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Sozialistisches Wohnkonzept und Wohnungsbau in der DDR

Das Beispiel Halle-Neustadt

©2000 Magisterarbeit 147 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen großen Zerstörungen stand in Deutschland die Frage des Wiederaufbaus der Städte im Mittelpunkt. Nach einer Phase der Wiederherstellung und Sanierung beschädigter, aber noch gebrauchsfähiger Wohnungen musste massiv über den Neubau von Wohnungen nachgedacht werden. Dieses erfolgte in einem umfassenden Sinn. Die verschiedenen Ideen und Konzepte für den Aufbau des zerstörten Landes waren sehr vielfältig und voneinander verschieden. Die Diskussionen unter Experten, Politikern und Bürgern waren sehr variantenreich. Verkürzt könnte dies als ein Streit zwischen konservativen Ideen (Heimatschutzstil) auf der einen und linken Vorstellungen (Neues Bauen) auf der anderen Seite bezeichnet werden. Die Nuancen zwischen den beiden Polen waren dabei vielfältig.
Die deutsche Nachkriegsentwicklung führte zur Teilung des Landes mit verschiedenen Gesellschaftssystemen und in der Konsequenz zu zwei deutschen Staaten.
Auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone wurde das Gesellschaftssystem nach dem Vorbild der Sowjetunion gestaltet. In wirtschaftlicher Hinsicht begann die Umgestaltung von einer, noch kapitalistischen Strukturen gehorchenden Organisation, hin zu einem planwirtschaftlichen System. Begonnen wurde mit der Verstaatlichung der industriellen Großbetriebe. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Errichtung des neuen Wirtschaftssystems war die Bodenreform, d.h. die allmähliche Beseitigung des privaten Besitzes an Grund und Boden.
Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein Ansatz zur Lösung der drängenden Wohnungsprobleme, der als sozialistisches Wohnkonzept bezeichnet wird. Dieses Konzept ist seinem Ursprung nach Eines, was unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, im kapitalistischen Wirtschaftssystem ersonnen wurde. Eine Umsetzung dieser Ansätze müsste im DDR-Wohnungsbau abzulesen sein. Die Frage lautete also: Ist das sozialistische Wohnkonzept Leitidee gewesen bzw. umgesetzte gebaute Realität geworden?
Die Urväter dieser Ideen hatten noch keine Möglichkeit der Umsetzung, weil die wirtschaftlichen und politischen Grundvoraussetzungen nicht erfüllt waren. In der DDR wurden diese Rahmenbedingungen hergestellt. Daraus ergab sich die Frage, inwieweit die Ideen jener Theoretiker der sozialistischen Wohnreform dem realen Wohnungsbau in der DDR, zugrunde lagen. Die Vermutung darüber stützt sich darauf, dass die äußeren Bedingungen - wirtschaftlich und politisch - für den Wohnungs- und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Wohnkonzepte: sozialistisch versus bürgerlich
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Die bürgerliche Wohnungs- und Sozialreform
2.3 Die Sozialistische Wohnungs- und Sozialreform
2.3.1 Die Gleichstellung der Frau
2.3.2 Die Vergesellschaftung der Wohnfunktion
2.3.3 Familie

3 Entwicklungslinien des Wohnungsbaus in Deutschland bis 1945
3.1 Das Ende der mittelalterlichen Stadt
3.2 Proletarisierung der Städte
3.3 Reaktionen und Konzeptionen
3.4 Reformbestrebungen
3.5 Sozialer Wohnungsbau
3.6 Wohnungspolitik im Nationalsozialismus
3.7 Zerstörung

4 Wohnungsbau in der DDR
4.1 Die deutsche Teilung
4.2 Die neue Republik

5 Aufbauphasen in der DDR
5.1 Enttrümmerung und Instandsetzung
5.2 Die Phase der nationalen Bautradition
5.3 Die Phase des industrialisierten Bauens
5.3.1 Entwicklungslinien
5.3.2 Unsicherheiten
5.4 Eine Technologie setzt sich durch
5.4.1 Soziologie
5.4.2 Die sozialistische Lebensweise
5.4.3 Der sozialistische Wohnkomplex
5.5 Die kompakte Stadt
5.6 Das Wohnungsbauprogramm: 1973-1990
5.6.1 Die Altstädte

6 Das Beispiel Halle-Neustadt
6.1 Plan und Umsetzung
6.2 Bauphasen
6.3 Sozialistisches Wohnkonzept
6.3.1 Gleichberechtigung
6.3.2 Vergesellschaftung
6.3.3 Die sozialistische Kleinfamilie
6.4 Leitbilder

7 Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
7.1 Ausblick

Abbildungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

1 Einleitung

Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen großen Zerstörungen stand in Deutschland die Frage des Wiederaufbaus der Städte im Mittelpunkt. Nach einer Phase der Wiederherstellung und Sanierung beschädigter, aber noch gebrauchsfähiger Wohnungen mußte massiv über den Neubau von Wohnungen nachgedacht werden. Dieses erfolgte in einem umfassenden Sinn. Die verschiedenen Ideen und Konzepte für den Aufbau des zerstörten Landes waren sehr vielfältig und voneinander verschieden. Die Diskussionen unter Experten, Politikern und Bürgern waren sehr variantenreich. Verkürzt könnte dies als ein Streit zwischen konservativen Ideen (Heimatschutzstil) auf der einen und linken Vorstellungen (Neues Bauen) auf der anderen Seite bezeichnet werden. Die Nuancen zwischen den beiden Polen waren dabei vielfältig, wie das am Beispiel Dresdens gesehen werden kann. Hier waren bei der Wiederaufbauplanung Ideen vorhanden, die ohne Rücksicht auf alte Grundrisse oder Strukturen einen kompletten Abriß des noch vorhandenen Alten und einen kompletten Neuaufbau vorsahen. Ein anderer Vorschlag sah vor, den gesamten Zentrumsbereich Dresdens als Ruinenlandschaft liegen zu lassen und der Natur zu überantworten, um Jahre später eine gigantische Grünanlage zu bekommen. Dresden selbst sollte als Gartenstadt daneben und ringsherum aufgebaut werden; Dresden-Hellerau als Leitbild vor Augen.[1] Anstelle des Beispiels Dresden könnten hier ebenso Köln, Hamburg oder Berlin stehen, wo ebenfalls verschiedenste Varianten diskutiert wurden.

Die deutsche Nachkriegsentwicklung führte zur Teilung des Landes mit verschiedenen Gesellschaftssystemen und in der Konsequenz zu zwei deutschen Staaten. Im Hegemonialbereich der Sowjetunion entstand die DDR und im Bereich der amerikanischen, französischen und britischen Besatzungszonen die BRD. Dort funktionierte die Wirtschaft nach kapitalistischen Prinzipien und politisch wurde ein demokratischer Verfassungsstaat errichtet. Auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone wurde das Gesellschaftssystem nach dem Vorbild der Sowjetunion gestaltet. In wirtschaftlicher Hinsicht begann die Umgestaltung von einer, noch kapitalistischen Strukturen gehorchenden Organisation, hin zu einem planwirtschaftlichen System. Begonnen wurde mit der Verstaatlichung der industriellen Großbetriebe. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Errichtung des neuen Wirtschaftssystems war die
Bodenreform, d.h. die allmähliche Beseitigung des privaten Besitzes an Grund und Boden. Im ersten Schritt wurden die Flächen der Großgrundbesitzer enteignet. Später wurden landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) gebildet d.h., es wurde kollektiviert. Der Privatbesitz an Grund und Boden verringerte sich somit stetig. Ohne die einzelnen Schritte hier genau aufzuführen, kam es zur zunehmenden Zentralisierung der Organisationsstrukturen. Betriebe und Produktionsanlagen wurden letztendlich zu großen Verwaltungseinheiten, Kombinate genannt, zusammengefaßt. Das politische System entwickelte sich zu einem Pseudomehrparteiensystem, da es zwar mehrere Parteien gab, aber die führende Rolle einer Partei, der SED, in der Verfassung festgeschrieben war. Faktisch entstand dadurch ein Einparteisystem. Die Legitimation dazu leitete die kommunistische Ideologie, welche die führende Rolle der Arbeiterklasse als Grundbedingung für die Errichtung einer kommunistischen, dann klassenlosen Gesellschaft, ansah. Der Übergang von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft heißt Sozialismus. Der Sozialismus war als ein Zwischenstadium beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus gedacht. Bei Marx und Engels ist dazu im Manifest der Kommunistischen Partei folgendes zu lesen: „Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[2]

Es gab nun, was den Wohnungsbau betrifft, neue Bedingungen. Engels und andere sozialistische Theoretiker waren der Meinung, daß die Wohnungsfrage (Wohnungsnot und Wohnungselend), welche durch die Industrialisierung entstanden war, nur dadurch zu lösen sei, daß man das kapitalistische Wirtschaftssystem abschafft und den privaten Besitz an Grund und Boden aufhebt. Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein Ansatz zur Lösung der drängenden Wohnungsprobleme, der im weiteren als sozialistisches Wohnkonzept bezeichnet werden soll. Dieses Konzept ist seinem Ursprung nach Eines, was unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, im kapitalistischen Wirtschaftssystem ersonnen wurde. Die Urväter dieser Ideen hatten aber keine Möglichkeit der Umsetzung, weil die wirtschaftlichen und politischen Grundvoraussetzungen nicht erfüllt waren. In der DDR wurden diese Rahmenbedingungen hergestellt. Daraus ergab sich die Frage, inwieweit die Ideen jener Theoretiker der sozialistischen Wohnreform dem realen Wohnungsbau in der DDR, zugrunde lagen. Die Vermutung darüber stützt sich darauf, daß die äußeren Bedingungen - wirtschaftlich und politisch - für den Wohnungs- und Städtebau im sich entwickelnden sozialistischen System, hinsichtlich besagter Reformideen sehr günstig gewesen und deshalb eine Umsetzung dieser Ansätze im DDR-Wohnungsbau abzulesen sein müßte. Die Frage lautet also: Ist das sozialistische Wohnkonzept Leitidee bzw. umgesetzte gebaute Realität geworden.

Der erste Abschnitt dieser Arbeit dient der Klärung der Frage, was unter dem Begriff Sozialistisches Wohnkonzept zu verstehen ist. Deshalb werden einige (nicht alle) Theoretiker und Persönlichkeiten, welche zur Diskussion und Formulierung dieser Wohnreform beigetragen haben, beispielhaft erwähnt. Diese Aufzählung dient weniger der Diskussion dieser Theorien und Vorstellungen, sondern mehr dem Nachvollzug eines Leitbildes - einer Utopie. Zur besseren Vergleichbarkeit wird ein Gegenkonzept, die bürgerliche Wohnungs- und Sozialreform, kurz vorgestellt.

