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Wie alte Menschen auf die Entwicklung ihrer sexuellen Identität zurückblicken

©2002 Diplomarbeit 166 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Fragt man eine Frau oder einen Mann, woher sie wissen, Mann oder Frau zu sein, löst der Fragende möglicherweise Erstaunen oder Verwunderung aus. Denn: Als Mädchen oder Junge ist der oder die Befragte zur Welt gekommen. So könnte lapidar die Antwort sein. Nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen wird das neugeborene Wesen Mensch in weiblich oder männlich eingestuft. In sehr seltenen Fällen kommt laut Birbaumer und Schmidt (1999) das echte Zwittertum (Hermaphroditismus verus) vor, bei dem männliche und weibliche Keimdrüsen in einem Individuum vorzufinden sind.
Oder: Der Vorname wird genannt, zum Beispiel Anna, Karen oder Melanie o. a. Wenn ich so heiße, werde ich als Mädchen bzw. Frau angesehen und behandelt. Als Junge bzw. Mann sieht meine Umwelt mich, falls ich einen für dieses Geschlecht üblichen Vornamen trage. Weiter erhält man vielleicht zur Antwort, man hatte für Jungen oder Mädchen typisches Spielzeug, trug blaue oder rosa Kleidung als Säugling.
Bei Bancroft (1985) findet man zum Geschlecht acht verschiedene Ebenen, auf denen sich dieses manifestieren kann. Unterschieden wird die chromosomale Ebene, die Keimdrüsen, das Endokrinsystem, die inneren und äußeren Geschlechtsorgane, die sekundären Geschlechtsmerkmale, die geschlechtstypische Differenzierung des Gehirns und das Zuweisungsgeschlecht bei der Geburt.
Was aber bedeutet es, eine Frau zu sein oder ein Mann? Bei anfänglichen Überlegungen kommt eine befragte Person auf den Verhaltensaspekt. Frauen und Männer handeln und verhalten sich unterschiedlich. Warum? Sie wurden unterschiedlich erzogen, lautet eine mögliche Antwort. Und weil sie als Kinder Erwachsene beobachtet haben. Ihre Eltern und andere weibliche und männliche Wesen haben ihnen vorgelebt, welche Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Bandura (1976) nannte diese Art des Aneignens von Handlungs- und Verhaltensweisen Soziales Lernen.
Neben der Theorie des sozialen Lernens nach Bandura bestehen noch einige andere Ansätze, die die Entwicklung der Geschlechtsidentität erklären wollen. Unterschieden werden biologische Ansätze, die chromosomale, hormonelle und neuronale Grundlagen zur Entwicklung der Geschlechtsidentität annehmen. Hierher gehört ebenfalls die Betrachtung evolutionärer Aspekte. Weiter gibt es einen sozialisationstheoretischen Ansatz, der von der Annahme ausgeht, dass geschlechtstypische Eigenschaften erlernt werden. Dieser Ansatz untergliedert sich in die Bekräftigungs- […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7078
Eckstein, Peter: Wie alte Menschen auf die Entwicklung ihrer sexuellen Identität
zurückblicken
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Braunschweig, Technische Universität, Diplomarbeit, 2002
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http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Die Wirklichkeit eines anderen Menschen
liegt nicht darin, was er dir offenbart,
sondern in dem, was er dir nicht offenbaren
kann.
Wenn du ihn daher verstehen willst, höre
nicht auf das, was er sagt, sondern vielmehr
auf das, was er verschweigt.
Khalil Gibran

Inhaltsverzeichnis
1. Gliederung der Arbeit. ...1
1.1. Einleitung.
...2
1.2. Sexuelle
Orientierung.
...5
1.2.1. Sexualität im Alter. ...8
1.3. Gedächtnis-Modelle.
...11
1.3.1. Autobiographische Erinnerung. ...14
2. Theoretische Basis. ...17
2.1. Erklärungsansätze zur sexuellen Orientierung. ...17
2.1.1. Psychoanalytische Perspektive. ...17
2.1.2. Soziale Lerntheorie zur Entwicklung der sexuellen
Orientierung. ...21
2.1.3. Sozialpsychologischer Ansatz oder Sexualität als soziales
Konstrukt. ...22
2.1.4. Biologischer Erklärungsansatz. ...25
3. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse. ...30
3.1. Vorüberlegungen
und
Vorerfahrungen. ...30
3.2. Grundlagen
qualitativer Verfahren. ...32
3.2.1. Vergleich quantitativer und qualitativer (verbaler) Daten. ...33
3.3. Begründung des methodischen Vorgehens. ...36
3.3.1. Erhebungsverfahren. ...37
3.3.1.1. Aufbau des verwendeten Leitfadens. ...38
3.4. Gesprächsverlauf und ­atmosphäre. ...42
3.5. Untersuchungspersonen.
...43
3.6. Durchführung der Interviews. ...45
3.7. Datenaufbereitung.
...46
3.8. Datenauswertung.
...46
3.9. Zu den einzelnen Interviewpartnerinnen. ...50
3.9.1. Das Kategoriensystem. ...105
4. Diskussion. ...126
5. Zusammenfassung. ...155
6. Literaturverzeichnis. ...156

1
1.Gliederung dieser Arbeit
Kapitel 1 besteht aus der Einleitung, die mit den Grundbegriffen, die
hier verwendet werden vertraut machen soll und zum Überblick dient.
Im Kapitel 2 wird zusammenfassend die Befundlage innerhalb der
Literatur zur sexuellen Orientierung etwa der letzten zwanzig Jahre
dargestellt, was notwendigerweise nach einer Definition dieses
Begriffes verlangt und dort ebenfalls erfolgt.
In Kapitel 3 beginnt der methodische Teil. Dort soll begründet werden,
weshalb das Leitfaden-Interview zu diesem Thema das angemessene
Erhebungsverfahren ist, oder welche anderen Vorgehensweisen der
Erhebung noch möglich gewesen wären. Der Erhebung und
Aufbereitung der Daten folgt die Auswertung: qualitative oder
quantitative Auswertung? Eine vergleichende Betrachtung.
Außerdem soll noch gezeigt werden, welche Probleme bei der Interview
­methode auftreten können und aufgetreten sind.
Im Kapitel 4 schließlich kommen die Ergebnisse und deren Diskussion
zur Sprache.
Kapitel 5 ist der Zusammenfassung vorbehalten.
Die Begriffe Probandin und Befragte werden in dieser Arbeit synonym
verwendet.

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1. 1.Einleitung
Fragt man eine Frau oder einen Mann, woher sie wissen, Mann oder
Frau zu sein, löst der Fragende möglicherweise Erstaunen oder
Verwunderung aus. Denn: Als Mädchen oder Junge ist der oder die
Befragte zur Welt gekommen. So könnte lapidar die Antwort sein. Nach
den äußeren Geschlechtsmerkmalen wird das neugeborene Wesen
Mensch in weiblich oder männlich eingestuft. In sehr seltenen Fällen
kommt laut Birbaumer und Schmidt (1999) das echte Zwittertum
(Hermaphroditismus verus) vor, bei dem männliche und weibliche
Keimdrüsen in einem Individuum vorzufinden sind.
Oder: Der Vorname wird genannt. Anna, Karen oder Melanie o. a.
Wenn ich so heiße, werde ich als Mädchen bzw. Frau angesehen und
behandelt. Als Junge bzw. Mann sieht meine Umwelt mich, falls ich
einen für dieses Geschlecht üblichen Vornamen trage. Weiter erhält
man vielleicht zur Antwort, man hatte für Jungen oder Mädchen
typisches Spielzeug, trug blaue oder rosa Kleidung als Säugling.
Bei Bancroft (1985) findet man zum Geschlecht acht verschiedene
Ebenen, auf denen sich dieses manifestieren kann. Unterschieden wird
die chromosomale Ebene, die Keimdrüsen, das Endokrinsystem, die
inneren und äußeren Geschlechtsorgane, die sekundären
Geschlechtsmerkmale, die geschlechtstypische Differenzierung des
Gehirns und das Zuweisungsgeschlecht bei der Geburt.
Was aber bedeutet es, eine Frau zu sein oder ein Mann? Bei
anfänglichen Überlegungen kommt eine befragte Person auf den
Verhaltensaspekt. Frauen und Männer handeln und verhalten sich
unterschiedlich. Warum? Sie wurden unterschiedlich erzogen, lautet
eine mögliche Antwort. Und weil sie als Kinder Erwachsene beobachtet
haben. Ihre Eltern und andere weibliche und männliche Wesen haben
ihnen vorgelebt, welche Verhaltensunterschiede zwischen den

