Jahre als eine ,,
permanente Repression
"
76
zu bezeichnen, liegt daher nahe. Die Keime der
national-kulturellen Entwicklung der 20er Jahre und gleichzeitig die Idee einer nationalen
Selbständigkeit Belarus, auch innerhalb der UdSSR, wurden zerstört oder zumindest
verschüttet. Arendt formuliert diesen Zustand treffend:
,,Anfang der dreißiger Jahre waren die
Bauern- und Mittelklassen »abgestorben«, diejenigen, die nicht zu den Millionen Toten und Deportierten
gehörten, hatten gelernt, dass es gegen die Staatsmacht keine Gruppensolidarität und keine Hilfe gibt, ... sondern
dass jeder von ihnen in absoluter Hilflosigkeit und Verlassenheit von höheren Mächten abhing, die jederzeit über
ihn befinden konnten."
77
Dieser Prozess setzte sich bis 1939 weiter fort.
·
Die Östlichen Gebiete bis 1939
Der Polnische Staat hatte sich nach 1921, neben der Politik in den Östlichen Gebieten (so der
offizielle polnische Titel des ehemals belarusischen Raumes), mit vielen Problemen
auseinander zusetzen. Ein Hauptaugenmerk wurde dabei auf die Minderheitenfrage gelegt,
denn immerhin ein Drittel der Gesamtbevölkerung wurde u.a. von Deutschen, Ukrainern und
Belarusen gestellt
78
. Dass diese Politik nicht sehr restriktiv war, findet seinen Ausdruck darin,
dass 1922 allein die Belarusen durch drei Senatoren und 11 Abgeordnete im Sejm vertreten
waren und 1923 die Kommunistische Partei Westbelarus'
79
gegründet werden konnte.
Ab 1924 änderte sich diese Politiklinie
80
: durch ,,Denationalisierung" und allmähliche
Polonisierung der Bevölkerung sollte die ,,Belarusische Frage" gelöst werden. So wurden
Belarusische Schulen geschlossen, die russisch-orthodoxe Kirche bekämpft, Publikationen in
belarusischer Sprache verboten und schließlich gar Polen aufgefordert, sich verstärkt in dem
Zianon, Shmyhalou, Yauhen, Kurapaty the road of death,
http://www.belarusguide.com/as/disas.html
,
Oktober 2002.
74
Lindner (1999), S. 162. ,,Auch die Russifizierung des Reiches, die Unterdrückung der Nationalitäten,
unterschied sich nur insofern von der Zarenherrschaft, als die neue despotische Herrschaft das Analphabetentum
abschaffte, da sich dieses noch immer als ein sehr natürlicher und höchst wirksamer Schutz gegen Propaganda
und ideologische Indoktrination erwiesen hat.", in: Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Piper, München 2001, S.689.
75
Volkszählung 1939: Gesamtbevölkerung ca. 5,5 Mio, Stadtbevölkerung ca. 1,35 Mio, in: Siebert (1998),
S.92.
76
Brzezinski, zitiert nach: ebenda, S.79.
77
Arendt (2001), S.690.
78
Genauer Zahlenbeleg in: Wilenchik (1984), S.138.
79
Die Kamunistycnaja Partyja Zachodnaj Belarusi (KPZB) war ein Bestandteil der KP Polens. in: ebenda,
S.137f.
80
Ursachen in: Wilenchik (1984), S.139.
16
Östlichen Gebiet anzusiedeln. Durch Investitions-Vernachlässigung wurde dieser Raum
gleichzeitig zu einem ,,agrarischen Anhängsel" Polens.
81
Nach dem Militärputsch 1926 unter Marschall Pilsudski entwickelte sich ein autoritäres
polnisches Regime, welches 1935 sogar aus dem Völkerbund-Vertrag über die Ethnischen
Minderheiten austrat. Während die Repressionen im Zuge dessen besonders gegen die teils
bürgerliche, teils prosowjetische belarusische Nationalbewegung zunahmen
82
, akzeptierte die
polnische Öffentlichkeit die Belarusen "
kaum als Nation..., sondern [betrachtete sie] vielmehr als
rückständige, kulturlose, exotische, zur Beherrschung bestimmte, teils separatistische Bevölkerung bestimmter
Gebiete"
83
.