Der Thematik des sozialistischen Wohnungsbaus und seiner Spezifika kann nicht auf den Grund gegangen werden, ohne eine historische Einordnung zu betreiben. Sozialistisches Bauen, zumal in der ehemaligen DDR, ist nicht im luftleeren Raum entstanden und entbehrt nicht jeglicher historischer Wurzeln. Ohne die geschichtliche, politische und industrielle Entwicklung vor Gründung der DDR darzustellen, ist eine Bewertung des DDR-Wohnungsbaus unmöglich. Daher erfolgt eine relativ ausführliche Beschreibung der Entwicklung des modernen Städtebaus von seinen Grundlagen her. Dabei reicht es aus, im frühen 19. Jh. zu beginnen, als die Industrialisierung in Europa, die Funktion und das äußere Erscheinungsbild der Städte grundlegend änderte. Innerhalb des historischen Abrisses sollen verschiedene Ansätze und Konzepte bezüglich des städtischen Wohnens diskutiert werden, welche Aufschluß über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer jeweiligen Zeit geben. Der Zusammenhang zwischen Industrialisierung, gesellschaftlichen Umwälzungen, politischen Bewegungen und Ideologien soll dabei deutlich gemacht und die sehr verschiedenen Ansätze und Umsetzungen herauskristallisiert werden. Welche dieser Ansätze im Wohnungsbau der DDR eine, und welche keine Rolle spielten, ist eine weitere Frage die hier erörtert werden soll.

Der Wohnungsbau in der DDR war gekennzeichnet durch verschiedene Paradigmenwechsel und kann in einzelne Phasen eingeteilt werden. Diese werden im vierten bzw. fünften Kapitel dieser Arbeit dargestellt und dienen als theoretischer Grundstock für die anschließende Behandlung des Beispiels Halle-Neustadt. Diese große Neubaustadt in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt Halle steht symbolhaft für die Wohnungsbaupolitik der DDR, nimmt aber - trotz ihres Experimentalcharakters - keine ausgesprochene Sonderposition gegenüber anderen Neubaugebieten der DDR ein.[3] Angesichts dieser Tatsache können Forschungsergebnisse von Halle-Neustadt auf andere Gebiete übertragen werden und umgekehrt. Es wird also stellenweise auch von anderen Gebieten beispielhaft die Rede sein. Aufgrund der administrativen Organisation der DDR als zentralistisches Macht- und Verwaltungssystem ist dies möglich. Einige Gründe für die Wahl dieses Beispiels sollen trotzdem vorgebracht werden.

Halle-Neustadt ist als echte Neugründung auf der „grünen Wiese“ zu betrachten. Sie war also anders als viele Großwohnsiedlungen der DDR nicht als Stadtrandsiedlung oder Satellit einer bereits vorhandenen Stadt, wie z.B. Berlin-Marzahn oder Leipzig-Grünau geplant, sondern ihre Gründungsväter und Planer nahmen für sich in Anspruch, eine neue sozialistische Stadt zu schaffen, welche beispielgebend für andere, noch zu verwirklichende Konzepte sein sollte.

Da an Halle-Neustadt, Baubeginn ab Sommer 1964, anders als ursprünglich geplant[4], bis Ende der 80er Jahre weitergebaut wurde, eignet sich diese Stadt auch dazu, die Phasen der DDR-Baupolitik an einem konzentrierten Standort nachzuvollziehen. Einschränkend muß dazu gesagt werden, daß die Phase der nationalen Bautradition, die stark mit der Zeit des Stalinismus verbunden ist, dabei außen vor bleibt, weil die Gründung Halle-Neustadts erst nach dieser Periode erfolgte. Die Phase der nationalen Bautradition wird im Zusammenhang mit Eisenhüttenstadt (von 1951-1961 Stalinstadt) und der Frankfurter Allee (ehemals Stalinallee) in Berlin erörtert.

Halle-Neustadt war allerdings nicht die einzige Neugründung innerhalb der DDR-Baugeschichte. Thomas Topfstedt behandelt in seinem Buch zum Städtebau der DDR unter der Überschrift „Die neuen Städte“ drei weitere solche Siedlungen. Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Schwedt/Oder.[5] Eisenhüttenstadt repräsentiert einschließlich der nicht realisierten Planungen die Entwicklungsstadien des DDR-Städtebaus vom Beginn der 1950er Jahre bis zum Anfang der 1970er Jahre.[6]

Hoyerswerda (ab 1957) ist, wie später noch gezeigt wird, Ausdruck einer eminenten Unsicherheit der Baupolitik der DDR im Umgang mit der damals neuen Technologie des Baues in Großplattenweise. Diese Stadt hat in der Baugeschichte der DDR einen bedeutenden Platz, weil mit ihr erstmalig eine ganze Stadt unter den Bedingungen des industrialisierten Wohnungsbaus projektiert und errichtet wurde.[7] Allerdings schien sie für die Frage nach dem Einfluß sozialistischer Wohnkonzeptionen auf den DDR-Neubau weniger interessant, da besagte Unsicherheiten Hoyerswerda nicht zu einer „vorbildlichen“ neuen sozialistischen Stadt machten. Selbst innerhalb der DDR-Literatur galt Hoyerswerda als Beispiel verfehlter Baupolitik.

Schwedt/Oder (ab Juni 1960) ist im Gegensatz zu Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Halle-Neustadt eigentlich keine „neue“ Stadt, „sondern blickt auf eine jahrhundertealte, nicht unbedeutende historische und städtebauliche Entwicklung zurück.“[8] Hier wurde im Prinzip die alte, im Krieg stark zerstörte Stadt Schwedt/O. grundlegend umgestaltet und erweitert. Später kamen dann noch neue Wohnkomplexe hinzu. Aber es handelt sich nicht um eine echte Neugründung.

Ein weiterer nicht unwesentlicher Grund für die Wahl Halle-Neustadts soll hier nicht verschwiegen werden. Im Gegensatz zu den anderen, schon angeführten neuen Städten, hat der Autor eine persönliche Beziehung zu Halle-Neustadt, weil er sechzehn Jahre dort lebte und deshalb verschiedene städtebauliche und sonstige Beschreibungen dieser Stadt anders nachvollziehen kann, als selbe Beschreibungen anderer Orte, die ihm lediglich aus der Literatur bekannt sind.

Die Diskussion des Beispiels Halle-Neustadt im sechsten Teil dieser Magisterarbeit wird genutzt, um die Frage der Umsetzung von sozialistischen Wohnansätzen im DDR-Wohnungsbau, die im zweiten Abschnitt vorgestellt wurden, zu klären. Dabei wird ebenfalls besprochen, welche Leitbilder aus städtebaulicher Sicht, der Planung bzw. Umsetzung dieser Neubaustadt, zugrunde lagen. Im Schlußteil der Arbeit wird neben einer Zusammenfassung der Ergebnisse ein kurzer Ausblick auf die Zukunft bzw. den Umgang mit der „gebauten DDR“ gegeben.

Eingrenzend muß gesagt werden, daß hier die interessante Perspektive des Vergleiches der DDR-Wohnungsbauentwicklung mit bundesdeutschen bzw. internationalen Entwicklungen dieses Bereiches, weitgehend unterbleibt, da dieser Themenbereich eine umfangreiche Darstellung bundesdeutscher und internationaler Entwicklungen voraussetzen würde, welcher den Rahmen vorliegender Magisterarbeit gesprengt hätte. Es gibt eine Reihe von Arbeiten die unter diesem speziellen Aspekt angefertigt wurden. Stellvertretend seien hier Frank Werner[9] und vor allem Klaus von Beyme[10] angesprochen. Letzterer stellt neben einer Reihe von Unterschieden auch deutliche Parallelen zwischen der bundesdeutschen und der DDR-Städtebaugeschichte fest.[11]

2 Wohnkonzepte: sozialistisch versus bürgerlich

2.1 Vorbemerkungen

Mit Beginn des 19. Jh. strukturierte sich die funktionale Ordnung der Städte neu. Vormals mittelalterliche Strukturen lösten sich auf und die Städte veränderten sich im Zuge der Industrialisierung nachhaltig. Die Trennung von Wohn- und Arbeitsgebieten stellte sich in diesem Zusammenhang als tiefgreifendste Veränderung dar. Im vorindustriellen Zeitalter waren die produktiven Tätigkeiten zumeist in die jeweiligen Haushalte integriert. Dies veränderte sich und führte zur reinen Wohnung, d.h. einem Ort, dessen Funktionen sich nur dem Wohnen an sich unterordnen. Es entstanden moderne Industriestädte. „In diesem Prozeß der räumlichen und zeitlichen Abspaltung von Teilen der produktiven Arbeit entsteht auch erst Wohnen im heutigen Sinn als räumliches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zur im Betrieb organisierten beruflichen Arbeit.“[12] Häußermann/ Siebel geben folgende Definition der Wohnung an:

1 . Funktional gilt die Wohnung als Ort der Nicht-Arbeit. Wohnen wird als ein von beruflicher Arbeit gereinigtes Leben der Freizeit, der Erholung und des Konsums aufgefaßt.
2 . Sozial gilt die Wohnung als Ort der Familie. Die soziale Einheit des Wohnens, der Haushalt, wird von der durch rechtliche Bindung und Blutsverwandtschaft befestigten Gruppe von Mann, Frau und ihren Kindern gebildet. Wohnung ist der Ort der Privatheit, der Intimität, die gegenüber der Öffentlichkeit deutlich abgegrenzt werden muß - Privatheit und Intimität sind bis heute Begriffe, die seit dem 18. Jahrhundert mit «Familie» gleichgesetzt werden.“[13]

Die Gesellschaft wurde zur modernen Industriegesellschaft. Mit deren Entstehung kamen auch neue Vorstellungen über die Fragen des Wohnens auf. Aufgrund der rasanten Industrialisierung entstand eine Situation, die beim größten Teil der Bevölkerung zu nachteiligen bis inakzeptablen Wohn- und Lebensbedingungen führte. Wohnungsreformer und Reformbewegungen traten auf den Plan, um auf Mißstände aufmerksam zu machen und sie zu beseitigen. Die Wohnungsfrage wurde nicht allein quantitativ bzw. qualitativ diskutiert, sondern sie galt vielen Wohnungsreformern auch als gesellschaftliche Grundsatzfrage. Die Wohnungsreformer waren der Ansicht, daß der Umgang mit der Wohnungsfrage die Zukunft der Gesellschaft entscheiden würde. „Vor allem zwei Probleme standen im Mittelpunkt dieser Debatte: Wie kann angemessener Wohnraum zu einem bezahlbaren Preis bereitgestellt werden und welche Lebensweisen sollten mit dem Wohnungsbau ermöglicht bzw. hergestellt werden? Beide Fragen waren so untrennbar miteinander verquickt, daß es richtiger ist, von einer Wohnungs- und Sozialreform zu sprechen. Die verschiedenen Argumentationslinien lassen sich auf zwei Grundpositionen reduzieren, die auf beide Fragen konträre Antworten geben; wir können sie, die Etikettierungen des 19. Jahrhunderts aufnehmend, als «bürgerliche» und «sozialistische» Positionen kennzeichnen.“[14]

