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Die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit im sozialen Drama des Naturalismus

©2002 Magisterarbeit 108 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Thema dieser Arbeit ist die Frage nach der Darstellungsmöglichkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Literatur des Naturalismus. Dazu ist es notwendig zu klären, ob überhaupt und wenn ja, wie der Begriff Wirklichkeit definiert werden kann. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es in vielen Bereichen der Geisteswissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften zu grundlegenden Erkenntnissen, die eine neue Wirklichkeitsauffassung mit sich brachten.
Da die Struktur einer sozialen Gesellschaft von den sozialen Strukturen, die sie bilden, bestimmt ist, soll zunächst der Begriff soziale Struktur beleuchtet werden, um anhand der Gesellschaftstheorien von Georg Simmel und Karl Marx den Gesellschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts näher bestimmen zu können. Dadurch soll ein Einblick in die soziale Wirklichkeit der Jahrhundertwende ermöglicht werden.
Es wird zudem aufgezeigt, dass in der Kunsttheorie des Naturalismus das Prinzip der Kausalität eine tragende Rolle spielte, und die Erkenntnisse der Naturwissenschaften als Fundament der naturalistischen Kunstauffassung betrachtet wurden.
Seine höchste dichterische Entfaltung fand der deutsche Naturalismus im Bereich des Dramas, da es nicht nur im individuellen Leseakt, sondern auch und hauptsächlich gemeinschaftlich und öffentlich aufgenommen wird.
Als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Naturalismus wird Gerhart Hauptmann gesehen. Mit seinem Drama Vor Sonnenaufgang erreichte der deutsche Naturalismus seinen Höhepunkt. Anhand einer interpretierenden Untersuchung der Wirklichkeitsdarstellung in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang und dem Drama Die Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf wird aufgezeigt, dass die Wirklichkeitsdarstellung im naturalistischen Drama unterschiedlich ausgeprägte Formen annehmen konnte. Es erweist sich, dass die Art der Wirklichkeitsdarstellung vom Blickwinkel des Verfassers abhängt. Dieser Umstand macht eine objektive Wirklichkeitsdarstellung schwer möglich, denn jeder Autor richtet seinen Blick auf nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit und verleiht somit dem ausgewählten Ausschnitt mehr Gewicht als den vernachlässigten Realitätsaspekten. Es scheint zudem unmöglich, die Persönlichkeit des Autors auszuschalten, um einen objektiven Ausschnitt aus der Realität zu erhalten. Seine persönlichen Erfahrungen und die von ihm verinnerlichten Normen und Werte fließen bewusst oder unbewusst in das jeweilige Werk mit […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 7040
Hillger, Cathérine: Die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit im sozialen Drama des
Naturalismus
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Fachhochschule Südwestfalen, Technische Universität, Magisterarbeit, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

1
INHALT
1 VORBEMERKUNG
2
2 DER BEGRIFF SOZIALE WIRKLICHKEIT
6
2.1
Soziale Struktur
6
2.2
Soziale Gesellschaft
8
2.2.1
Zum Begriff der Wechselwirkung nach Georg Simmel
8
2.2.2
Die Theorie der Klassengesellschaft nach Karl Marx
10
2.3
Soziale Wirklichkeit um 1900
11
3 GEISTIGE VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE ENTSTEHUNG DES
NATURALISMUS IN DEUTSCHLAND UM 1900
17
3.1
Der Positivismus als Grundlage einer neuen Weltanschauung
17
3.2
Die Auswirkung des Positivismus auf die Kunstauffassung der Jahrhundertwende
19
4 ZUM BEGRIFF NATURALISMUS
21
4.1
Der deutsche Theoretiker des Naturalismus: Arno Holz
23
4.2
Die naturalistische Literaturbewegung
29
4.3
Das naturalistische Drama
35
4.4
Der deutsche Vertreter des Naturalismus: Gerhart Hauptmann
38
5 EINE VERGLEICHENDE ANALYSE DER
WIRKLICHKEITSDARSTELLUNG IN DIE FAMILIE SELICKE UND VOR
SONNENAUFGANG 44
6 KUNST UND WIRKLICHKEIT
71
6.1
Die Wirklichkeit des Naturalismus und die Sozialdemokratie
73
6.2
Kunst und Klassenkampf
74
6.3
Die ,,wirkliche" Wirklichkeit des Proletariats
75
6.4
Exkurs: Arbeiterliteratur
87
7 SCHLUSSBETRACHTUNG
91
8 LITERATURVERZEICHNIS
94