Die beiderseitigen Ressentiments wurden in den Jahren der polnischen Herrschaft
einmal mehr verstärkt und durch die offizielle polnische Politik noch unterstützt.
·
1939-1941
Im Anschluss an den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23.8.1939
84
und den
Kriegsbeginn durch den Einmarsch deutscher Truppen in Polen (1.9.1939) kam es am
17.9.1939 schließlich zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in ,,Ost-Polen". Der nicht
unfreundliche, aber gemischte, Empfang durch die ansässige Bevölkerung
85
ist vor dem
Hintergrund der polnischen Repressionen nachvollziehbar. Nach den Wahlen im Oktober
1937
86
beantragte das Parlament die Aufnahme der besetzten Gebiete in die BSSR; dem
wurde am 3. November zugestimmt. Die ,,wiedervereinigte" BSSR umfasste nun ca. 10,6
Millionen
87
Einwohner.
In den verbleibenden zwei Jahren bis zum Beginn der deutschen Besatzung im Jahr 1941
konnte die Divergenz der zwei Teile der BSSR, u.a. in Landwirtschaft und Industrie
88
, nicht
aufgehoben werden. War die Bevölkerung der alten BSSR durch die Stalinsche Politik schon
in den oben beschriebenen quasi Ausnahmezustand versetzt, erwartete oder erhoffte der
ehemals polnische Teil eine Besserung seiner Lage:
,,Some Belorussians initially welcomed the arrival
81
Zwischen 1929-1939 wurden ca. 300 000 Polen in Westbelarus angesiedelt. In: Gerlach (2000), S.40;
Gleichzeitig wanderten (1925-38) ca. 78 000 Einwohner dieses Östlichen Gebietes aus. In: Fedor (1995), S.17.
82
,,The Polish authorities had restricted Belorussian education and also persecuted some nationalists.", in:
Dean (2000), S.2.
83
Gerlach (2000), S.40f.
84
,,Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete
werden die Interessenssphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew,
Weichsel und San abgegrenzt.", in: Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 23. August 1939 und Geheimes Zusatzprotokoll vom 23. August 1939
zum Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, zitiert
nach: Kohl (1995), S.219ff.
85
Gerlach spricht davon, dass die weißrussische und jüdische Bevölkerung positiv, die polnische hingegen
zurückhaltend bis feindlich reagiert hätte. In: Gerlach (2000), S.41; Beispiele direkter Unterstützung der Roten
Armee durch die Bevölkerung in: Wilenchik (1984), S.144f.
86
Die Wahlen fanden am 23.10.1939 statt. Wilenchik spricht vom 22.10.1939. Er nennt auch Wahler-
gebnisse, in : ebenda, S.145. Die Qualität dieser Wahlen soll hier nicht besprochen werden.
87
Statistische Berichte für das Ostland 3 (1943), zitiert nach: Gerlach (2000), S.41.
88
Ebenda.
17
of the Red Army. ... they hoped for an improvement in their social and cultural position compared with Polish
rule. ... Thus a combination of hope and fear encouraged Belorussians to demonstrate support for the new
order."
89
.
Dies sollte sich jedoch genauso wie die Hoffnungen auf eine national-eigenständige
Zukunft zerschlagen:
"The joy felt on the part of the whole nation as a result of liberation was followed as
early as the second day by the declaration that all revolutionaries, members of the KPZB..., Komsomol
members... were enemies...Our struggle, our sufferings, our dreams for a happy future were mocked and spat
upon. ... Our enemies laughed at these idiotic events."