Häußermann/Siebel bringen in ihrem Vergleich zwischen sozialistischen und bürgerlichen Wohnkonzepten bestimmte Strukturelemente der jeweiligen Wohnform vor, um beide voneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung dient dabei lediglich der besseren Vergleichbarkeit beider Ansätze. In der Realität ist eine solche Trennung relativ schwer möglich. Es wäre unrealistisch anzunehmen, daß das sozialistische- bzw. bürgerliche Wohnkonzept in Reinstform in der baulichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit einer vergangenen oder existierenden Gesellschaft zu beobachten ist oder war. Vielmehr gibt es unzählige Mischformen, das heißt Umsetzungen in denen Elemente beider Ansätze zu finden sind. Häußermann/ Siebel argumentieren, wie sie betonen, idealtypisch. Sie „abstrahieren zweifellos von der differenzierten empirischen Realität“ und benennen Grundzüge und Charakteristika bestimmter Wohnformen.[15] Somit wird deutlich, daß auch die Formulierung des sozialistischen Wohnkonzeptes lediglich eine Abstraktion von der Realität darstellt. Für vorliegende Arbeit ist dies aber von Bedeutung, weil das theoretische Grundgerüst, die zentralen Grundsätze der sozialistischen Wohnweise, später am Beispiel des DDR-Wohnungsbaus bzw. der Großwohnsiedlung Halle-Neustadt auf ihren Einfluß im realen Baugeschehens überprüft werden sollen. Dazu ist es notwendig, die wichtigsten Bezugspunkte der sozialistischen Theorie näher zu bestimmen. Dabei wird die Formulierung des sozialistischen Wohnkonzeptes, wie sie Häußermann/ Siebel vorgenommen haben, zugrunde gelegt. Zunächst wird aber erst einmal der Gegenpart, die bürgerliche Version des Wohnens behandelt.

2.2 Die bürgerliche Wohnungs- und Sozialreform

Die bürgerliche Wohnungs- und Sozialreform bewegte sich innerhalb der Logik einer sich entfaltenden Marktwirtschaftsordnung. Dieser Reformansatz stellte die kapitalistische Ordnung nicht in Frage, sondern entwickelte ihre Konzepte im Rahmen dieser wirtschaftlichen Struktur. Variantenreich wurden Strategien diskutiert, die die Diskrepanz zwischen den Baukosten einer Wohnung und den jeweiligen Einkommen der Arbeiterschaft verringern könnten. Die Varianten waren z.B. die Subventionierung der Kapitalkosten seitens des wohlhabenden Bürgertums oder Mietkaufstrategien von Eigenheimen im Rahmen von Baugenossenschaften. In allen Fällen war allerdings ein „generöser Finanzier aus dem philanthropischen Bürgertum“ Voraussetzung.[16] Die bürgerlichen Vorstellungen hatten einen zentralen Bezugspunkt, dessen verschiedene Varianten immer die abgeschlossene Kleinwohnung für die Familie zum Kern hatten. Als selbstverständlich in dieser Konzeption gilt die familiale Arbeitsteilung. Männer sind demnach ausschließlich auf die sog. außerhäusliche Erwerbsarbeit (Ernährerrolle) festgelegt, während sich die Frau einzig für die sog. innerhäusliche Reproduktionsarbeit (Hausfrau und Mutter) verantwortlich zeigen sollte. „Das Problem, die Männer an einen soliden Lebenswandel zu gewöhnen und die Bedingungen für eine sozial akzeptable Erziehung der Kinder zu schaffen, sollte durch die organisierende Hausarbeit der Frau gelöst werden.“[17]

Häußermann/ Siebel bezeichnen das bürgerliche Wohnkonzept als Heimatkonzept, in welchem die Wohnung als Ort der Familie zur Heimat wird. Wörtlich beschreiben die Autoren das folgendermaßen: „Die Kongruenz von Familie und Wohnung befestigt eine soziale Einheit, der in der bürgerlichen Gesellschaft sehr wichtige Aufgaben zugeschrieben werden. Die Wohnung wird zum Ort einer vorgesellschaftlichen Institution, in die die Individuen eingebettet sind, die ihnen ontologische Sicherheit vermittelt in einer gesellschaftlichen Umwelt, die ganz durch Leistungsnormen und Wettbewerb strukturiert ist. Dem Bild einer rasch sich wandelnden, von der Paradoxie einer kooperierenden Feindschaft geprägten gesellschaftlichen Umwelt wird das Idyll der Familie mit ihrer solidarischen Emotionalität gegenübergestellt. Die komplexe Gesellschaft kann nur ertragen werden, wenn es eine soziale Zelle gibt, die Identität stiftet und sichert. Dies ist die Familienwohnung - am vollkommensten realisiert im Eigenheim, wo Personen, Familie und Haus sich zur «Heimat» verschmelzen.“[18]

Eine Definition der bürgerlichen Familie wird von Häußermann/Siebel vorgelegt. Sie verstehen darunter eine „durch rechtliche Bindung und Blutsverwandtschaft gefestigte Gruppe von Mann, Frau und ihren Kindern“.[19] Mit rechtlicher Bindung ist hier die Ehe gemeint. Diese eheliche Kernfamilie galt und gilt als Idealtypus des modernen, kleinfamilialen, bürgerlichen Wohnens und ist institutionalisiert in Förderrichtlinien, Finanzierungsbestimmungen und in den Kategorien der amtlichen Statistik.[20]

Das traditionelle, bürgerliche Familienbild ist durch die familiale Arbeitsteilung geprägt, wobei Mann und Frau, wie beschrieben, klare Zuordnungen erfahren. Dieses Bild der Familie wird von Thomas Hafner[21] bekräftigt. In der Bundesrepublik entstand in der Nachkriegszeit eine Ideologie der Förderung der Familie, ausgedrückt durch die Wohnform Eigenheim bzw. des Einfamilienhauses. „Die Intention, jedem Wohnungssuchenden und seiner Familie ein eigenes Häuschen zu beschaffen, zieht sich seit dem Beginn des Werkswohnungsbaus und dem Erstarken der bürgerlichen Wohnreformbewegung durch die Entwicklungsphasen des Wohnungsbaus.“[22] Konservative Politiker der Bundesrepublik bezeichneten in den 50er Jahren z.B. das Einfamilienhaus als Bollwerk gegen den Bolschewismus und als Waffe zur Eindämmung des Kommunismus. Das private Eigentum an Grund und Boden galt demnach als tragende Säule der abendländischen Kultur.[23] Man wollte einer „drohenden Vermassung“, wie man sie in den osteuropäischen Ländern nach Bodenreform und Verstaatlichung des Privatbesitzes vermutete, entgegenwirken.[24] Die soziale Intention, welche mit der Eigenheimpolitik verbunden war, übernahm jene Zielsetzung des Werkswohnungsbaus des 19. Jh., wonach durch Eigentum die Menschen «Krisenfest» gemacht, und eine Stabilisierung der allgemeinen sozialen Verhältnisse möglich werden sollte.[25] „Die Wohnungspolitik sollte ihren Teil zur Stabilisierung der Familie beitragen. Im Kreuzfeuer der Kritik stand dabei vor allem die Kleinstwohnung im Mehrfamilienhaus, die von den konservativen Wohnungspolitikern als «familienfeindlich» abgelehnt wurde. [...] Man scheute sich nicht, diese Wohnform mit dem Mietskasernenbau des 19. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen, und betrachtete sie als Offenlegung einer verfehlten Wohnungspolitik, die bis 1945 sichtbar geblieben sei. Man griff damit auf jene großstadtfeindliche Parolen zurück, die bereits 1902 die deutsche Gartenstadtbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Die Alternative war das Familienheim, denn es«verbindet den von den Errungenschaften der Zivilisation umgebenden modernen Menschen mit der Natur und schützt ihn vor Belästigungen, Gefahren und Schäden, die unser Zeitalter der Maschinen und Menschenmassen mit sich bringt»“.[26] Die Beschreibung eines solchen Familienbildes findet sich bei Klaus-Jürgen Tillmann, wenn er beispielhaft das Milieu der Arbeiterschaft des Ruhrgebietes in den 50er Jahren beschreibt.[27] Während der Mann in der Zeche arbeitet, beschreibt Tillmann, also außerhäuslicher Berufsarbeit nachgeht, sind die Ehefrauen (fast) ausnahmslos nicht berufstätig und „versorgen Haus Kinder und Garten - und warten darauf, daß die Männer sonntags [nach Fußball und Bier d. A.] spätestens zum Abendessen wieder Zuhause sind.“[28]

2.3 Die Sozialistische Wohnungs- und Sozialreform

Die sozialistische Version der Wohnungsreform geht von umgekehrten Vorzeichen im Verhältnis zur bürgerlichen Reform aus. Während im bürgerlichen Konzept eine relative Individualisierung der Menschen intendiert ist, geht der sozialistische Ansatz vom Gegenteil aus. Hier ist der eindeutige Trend zu einer Vergesellschaftung von Lebenszusammenhängen der Menschen abzulesen. Die sozialen Beziehungen der Menschen sollen demnach vergemeinschaftet werden. Dieses System der Antiindividualisierung sollte auch auf den ökonomischen Bereich übertragen werden. Hier lautete die Prämisse, wirtschaftliche Zusammenhänge umzustrukturieren. Beispielsweise wurde propagiert, nach der Abschaffung des Privateigentums, die Industrieressourcen zu bündeln und zentralistisch zu verwalten. In der Landwirtschaft sollte kollektiviert werden, mit dem gleichen Ziel.

Es wurde bereits festgestellt, daß der zentrale Bezugspunkt beim bürgerlichen Wohnkonzept die Familie in der abgeschlossenen Kleinwohnung und wichtiger noch die klare Arbeitsteilung je nach Rollenmuster des Geschlechts war. Beim sozialistischen Wohnkonzept war der zentrale Punkt für seine Theoretiker die Gleichstellung der Frau[29]. Das heißt, die Frau sollte von der Hausarbeit befreit und wie der Mann gleichberechtigt am Erwerbssystem teilnehmen. Dieses Ziel - Gleichberechtigung der Frau - führte zu der Theorie, wonach Konzepte entwickelt werden müßten, die eine zunehmende Vergesellschaftung der Hausarbeit befördern würden. Intendiert war, eine Auflösung der Kleinhaushalte zu erreichen, welche ihrerseits eine „Professionalisierung der gesamten Reproduktionstätigkeiten“[30] notwendig machen würde. Weiterhin sollten Bau und Organisation der Einrichtungen für den außerbetrieblichen Lebensbereich ausschließlich staatliche Aufgabe sein. Das Wohnungswesen wäre dann - genauso wie Kanalisation und Straßenbau - eine Infrastrukturleistung, welche staatlich bereitgestellt wird.[31] „In den kollektiven Einrichtungen sollte außer beruflicher, professionalisierter Arbeit keine andere Form von Arbeit übrig bleiben: die Zubereitung des Essens, die Besorgung der Kleidung und die Versorgung wie Erziehung von Kindern sollten von der
Wohnung vollkommen abgetrennt und professionellen Diensten übertragen werden. Diese Konzeption der perfekten Trennung von Produktion und Konsum nahm für sich das Argument der Produktivitätssteigerung in Anspruch: mit der Professionalisierung und Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit sollte zugleich ihr Umfang geringer wie ihr Ergebnis qualitativ besser werden.“[32]

Die Institution der Kleinfamilie in der Kleinwohnung mit familialer Arbeitsteilung wurde von den sozialistischen Reformern als Hemmschuh für die angestrebte vollkommene Befreiung und Gleichstellung des Menschen angesehen, weil sich in ihr das geschlechtsspezifische Machtgefälle jeweils immer neu reproduziert.