2
1 Vorbemerkung
Thema dieser Arbeit ist die Frage nach der Darstellungsmöglichkeit der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit in der Literatur des Naturalismus, die es sich zur Auf-
gabe gemacht hatte, soziale Realität naturgetreu wiederzugeben. Dazu ist es
notwendig zu klären, ob überhaupt und wenn ja, wie der Begriff Wirklichkeit de-
finiert werden kann. Denn der Versuch Wirklichkeit darzustellen, impliziert das
Wissen, wie die diese Wirklichkeit beschaffen ist. Gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts kam es in vielen Bereichen der Geisteswissenschaften ebenso wie in
den Naturwissenschaften zu grundlegenden Erkenntnissen, die eine neue Wirk-
lichkeitsauffassung mit sich brachten. Wirklichkeit bestand nunmehr in beob-
achtbaren Einzeltatsachen, die sich wechselseitig beeinflussen und einem ste-
ten Prozess unterworfen sind.
Soziale Wirklichkeit besteht also nach soziologischen Erkenntnissen aus den
einzelnen sozialen Faktoren, die eine soziale Gesellschaft konstituieren. Da die
Struktur einer sozialen Gesellschaft von den sozialen Strukturen, die sie bilden,
bestimmt ist, soll in Kapitel zwei zunächst der Begriff soziale Struktur beleuchtet
werden, um anhand der Gesellschaftstheorien von Georg Simmel und Karl
Marx den Gesellschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts näher bestimmen zu kön-
nen.
Dadurch soll ein Einblick in die soziale Wirklichkeit der Jahrhundertwende er-
möglicht werden.
Dieser Einblick vernachlässigt die sozialpsychologischen Komponenten, da die
philosophische Geisteshaltung der Zeit um 1900 unter anderem stark vom Posi-
tivismus August Comtes beeinflusst wurde, und es in diesen Jahren zu weitgrei-
fenden Veränderungen in der Auffassung des menschlichen Bewusstseins und
all seiner Auswirkungen auf das soziale Handeln, die Position des einzelnen in
der Gesellschaft und die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge kam.

3
Die Erkenntnisse der Philosophie formten ein neues positives Bewusstsein vom
Menschen und legten mit den ebenfalls Bahn brechenden Errungenschaften in
den Naturwissenschaften die Grundlagen für den entstehenden Naturalismus.
Kapitel drei stellt die Grundzüge des Positivismus mittels des von Auguste
Comtes formulierten Drei ­ Stadien - Gesetzes dar und zeigt, wie auch die
Kunstauffassung von diesen neuen Erkenntnissen beeinflusst wurde. So wird
der Mensch in der Gesellschaft ebenso wie in der Kunst als Produkt seiner Um-
gebung behandelt. Sein Handlungsspielraum ist abhängig von den soziologi-
schen und ökonomischen Voraussetzungen seiner Zeit, er ist eingespannt in
den determinierten Ablauf der Dinge, und somit gibt es für ihn keine Willensfrei-
heit.
In Kapitel vier wird der Begriff Naturalismus im Allgemeinen untersucht, und es
wird aufgezeigt, dass auch in der Kunsttheorie des Naturalismus das Prinzip
der Kausalität eine tragende Rolle spielte, und die Erkenntnisse der Naturwis-
senschaften als Fundament der naturalistischen Kunstauffassung betrachtet
wurden.
Dies zeigt sich deutlich in den kunsttheoretischen Ausführungen von Arno Holz,
in denen er sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Sozio-
logie berief. Aufgrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und des damit
verbundenen Wandels anthropologischer Vorstellungen kam er zu dem
Schluss, dass die bisher an klassischen Kategorien orientierte Dramenkonzep-
tion erneuert werden müsse.
Die Hauptforderungen der naturalistischen Literaturbewegung waren Wahrhaf-
tigkeit der Darstellung, Gegenständlichkeit des Ausdrucks, Beachtung der Kau-
salität, Genauigkeit des Lokalkolorits und eine echte Sprachform. Gegenstand
ihrer Werke war die Lage der Arbeiter, die Frauenemanzipation, Alkoholismus
sowie allgemein gesellschaftliche Missstände.
Seine höchste dichterische Entfaltung fand der deutsche Naturalismus im Be-
reich des Dramas, da es nicht nur im individuellen Leseakt, sondern auch und
hauptsächlich gemeinschaftlich und öffentlich aufgenommen wird.