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Geschlechtern bestehen. Bandura (1976) nannte diese Art des
Aneignens von Handlungs ­ und Verhaltensweisen Soziales Lernen.
Neben der Theorie des sozialen Lernens nach Bandura bestehen noch
einige andere Ansätze, die die Entwicklung der Geschlechtsidentität
erklären wollen. Unterschieden werden biologische Ansätze, die
chromosomale, hormonelle und neuronale Grundlagen zur Entwicklung
der Geschlechtsidentität annehmen. Hierher gehört ebenfalls die
Betrachtung evolutionärer Aspekte. Weiter gibt es einen
sozialisationstheoretischen Ansatz, der von der Annahme ausgeht, daß
geschlechtstypische Eigenschaften erlernt werden. Dieser Ansatz
untergliedert sich in die Bekräftigungs- und Imitationstheorie.
Schließlich sollen die kognitiven Ansätze ­ und hier insbesondere die
Theorie Kohlbergs ­ skizziert werden.
Doch zunächst die wesentlichen Merkmale der kognitiven Ansätze.
Kennzeichnend für die kognitiven Ansätze ist das Verständnis des
Individuums für kognitive Konstanz und besonders für die Konstanz der
Geschlechtszugehörigkeit bei sich selbst. Dabei finden Wahrnehmungs-
und Bewertungsprozesse statt. Mit anderen Worten: Das Individuum
erkennt die für das eigene Geschlecht typischen Merkmale in seiner
sozialen Umwelt und übernimmt diese, bewertet diese positiv. Die
eingehenden Informationen werden organisiert und dienen der
Entwicklung des Individuums hinsichtlich seines geschlechtstypischen
Handelns und Verhaltens. Die erwähnten Wahrnehmungs- und
Bewertungsprozesse setzen ein bereits bestehendes Niveau der
kognitiven Entwicklung voraus (Trautner, im Druck). Urteilsfähigkeit und
Klassifikationsvermögen sind notwendig.
Nun zum kognitiven Ansatz Kohlbergs.
Kohlberg differenzierte den Prozeß der Entwicklung der
Geschlechtsidentität in drei Schritte: 1) Die Wahrnehmung von

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Ähnlichkeiten zwischen der eigenen Person und geschlechtstypischen
Merkmalen anderer Personen führt im Alter von 2 bis 3 Jahren zur
Selbstkategorisierung als Mädchen oder Junge. 2) Wenn das
Verständnis der Geschlechtskonstanz zunimmt, steigert sich die aktive
Suche nach Informationen, die diese Konstanz weiter verfestigen.
Geschlechtsangemessenes Verhalten ist ein wesentlicher Faktor zur
Selbstregulierung. 3) Folge ist die selektive Nachahmung
gleichgeschlechtlicher Personen und die Identifikation mit diesen
Personen (Trautner, im Druck). Ein Junge verhält sich möglichst wie die
männlichen Wesen in seiner Umwelt und kann sich so in diesen Teil der
Gesellschaft einordnen und gleichzeitig orientieren.
Noch nicht erwähnt wurden Fälle, in denen Frauen meinen, sie seien
eigentlich männlichen Geschlechts, d.h. dem Erleben nach ein Mann,
der in einen weiblichen Körper ,,verpflanzt" wurde. So wie es ebenfalls
den Phänotyp Mann gibt, der sich jedoch dem Wesen nach als Frau
erlebt. Bei Menschen, die sich selbst als nicht geschlechtskonform
wahrnehmen, besteht oft der Wunsch nach einer operativen
Geschlechtsumwandlung.
Die Rede ist von dem Phänomen der Transsexualität. Und dabei
handelt es sich keinesfalls primär um die Lust, die Kleidung des
anderen Geschlechts zu tragen, denn für dieses Verhalten nennt die
Literatur den Terminus Transvestismus (Dilling, Mombour, Schmidt &
Schulte-Markwort, 1994). In der ICD ­10 unter der Kategorie F 64.0
eingeordnet.
Bis hierher galten die Ausführungen ausschließlich der
Geschlechtsidentität eines Individuums und der Geschlechterrolle.
Hier nun soll der Blick in Richtung sexuelle Orientierung gelenkt
werden.

5
1.2. Sexuelle Orientierung
Auch was die sexuelle Orientierung im Leben eines Menschen angeht,
so wird zunächst einmal davon ausgegangen, daß zwischen Männern
und Frauen eine ganz natürliche Polarität besteht, welche die sexuelle
Attraktion, das sich Zueinander-hingezogen-Fühlen ausmacht.
Die heterosexuelle Mehrheit scheint diese Annahme zu bestätigen. Nur
gibt es ­ um im Bild zu bleiben ­ auch Minderheiten, die homosexuelle
Partnerschaften pflegen, genauso Menschen, die bisexuell veranlagt
sind (wobei ,,veranlagt" nahe legt, Homo- und Bisexualität basiere auf
genetischen Vorgaben, was sich bis jetzt nicht nachweisen läßt; so
reden wir besser zunächst von ,,verhalten"), weil sie sexuelle
Beziehungen zum eigenen wie zum anderen Geschlecht unterhalten.
Mehr als 90% der Erwachsenen in westlichen Kulturen sind
heterosexuell. Annähernd 8% der deutschen Männer sind zu ungefähr
gleichen Anteilen homosexuell bzw. bisexuell. Von den deutschen
Frauen sind 1,6% rein homosexuell orientiert, 4,5% dagegen weisen
eine bisexuelle Orientierung auf (Bischof-Köhler, 2002).
Was ist der Grund für unterschiedliche sexuelle Orientierungen ?
Bis heute sind keinesfalls Ursachen auf genetischer, hormoneller,
hirnanatomischer, familiärer und erziehungsbedingter Ebene bekannt,
die hetero-homo- oder bisexuelle Orientierungen erklären können
(Deutsch, 2000). Bischof-Köhler (2002) spricht von einem
,,Theorienotstand", da es einerseits Theorien zur Erklärung der
sexuellen Orientierung gibt, diese jedoch anderseits bisher nur wenig
zum Verständnis dieses Fragenkomplexes beitragen konnten.

6
Pagenstecher (1993) berichtet von 16 bis 20 jährigen Schülerinnen und
Studentinnen, die sich hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung als noch
nicht festgelegt oder offen für neue Erfahrungen bezeichneten. ,,Sie
,,experimentieren" ­ zumindest gedanklich ­ mit verschiedenen Formen
und auf beiden Geschlechterseiten, wobei sie sich möglicherweise
anschließend längerfristig festlegen"(S. 22).
Auch bei älteren Menschen kommt es hinsichtlich der Kontinuität der
sexuellen Orientierung zu Veränderungen.
Eine Frau, die jahrelang in einer heterosexuellen Beziehung gelebt
hatte, begann im Alter von 50 Jahren eine intime Beziehung zu einer
anderen Frau.
Ebenfalls bei Männern läßt sich eine solche Entwicklung beobachten.
Erklären läßt sich dieses Wechselverhalten jedoch noch nicht (Deutsch,
2000 ).
Fraglich ist somit: Wie entsteht weibliche und männliche
Homosexualität?
Über die sexuelle Orientierung bestehen diverse Erklärungsansätze, die
sich verschiedenen psychologischen Theorien zuordnen lassen.
Man unterscheidet einen psychoanalytischen Erklärungsansatz, einen
lerntheoretischen Ansatz und einen biologischen Ansatz. Ferner einen
Ansatz, der hier ,,Sozialpsychologischer Ansatz" genannt werden soll;
eben dieser Ansatz ist durch eine Tendenz zur Anpassung, zur
Konformität gekennzeichnet und steht dem lerntheoretischen Ansatz
nahe. Hartmann und Heimann (1993) nennen dieses Phänomen ein
soziales Konstrukt der Sexualität. Die Gesellschaft als Instanz, die das
Individuum mit der Erfüllung ihrer Erwartung hinsichtlich Eheleben und
Nachkommenschaft konfrontiert. Sprich: Heterosexualität als Maßstab.
Was will die vorliegende Arbeit?