2.3.1 Die Gleichstellung der Frau

Die Gleichstellung der Frau durch die Befreiung von der Hausarbeit, war den sozialistischen Wohnungsreformern - wie gesagt - ein wichtiges Anliegen. August Bebel schreibt dazu: „Die Entwicklung unseres sozialen Lebens geht also nicht dahin, die Frau wieder ins Haus und an den Herd zu bannen, wie unsere Häuslichkeitsfanatiker wollen, [...] sondern sie fordert das Heraustreten der Frau aus dem engen Kreise der Häuslichkeit und ihre volle Teilnahme an dem öffentlichen Leben...“[33] Zur Erwerbsfähigkeit der Frauen schreibt Bebel u.a.: „Sobald die Gesellschaft im Besitz aller Arbeitsmittel sich befindet, wird die Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne Unterschied des Geschlechts, Grundgesetz der sozialisierten Gesellschaft.“[34] W. I. Lenin schreibt 1919: „Die Frau bleibt nach wie vor Haussklavin, trotz aller Befreiungsgesetze, denn sie wird erdrückt, erstickt, abgestumpft, erniedrigt von der Kleinarbeit der Hauswirtschaft, die sie an die Küche und das Kinderzimmer fesselt und sie ihre Schaffenskraft durch eine geradezu barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit vergeuden läßt.“[35] Lenin geht sogar noch weiter und bringt die Gleichberechtigung der Frau als Bedingung zur Entwicklung hin zum Kommunismus in entscheidende Position wenn er schreibt: „Die wahre Befreiung der Frau, der wahre Kommunismus wird erst dort und dann beginnen, wo und wann der Massenkampf (unter Führung des am Staatsruder stehenden Proletariats) gegen diese Kleinarbeit der Hauswirtschaft oder, richtiger, ihre massenhafte Umgestaltung zur sozialistischen Großwirtschaft beginnt.“ Friedrich Engels schreibt, daß die Befreiung der Frau zur ersten Voraussetzung, die Wiedereingliederung des gesamten weiblichen Geschlechts, in die gesellschaftliche Produktion hat. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß die Frau von der Hausarbeit befreit werden muß.[36] „Die Befreiung der Frau von der Hausarbeit, ihre Integration in das System beruflicher Erwerbsarbeit und damit ihre vollkommene Gleichstellung mit dem Mann war [...] der zentrale Bezugspunkt der sozialistischen Theoretiker in der Tradition des utopischen Sozialismus von Owen und Fourier.“[37] Letzterer findet beispielsweise, daß die Frauen durch ihre von der Gesellschaft erzwungenen Bindungen an die beschwerlichen Funktionen von „zersplitterten Haushalten“ in ihrer geistigen Entfaltung gehindert werden. „Da eine Frau in der Zivilisation nur dazu bestimmt ist, am Kochtopf zu stehen und die Hosen des Ehemannes zu flicken, muß die Erziehung ihren Geist zwangsläufig kleiner erscheinen lassen und erreichen, daß sie zu untergeordneten Tätigkeiten wie Abschäumen der Suppe und Flicken alter Hosen bereit ist.“[38] Diese Rolle der Frau, die Fourier anprangert, gedenkt er durch einen - wie er es nennt - sozietären Zustand der Gemeinschaft zu beheben. Er meint, daß die allgemeine Verbindung aller Arbeiten die Haushaltsführung vereinfachen würde, und somit nur noch den achten Teil der Frauen, weniger als bisher, zukünftig binden würde.[39]

2.3.2 Die Vergesellschaftung der Wohnfunktionen

Fouriers Aussagen führen zu einem weiteren zentralen Punkt im sozialistischen Wohnkonzept. Denn das Fouriersche Konstrukt vom sozietären Zustand meint nichts anderes als das Wort Vergesellschaftung, welches z.B. im Sprachgebrauch der kommunistischen Theoretiker zu finden ist. Die Vergesellschaftung, spezieller die Vergesellschaftung der Wohnfunktionen steht allerdings im direkten Zusammenhang mit dem was gerade über die Gleichberechtigung der Frau gesagt wurde. Denn eine Gleichberechtigung der Frau könne laut dem wissenschaftlichen Kommunismus nur dann erreicht werden, wenn die Frau aus dem Bereich der innerhäuslichen Reproduktionsarbeit herausgelöst werden kann. Dazu müssen Hausarbeiten aus dem Intimbereich der privaten Wohnung in den Bereich der gesellschaftlichen Produktion überführt werden. Die klassischen Aufgaben der innerhäuslichen Arbeit sind: Essenszubereitung, Geschirrspülen, Reinigung der Wohnung bzw. der Kleidung und die Betreuung der Kinder. Außerdem ist die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs bzw. Lebensmitteln zumeist auch durch die Hausfrau zu erledigen. Die kommunistische Ideologie geht nun davon aus, daß ein großer Teil dieser Arbeiten gesellschaftlich organisiert werden kann und muß. Lenin schreibt dazu: „Schenken wir dieser Frage, [Der Vergesellschaftung von Hausarbeit d. A.] die theoretisch für jeden Kommunisten unbestritten ist, in der Praxis genügend Aufmerksamkeit? Natürlich nicht. Lassen wir den Keimen des Kommunismus, die schon jetzt auf diesem Gebiet vorhanden sind, genügend Fürsorge zuteil werden? Nein und abermals nein. Öffentliche Speiseanstalten, Krippen, Kindergärten - das sind Musterbeispiele derartiger Keime, das sind jene einfachen, alltäglichen Mittel, die frei sind von allem Schwülstigen, Hochtrabenden, Feierlichen, die aber tatsächlich dazu geeignet sind, die Frau zu befreien, tatsächlich geeignet sind, ihre Ungleichheit gegenüber dem Mann im Hinblick auf ihre Rolle in der gesellschaftlichen Produktion wie im öffentlichen Leben zu verringern und aus der Welt zu schaffen.“[40]

Der Architekt und Mitarbeiter der Zeitschrift des Deutschen Werkbundes „Die Form“, Ferdinand Kramer, schrieb in einem Artikel für das Blatt zum Thema der Vergesellschaftung unter anderem: „Die Zentralisierung der Bedienung, der Verpflegung, der Wäsche, der Kindererziehung kann nur Vorteile bieten gegenüber den unwirtschaftlichen Einzelhaushaltungen. Unsere heutige Küche, die nur noch Appendix ist, kann keinesfalls so großzügig und sparsam arbeiten wie die Gemeinschaftsküche“.[41] Zum soziologischen Aspekt sagt Kramer, daß der Ablauf des täglichen Lebens in der gesellschaftlich organisierten Form einen erzieherischen Aspekt habe, weil „die kollektive Lebenskameradschaft“ zu einer „gegenseitigen Hilfsbereitschaft und Disziplin“ zwinge.[42]

Im Kommunistischen Manifest läßt sich nachlesen, worin Marx/ Engels ein wichtiges Ziel der neu zu schaffenden Gesellschaft sehen, nämlich im Aufheben der alten bürgerlichen Klassengegensätze. An die Stelle jener Klassengegensätze tritt dann „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[43] Weiterhin sprechen Marx/ Engels an gleicher Stelle von „assoziierten Individuen“[44] und meinen damit eben jene Vergesellschaftung, die eine zentrale Prämisse, eine Funktionsbedingung der kommunistischen Ideologie ist. Wichtigstes Anliegen im kommunistischen System ist die Steigerung der Produktivkräfte bzw. „die Gewährleistung eines hohen Niveaus und des ununterbrochenen Wachstums der gesellschaftlichen Produktion. [...] Karl Marx schrieb über die zukünftige kommunistische Gesellschaft, daß der wahre Reichtum in der Entwicklung der Produktivkraft aller Individuen besteht und weiter, daß die Einsparung von Arbeitszeit gleichzusetzen ist mit einer Verlängerung der Freizeit, d.h. Zeit für eine allseitige Entwicklung des Individuums, die wiederum als gewaltige Produktivkraft erneut auf die Produktivkraft der Arbeit einwirkt. Vom Standpunkt des unmittelbaren Arbeitsprozesses kann diese Einsparung als Produktion von Grundkapital betrachtet werden; dieses Grundkapital ist der Mensch selbst.“[45] Die Reproduktion der Arbeitskraft des Menschen soll optimiert werden. Dafür ist es notwendig, den Menschen von unproduktiver Arbeit zu befreien. Hausarbeit gilt hierbei als unproduktivste Form der menschlichen Arbeit. Hausarbeit findet hauptsächlich innerhalb der Wohnung statt und deshalb ist sie „in erster Linie Schauplatz einer täglichen harten Arbeitsschlacht“[46] von der besonders die Frauen betroffen sind. Die marxistisch-leninistische Theorie geht nun davon aus, daß durch die Vergesellschaftung einiger Wohnfunktionen - besonders die arbeitsintensiven - zum einen die Reproduktionsfähigkeit der Werktätigen allgemein befördert und andererseits die Frauen für den außerhäuslichen Produktionsprozeß freigesetzt werden können. Silvio Macetti beschreibt den Aufwand für die Hausarbeiten in der DDR (Einkauf, Speisevorbereitung und Geschirrspülen, Wäschereinigung, Hausreinigung und Kinderbetreuung) wie folgt: „In der DDR werden für diese Arbeiten ohne Einbeziehung der Zeit für die Kinderbetreuung nach statistischen Erhebungen des Instituts für Bedarfsforschung täglich sechs bis acht Stunden pro Haushalt verbraucht (davon fast eine Stunde für den Einkauf!). Das sind täglich bis zu 45.000.000 Stunden für rund 6,5 Millionen Haushalte in der Deutschen Demokratischen Republik, jährlich also bis zu 60 Milliarden Stunden. Wenn wir diese Zeit mit der verbrauchten Zeit im gesamten Bereich der industriellen Produktion der DDR vergleichen, ergibt sich folgendes Bild: Bei 2.736.395 Beschäftigten in der Industrie im Jahre 1965 und bei rund 2000 Arbeitsstunden je Beschäftigten ergibt sich ein Jahreszeitverbrauch von rund 5,5 Milliarden Stunden. Gegenwärtig wird für den Haushalt fast die dreifache Zeit verbraucht, wie für die gesamte industrielle Produktion, die über 80% des gesamten Nationaleinkommens produziert.“[47] In ähnlicher Weise argumentiert G. A. Gradow in Bezug auf die Verhältnisse in der Sowjetunion: „Wie Untersuchungen gezeigt haben benötigen Frauen, die nicht berufstätig sind, acht bis zehn Stunden täglich für die Führung der Hauswirtschaft. Berufstätige Frauen sind über ihre Arbeitszeit hinaus täglich drei bis fünf Stunden in der Hauswirtschaft tätig und verfügen lediglich über ein bis zwei Stunden für Kulturveranstaltungen, Erholung und Sport. Lediglich 20%, d.h. 48 Minuten der für die Hauswirtschaft erforderlichen vier Stunden, werden zur Pflege der Kinder verwendet. Die restlichen 40% werden für das Reinigen der Wohnung und andere Arbeiten benötigt.“[48] Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie hoch der ökonomische „Schaden“ welcher durch Hausarbeit entsteht, eingeschätzt wird. Zur Lösung des Problems schlägt Macetti vor: „Eine sozialistische Rationalisierung des Haushaltes kann nur durch komplexe Maßnahmen im Bereich der Versorgung der Bevölkerung, durch optimale Vergesellschaftung, Konzentration, Mechanisierung und Technisierung der Haushaltsfunktionen und durch Erhöhung des gesellschaftlichen Anteiles bei der Kinderbetreuung erreicht werden. Die Wäschereinigung kann durch die Einrichtung zentraler Waschanstalten mit einem Abhole- und Lieferungsdienst [...] eine optimale Lösung finden. Die Reinigung der Wohnung wird durch eine qualitative Verbesserung der Bauausführung, der Ausrüstung und Ausstattung und möglicherweise durch die Organisation eines zentralen Reinigungsdienstes wesentlich erleichtert werden.“[49] Die wichtigsten Haushaltsfunktionen, deren Vergesellschaftung angestrebt wurde, sind zusammengefaßt Reinigung (Wäsche, Haus, Küche), Ernährung, Versorgung (Lebensmittel und andere benötigte Waren) und Kinderbetreuung (Beaufsichtigung, Erziehung, Bildung).