90
Weiterhin kam es in den neuen Gebieten zu
Veränderungen, die in die Gesellschaftsstruktur eingriffen. So war es Juden nun unter
sowjetischer Herrschaft
91
erlaubt, in Berufen zu arbeiten, die ihnen vorher verwehrt waren,
z.B. als Polizisten. Für Teile der Bevölkerung, die gerade ihre Existenz verloren hatten oder
sich ihrer Ideale beraubt sahen, war diese ,,Kollaboration" sicherlich eine Provokation und
konnte zu einer Verstärkung antisemitischer Tendenzen führen.
Durch Enteignung von Gutsbesitzern, Schaffung von Kolchosen und mehreren Deportations-
wellen sowie der Schaffung einer Sicherheitszone an der deutsch-sowjetischen Grenze wurde
die Situation in Westbelarus weiter verschärft.
92
Schätzungen sprechen von bis zu 10% (1,3
Mio!) der Bevölkerung, die in dieser Zeit deportiert wurden. Da das zu erreichende Ziel die
Befriedung des Landes darstellte, waren die Deportierten meist
,,those committed in some way to
the Polish cause, those with relatives abroad, those viewed as `capitalists´ (including merchants and landowners),
foreign nationals (mainly refugees) and those who already had relatives in prison and labour camps."
93
.
Die
Deportationen hielten also, auch im östlichen Teil Belarus, weiter an.
Eine sehr schwarze Form von Humor soll die damalige Lage der Bevölkerung abschließend
verdeutlichen:
,,At Biala Podlaska, the first station on the German side of the border, the train carrying
refugees from the east encountered the train moving west. »When Jews coming from Brisk [Brest] saw Jews
going there, they shouted: `You are insane, where are you going?' Those coming from Warsaw answered with
equal astonishment: `You are insane, where are you going?'«"
94
.
89
Dean (2000), S.2.
90
Aus einem Brief von W.P. Laskowicz an den Ersten Sekretär der Belorussischen Kommunistischen Partei,
in: ebenda.
91
"Judaism was formally tolerated in line with `Stalin's Constitution´ and the Soviet authorities did not
interfere directly with Jewish religious practices. Nevertheless organized religion was constantly under pressure
to limit its activities: for instance, rabbis were heavily taxed and religious education driven underground." Im
Gegensatz dazu konnten Polen in den 30er Jahren keine Anstellung als ,,a civil servant, a municipal employee, a
policeman, an officer or a professional NCO´" ausüben. In: ebenda, S.4ff.
92
Vgl. ebenda, S.4 sowie Chiari, Bernhard, Alltag hinter der Front: Besatzung, Kollaboration und
Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Droste Verlag-Schriften des Bundesarchivs, Düsseldorf 1998, S.46ff.
93
Dean (2000), S.6f; Die genannten 10% basieren auf polnischen Angaben. Er führt weiter an, dass diese
Zahlen noch diskussionswürdig seien; Siebert nennt zwar eine Zahl von 600 000 Menschen, welche von
sowjetischen Organen zwischen 1917 und 1953 verfolgt worden seien, jedoch könne eigentlich nur als
faktenmäßig sicher gelten kann, ,,dass es in der BSSR Repressionen gab, die zum Tode der Betroffenen oder zu
ihrer Abwanderung führten." Diverse Faktoren seien für die problematische Quellenlage verantwortlich. In:
Siebert (1998), S.93.
94
In: Pinchuk, B., Shtetl Jews under Soviet Rule: Eastern Poland on the Eve of the Holocaust, zitiert nach:
Dean (2000), S.16.
18
Im Jahr 1941 finden wir auf dem Gebiet Belarus eine Bevölkerung vor, die, gelinde gesagt,
eine wechselvolle Geschichte schon hinter sich hatte. Von einer kurzen Phase nationalen
Auflebens während des I. Weltkrieges einmal abgesehen, hatte Belarus bis zu diesem
Zeitpunkt noch keine Unabhängigkeit erfahren, sondern sah sich über die Jahrhunderte
hinweg einer ständigen Aufteilung zwischen den angrenzenden Großmächten gegenüber.
Diese Fremdbestimmung gipfelte schließlich in der totalitären stalinistischen Politik, welche
nicht nur Belarus an den Rande des Chaos brachte.