7
Die Aufgabe, die sich dem Verfasser stellt, ist, alte Menschen danach
zu befragen, wie sie die Entwicklung ihrer sexuellen Orientierung
sehen. Die Beantwortung möglichst geeigneter Fragen soll anschaulich
machen, wie diese Menschen ihre Eltern erlebt haben, Freundschaften
schlossen und einen oder ihre Partner kennen gelernt haben. Warum
hat eine Frau einen Mann geheiratet? Oder warum ist jemand ledig
geblieben?
Problematisch ist hier auch die Frage nach der Erinnerung einerseits,
d.h. zeigen die Befragten unverzerrte Gedächtnisleistungen.
Andererseits kann es sich als schwierig erweisen, Fragen zu stellen, die
mit Sicherheit in die Privatsphäre der Befragten zielen und darüber
hinaus sogar Intimes berühren.
Schließlich: Was sagen die gewonnen Daten über die Entwicklung der
sexuellen Orientierung bei den Befragten aus?
Im Rahmen dieser Arbeit werden Interviews durchgeführt. Die
interviewten Personen sind Frauen im Alter zwischen zweiundsiebzig
und sechsundneunzig Jahre. (In Kapitel 3 erfolgt eine Beschreibung
der Befragten).
Im Interview spielt ferner der Aspekt der Darstellung der Antworten
während des Interviews eine Rolle. Wie reagiert die Person auf die
gestellten Fragen? Was ist ihr wichtig, und was wird möglicherweise
ausgelassen?
Hier soll sich zunächst ein Überblick über Sexualität im Alter
anschließen.

8
1.2.1. Sexualität im Alter
Die Sexualität von alten Menschen ist nach Stoppe und Staedt (2001)
heute noch ein Tabuthema. Die jüngeren Menschen machen sich wenig
Gedanken über die Veränderung ihrer eigenen Sexualität im Laufe des
Lebens bis hin ins Alter. Sexuelle Kontakte zwischen alten Menschen
können sich ebenfalls nur wenige von den jüngeren Menschen
vorstellen. Mehrere Faktoren können zur Erklärung dieser Haltung
beitragen, z.B. daß Sexualität mit jugendlichen Schönheitsidealen
assoziiert wird. Alte Menschen sehen dies oft in der gleichen Weise.
Ältere Menschen, die sich einer Sexualtherapie unterziehen, kommen
auch mit den Einstellungen jüngerer Therapeuten in Berührung.
Therapeuten stellten bei der Therapie älterer Paare fest, wie es bei
ihnen selbst zur Hemmung der therapeutischen Neugier, zu fehlender
Phantasie zur Sexualität des Paares und zu Hemmungen gegenüber
den Klienten kommt (Apfel et al., 1984, zitiert nach Stoppe & Staedt,
2001). Die Ursache dafür wird in der Tabuisierung der Elternsexualität
gesehen. Kinder sind im allgemeinen von der Sexualität ihrer Eltern
ausgeschlossen.
Hoch ist auch die Schwelle alte Menschen auf ihre Sexualität
anzusprechen. Stoppe und Staedt (2001) berichten von einer eigenen
empirischen Untersuchung aus dem Jahre 1995, an der eine nicht
zahlenmäßig genannte Menge von Hausärzten im Raum Kassel
teilnahmen. Die Ärzte sollten anamnestische Fragen zu ihnen schriftlich
vorgelegten Fallgeschichten stellen. Die Fallgeschichten gab es in
weiblicher und in männlicher Form. Zusammenfassend ließ sich
ermitteln, daß nur etwa 25% der teilnehmenden Ärzte nach der
Sexualität der Patienten gefragt hatten. Entweder besteht an der
Sexualität der ,,Patienten" kein Interesse hinsichtlich der Anamnese,
oder alte Menschen und Sexualität werden nur wenig assoziiert.
Mit zunehmendem Alter des Menschen unterliegt die Physiologie der
sexuellen Reaktionen einer Veränderung.

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Masters und Johnson (1966, zitiert nach Stoppe und Staedt, 2001)
haben den Ablauf des sexuellen Reaktionszyklus bei Mann und Frau
dargestellt als die Folge von Erregungs-, Plateau-, Orgasmus- und
Rückbildungsphase. Bei älteren Menschen laufen diese
Sexualreaktionen generell langsamer ab. Außerdem verringert sich die
Dauer und die Intensität der Erregungsphase. Alterssexualität verlagert
sich von der Betonung des Koitus hin zur Betonung des Austausches
von Zärtlichkeiten.
Männer leiden unter einer Abnahme ihrer Potenz. Frauen sehen sich
mit fortschreitendem Alter weniger attraktiv und meinen, ihren Partner
nicht mehr so wie in jüngeren Jahren zu erregen.
Ein weiterer Aspekt der die Alterssexualität beeinträchtigt sind
körperliche Erkrankungen. Generell fühlen sich Frauen und Männer
hinsichtlich ihrer sexuellen Attraktivität gemindert, wenn Krankheiten
vorkommen. Schwerwiegende Auswirkungen haben Krankheiten wie
das Mammakarzinom bei Frauen, das Prostatakarzinom bei Männern.
Letzteres führt postoperativ zu Erektions- und Ejakulationsstörungen.
Dazu kommen Wirkungen und Nebenwirkungen von Therapien und
Medikamenten, die das Wohlbefinden und damit zusammenhängend
das sexuelle Erleben beeinträchtigen.
Medikamente weisen oft potenzmindernde Nebenwirkungen auf. Mehr
als 150 Generika bewirken sexuelle Störungen (Zettl & Hartlapp, 1997,
zitiert nach Stoppe & Staedt, 2001).
Auch psychische Störungen wirken sich auf die Sexualität aus.
Depressionen kommt allein schon wegen ihrer Häufigkeit eine
besondere Rolle zu. Eine Depression wirkt sich störend auf die sexuelle
Appetenz, die Erregung und den Orgasmus aus (Kokott, 1998, zitiert
nach Stoppe & Staedt, 2001). Wichtig ist hier auch die Rolle der
Psychopharmaka, die zur Therapie eingesetzt werden.

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Weitere Aspekte zum Thema Sexualität im Alter ergeben sich, wenn
man sich dem Stichwort Verwitwung und Leben im Altersheim
zuwendet.
Sehr wenig untersucht ist der Bereich der Bedeutung der Verwitwung
und deren Auswirkung auf die Sexualität im Alter. Auch ohne einen
Partner oder eine Partnerin bleiben sexuelle Interessen bestehen, nur
daß diese Interessen sich nicht mehr in gleicher Weise wie mit dem
Partner verwirklichen lassen, fanden durch eigene Befragung von
Witwern Stoppe und Radau (1992, zitiert nach Stoppe & Staedt, 2001).
Autoerotische Betätigung wird nicht als adäquate Bewältigung der
Situation gesehen (Malatesta et al., 1988, zitiert nach Stoppe & Staedt,
2001).
Die Menschen, die in Alters- und insbesondere Pflegeheimen wohnen,
sehen sich noch weiteren Problemen gegenüber. Ob verwitwet oder mit
Partnerin oder Partner im Altersheim, erscheint hier u.a. das Problem
des Mangels an Privat- und Intimsphäre. Dazu kommt eine
Beeinträchtigung der Autonomie der Bewohner.
Ein eigenes Zimmer oder Appartement, das verschlossen werden kann,
ist nicht oft vorzufinden und meist abhängig von dem Niveau bzw. der
Preisklasse der Einrichtung. Vorgegeben werden Nachtruhe und
Mahlzeiten. Das Personal betritt ohne Anklopfen die Zimmer und stört
oder verhindert sogar, daß die Bewohner sich ungezwungen fühlen.
Sexualität kann so häufig nicht stattfinden (Stoppe & Staedt, 2001).
Sich erinnern
Da in dieser Arbeit alte Menschen nach Erfahrungen innerhalb ihres
Lebens befragt werden sollen, ist die Erinnerungsleistung der Befragten
ein wichtiges Detail. Ihr Gedächtnis wird beansprucht. Wie gut gelingt
es einem beispielsweise 75 jährigen Menschen , sich an Ereignisse zu
erinnern, die das frühe Erwachsenenalter, die Pubertät oder seine