4
Als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Naturalismus wird Gerhart
Hauptmann gesehen. Mit seinem Drama Vor Sonnenaufgang erreichte der
deutsche Naturalismus seinen Höhepunkt. Ein kurzer Überblick über das Leben
Gerhart Hauptmanns zeigt, dass er sich früh mit gesellschaftlichen Problemen
konfrontiert sah und sich mit ihnen auch theoretisch auseinandersetzte.
Das fünfte Kapitel wird sich mit der Darstellung der Wirklichkeit in Gerhart
Hauptmanns Vor Sonnenaufgang und dem Drama Die Familie Selicke von Arno
Holz und Johannes Schlaf beschäftigen. Es wird aufgezeigt, dass die Wirklich-
keitsdarstellung im naturalistischen Drama unterschiedlich ausgeprägte Formen
annehmen konnte. Arno Holz als Vertreter des konsequenten Naturalismus
wandte sich in seinem Werk innerfamiliären Interdependenzen zu, während
Gerhart Hauptmann die Alkoholproblematik im Kontext der Vererbungslehre in
seinem Erstlingsdrama hervorhob. Es erweist sich, dass die Art der Wirklich-
keitsdarstellung vom Blickwinkel des Verfassers abhängt. Dieser Umstand
macht eine objektive Wirklichkeitsdarstellung schwer möglich, denn jeder Autor
richtet seinen Blick auf eben nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit und verleiht
somit dem ausgewählten Ausschnitt mehr Gewicht als den vernachlässigten
Realitätsaspekten. Zudem scheint es unmöglich, die Persönlichkeit des Autors
auszuschalten, um einen objektiven Ausschnitt aus der Realität zu erhalten.
Seine persönlichen Erfahrungen und die von ihm verinnerlichten Normen und
Werte fließen bewusst oder unbewusst in das jeweilige Werk mit ein.
Die Problematik, die sich beim Versuch, Realität naturgetreu wiederzugeben,
für den Rezipienten ergibt, wird in Kapitel sechs erläutert. Das Augenmerk wird
hier in erster Linie auf die Rezipienten der sozialdemokratischen Arbeiterbewe-
gung gelenkt, da sich die naturalistische Literaturbewegung thematisch oft mit
den Belangen der unteren Schichten befasste. Es zeigt sich, dass die Sozial-
demokratie eine andere Wirklichkeitsauffassung besaß als die jungen Autoren.
Es kam zu heftiger Kritik der Sozialdemokratie an der naturalistischen Literatur-
bewegung, da sie einen für sie wesentlichen Teil ihrer Realität vernachlässigt
sah. Während die junge Schriftstellergeneration die Armut und das Elend der

5
Arbeiter darzustellen versuchte und den Menschen als determiniertes Wesen,
welches keinen Einfluss auf sein Schicksal zu haben scheint, sah die Sozial-
demokratie den Menschen als Teil eines kämpferischen Proletariats, welches
sein Schicksal selbst in die Hand nahm.
Die Kluft zwischen Autor und Rezipient scheint aber nicht nur in diesem Fall
unüberbrückbar. Sie wird häufig deutlich, wenn der Autor die Wirklichkeit einer
Welt beschreibt, die nicht seine eigene ist, denn selbst wenn er sich wie die
jungen naturalistischen Autoren in diese ihm fremde Welt begibt, um sie zu stu-
dieren, wird er die dort gültigen wesentlichen - teilweise versteckten - sozialen
Werte und Normen nicht erfassen können.
Wie die Sozialdemokratie die Darstellung der Wirklichkeit wünschte, wird mit
einem Blick auf die Arbeiterliteratur deutlich. Der Schwerpunkt der Arbeiterdich-
tung lag in der agitatorischen Absicht. Der Leser sollte Hoffnung auf ein besse-
res Leben schöpfen und sich zum Kampf berufen fühlen. Es wird deutlich, dass
sich auch die Arbeiterdichtung einem Teil der Wirklichkeit zuwandte, der nicht
jedem Rezipienten zugänglich war.

6
2 Der Begriff Soziale Wirklichkeit
Soziale Wirklichkeit gibt es nicht von sich aus, sondern
nur durch das wechselseitig aneinander orientierte und
interpretierte Handeln von Individuen.
1
Da soziale Wirklichkeit einem stetigen Wandel unterworfen ist, ist es nicht mög-
lich, eine eindeutige Definition des Begriffes zu geben. So soll im Folgenden,
auch um die Problematik der Beschreibung der sozialen Wirklichkeit deutlich zu
machen, zunächst der Begriff soziale Wirklichkeit mit den soziologischen Begrif-
fen soziale Struktur und soziale Gesellschaft und mit Hilfe der Gesellschafts-
theorien von Georg Simmel und Karl Marx umschrieben werden.
2.1 Soziale
Struktur
Ganz allgemein gesehen bezeichnet eine Struktur eine nicht zufällige Verbun-
denheit einer Mehrzahl von Einheiten, so dass sich Regelmäßigkeiten zeigen.
Soziale Strukturen sollen als soziale Verhältnisse, d.h. als ,,objektiv" erlebte Zu-
sammenhänge, die durch soziales Handeln entstehen, verstanden werden.
Diese sozialen Verhältnisse sollen nicht nur faktisch die Situation einzelner so-
zialer Verhaltensweisen überdauern, sondern vielmehr ihre Dauerhaftigkeit
spezifischen Stabilisationsmomenten verdanken. Solche Stabilisationsfaktoren
sind z.B. Sanktionsmechanismen, institutionelle Verfestigungen und Traditio-
nen, die im Sozialisationsprozess weitergegeben werden. Als soziale Strukturen
können jedoch nicht nur stabile Interdependenzen bezeichnet werden, die auf
gemeinsamen Normen, gemeinsam anerkannten Rollengefügen und gemein-
samen Werten beruhen. Auch dauerhafte Interessen- und Machtkonstellationen
können dazu führen, dass sich soziale Verhältnisse stabilisieren.
So zeigt sich in der Geschichte, dass ,,[...] sich selbst stabilisierende Ausbeu-
tungsverhältnisse, ohne dass eine die ganze Gesellschaft erfassende Ideologie