,,Die Ergebnisse der Liquidierung des
Kulakentums, der Kollektivierung und der Großen Säuberung[...]sind weder Fortschritt noch rapide
Industrialisierung, sondern Hungersnot, chaotische Zustände in der Nahrungsmittelerzeugung und
Entvölkerung."
95
b) Bevölkerungsentwicklung bis 1941
Wenn wir im weiteren Verlauf der Arbeit untersuchen möchten, auf welche Art und Weise
deutsche Besatzer die Bevölkerung im GK Weißruthenien propagandistisch und real
behandelten, muss deren Situation im Jahr 1941 geklärt werden. Da es von deutscher Seite
um die Konstruktion eines Hilfsvolkes (oder von Untermenschen) geht, klären wir zuerst den
Begriff des Volkes.
96
Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung, da sich daraus ableitet,
ob sich die deutsche Politik mit einem realen Volkskörper hatte auseinandersetzen können
oder sich diesen für ihre Zwecke erst noch hatte ,,erschaffen" müssen.
Wir können hier nur kurz auf einige wichtige Punkte der Nationenforschung eingehen und
beschränken uns daher auf Renan, Deutsch, Dann und Nohlen.
97
Renan spricht 1882
zwar von
mehreren konstituierenden Elementen wie Rasse, Sprache, Religion, Interessengemeinschaft
und auch der Geographie, letztendlich jedoch sei die Nation ,,
un principe spirituel. Deux
choses...constituent cette âme[...:]la possession en commun d'un riche legs de souvenirs ; l'autre est...le désir de
vivre ensemble"
98
. Seinen Kernpunkt bildet das Zusammengehörigkeitsgefühl, welches jedoch
nicht einfach entsteht, sondern erarbeitet werden muss ganz im Sinne eines vielbemühten
,,
plébiscite de tous les jours
". Für Deutsch wiederum ist die Nation ein Volk mit Kontrolle über
,,einige Institutionen gesellschaftlichen Zwanges
", wobei sich das Volk aus Menschen mit
95
Arendt (2001), S.646.
96
,,Die Begriffe Nation und Volk werden in unserer politischen Sprache meist gleichbedeutend, synonym
gebraucht.", in: Dann (1996), S.12. Hervorhebungen im Original. Auch die Nationalsozialisten verwischen die
Grenzen zwischen diesen beiden Begrifflichkeiten, weswegen auch wir, sofern nicht anders erwähnt, im
weiteren Text keine Trennung vornehmen werden.
97
Renan, Ernest, Qu'est-ce qu'une nation?, Éditions Mille et une nuits, 1997; Deutsch, Karl W., Ashkenasi,
A., Schulze, P. (Hrsg.), Nationenbildung Nationalstaat Integration, Bertelsmann Universitätsverlag,
Düsseldorf 1972; Nohlen, Dieter (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bundeszentrale für Politische Bildung,
Bonn 1996; Dann, Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, Verlag C.H.Beck, München
1996.
98
Also zwei Dinge: gemeinsame Erinnerungen und der Wunsch zusammenzuleben. Renan (1997), S.31.
19
,,
komplementären Kommunikationsgewohnheiten
"
99
zusammensetze. Auch ihm geht es um die
Funktion des Gemeinsamen; auch in der Entscheidung über den gemeinsamen Feind.
100
Bei
Nohlen (sich auf Deutsch beziehend) findet sich schließlich eine Unterscheidung zwischen
Nationen mit ethnischer und ohne ethnische Begründung. Anders ausgedrückt: Nation
basierend auf wirklichen Unterschieden zwischen Individuen im Gegensatz zu einer
Konzeption der Nation als fiktive und aus purem Willen heraus konstruierten Großgruppe.
101
Dann hingegen sieht diesen Antagonismus zwischen (ebenfalls) ethnischer Begründung und
einer politischen Interessengemeinschaft, die sich u.a. auf die gemeinsame geschichtliche
Herkunft und auf den Grundkonsens über die politische Kultur stützt.