2.3.3 Familie

Der letzte Punkt im vorigen Abschnitt, die Organisation der Kinderbetreuung, führt zur Frage des Familienbildes, welches dem sozialistischen Wohnkonzept zugrunde lag. Im Manifest der Kommunistischen Partei sagen Marx/ Engels etwas über die Familie im Kommunismus. Zunächst beschreiben sie den Zustand der bürgerlichen Familie und worauf diese Institution beruht. „Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen Prostitution.“[50] Die bürgerliche (burgeoise) Familie würde, nach Marx/ Engels, mit dem Verschwinden des Kapitals wegfallen. An die Stelle der vormals häuslichen Erziehung tritt dann die Gesellschaftliche. Aber, so meinen Marx/ Engels, erfinden die Kommunisten nicht etwa die Einwirkung der Gesellschaft auf die Erziehung, „sie verändern nur ihren Charakter, sie entreißen die Erziehung dem Einfluß der herrschenden Klasse. Ohnehin seien die Familienbande der Proletarier infolge der Industrialisierung längst „zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt“ worden.[51] Im marxistisch-leninistischen Theorieverständnis wird die bürgerliche Familie von der sozialistischen Familie klar unterschieden. Demnach ist die Funktion der Institution bürgerliche Familie vor allem dadurch bestimmt, den Verbleib des Privateigentums in der Familie und damit in der Klasse zu sichern. Damit soll das Ausbeutersystem aufrechterhalten und seine Strukturen gefestigt werden.[52] „Dementsprechend sind auch in der bürgerlichen Familie nicht Liebe und Zuneigung das eigentliche Band der Ehe, sondern ökonomische Gesichtspunkte,“[53] wie es in der undifferenzierten und einseitigen sozialistische Definition zur bürgerlichen Familie heißt. Die Familie in der sozialistischen Gesellschaft sei hingegen bereits auf einer höheren Stufe. Sie ist eine „auf dem Gefühl der Zuneigung“ beruhende „dauerhafte Gemeinschaft.“ Die Hauptfunktion der sozialistischen Familie ist es, „einen spezifischen und notwendigen Beitrag zur allseitigen Entwicklung ihrer Mitglieder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu leisten. Insbesondere für die kommunistische Erziehung und die Charakterbildung der Kinder, ihre Erziehung zu gesunden, lebensfrohen, gebildeten, bewußten und aktiven Staatsbürgern hat die Familie eine große Bedeutung. Durch die Geburt und Erziehung von Kindern sichert die Familie die Reproduktion der Gesellschaft. Ihr obliegt es weiterhin, an der Reproduktion der Arbeitskraft, an der Befriedigung der materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnisse und an der Betreuung ihrer Mitglieder in spezifischer Weise mitzuwirken.“[54]

Die Erziehung der Kinder obliegt im sozialistischen Verständnis nicht mehr der Familie (hauptsächlich der betreuenden Mutter) und einigen wenigen staatlichen Organisationen (Schule) allein, sondern wird als ganzheitlicher Prozeß, innerhalb der gesamten Gesellschaft verstanden. Somit wird auch die Erziehung und Bildung der Kinder vergesellschaftet. Die Funktion der Mutter, als Erzieherin ihrer Kinder bis zum schulfähigen Alter im individuellen Haushalt, der privaten Wohnung aufzutreten, soll abgeschafft werden. August Bebel nennt die angeblichen Vorteile einer gesellschaftlichen Erziehung der Kinder, indem er schreibt: „Jeder, der Kinder beobachtet hat, weiß, daß dieselben am leichtesten in Gesellschaft ihresgleichen erzogen werden; ihr Geselligkeits- und Nachahmungstrieb ist sehr lebhaft. Insbesondere nehmen die Kleineren gern die Erwachseneren als Vorbild und Beispiel und folgen diesen mehr als den Eltern. Diese Eigenschaften können mit Vorteil für die Erziehung ausgenutzt werden.“[55] (Was Bebel hier als Vorteilhaft beschreibt leuchtet nicht ein, da die angenommene Vorbildfunktion der „Erwachseneren“ nicht vorausgesetzt werden kann). An selber Stelle plädiert Bebel für „Spielsäle und Kindergärten.“[56] Zu den Nachteilen der häuslichen Erziehung zählt Bebel Mühen und Schwierigkeiten bei der Erfüllung der Erziehungsaufgaben, namentlich der Mutter, welche die Hauptlast trägt. „Auch können die allermeisten Eltern ihre Kinder nur sehr ungenügend erziehen. Der sehr großen Mehrzahl fehlt die Zeit dazu; die Väter haben ihren Geschäften, die Mütter ihren Haushaltungsarbeiten nachzugehen [...] Haben sie aber selbst zur Erziehung die Zeit, so fehlt ihnen in unzähligen Fällen die Fähigkeit dazu.“[57] Hinzu kommen noch die schlechten sozialen Bedingungen der meisten Familien. Demnach fehlen den Kindern im elterlichen Hause oft Ruhe, Bequemlichkeit und Ordnung. „Die Wohnung ist Mangelhaft und überfüllt, alle bewegen sich auf dem engsten Raume; das Mobiliar ist dürftig und bietet dem Kinde, das arbeiten will, nicht die geringste Bequemlichkeit. Nicht selten fehlen Licht, Luft und Wärme; die Lehr- und Arbeitsmaterialien sind, wenn überhaupt vorhanden, von der schlechtesten Qualität; häufig wühlt Hunger in den Eingeweiden der Kleinen...“[58] Außerdem so Bebel, „werden viele Hunderttausende von Kindern zu allen möglichen häuslichen und gewerblichen Arbeiten herangezogen, die ihnen die Jugend vergällen und sie zur Erledigung ihrer so geringen Bildungsaufgaben unfähig machen.“[59] Bebels Einschätzung der gesellschaftlichen Kinderbetreuung und Erziehung muß man vor dem Hintergrund der Zeit, in der sie geschrieben wurden, bewerten. Seine Analyse der häuslichen Unzulänglichkeiten, unter denen sehr viele Kinder der unteren Schichten leben mußten, welche ihre Ursache u.a. in den allgemein schlechten Wohnbedingungen hatte, ist einsichtig. Die Lösung die er vorschlägt ist sozialistisch geprägt und eine Frage der Sicht auf die Dinge. Die Kontroversen zum Thema der außerhäuslichen Kinderbetreuung reichen bis in die Gegenwart. Während die einen vom Sinn und der Praktikabilität von Kindertagesstätten überzeugt sind, wird andererseits die Ansicht vertreten, daß Kinder in den ersten Lebensjahren ausschließlich in die Obhut der Mutter gehören und Kinderbetreuung im Kindergarten sogar negativ für die Entwicklung der Kinder sei. Diese Diskussion soll hier nicht aufgenommen werden. Die Einschätzung darüber ist heute m.E. weniger eine ideologische Frage im Sinne eines Rechts-Links-Schemas, sondern wird vielmehr gefühlsmäßig bzw. durch individuelle Erfahrungen bestimmt.