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Kindheit zur Zeit der Einschulung betreffen? Wie exakt sind die
Erinnerungen? Oder werden nur die Ereignisse erinnert, die in das
Konzept der Biographie passen, um diese als konsistent zu erleben?
1.3. Gedächtnis-Modelle
Zunächst folgt eine Darstellung über Gedächtnis-Modelle und ein
Überblick zur Funktion einzelner Gedächtniskomponenten.
Mehr-Speicher-Modell
Man unterscheidet grundsätzlich das Ein-Speicher-Modell vom Mehr-
Speicher-Modell (Kluwe, 1990).
Das Mehr-Speicher-Modell gliedert sich in einen sensorischen Speicher
(SR), in einen Kurzzeit-Speicher (KZG) und einen Langzeit-Speicher
(LZG) (Shiffrin & Atkinson, 1969).
Der SR speichert Sinneseindrücke weniger als eine Sekunde.
Im KZG halten sich die Eindrücke ca. 30 Sekunden. Das KZG dient
einerseits als Arbeitsspeicher und enthält immer das zur Bewältigung
einer Aufgabe - oder allgemein: einer Tätigkeit - nötige Wissen und die
motorischen Fähigkeiten, andererseits werden im KZG die
Informationen durch mechanische Wiederholungen und durch aktive
Bearbeitung in das LZG weitergeleitet. Das KZG bzw. der
Arbeitsspeicher wird als die Instanz der bewußten Kontrolle gesehen
(Parkin, 2000).
Einprägen und Behalten
Um dem Vergessen im KZG entgegenzuwirken, muß der präsente
Inhalt wiederholt werden (Edelmann, 1996). Mit anderen Worten: Üben
und Auswendiglernen. Das KZG kann bei einmaliger Darbietung von

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Reizen (Zahlen, Buchstaben) immer höchstens sieben Reize
aufnehmen.
Bleibt der Gedächtnisinhalt mindestens 30 Sekunden im KZG, wird er
weiter in das LZG transportiert (Bell, 1993).
Das LZG verfügt über eine sehr große Speicherkapazität, so daß
Wissen lange Zeit behalten wird (Hüppe, 1998).
Einspeicher-Modell
Beim Ein-Speicher-Modell wird das Konzept der unterschiedlichen
Verarbeitungstiefe von Wissen favorisiert (Craik & Lockhart, 1972). Bei
diesem Modell werden der sensorische Speicher und der Kurzzeit-
Speicher als unterschiedliche Ebenen des Langzeit-Speichers
betrachtet. Sinneseindrücke werden in einer Folge von einzelnen
Schritten eingespeichert. Es entsteht eine Gedächtnisspur. Das Wissen
wird in einem vernetzten System abgelegt und bei Bedarf abgerufen.
Dieses Abrufen geschieht, indem das benötigte Wissen aktiviert wird.
Aktiviert wird benötigtes Wissen in der Regel dann, wenn man sich an
Zurückliegendes erinnern will oder erinnert wird.
Im weiteren beziehen sich die Aussagen zum Gedächtnis auf das Mehr-
Speicher-Modell von Shiffrin & Atkinson (1969).
Dargestellt wurde bereits, welche Gedächtnisinstanzen (SR, KZG, LZG)
bei der Informationsaufnahme und Einspeicherung mitwirken.
Wie verhält es sich mit dem Aufbewahren (Storage) und dem Abruf
(Retrieval) von Wissen? Was ist das semantische, was das episodische
Gedächtnis?
Das LZG ist - wie bereits oben erwähnt - die Instanz, die das Wissen
dauerhaft speichert. Es können Informationen von außen sein, aber
auch eigene Gedanken, die gespeichert werden (Hüppe, 1998).

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Wie leistet das Gedächtnis die Aufbewahrung von Wissen? Bis heute
steht lediglich fest, daß man mehrere Bereiche des LZG unterscheiden
kann.
Nämlich das prozedurale Gedächtnis, das akustische Gedächtnis, das
sprachliche Gedächtnis, das Bildgedächtnis und das Gedächtnis für
Geruchseindrücke und taktile Reize. Wie diese einzelnen Komponenten
jedoch zusammenwirken, ist noch unklar (Edelmann, 1996). Birbaumer
und Schmidt (1999) sprechen von einer abgrenzbaren Gruppe von
Hirnarealen und ­prozessen, die auf Speicherung und Abruf bestimmter
Inhalte spezialisiert sind.
Die Aufteilung in ein semantisches und in ein episodisches Gedächtnis
ist von Tulving (1972) vorgeschlagen worden. Das semantische
Gedächtnis speichert alles an Sachwissen (Zahlen, Daten, Fakten
usw.), das episodische Gedächtnis Ereignisse, die die eigene
Biographie betreffen.
Wie das episodische Gedächtnis im Zusammenhang mit den
Erinnerungen an Lebensereignisse von alten Menschen zu bewerten
ist, wird weiter unten noch gezeigt.
Für die Informationsspeicherung gilt auf der physiologischen Ebene der
Befund über die Änderung der neuronalen Entladungsraten als
gesichert, soweit es das LZG betrifft (Hüppe, 1998).
Erinnern
Auf welche Weise erinnert man sich an Wissen oder Können? An den
eigenen Wohnort, den eigenen Namen oder wie man schwimmt,
braucht man sich anscheinend nicht zu erinnern ­ das ist Wissen und
Können, über das man ständig verfügt.
Wie aber steht es mit dem Tag der eigenen Einschulung oder dem
Orientieren in einer Stadt, in der man lange nicht mehr gewesen ist?
Wie findet man das scheinbar unauffindbare Notizbuch wieder? Kann

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man sich einen Kontext zur Erinnerung nutzbar machen? Gibt es
brauchbare Hinweise (Cues) auf das zu Erinnernde? In einem Fall ist
etwas nur wiederzuerkennen, z.B. eine schon einmal befahrene Straße,
im anderen Fall muß das Wissen reproduziert werden; wenn man sich
nach dem Passwort für einen PC-Zugang fragt.
Nach Roediger (1999) ist das Erinnern abhängig von einem effektiven
Hinweis (Cue). Dieser Hinweis kann interner oder auch externer
Herkunft sein. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Man kommt nicht auf
den Namen einer Person, die bekannt ist. Gelingt es, durch
Überlegungen und Assoziationen einen Kontext herzustellen, der zu
dem Namen führt, liegt ein interner Hinweis vor. Kommt man jedoch
durch ein gelesenes Wort, das dem gesuchten Namen ähnelt und so
die Erinnerung auslöst, auf den Namen, ist der Hinweis extern. Andere
Beispiele sind denkbar. Im Rahmen des Mehr-Speicher-Modells nach
Shiffrin und Atkinson ist der Arbeitsspeicher für die Aktivierung von
Gedächtnisinhalten zuständig (Anderson, 1996).
1.3.1. Autobiographische Erinnerungen
Im Zusammenhang dieser Arbeit interessiert besonders, wie die
Aussagefähigkeit autobiographischer (episodischer) Inhalte zu
bewerten ist.
Daten, die im Zuge eines Interviews erhoben werden und die die
Lebensgeschichte der Befragten betreffen, sind retrospektive Daten. Oft
liegen die Ereignisse, nach denen Fragen gestellt werden, Jahre und
Jahrzehnte zurück (siehe Aufbau des Interview-Leitfadens). Daher wird
der wissenschaftliche Wert solcher Informationen sehr unterschiedlich
eingeschätzt (Strube & Weinert, 1987). Mit Verweis auf Freud spricht
man von Verdrängen als einer besonderen Form des Vergessens,
wenn Erinnerungen als unangenehm empfunden würden, daher nicht
manifest werden. Man muß die mitgeteilten Daten wie eine schwer
kontrollierbare Fehlerquelle sehen (Strube & Weinert, 1987).