Der Rote Faden aller Ansätze ist also die Bedeutung des Gemeinsamen für die Nation oder
das Volk. Faktoren, die eine Bildung der Nation beeinflussen sollen, können weiter folgende
sein: die Sprache, Interessen, die Geschichte sowie Traditionen
.
Deutsch benennt auch
wichtige Entwicklungspunkte, wie z.B. die Entwicklung von Städten sowie von
grundlegenden Kommunikationsnetzen wie auch die unbewusste Annahme nationaler
Symbole.
102
Kann man also von einer belarusischen Nation/Volk am Vorabend des deutschen Überfalls
1941 sprechen? Lindner stuft sie am Ende des 19. Jahrhundert als wenig mehr als eine ,,
durch
Muttersprache und Volkskultur verbundene, überwiegend bäuerliche Großgruppe
"
103
ein. Von Bedeutung
ist, ,,
dass im kollektiven Gedächtnis der Belarussen das Bild eines starken Staates, eines selbständigen
geopolitischen Zentrums, das die verschiedenen Gebiete in einem Staat gesammelt und die verstreuten
ethnischen Gruppen zu einer Nation zusammengefügt hätte, fehlt
."
104
. Bugrova führt weiter eine Reihe
von Faktoren auf, die insbesondere die belarusische Nationenbildung beeinflusst oder auch
99
Beide Zitate in: Deutsch (1972), S.27.
100
,,Die Entscheidung für eine nationale Orientierung und für nationale Identität steht in einem
Zusammenhang mit der Entscheidung darüber, wer der gemeinsame Feind ist. Das ist in der Tat eine
Entscheidung, auch wenn sie unbewusst getroffen wurde.", in: ebenda, S.23.
101
Er merkt hier an, dass diese Debatte nicht entscheidbar sei, u.a. auf Grund der ,,kaum entwirrbar
objektive[n] und subjektive[n] Faktoren, Mythen und Manipulationen.", in: Nohlen (1996), S.454.
102
Er nennt diese Faktoren Gleichförmigkeiten im Nationen-Entwicklungsprozeß. 1. Übergang von
Substistenz- zur Tauschwirtschaft; 2. Soziale Mobilisation ländlicher Bevölkerung in Kerngebieten; 3.
Entwicklung von Städten; 4. Entwicklung grundlegender Kommunikationsnetze; 5. Konzentration von Kapital;
6. Entstehung des Begriffs ,,Interesse" für Individuen und Gruppen sowie Erweiterung des individuellen
Selbstbewusstseins; 7. Erwachen ethnischen Bewusstseins und Annahme nationaler Symbole; 8.Vereinigung von
ethnischem Bewusstseins mit Tendenz zur Ausübung politischen Zwanges. Deutsch liefert auch an anderer
Stelle einen Kriterienapparat für Nationen: Sie sei unabhängig, kohäsiv, politisch organisiert, autonom und
legitimiert. In: Deutsch (1972), S.29f. und S.24.
103
Lindner (1999), S.480.
104
Bugrova (1998), S.7. Lindner fragt, inwieweit sich in einer ,,dem russischen Herrschaftszentrum ethnisch
und kulturell nahestehenden Peripherienation ein historisch oder nationales Sonderbewusstsein ausbilden
konnte". Linder (1999), S.16. Hervorhebung Th.V. Vgl. auch: Lindner, Rainer, Nationenbildung durch
Nationalgeschichte. Probleme der aktuellen Geschichtsdiskussion in Weißrussland, in: Osteuropa: Zeitschrift
für Gegenwartsfragen des Ostens, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 44 (1994) 6, S.578-590.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2003
- ISBN (eBook)
- 9783832473891
- ISBN (Paperback)
- 9783838673899
- Dateigröße
- 2.3 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Freie Universität Berlin – Politische Wissenschaft
- Note
- 1,3
- Schlagworte
- nationalsozialismus propaganda weißrußland besatzung belarus
- Produktsicherheit
- Diplom.de