G. A. Gradow sieht in der Errichtung von Kindertagesstätten nicht die Lösung des Problems der Entlastung der Mutter. Für ihn ist die Kindertagesstätte nur eine zeitweilige Entlastung und sei außerdem eine Arbeit in zwei Schichten und deshalb faktisch eine Mehrbelastung für die Frau, „denn sie muß vor Arbeitsbeginn das Kind in den Kindergarten bringen und es nach der Arbeit wieder abholen. Der Umfang der Hausarbeit bleibt unverändert. [...] Hierfür [werden] drei bis fünf Stunden, für die Pflege der Kinder aber lediglich eine Stunde verwendet. Folglich wird die Frau zwar für eine Tätigkeit in der Produktion frei, der Preis besteht aber darin, daß sich ihr Arbeitstag auf elf bis zwölf Stunden erhöht.“[60] Deshalb ist Gradows Vorschlag für die Zukunft, die maximale Befreiung der Frau und anderer Familienmitglieder von der Hauswirtschaft, durch ein radikales Mittel, nämlich „die Unterbringung der Kinder in Wochengrippen, Kinderheimen und Internatsschulen“, zu organisieren.[61] Damit wird die Familie (Eltern mit einem oder mehreren Kindern) räumlich voneinander getrennt. Je nach Alter werden die Kinder auf die verschiedenen Einrichtungen wie Krippe, Kindergarten und Internat verteilt. Erreichen sie das Erwachsenenalter, steht ihnen eigener Wohnraum zur Verfügung. Den Kritikern dieses Systems - welche die Erziehung der Kinder im Vorschulalter hauptsächlich innerhalb der elterlichen Wohnung wollen - entgegnet Gradow, das jene die Bedeutung der gesellschaftlichen Erziehung unterschätzen, indem sie ihr eine zweitrangige Rolle „eines ‘Helfers’ der Eltern zusprechen.“[62] Dann zitiert Gradow A. S. Makarenko (Erziehungswissenschaftler), der darauf hinwies, „daß es ohne gesellschaftliche Erziehung keine sozialistische Gesellschaft geben kann und das es unmöglich ist, in einem planmäßig errichteten Staat die Erziehung nicht in den Händen des Staates zu konzentrieren“[63] Außerdem, so Gradow weiter, könne sich „die Gesamtheit der gesellschaftlichen Moral, der entsprechenden Charakterzüge und Verhaltensweisen bei den Kindern nur dann herausbilden, wenn die Voraussetzungen für ein ständiges Einwirken des Kollektivs der Kinder, der Erzieher und der Familie auf der Grundlage der gesellschaftlichen Erziehung gegeben sind.“[64] Aber die erzieherische Komponente ist nicht die Einzige, die Gradow anführt, um sein Konzept zu begründen. Auch ökonomisch werden Vorteile erzielt, wie er meint. Durch den Wegfall überflüssiger Flächen, die sonst wechselnd zu verschiedenen Zeiten vom selben Personenkreis genutzt werden, wie das Kinderzimmer in der Wohnung und dem Raum im Kindergarten, würde sich eine Einsparung umbauten Raumes von 28% und damit eine erhebliche Baukostensenkung ergeben.[65] Auf durchaus radikalere Stimmen aus den 1930er Jahren geht Gradow kritisch ein. So forderte der Architekt L. Sabsowitsch (1930) eine völlige Auflösung der Familie. Gradow zitiert Sabsowitsch so: „Einige sind der Meinung, daß die Kinder mit den Erwachsenen in einem Haus untergebracht werden müssen...Andere meinen, daß die Eltern, wenn sie wollen, jederzeit die Möglichkeit haben müssen, ihre Kinder aufzusuchen, sich mit ihnen zu unterhalten usw. All das ist kleinbürgerliche Gefühlsduselei, ein Schluckauf der alten Lebensweise...“[66] Diese vollkommene Ablehnung der Familie geht selbst Gradow zu weit und er erteilt solchen „vulgären ultralinken Theorien“ eine klare Absage.[67]

Silvio Macetti verlangt sich von Gewohnheitsdenken und Sentimentalität fernzuhalten, wenn man über Kinderbetreuung und Kindererziehung nachdenkt. „Die Geschichte der Entwicklung unserer Lebensweise in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten und eine Analyse der Familienbeziehungen bei noch rückständigen Völkern zeigen eine klare Tendenz der ständigen Vergrößerung des gesellschaftlichen Anteils an der Kinderbetreuung und Kindererziehung. Es wäre mit dem Inhalt des historischen Materialismus unvereinbar, wenn wir heute zur Schlußfolgerung kämen, daß Familie und das Familienleben ein Endstadium der Entwicklung erreicht hätten, als hätten die uns bevorstehenden Veränderungen der Lebensweise keinen Einfluß und lösten keine Veränderungen hinsichtlich der Kinderbetreuung und -erziehung aus.“[68] Die Einstellung Gradows, wonach das Lebensmilieu der Kinder von dem der Eltern getrennt werden soll und die Kinder in Kinderkrippen ,Kindergärten bzw. Schulinternaten zum Daueraufenthalt gegeben werden sollen, um somit den Kindern physisch, moralisch und intellektuell die optimalsten Bedingungen für ihre Entwicklung zu ermöglichen, wird von Macetti allerdings relativiert. Er meint, das ein System der Erziehung, bestehend aus einer Kombination von gesellschaftlicher und individueller Erziehung, „unter den heutigen Voraussetzungen, wo das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen noch keine so große Anziehungskraft hat,“ objektiver sei.[69] Für Macetti ist es wichtig, daß die Eltern frei wählen sollen, ob sie ihre Kinder außerhalb der Schulzeit selbst betreuen oder den gesellschaftlichen Einrichtungen anvertrauen. „Die Eltern müssen die Möglichkeit haben, auch in dem Fall, wo sie selbst die Betreuung der Kinder übernehmen, diese zeitweilig der gesellschaftlichen Betreuung zu übergeben, damit sie besser über ihre Freizeit, Erholungs- und Urlaubszeit u.a. verfügen können. Eine Kombination von Kindereinrichtungen für Tages- und Heimaufenthalt sowie die Errichtung eines Kinderhotels für eine zeitweilige Betreuung der Kinder scheinen die rationellste und entwicklungsfähigste Lösung für dieses Problem zu sein.“[70]

Wenn auch die Konzepte in ihrer Intensität der Vergesellschaftung unterschiedlich stark ausgeprägt sind, so ist ihnen gemeinsam, daß sie ein neues Familienbild der sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft annehmen, was sich ihrer Meinung nach, unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen, langsam herausbilden würde. Der Fehler dieser Konzepte liegt in der Grundannahme, allein durch technische und organisatorische Veränderung äußerer Strukturen, tradierte und z.T. über Jahrhunderte gewachsene Verhaltensweisen der Menschen zu verändern. Macetti hat zwar recht, wenn er sagt, daß Familie und Familienleben kein Endstadium ihrer Entwicklung erreicht haben, geht aber gleichzeitig davon aus, daß es nach den Gesetzen des historischen Materialismus ein Endstadium gibt. Das Problem aller marxistischen Theoreme wird an dieser Stelle deutlich. Denn es wird von einer Gesetzmäßigkeit ausgegangen, einer wissenschaftlich begründeten Zwangsläufigkeit gesellschaftlicher Entwicklung. Dieses starre Geschichtsbild macht blind für reale Entwicklungen. Natürlich hat sich die Familie über die Zeit geändert bzw. wird sich weiter ändern, allerdings nicht nach einem vorgeschriebenen Konzept oder einer bestimmten Ideologie.

Zusammenfassend kann man wie Häußermann/ Siebel die beiden gegensätzlichen Reformmodelle unter zwei Begriffen subsumieren. Maschine auf der einen und Heimat auf der anderen Seite. Das frühe sozialistische Konzept wird vom utopischen Sozialisten Fourier am Anfang des 19. Jahrhunderts mit einer Maschine verglichen.[71] Dabei wird die Arbeit im Haushalt von einer technisch gut ausgestatteten Großorganisation (= Maschine) übernommen. Da die Menschen außer ihrer beruflichen Arbeit keine andere haben, muß ihre außerberufliche Versorgung so organisiert sein, daß sie sich jederzeit nach individuellen Bedürfnissen bedienen lassen können. Bürgerliche Wohnreformer stellen dem das Bild von der Wohnung als Heimat gegenüber. Die Familie im Haus gemeinsam, in Privatheit, Emotionalität und Abgeschlossenheit nach außen. „Während im Heimatkonzept Dimensionen der persönlichen Aneignung, der Identifikation und die persönliche Verantwortung für die Angehörigen der Kleinfamilie im Vordergrund stehen, werden im Maschinenmodell die Dimensionen der Entlastung von Arbeit und Verantwortlichkeit, die Befreiung von Verpflichtungen sowie die Gleichstellung von Mann und Frau, also eine geschlechtsneutrale Arbeitsteilung ins Zentrum gerückt.“[72]

3 Entwicklungslinien des Wohnungsbaus in Deutschland bis 1945

3.1 Das Ende der mittelalterlichen Stadt

Wohnungsbau als politisches und soziales Problem, also Objekt intellektueller Reflexionen und gesellschaftspolitischen Diskursen trat auf den Plan, als sich in Europa eine verstärkte Industrialisierung bemerkbar machte. Der rasante technische Fortschritt, dessen Anfänge schon im 19. Jh. lagen, sorgte für eine rasche Industrialisierung, die innerhalb Europas besonders früh in England zum tragen kam. Hier entwickelte sich zuerst eine starke Industrie. Die Erfindung der Dampfmaschine stellte einen Quantensprung der technischen Möglichkeiten im Produktionsprozeß dar. Durch den Einsatz der neuen Maschinen in der Industrie, neuen Verkehrsmitteln und die Ausweitung des Handels, wurde der Übergang einer vormals feudal organisierten Ordnung in eine kapitalistische Gesellschaft, gerade in England, besonders schnell vorangetrieben. Das Ergebnis dieser Entwicklung war eine ziemlich planlose Frühurbanisierung, welche dazu führte, daß in Großbritannien bereits Mitte des 19. Jh. die Mehrheit der Bevölkerung in Städten wohnte und somit enorme Gesundheits- und Sicherheitsprobleme entstanden.[73] Aber auch die meisten anderen Regionen und Staaten Europas wurden mit zeitlicher Verzögerung von der Industrialisierung erfaßt.

In Deutschland nahm die Industrialisierung zunächst nur sehr langsam Gestalt an. Die dominierende Grundlage der deutschen Wirtschaft war bis Mitte des 19. Jh. noch immer vorwiegend die Landwirtschaft. Es war zwar ein industrielles Wachstum spürbar, aber zunächst eher in Form von spektakulären Einzelerscheinungen, die das Bild der Gesamtwirtschaft nicht entscheidend verändern konnten.[74] Ausgehend von Preußen wandelte sich jedoch auch in Deutschland der Feudalstaat in einen eher kapitalistisch geprägten Staat um. Verschiedene Reformen und Gesetze bildeten Anfang des Jahrhunderts die Grundlage für diese Entwicklung. In Preußen wurde z.B. 1807 die Aufhebung der Leibeigenschaft bzw. der Erbuntertänigkeit beschlossen. „Jede ständische Bindung des Grundeigentums wurde aufgehoben. Auch Bürger und Bauern durften jetzt Rittergüter kaufen, wovon die Bürger auch bald ausgiebig Gebrauch machten, wie andererseits Bürger und Adlige Bauernland kaufen konnten.“[75] Bis etwa 1850 die eigentliche Industrialisierung und Verstädterung allmählich einsetzte, blieb die Wirkung des Gesetzes von 1807 primär auf die Landwirtschaft beschränkt. Mit zunehmender bürgerlicher Emanzipation gegenüber feudalen Beschränkungen im städtischen Bodenverkehr wurde der Boden zur frei verkäuflichen Ware. Der überkommene Bodeneigentumsbegriff wurde formalrechtlich auf kapitalistische Ansprüche hin entwickelt. Die preußische Reformpolitik, begleitet von der industriellen Revolution, die neben der angesprochenen Agrar- und Bodenreform auch Gewerbefreiheit, Freizügigkeit bzw. Mobilität der Arbeitskräfte und nicht zuletzt die Aufhebung der ökonomischen Zersplitterung Deutschlands bewirkte, führte in der Konsequenz zur Entstehung der modernen Stadt.[76] Waren die deutschen Städte um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jh. noch vorwiegend mittelalterlich geprägt, so änderten die neuen industriellen Bedingungen und Möglichkeiten das Gesicht der Städte dramatisch. Innerhalb weniger Jahrzehnte war seit der Reichsgründung von 1871 bis zur Jahrhundertwende aus einem Verband deutscher Kleinstaaten ein geeintes und starkes Reich geworden. In kurzer Zeit holte das Deutsche Reich den industriellen und wirtschaftlichen Vorsprung anderer Länder auf und begann sich an die Spitze der Industrienationen zu setzen.[77] Die Zeit der Handwerker- und Händlerstädte mit mittelalterlichem Charme waren spätestens nach 1870 endgültig vorbei. Bis dahin waren die Städte immer noch
hauptsächlich in „das enge Korsett der Festungsbauten gepreßt.“[78] Die Stadtmauern wurden vielerorts geschliffen und die Städte breiteten sich zusehends aus. Der immer stärker werdenden Wanderung von Menschen in die Städte und der Ansiedlung von neuer Industrie wurde somit Rechnung getragen. Besonders rapide stieg in den neunziger Jahren die Beschäftigtenzahl in der Industrie, im Handel und Verkehr, während auf der anderen Seite die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft fast stagnierte. „Diese sozialen Wandlungen schlugen sich auch räumlich nieder: Dörfer schwollen zu Städten an, aus kleinen Orten wurden Großstädte. [...]Mit der Industrialisierung ging ein Urbanisierungsprozeß einher, der die Entwicklung in anderen europäischen Ländern weit übertraf.“[79] Wolfgang Kanzow verdeutlicht den Wanderungstrend an folgenden Zahlen: 1816 lebten 1,9% aller Preußen in Städten über 100.000 Einwohner. 1849 waren es 3,1% und 1871 5,2%. Nach der Reichsgründung lebten 1890 schon 12,1% der Bevölkerung des Reichs in Städten über 100.000 Einwohner und noch einmal zwanzig Jahre später, also 1910 waren es 21,2%.[80] Dieser starke Wanderungstrend in die Städte, der im Vergleich zu England oder Belgien in Deutschland erst relativ spät einsetzte, entwickelte sich zu einem strukturellen Problem dessen Folgen Proletarisierung und Wohnungsnot waren.