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Die Gedächtnisebene, die angesprochen ist, ist das Langzeitgedächtnis
(LZG); in einigen Publikationen wird der Terminus ,,Episodisches
Gedächtnis" oder ,,Biographisches Gedächtnis" verwendet. Beide
Begriffe beziehen sich auf das Langzeitgedächtnis.
Das LZG speichert Ereignisse im Laufe des Lebens eines Individuums.
Diese Ereignisse werden durch Erhebung zu biographischen Daten. Bei
der Befragung im Interview werden die Ereignisse wieder abgerufen ­
wenn das durch das Stellen einer Frage gelingt, d.h. die Frage als ein
Hinweis (Cue) fungiert. Interessant sind im gegebenen Zusammenhang
somit Einspeicherung (Enkodierung) und Abruf (Retrieval, Ekphorie).
Wie gut können alte Menschen (70 bis 100 Jahre) biographische
Ereignisse abrufen?
Welche Möglichkeiten hat man als Untersucher, die erhobenen Daten
auf ihre Stimmigkeit zu überprüfen? Hierbei erscheint ein Vorschlag von
Petermann (1995, zitiert nach Kruse & Schmitz-Scherzer, 1995), der
sich auf Thomae (ohne Jahresangabe) beruft, wichtig. Nämlich durch
multimodale Datenerhebungsstrategien Einschätzungen abzusichern.
Beispielsweise während der Befragung graphische Darstellungen mit
Hoch- und Tiefpunkten zeichnen zu lassen, Befragung von
Bezugspersonen und Dokumente sichten und einsehen.
Strube und Weinert (1987) äußern, daß autobiographische Inhalte
(episodisches Gedächtnis) gut behalten werden, da es sich um
Informationen handelt, die für das Individuum selbst, für das eigene
Leben von Bedeutung sind.
Bestimmte, wichtige Lebensereignisse - so Strube und Weinert (1987) -
erscheinen gegen Vergessen gefeit zu sein. Diese wichtigen
Lebensereignisse sind vermutlich besonders stark ins Gedächtnis des
Individuums eingeprägt. Der Grund dafür ist vor allem das häufige
Erinnern und darüber Nachdenken oder Reden. Jede derartige
Wiederholung - ähnlich einem Rehearsal - kommt einem
Wiedererlernen gleich.

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Doch welche Befunde liegen zu kognitiven Leistungen, besonders das
biographische Gedächtnis betreffend, vor? Gibt es Defizite bei
Erinnerungsleistungen, die die Verwertbarkeit von erfragtem Material
einschränken?
Hüppe (1998) spricht das Allgemeine Leistungsdefizitmodell an und
berichtet weiter, daß alterskorrelierte Leistungsdefizite sich bei der
Erfüllung von Geschwindigkeitsleistungen (Reaktionsmessung) und
komplexen kognitiven Prozessen (geteilte Aufmerksamkeit, Interferenz)
feststellen lassen. Langzeitgedächtnis, Vigilanz, Konzentration und
Sprache sind weniger oder gar nicht beeinträchtigt.
Das biographische Gedächtnis ist vom Vergessen betroffen. Je länger
ein Ereignis zurückliegt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, sich nicht
daran zu erinnern (Strube & Weinert, 1987). Doch wie weiter oben
bereits erwähnt, sind wichtige Lebensereignisse einem Vergessen nicht
ausgeliefert. Beispielsweise der Beginn der Schulzeit, Übergang in die
Ausbildung, das Kennenlernen der Partnerin / des Partners,
Eheschließung und Elternschaft.
Der Interview-Leitfaden, der die Daten zu dieser Arbeit erhebt, soll
möglichst durch seine Fragen biographisches Wissen aktivieren. Die
Fragen betreffen Ehe und Partnerschaft, Pubertät und Eltern,
Geschwister und Schule sowie die Zeit des Kleinkindes. Es wird
vermutet, daß diese Stichworte bei den Befragten Erinnerungen
auslösen, da ,,sensible" Bereiche angesprochen werden.
Fragestellung
-
Welche Lebensereignisse kennzeichnen die sexuelle Orientierung?
-
Lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den
Probandinnen erkennen?

17
2. Theoretische Basis
Definition des Begriffs ,,Sexuelle Orientierung"
Dieser Begriff sagt aus, welche Präferenzen ein Individuum bezüglich
der Wahl eines Sexualpartners setzt.
Ein Mensch kann sich hetero-, homo- oder bisexuell verhalten und so
seiner sexuellen Orientierung Ausdruck verleihen.
Bancroft (1985) fügt dieser ersten, groben Kategorisierung noch weitere
hinzu: Die körperliche Erscheinungsform spielt eine Rolle (Statur,
Augen- und Hautfarbe etc.), das Alter und emotionale Merkmale,
seltener Körperbewegungen und Verhaltensweisen eines Menschen zu
dem sich Individuen jeder sexuellen Orientierung hingezogen fühlen.
Ausgeschlossen werden in dieser Arbeit alle Kategorien, die in der
ICD­10 Verwendung finden. Hierbei handelt es sich um
Verhaltensweisen, die der Literatur nach den Rang einer psychischen
Störung haben. Gemeint sind hier die Eintragungen unter F 65.0 bis
F 65.9 (Dilling, Mombour et al., 1994).
2.1. Erklärungsansätze zur sexuellen Orientierung
2.1.1. Psychoanalytische Perspektive
Als psychoanalytischer Ansatz wird hier die Perspektive Freuds in ihren
Grundzügen dargestellt. Neben oder nach Freud haben auch andere
Psychoanalytiker ­ beispielsweise Erikson ­ Beiträge zu diesem Thema
erbracht, die mehr oder weniger explizit von sexueller Orientierung
sprechen. Freud hat das Thema sexuelle Orientierung aber im Rahmen

18
seiner fünf Phasen der psychosexuellen Reifung am deutlichsten
dargestellt, daher wird seine Theorie hier gezeigt.
Freud hat sich in seinen Arbeiten mit der menschlichen
Triebentwicklung und - dazugehörig ­ mit der Entwicklung der Affekte
beschäftigt ( Trautner, 1991).
Fünf Entwicklungsphasen der psychosexuellen Reifung (vgl.
Triebentwicklung) wurden von Freud unterschieden. Diese Phasen sind
Anteile der Ich-Reifung, an deren Anfang das Lustprinzip steht und die
mit der Ausbildung des Realitätsprinzips enden.
Der reife Erwachsene lebt nach dieser Theorie nach dem
Realitätsprinzip (Trautner, 1991).
Die fünf Entwicklungsphasen sind: a) die orale Phase, Geburt bis 1,0
Jahr,
b) die anale Phase, 1;0 bis 3;0 Jahre, c) die phallische Phase, 3;0 bis
6;0 Jahre.
d) die Latenzphase, 6;0 bis 11;0 Jahre, e) die genitale Phase, 11;0 bis
20;0 Jahre.
Von besonderem Interesse für die Entwicklung der sexuellen
Orientierung aus psychoanalytischer Sicht ist die phallische Phase.
Es wird angenommen, daß sich in dieser Zeit ( phallische Phase) die
sexuelle Orientierung herausbildet. Die in der Literatur vorgefundenen
Befunde und Begriffe sind jedoch nicht einheitlich.
Freud hat den Begriff der Geschlechtstypisierung verwendet und diesen
Begriff gleichgesetzt mit der Übernahme der Geschlechtsrolle und der
Festlegung der sexuellen Orientierung. Zeitlich ist diese einzuordnen in
das Alter von 3;0 bis 6;0 Jahren ( Trautner, 1991 ).