3.2 Proletarisierung der Städte

„Die Wohnungsnot in den neuen Industrieländern des vorigen Jahrhunderts war das Ergebnis von allgemeinen Strukturveränderungen: Industrialisierung, Urbanisierung, Liberalisierung des Boden-, Wohnungs- und Arbeitsmarktes, Umstrukturierung des Agrarbesitzes und Veränderung der Arbeitsmethoden in der Landwirtschaft, Bevölkerungswachstum usw. Außer dem stets ansteigenden Wohnungsfehlbedarf für alle Volkskreise waren es die Beziehungen zur «Proletarisierung» der Stadt, die die Wohnungsnot zu einem der meistgefürchteten Probleme der neuen Industriegesellschaft machten.“[81] Hauptsächlich die einsetzende Landflucht von Arbeitskräften in die städtische Industrie war neben anderen Faktoren der Grund. Die Städte füllten sich mit vorwiegend armen Menschen mit „primitiv-ländlichen Lebens- und Wohnformen, die in der räumlichen Enge der Städte unvermeidlich kulturelle und vor allem hygienische Konflikte hervorrufen mußten, die als «unsittlich» und gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit empfunden wurden und demzufolge das alte Stadtbürgertum zutiefst schockierten und beunruhigten“.[82] Die Gesundheitssituation der städtischen Massen unterlag im 19. Jh. einer stetigen Verschlechterung. Eine hohe Kindersterblichkeit, sinkende Lebenserwartung durch Unterernährung, Seuchen, chronische Krankheiten und unhygienische Unterkünfte waren Symptome dieser Fehlentwicklung. Verstärkt wurden diese negativen Prozesse durch besonders harte und ungesunde Arbeitsbedingungen im neuen Fabriksystem. Es wurden zwar im 19. Jh. medizinische und hygienische Fortschritte erzielt, aber sie verbesserten zunächst lediglich die individuellen Lebens- und Wohnbedingungen der wohlhabenderen Bevölkerungsteile der Städte und konnten die ärmeren unter ihnen noch nicht erreichen. Trotz hoher Sterblichkeit der Kinder und geringerer Lebenserwartung der einkommensschwachen Stadtbewohner sorgte diese „natürliche“ Dezimierung nicht für eine Verlangsamung der Städteexpansion. Im Gegenteil dazu wuchsen die Städte im quantitativen Sinne schnell weiter. „Eine Erklärung des natürlichen Bevölkerungswachstums trotz solch widriger Umstände kann das veränderte Familienwesen der neuen städtischen Armen sein. In der freieren städtischen Gesellschaft, in der alle Bindungen der ländlichen Gemeinschaft und der alten Kleinstadt zerrannen, wurden früher und häufiger Kinder gezeugt und dadurch das zeugungsfähige Alter der Frauen faktisch verlängert und die Zahl der Familien vermehrt. Hohe Geburtenraten wurden so möglich. Außerdem waren die Armen ohnehin wegen der unsicheren Arbeitsverhältnisse zum Kinderreichtum gezwungen, da allein Kinder als potentielle Arbeitskräfte den Familienhaushalt verbessern und das Leben der Eltern im Alter absichern konnten. Hohe Geburtenzahlen hatten die Nebenwirkung, daß sie trotz anhaltender großer Kindersterblichkeit die Überlebenschancen eines entsprechend größeren Teils der Nachkommenschaft sicherten. Es war eine paradoxe Situation zwischen volksvernichtenden und volksvermehrenden Umständen“.[83] Paradox war diese Situation u.a. deshalb, weil Kinderreichtum weniger die Armut beseitigte, sondern sie im Gegensatz dazu noch beförderte. Er führte z.B. zu einer häufigen Überbelegung der ohnehin schon engen Wohnungen. „Wenn das Einkommen eines Haushalts niedrig ist,“ schreiben Häußermann/Siebel, dann „reicht also die Kaufkraft nur für eine schlecht gelegene, kleine Wohnung mit niedrigem Ausstattungsniveau aus, unabhängig davon wie viele Mitglieder ein Haushalt hat. Wenn das Einkommen so niedrig ist, daß damit nur ein halbes Zimmer bezahlt werden kann, dann muß eine Familie eben in einem halben Zimmer wohnen - wie es tatsächlich der Fall war. Dann wurde das Zimmer durch einen Kreidestrich in zwei Wohnungen aufgeteilt.“[84] Anhand einiger Zahlen verdeutlichen Häußermann/Siebel beispielhaft die Lage in Berlin im Jahre 1900. Demnach gab es in Berlin 27.792 Wohnungen mit höchstens einem heizbaren Zimmer und sechs oder mehr Bewohnern. 7759 Personen teilten sich 4086 Wohnungen, die nur aus einer Küche bestanden, 7412 Personen 2419 Wohnungen, die nur aus einem nicht heizbaren Zimmer bestanden, 59.746 Personen 32.812 Wohnungen, die nur ein heizbares Zimmer hatten, und 726.723 Personen wohnten in 197.394 Wohnungen, die nur aus einer Küche und einem Zimmer bestanden. Wenn man zu diesen rund 900.000 Mietern noch die 381.118 sog. Bettgänger (auch als Schlafgänger bezeichnet; diese hatten nur ein Bett gemietet was sie sich umschichtig mit anderen teilen mußten) und 4481 Chambregardisten (Bewohner von möblierten Zimmern) hinzu nimmt, wird die Wohnsituation von etwa der Hälfte der Berliner Mieter beschrieben.[85] In Wien verfügten beispielsweise kurz vor dem 1. Weltkrieg 58% der Mitglieder von Arbeiterhaushalten nicht über ein Bett für sich alleine.[86]

Eine ganze Reihe weiterer Beispiele könnte hier noch angefügt werden, um die prekäre Situation der Städte im bezeichneten Entwicklungsraum zu illustrieren. Da der Wohnraum durch den unverminderten Zustrom der Arbeitskräften von außen immer knapper wurde und die vorhandenen Wohnhäuser nicht noch mehr Aufnahmekapazität besaßen, begann man in den bestehenden alten Stadthäusern Dachgeschosse und Kellerräume für Kleinwohnungszwecke auszubauen und/oder auf einzelne Häuser weitere Stockwerke aufzusetzen. Schließlich wurden auch die Höfe der vorhandenen Baublöcke mit Hinterhäusern, Mittel- und Seitenflügeln bebaut. Auch beim Wohnungsneubau war die Situation ähnlich. Enge, ungesunde Wohnverhältnisse waren die Folge.[87] Stadthygienische Grundsätze wie ausreichende Belichtung, Besonnung und vor allem Durchlüftung wurden in diesen Wohngebieten - die auch „Ausfluß übersteigerter Gewinnerwartungen“[88] von Kapitalanlegern waren - nicht beachtet. Seuchen, Krankheiten, Schmutz, Alkoholismus und Promiskuität waren die Folgen. Stadtstrukturell gesehen erfaßte die proletarische Armut vor allem zwei Stadtgebiete. Zum einen die neuen peripheren Stadtgürtel, deren Nähe zu den Industrieansiedlungen Vorteile brachte(durch kurze Arbeitswege weniger Transportkosten) und in denen sich, durch niedrigere Lebenshaltungskosten (billigerer Boden) für die Armen Stadtbewohner, (Über)Lebensmöglichkeiten boten. Zweitens die alten Stadtkerne, in denen der alltägliche Arbeitsmarkt abgewickelt wurde und viele kleine Erwerbschancen als Gelegenheitsarbeiten vorhanden waren.[89] „Diese Art der großräumlichen Zusammenpferchung von Arbeitern und Armen war aus sicherheitspolitischer und stadtökonomischer Sicht besonders gefährlich und störend: die unzufriedenen Massen in den verwahrlosten «gemischten Vierteln» aus neuen Mietskasernen, wilden Siedlungen und Fabriken hielten die Stadt umzingelt und verhinderten oder störten eine gesunde und für die Stadtwirtschaft wichtige Erweiterung mit bürgerlichen Wohnvierteln; die gleichen Massen waren im Stadtkern durch die Polizei schwer kontrollierbar und störten die Entwicklung der neuen Zentren politischen, wirtschaftlichen und bürgerlichen Lebens.“[90]

3.3 Reaktionen und Konzeptionen

Die geschilderten Probleme der modernen Städte riefen aus verschiedenen Antrieben und ideologisch voneinander abweichenden Denkansätzen die politischen, finanziellen und intellektuellen Eliten auf den Plan. Diese wohnten in der Regel zwar nicht in den Problemregionen ihrer jeweiligen Städte, sondern in bürgerlichen Wohnvierteln mit oft vergleichsweise luxuriösen und gesunden Lebensbedingungen, sahen aber die Gefahren dieser Entwicklungen trotzdem mit zunehmender Sorge. Manche betrachteten die Probleme und eventuellen Lösungen aus einem philantropisch-humanistischen Blickwinkel. Andere wiederum bevorzugten administrative Regelungen durch verschärfte Ordnungs- und Sicherheitsstandarts in den Gebieten und polizeilicher Präsenz. Wieder andere zweifelten am kapitalistischen System und hielten eine Lösung der Wohnungsprobleme nur im Zusammenhang mit einer Veränderung dieses Wirtschafts- und Gesellschaftskonstruktes für möglich.

Aber auch die Betroffenen selbst machten sich angesichts angenehmerer Wohnverhältnisse der bürgerlichen Klassen Gedanken über ihre schlechte Situation. Sie sahen sich um die Mühen ihrer Arbeit betrogen und stellten ihrerseits die gesellschaftliche Ordnung und Verteilung des Reichtums in Frage. An dieser Stelle wurde die Wohnungsfrage auch ein Problem der politischen Stabilität, was die bürgerlichen Eliten ebenfalls zum Handeln zwang.

[...]


[1] Ralf Koch; „Dresden zu einer Gartenstadt machen, wie sie kaum ein zweites Mal existieren wird!“; In: Holger Barth (Hrsg.); Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR. Dietrich Reimer Verlag; Berlin; 1998; S. 89-98

[2] Karl Marx/ Friedrich Engels; Das Manifest der Kommunistischen Partei; Dietz Verlag; Berlin; 1986; S. 69

[3] Christine Hannemann; Die Platte Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR; Vieweg Verlag; Braunschweig/Wiesbaden; 1996; S. 120: „Aufgrund der starken Ähnlichkeiten der baulich-räumlichen Strukturen der Neubaugebiete und der allgemeinen Einheitlichkeit der Lebensweisen in der DDR können die Ergebnisse für viele Neubaugebiete der DDR verallgemeinert werden“ schreibt C. Hannemann.

[4] Ihr Aufbau sollte eigentlich bis 1973 mit 22 000 WE für ca. 70 000 Einwohnern abgeschlossen sein. Dazu u.a.: Thomas Topfstedt; Städtebau in der DDR 1955-1971; VEB E. A. Seemann Verlag; Leipzig; 1988; S. 42

[5] ebd. S. 26-46

[6] ebd. S. 26

[7] ebd. S. 36

[8] ebd. 36/37

[9] Frank Werner; Stadt, Städtebau, Architektur in der DDR. Aspekte der Stadtgeographie, Stadtplanung und Forschungspolitik; Verlag Deutsche Gesellschaft für zeitgeschichtliche Fragen e. v.; Erlangen; 1981

[10] Klaus von Beyme; Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten; Piper; München Zürich; 1987

[11] „Keine differenzierte Analyse wird mit einer globalen Konvergenztheorie enden können. Dennoch bleibt erstaunlich, wie ganz unterschiedliche politische Zielsetzungen und wirtschaftliche Randbedingungen noch so viele Ähnlichkeiten in der Städtebaupolitik zulassen, wie sie zwischen den beiden deutschen Staaten bestehen. Die [...] Phasen, die in der DDR unterschieden werden können, haben durchaus Pendants in der Bundesrepublik. Sie sind dort nur nicht so zentral dekretiert, und ihr Einfluß wird regional sehr viel unterschiedlicher deutlich als in einer zentralen Verwaltungswirtschaft.“ K. v. Beyme; op. cit. S. 339

[12] Hartmut Häußermann/Walter Siebel; Soziologie des Wohnens; In: Hartmut Häußermann u.a.; Stadt und Raum: soziologische Analysen; Centaurus-Verl.-Ges.; Pfaffenweiler; 1991; S. 69-116; S. 77

[13] Hartmut Häußermann/ Walter Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; In: Werner Fricke (Hrsg.); Die Zukunft der Stadt: Spurensuche in Dresden-Hellerau; Friedrich-Ebert-Stiftung; Bonn; 1995; S. 89-100; S. 91

[14] H. Häußermann/ W. Siebel; Soziologie des Wohnens; op. cit. S. 92

[15] ebd. S. 90

[16] ebd.

[17] H. Häußermann/ W. Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; op. cit. S. 94

[18] H. Häußermann/ W. Siebel; Soziologie des Wohnens; op. cit. S. 93/94

[19] H. Häußermann/ W. Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; op. cit. S.91

[20] ebd.; Dazu auch: Heinz Sahner; Sozialstruktur und Lebenslagen in der Bundesrepublik Deutschland; Der Hallesche Graureiher 95 - 6; Forschungsberichte des Instituts für Soziologie; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 1996; PDF-Dokument abrufbar unter: www.soziologie.uni-halle.de; S. 3-67; S. 30

[21] Thomas Hafner; Vom Montagehaus zur Wohnscheibe: Entwicklungslinien im deutschen Wohnungsbau 1945-1970; Birkhäuser Verlag; Basel Berlin Boston; 1993

[22] ebd. S. 227

[23] ebd. S. 229

[24] ebd.

[25] ebd.

[26] ebd.

[27] Klaus-Jürgen Tillmann; Sozialisationstheorien: Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung; Rohwolt Taschenbuch Verlag; Reinbek bei Hamburg; 1989; S. 257 ff.

[28] ebd.

[29] Dazu z.B.: August Bebel; Die Frau und der Sozialismus; Dietz Verlag; Berlin; 1953; (57. Auflage)

[30] H. Häußermann/ W. Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; op. cit. S. 94

[31] H. Häußermann/ W. Siebel; Soziologie des Wohnens; op. cit. S. 93

[32] H. Häußermann/ W. Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; op. cit. S. 94

[33] A. Bebel; op. cit. S. 304/305

[34] ebd. S. 457; Des weiteren schreibt Bebel ausführlich über die grundsätzliche Gleichheit geistiger Fähigkeiten bei Frau und Mann und tritt somit gegen die seinerzeit weithin vertretene Ansicht an, daß Frauen vom Studium auszuschließen seien, weil sie ihren genetischen Anlagen entsprechend, dazu nicht Fähig wären. Dazu: S. 306-312 („Die geistigen Fähigkeiten der Frau“)

[35] W. I. Lenin; Die große Initiative: Vier Arbeiten zu Ökonomie und Politik des sozialistischen Aufbaus; Dietz Verlag; Berlin; 1978; S. 44

[36] zitiert nach: G. A. Gradow; Stadt und Lebensweise; VEB Verlag für Bauwesen; Berlin; 1971; S. 19

[37] H. Häußermann/ W. Siebel; Soziologie des Wohnens; op. cit. S. 93

[38] Charles Fourier; Über die Mitschuld der Philosophen und der Franzosen an der Erniedrigung des weiblichen Geschlechts; aus: Theorie der universellen Einheit (1822); In: Charles Fourier; Ökonomisch-Philosophische Schriften - Eine Textauswahl - ; herausgegeben von Lola Zahn; Akademie-Verlag; Berlin; 1980; S. 89

[39] ebd. S. 90

[40] W. I. Lenin; Die große Initiative; op. cit. S. 44/45

[41] Ferdinand Kramer; Die Wohnung für das Existenzminimum Heft 24/1929; In: Felix Schwarz/ Frank Gloor (Hrsg.); „Die Form“ Stimme des Deutschen Werkbundes 1925-1934; Bertelsmann Fachverlag; Gütersloh; 1969; S. 148-151; S. 150

[42] ebd. S. 151

[43] Karl Marx/ Friedrich Engels; Das Manifest...; op. cit. S. 69

[44] ebd.

[45] G. A. Gradow; op. cit. S. 18; (Gradow zitiert Marx aus unveröffentlichten Handschriften desselben).

[46] Karl Böhm/ Rolf Dörge; Unsere Welt von Morgen: Zur Erinnerung an die Jugendweihe und gewidmet vom Zentralen Ausschuß für Jugendweihe in der DDR; Verlag Neues Leben; Berlin; 1961; S. 401

[47] Silvio Macetti; Großwohneinheiten; VEB Verlag für Bauwesen; Berlin; 1968; S. 27

[48] G. A. Gradow; op. cit. S. 26

[49] S. Macetti; op. cit. S. 27

[50] Marx/ Engels; Das Manifest...; op. cit. S. 64

[51] ebd. S. 65

[52] Kleines Politisches Wörterbuch; Dietz Verlag; Berlin; 1986; (6. Auflage); S. 255

[53] ebd.

[54] ebd.

[55] A. Bebel; op. cit. S. 540

[56] ebd.

[57] ebd. S. 542

[58] ebd. S. 542/543

[59] ebd.

[60] G. A. Gradow; op. cit. S. 28

[61] ebd.

[62] ebd. S. 29

[63] ebd.

[64] ebd.

[65] ebd. S. 205

[66] ebd. S. 56; (Das Zitat stammt aus einem Buch von L. Sabsowitsch. Es erschien unter dem Namen „Sozialistische Städte“ 1930 in Moskau).

[67] ebd. S. 57

[68] S. Macetti; op. cit. S. 28

[69] ebd.

[70] ebd. S. 29

[71] H. Häußermann/ W. Siebel; Sozialer Wandel und Wandel des Wohnens; op. cit. S. 94

[72] ebd. S. 95

[73] Juan Rodriquez-Lores; Sozialer Wohnungsbau in Europa: Die Ursprünge bis 1918; Ideen, Programme, Gesetze; Birkhäuser Verlag; Basel Berlin Boston; 1994; S. 54

[74] Wolfgang Kantzow; Der Bruch in der Entwicklung der deutschen Städte ausgehend von der preußischen Reformpolitik und dem veränderten Bodeneigentumsbegriff; In: Gerhard Fehl/Juan Rodriguez-Lores (Hrsg.); Stadterweiterungen 1800-1875 Von den Anfängen des modernen Städtebaus in Deutschland; Christians Verlag; Hamburg; 1983; S. 25-33; S. 25

[75] ebd. S. 27

[76] ebd. S. 30

[77] Werner Durth; Deutsche Architekten: Biographische Verflechtungen 1900-1970; Vieweg Verlag; Braunschweig/ Wiesbaden 1988 (3. Auflage); S. 23

[78] W. Kanzow; op. cit.; S. 31

[79] W. Durth; op. cit.; S. 23

[80] W. Kanzow; op. cit. S. 30

[81] J. Rodriguez-Lores; op. cit. S. 19/20

[82] ebd. S. 20

[83] ebd. S. 21

[84] H. Häußermann/ W. Siebel; Soziologie des Wohnens; op. cit. S. 87/88

[85] ebd. S. 88

[86] ebd. S. 75

[87] W. Kanzow; op. cit.; S. 32

[88] ebd.

[89] J. Rodriguez-Lores; op. cit. S. 22

[90] ebd.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2000
ISBN (eBook)
9783832470500
ISBN (Paperback)
9783838670508
DOI
10.3239/9783832470500
Dateigröße
5.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dresden – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2003 (Juli)
Note
2,0
Schlagworte
architekturgeschichte vergesellschaftung industrialisierung eisenhüttenstadt plattenbau
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Titel: Sozialistisches Wohnkonzept und Wohnungsbau in der DDR
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