19
Unterschiedliche Entwicklung bei Jungen und Mädchen
Ein Junge richtet seine sexuellen Triebregungen auf die eigene Mutter.
Es kommt zur Rivalität mit seinem Vater. Das ist die Konstellation des
Ödipuskomplexes. Da der Junge mit seinem Vater nicht konkurrieren
kann, gibt er sein sexuelles Begehren gegenüber seiner Mutter auf und
wandelt dieses Begehren in Zärtlichkeit um. Dieses Begehren der
Mutter ist die früheste Ausprägung der heterosexuellen Orientierung bei
einem Jungen. Während der Pubertät beginnt der junge Mann dann,
sexuelle Beziehungen zum anderen Geschlecht herzustellen ( Trautner,
1991 ).
Homosexualität entwickelt sich nach Freud, wenn ein Vater von seinem
Sohn nicht als männliches Modell gesehen wird, bei häufiger
Abwesenheit, oder wenn der Vater nicht bedrohlich genug erscheint
(Trautner, 1991).
Der oben dargestellte Vorgang der psychosexuellen Entwicklung ist
tatsächlich komplexer. Nicht erwähnt wurde die Kastrationsangst des
Jungen und die Bedeutung des Vater bei der Bildung des Über-Ichs.
Ein näheres Wissen über diese beiden Begriffe trüge jedoch nichts
Wesentliches zum Verständnis der Entwicklung der sexuellen
Orientierung bei. Hier soll lediglich ein Überblick gegeben werden.
Beim Mädchen richtet sich das Begehren auf den Vater. Die Mutter wird
zur Rivalin, der das Mädchen unterlegen ist. In dieser Situation fürchtet
das Mädchen den Verlust der liebenden Zuwendung durch die Mutter.
Anders als der Junge (Ödipuskomplex) überwindet das Mädchen
diesen Verlust nicht, sondern verdrängt diese Erfahrung (Trautner,
1991 ).

20
Eine Mutter muß für die Tochter ein feminines Modell sein, damit diese
sich mit der Geschlechtsrolle (heterosexuelle Orientierung)
identifizieren kann.
Auch hier ist ­ wie schon bei der Entwicklung des Jungen ­ der
gesamte Prozeß des Erwerbs der sexuellen Orientierung komplexer.
Die skizzenhafte Darstellung soll jedoch auch hier für ein Verständnis
genügen.
Für die Bildung der sexuellen Orientierung bei beiden Geschlechtern ist
grundlegend die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil.
Diese Identifikation wird nach Trautner (1991) durch die Bewältigung
des Ödipuskomplexes geleistet.
Reinelt (1989) unterstreicht, daß sich schwerwiegende Folgen für
spätere heterosexuelle Beziehungen ergeben, wenn das Kind
hinsichtlich seiner Triebansprüche an den gegengeschlechtlichen
Elternteil gebunden bleibt und die Identifikation mit dem
gleichgeschlechtlichen Elternteil unterbleibt.
Bemerkenswert bei Freud ist die Annahme einer Störung der sexuellen
Orientierung, wenn diese nicht zur Heterosexualität führt, d.h. verhält
sich ein Individuum erkennbar homosexuell, liegt eine Störung vor.

21
2.1.2. Soziale Lerntheorie zur Entwicklung der sexuellen
Orientierung
In der vorliegenden Literatur wird im Zusammenhang mit der sozialen
Lerntheorie nicht ausdrücklich von der Entwicklung der sexuellen
Orientierung gesprochen, sondern der Begriff der
Geschlechtstypisierung verwendet.
Die Entwicklung der Geschlechtstypisierung eines Individuums wird den
geschlechtsbezogenen Erziehungmaßnahmen und der Verhaltensdiff-
erenzierung der sozialen Umwelt zugeschrieben (Mischel, 1966a,b,
1970, zitiert nach Trautner, 1991). Intra- sowie interindividuelle
Veränderungen und Unterschiede sind erlernt. Wenn die soziale
Umwelt die Geschlechtszugehörigkeit nicht zur Grundlage von
Verhaltenskontingenzen machen würde, bliebe die Differenzierung in
geschlechtstypisches Verhalten des Individuums aus (Trautner, 1991).
Mit anderen Worten: Mädchen werden ihrem Sexus nach von ihrer
sozialen Umwelt, von ihren Bezugspersonen behandelt. Ihnen werden
im Regelfall Kleider angezogen, sie bekommen für Mädchen typisches
Spielzeug, nicht selten Puppen und Puppenwagen, um sie bewußt oder
unbewußt auf ihre spätere Mutterrolle vorzubereiten. Sie dürfen weinen
und offen überhaupt Gefühle zeigen.
Anders die Jungen: Kleidung und Spielzeug wird auch hier oft
geschlechtstypisch gegeben. Jedoch erwartet man von Jungen ein
anderes Verhalten, nämlich ein eher aggressives Verhalten beim
Durchsetzen eigener Bedürfnisse, lauteres Auftreten als Mädchen,
insgesamt und pauschal eine Tendenz zur Dominanz.
Wichtig hierbei ist die Wirkung des Lernens durch Nachahmung bzw.
des Lernens am Modell. Weibliche und männliche Modelle wirken durch
ihr Verhalten auf Mädchen und Jungen (Tausch & Tausch, 1973, zitiert
nach Edelmann, 1996).

22
Mit der obigen Skizzierung ist allerdings nur etwas über das Verhalten
der Geschlechter in allgemeinen sozialen Situationen und über den
Interaktionsstil bei weiblichen und männlichen Individuen gesagt
worden. Nichts deutet darauf hin, von hier aus auf den Erwerb einer
sexuellen Orientierung schließen zu dürfen. Der sozialen Lerntheorie
kann nur ein eingeschränkter Erklärungswert hinsichtlich der sexuellen
Orientierung zugestanden werden.
Wirkung von Angst
So sei hier nochmals auf einen Beitrag von Bancroft (1985) hin-
gewiesen, der möglicherweise anschaulich macht, wie Lernerfahrung
wirken kann.
Angst, die in Verbindung mit sexuellen Aktivitäten auftritt - gemeinsam
mit einem Menschen oder mit sich allein -, ist geeignet, diese sexuellen
Aktivitäten zu mindern oder ganz zu unterdrücken. Angst muß hier
insbesondere im Kontext der Beziehung zum gegengeschlechtlichen
Elternteil und der dazu gehörenden sexuellen Anteile betrachtet
werden. Hat ein Junge aus irgendeinem Grund gelernt, die sexuellen
Inhalte seiner Beziehung zur Mutter zu fürchten, wird er später
möglicherweise sexuelle Beziehungen, die seiner einstigen
Mutterbeziehung ähnlich sind, zu vermeiden suchen oder den seiner
Mutter ähnlichen Typ Frauen distanziert sehen. Letztlich werden
heterosexuelle Beziehungen möglicherweise ganz vermieden.
2.1.3. Sozialpsychologischer Ansatz oder Sexualität als soziales
Konstrukt
Im Zentrum der Perspektive von Hartmann und Heimann (1993) steht
die Heterosexualität als ein insbesondere den Frauen aufgezwungenes
Verhalten. Die Autorinnen stellen in Frage, ob es die freie Wahl der
sexuellen Orientierung gibt ­ insbesondere für Frauen. Nicht für jedes

23
Individuum, doch für eine wesentliche Anzahl. Die Autorinnen
betrachten die sexuelle Orientierung in der gleichen Weise wie die
sozialen Konstrukte für weibliches und männliches Verhalten.
Heterosexualität ist somit die Erfüllung einer Norm, die durch eine
männlich geprägte Gesellschaft vorgegeben wird.
Eben diese Norm wirkt, indem den Mädchen heterosexuelle
Liebesromantik vorgelebt wird, um sie so früh wie möglich mit ihren
Gefühlen der Liebe ausschließlich auf Jungen und Männer
auszurichten. Dazu kommen die Klischees der traditionellen
Liebesheirat, wie sie in Unterrichtsmaterialien, Liebesromanen und
Mädchen- und Jugendzeitschriften dargestellt werden.
Diese Norm bewirkt ebenso, daß ,,Mädchen Verliebtheitsgefühle meist
nur gegenüber Jungen und Männern entwickeln und zulassen, daß sie
ihre vorrangigen Freundschaften zu Mädchen hintenanstellen und sich
mehr und mehr über ihre Beziehungen zu Jungen und Männern
identifizieren" (Hartmann & Heimann, 1993, S. 24).
Zentral bei diesem Erklärungsansatz ist die durch männliche
Bedürfnisse erzeugte Norm, die auf die weibliche Sozialisation Einfluß
nimmt und gemäß den Autorinnen von den männlichen Mitgliedern der
Gesellschaft auch durchgesetzt wird, um Frauen unter die Verfügung
von Männern zu stellen. Verfügt wird so über die Frau als Sexualobjekt.
So kommt es zur Zwangsheterosexualität (Hartmann & Heimann,
1993).
Es geht nicht um die Ablehnung heterosexueller Beziehungen, sondern
es soll gezeigt werden, daß Möglichkeiten zu einer freien Wahl der
Partnerschaft (den Frauen) fehlen (Hartmann & Heimann, 1993).
Dieser Erklärungsansatz konzentriert sich auf die sexuelle Orientierung
von Frauen und die Zwänge, die auf den Erwerb der sexuellen
Orientierung ebenda wirken. Die Basis der Argumentation ist die

24
Annahme einer Gesellschaft, in der Männer die Definitions- und
Normierungsgewalt innehaben. Eine patriarchale Gesellschaft also.
Bleibt die Frage, ob die skizzierten Sozialisationsbedingungen auch auf
männliche Angehörige der Gesellschaft wirken. Denn in den
Ausführungen von Hartmann und Heimann kommt nur die erzwungene
Heterosexualität bei Frauen zur Sprache. Die Autorinnen lassen offen,
ob dieser Ansatz auch auf Männer angewendet werden kann.
Außerdem läßt diese Perspektive außer acht, daß die sexuelle
Orientierung sich möglicherweise bereits vor Einsetzen der Pubertät
entwickelt.
Reinelt (1989) bestätigt, daß gesellschaftliche und kulturelle
Bedingungen ,,gestaltend" auf die zwischenmenschlichen Beziehungen
und die psychosexuelle Entwicklung wirken. Daneben variiert und
modifiziert die herrschende Gesellschaftsform den individuellen
Entwicklungsprozeß.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang eine nähere Betrachtung
des Matriarchats, sozusagen ein Vergleich zwischen patriarchaler und
matriarchaler Gesellschaftsform und die möglichen Folgen für die
Entwicklung der sexuellen Orientierung insbesondere bei Frauen.
Schließlich darf man nicht übersehen, daß die Ausführungen von
Hartmann und Heimann auf den Aussagen von Frauen beruhen, die
dezidiert feministische Gedanken vertreten, also zu Männern ein
kritisches Verhältnis haben.
Schwerer noch wiegt jedoch der wissenschaftliche Status, den der
Beitrag der Autorinnen hat: hier wird mit Behauptungen, die den
Aussagen einzelner Personen entstammen, operiert. Es fehlen
empirische Belege. Daher ist dieser Beitrag einerseits wichtig, aber
bedarf andererseits in der Betrachtung stets einer kritischen Distanz.

25
2.1.4. Biologischer Erklärungsansatz
Gene als bestimmender Faktor
Unsere genetische Ausstattung bestimmt, ob und wie sich Merkmale im
Phänotyp manifestieren. Augenfarbe, Form der Nase und Hauttyp, um
nur wenige zu nennen, werden durch die Gene vorgegeben, und
darüber hinaus noch viele andere Details eines Organismus.
Zankl (1999) geht der Frage nach, ob es eine genetische Grundlage für
die sexuelle Orientierung geben könnte. Er verweist auf Studien an
männlichen ein- und zweieiigen Zwillingen, bei denen Homosexualität
wesentlich häufiger auftrat. Bei zweieiigen Zwillingen fand man zu 20%
Übereinstimmung bei Homosexualität. 50% Übereinstimmung fand man
bei eineiigen Zwillingspaaren. Diese große Übereinstimmung legt nahe,
daß die Gene eine determinierende Rolle bei der Ausbildung von
Homosexualität spielen (Zankl,1999).
Über Umwelteinflüsse und Sozialisierungsfaktoren findet sich jedoch
kein Beitrag bei Zankl. So kann nicht nachvollzogen werden, wie die
untersuchte Zwillingspopulation erzogen wurde, welche sozialen und
umweltbezogenen Faktoren bei der Entwicklung wirksam geworden
sind.
Auch Pinel (1997) nimmt genetische Ursachen für unterschiedliche
sexuelle Präferenzen an. Er verweist wie Zankl (1999) auf
Zwillingsstudien, die von Baily und Pillard (1991, zitiert nach Pinel,
1997) durchgeführt wurden. Die Zahlenangaben (in Prozent) von Zankl
(1999) werden bestätigt, sonst jedoch ebenfalls keine weiteren
Angaben darüber gemacht, ob die Sozialisationsbedingungen der
untersuchten Population hinsichtlich der Vergleichbarkeit überprüft
wurden.

26
Pinel (1997) weist jedoch schließlich darauf hin, daß die Befunde der
Zwillingsstudie nicht überbewertet werden dürfen, da es keine 100 %
Übereinstimmung bei der Homosexualität und den homozygoten
Zwillingen gebe. D.h. man darf die sexuelle Präferenz nicht nur einer
genetischen Basis zuordnen.
Ferner bezieht sich nahezu die gesamte Erforschung der menschlichen
Homosexualität auf Männer (Pinel, 1997).
Bischof-Köhler (2002) weist darauf hin, daß noch eine weitere
Möglichkeit zur Erklärung der homosexuellen Orientierung besteht. Und
zwar könnte ein Gendefekt bestehen, der verhindert, daß bestimmte
Rezeptorzellen in einer sensitiven Phase der Entwicklung Androgene
aufnehmen, und dies könnte dann verursachen, daß sich zerebrale
Strukturen abweichend ausbilden, die für die sexuelle Orientierung
relevant sind.
Pränatale Hormonwirkung
Als erster Hormonforscher hat Dörner (1988, zitiert nach Bischof-
Köhler, 2002) eine Beziehung zwischen Homosexualität und pränataler
Hormonwirkung postuliert. Sein Ausgangspunkt war, daß das
Steuerungsprogramm für die Hormonproduktion bei männlichen
Homosexuellen eigentlich dem von Frauen entspricht.
Versuchspersonen, denen Östrogen verabreicht wurde, reagierten in
vergleichbarer Weise wie normale Frauen mit der Ausschüttung von LH
(luteinisierendes Hormon). Der Unterschied zu einer männlichen nicht-
homosexuellen Kontrollgruppe war signifikant. Dörner schloß aus
diesem Ergebnis auf eine Verweiblichung des Steuerungsprogramms
während der Fötalentwicklung. Dörners Befunde haben sich jedoch bis
heute nicht bestätigen lassen (Bischof-Köhler, 2002).

27
Hirnanatomische Unterschiede
LeVay (1991, zitiert nach Pinel, 1997) konnte nach einer Post-mortem-
Untersuchung neuroanatomische Unterschiede darstellen, die für die
sexuelle Präferenz verantwortlich sein könnten.
Er untersuchte drei Personengruppen: heterosexuelle Frauen,
heterosexuelle Männer und homosexuelle Männer. LeVay fand in
seinen Untersuchungen bei heterosexuellen Männern einen mehr als
doppelt so großen Dritten interstitiellen Nucleus des anterioren
Hypothalamus (INAH 3) als bei heterosexuellen Frauen. In dieser
hirnanatomischen Differenz vermutet er eine Beziehung zum typisch
männlichen Sexualverhalten und nimmt an, daß sie auch mit der
sexuellen Orientierung zu tun haben könnte. Weiter fand er, daß der
INAH 3 der heterosexuellen Männer auch mehr als doppelt so groß ist
wie bei homosexuellen Männern (Pinel, 1997). Dieser Befund wird von
Bischof-Köhler (2002) bestätigt.
Jedoch müssen hier noch weitere Untersuchungen folgen. Erstens muß
die Untersuchung durch andere Forscher noch repliziert werden, und
zweitens ist der Kausalzusammenhang zwischen Homosexualität und
der Größe des INAH 3 unklar. Ferner bestätigte LeVay den hohen
Anteil an homosexuellen Männern in seiner Untersuchung, die an AIDS
verstorben waren. Es ist nicht sicher auszuschließen, daß die AIDS-
Erkrankung zu den genannten hirnanatomischen Veränderungen führt.
Weibliche Homosexualität
Die meisten Untersuchungen zur Frage nach der Ursache von
Homosexualität basieren auf Erhebungen an männlichen Probanden.
Untersuchungen über weibliche Homosexualität und deren Ursache(n)
haben erst in den letzten Jahren ein stärkeres Interesse gefunden.

28
Dörner (1988, zitiert nach Bischof-Köhler, 2002) nahm fötale
Androgenisierung an, die weibliche Homosexualität verursacht. Diese
Annahme liegt auf derselben Ebene wie der oben bereits erwähnte
Einfluß von pränatalen Hormonen. Allerdings könne bei den
untersuchten Probandinnen nicht von tatsächlicher Homosexualität
gesprochen werden (Bischof-Köhler, 2002). Vielmehr zeigte sich bei
dieser untersuchten Gruppe eine Tendenz zu häufigeren bisexuellen
und homosexuellen Phantasien als eine Kontrollgruppe (Dittmann et al.,
zitiert nach Bischof-Köhler, 2002).
Weiter berichtet Bischof-Köhler über eine Untersuchung von Meyer-
Bahlburg und Mitarbeitern (1995), die die Wirkung von Östradiol auf
bestimmte Rezeptoren im Gehirn erforscht haben. Östradiol hat eine
Wirkung auf das männliche Sexualverhalten, die bei Frauen nicht
vorkommt, da die Wirkung von Östradiol sich nur in einer begrenzten
zeitlichen Phase der Fötalentwicklung entfaltet und eine bestimmte
Ouantität vorhanden sein muß.
Eben diese Quantität war vorhanden bei Frauen, die während der
Schwangerschaft mit Diethylstilbestrol (DES) behandelt wurden. DES
wirkt auf das fötale Gehirn wie Östradiol. Unter diesen Bedingungen
kann sich bei weiblichen Föten das Gehirn so entwickeln wie man es
sonst nur bei männlichen Föten findet. Die Frauen müßten sich dann
verhalten wie Männer, die weibliche Sexualpartner präferieren, oder
aber bisexuell sein (Bischof-Köhler, 2002).
Ob dies zutrifft, wurde von Meyer-Bahlburg et al. (1995; zitiert nach
Bischof-Köhler, 2002) an einer Gruppe von DES-Vpn untersucht.
Die Untersuchungsgruppe wies eine signifikant höhere Ausprägung der
Homosexualität auf als eine Kontrollgruppe. Hochsignifikant war die
Ausprägung bei den Merkmalen Tagträume, Träume und sexuelle
Erregbarkeit.
Soweit die von Meyer-Bahlburg et al. gefundenen Werte bei der
Untersuchung: Tatsächlich zeigte sich bei den Vpn, daß nur ein
geringer Anteil dieser Frauen auch homosexuell lebt.

29
Gegenwärtig steht eine Untersuchung an homosexuellen Männern noch
aus, die zeigen soll, ob hier ein Mangel an Östradiol während der
Fötalentwicklung vorlag (Bischof-Köhler, 2002).
Momentan scheinen die Ergebnisse der Hirn- und der
Hormonforschung in Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung
den Weg zu weisen, da auf diesen Gebieten noch Kenntnislücken
bestehen, die zu weiterer Forschung anregen. Weitere Forschung kann
zeigen, ob die hirnanatomischen Unterschiede tatsächlich
entscheidend sind für die sexuelle Orientierung oder diese Annahme
entkräften. Gleiches gilt für die Befunde der Hormonforschung.

30
3. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse
3.1. Vorüberlegungen und Vor-Erfahrungen
Was das methodische Vorgehen betrifft, soll in dem folgenden Kapitel
die Auswahl des Erhebungsinstruments erläutert und begründet
werden. Dazu kommen Ausführungen über qualitative und quantitative
Ansätze zur Auswertung und die Begründung für das Vorgehen bei
dieser Untersuchung.
Nachdem das Thema zu dieser Arbeit feststand, erhob sich fast
gleichzeitig die Frage, wie die Daten (in diesem Fall die Mitteilungen der
Befragten) zu erheben sind. Es gibt diverse Möglichkeiten: den
Fragebogen, das telefonische Interview, das persönliche (face to face)
Interview, die Briefbefragung u.a.
Und natürlich: Bevor man ein Interview (gleich welcher Art) zum Thema
,,Entwicklung der sexuellen Orientierung" führt oder einen Fragebogen
zu diesem Thema verschickt, stellt sich die Frage, wer befragt werden
soll und wie man zu geeigneten Interviewpartnern und ­partnerinnen
kommt. Wie läßt sich der (erste) Kontakt herstellen? Personen im Alter
ab 70 Jahren sollten befragt werden. Diese Personen durften bezüglich
ihrer kognitiven Leistungen keine Störungen (Demenz) aufweisen.
Zunächst bot es sich an, eine aus vier Frauen bestehende Stichprobe
zu befragen, da zu diesen leicht Kontakt hergestellt werden konnte.
Vier Einzelfallstudien hätten erarbeitet werden können. Jedoch kann
man bei N = 4 mit statistischen Verfahren keine nennenswerten Effekte
oder Zusammenhänge darstellen. Darüberhinaus ist von Interesse,
wieviele befragte Frauen ähnliche Erfahrungen berichten, d.h. ob sich
Muster oder ,,Leitmotive" abzeichnen. Die Stichprobe mußte also größer
werden. (Männer in diesem Alter zeigten sich von vornherein nicht zu
einem Interview bereit). Die oben bereits erwähnten vier Frauen
konnten durch die Nachbarschaftshilfe Braunschweig für das Interview

31
gewonnen werden. Für weitere ­ einem Interview aufgeschlossene -
Probandinnen wurde zunächst Kontakt zu mehreren Braunschweiger
Alten- und Pflegeheimen hergestellt und auf Interesse gehofft und um
die Unterstützung der Mitarbeiter gebeten. Denkbar wäre, darüber
hinaus im eigenen Bekanntenkreis nachzufragen, bei Eltern oder
Großeltern beispielsweise.
Nun zum Interview selbst: Ein halbstrukturiertes Leitfaden-Interview
erschien als die Befragungsmethode der Wahl. Es folgte die
Generierung der Fragen. Welche Fragen sind geeignet? Dieser Arbeit
mußte eine Literaturrecherche vorausgehen. Gebraucht wurden
Materialien, die bereits einer abgeschlossenen Befragung zugrunde
liegen. Z.B. der Kinsey-Report, der Hite-Report oder Fragebögen zu
Partnerschaft und Sexualität (Marburger Einstellungsinventar zu
Liebesstilen, MEIL, von Bierhoff).
Die Durchsicht schon vorhandener Literatur sowie Fragebögen
ermöglicht einen vorläufigen Eindruck von Aufbau und Inhalt. Darauf
lassen sich oft eigene Überlegungen gründen, außerdem können
Recherchen in anderen Arbeiten die eigene Ideensammlung
(Brainstorming) anreichern.
Die Wahl des Leitfaden-Interviews deutet bereits an, daß die Methode
der Erhebung und der Auswertung eine qualitative sein wird. Daher
sollen hier Gedanken zu qualitativen Verfahren folgen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832470784
ISBN (Paperback)
9783838670782
DOI
10.3239/9783832470784
Dateigröße
829 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig – Biowissenschaften und Psychologie
Erscheinungsdatum
2003 (August)
Note
1,0
Schlagworte
alterssexualität autobiographisches gedächtnis sexuelle orientierung qualitative daten
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