7
diese rechtfertigt [...]"
2
entstehen können. Diese oft über Jahrhunderte dauern-
den Strukturen werden nicht nur allein durch die Macht der Mächtigen gesi-
chert, sondern auch durch die Erfahrung der Unterdrückten, dass der Versuch
einer Umwälzung zunächst alles noch schlimmer werden lassen könnte, denn
wenn der Alltag zerbricht, ist die Regelmäßigkeit der Versorgung in Frage ge-
stellt.
Die soziale Struktur einer Gesellschaft beinhaltet jedoch nur eine relative Stabi-
lität. Der Begriff Strukturwandel bezeichnet einen Wandel, der sich an Verhält-
nissen vollzieht, die über Stabilisatoren verfügen. Beim Übergang von der stän-
disch geordneten Agrargesellschaft zu einer kapitalistisch bestimmten Indust-
riegesellschaft mussten Faktoren eine Rolle gespielt haben, die eine solche
Determinationskraft innehatten, dass sie die bestehenden Stabilisationsfaktoren
außer Kraft setzen konnten. Auguste Comte (1798 - 1857), Herbert Spencer
(1820 - 1903) und Karl Marx (1818 - 1883) formulierten die ersten soziologi-
schen Entwürfe über langfristige gesellschaftliche Wandlungen. Sie versuchten
gesellschaftliche Veränderungen mit Hilfe ,,[...] quasi natürlicher Gesetze nun-
mehr wissenschaftlich zu erklären."
3
So beschrieb August Comte das Dreistadiengesetz, nach dem die Gesell-
schaftsgeschichte das metaphysische und das theologische Stadium durchläuft,
um in einem dritten Stadium, welches er als das positive bezeichnete, ihr End-
ziel zu erreichen.
Herbert Spencers Auffassung, dass die soziale und kulturelle Evolution den
Stärksten das Überleben garantiere, zeigt seine Nähe zu den Arbeiten des eng-
lischen Naturforschers Charles Darwin (1809 - 1882). Spencer vertrat die Idee,
dass Kultur und Gesellschaft als Produkte eines nach universal gültigen Geset-
zen ablaufenden Evolutionsprozesses zu sehen sind. Ganz allgemein geht
Spencer davon aus, dass jeder Organismus versucht zu überleben.
Dazu sei ein Gleichgewicht zwischen dem Organismus und seiner Umwelt not-
wendig. Um dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist der Organismus ständig damit
1
Annette Treibel: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Augsburg 1997, S. 109.
2
Hans Paul Bahrdt: Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, Mün-
chen 1984, S. 111.
3
Hermann Korte/ Bernhard Schäfers (Hgg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opla-
den 1995, S. 168.

8
beschäftigt, Differenzierungen nach innen und nach außen vorzunehmen. Dies
nannte Spencer den Kampf ums Dasein und prägte damit die Formel des sur-
vival of the fittest.
Nach Karl Marx sind die Triebkräfte des Übergangs zur nächsten Gesellschafts-
formation die widersprüchlichen Klassenverhältnisse, die die objektive Notwen-
digkeit eines Klassenkampfs begründen.
4
Das folgende Kapitel wird sich mit dem Begriff Gesellschaft bei Georg Simmel
und Karl Marx auseinandersetzen um aufzuzeigen, wie sich das Bewusstsein
von Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts gewandelt hat, und welche
Auswirkungen dieser Bewusstseinswandel auch auf das geistige Leben in
Deutschland hatte.
2.2 Soziale
Gesellschaft
Die Struktur einer sozialen Gesellschaft ist bestimmt von den sozialen Struktu-
ren, die sie konstituieren. Um eine Gesellschaft zu beschreiben, ist es also im-
mer notwendig, einzelne soziale Faktoren gemeinsam in ihrer Wechselwirkung
zu betrachten. Georg Simmel zeigt in seiner Theorie ebenso wie Karl Marx die
wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen sozialen Größen im gesamtgesell-
schaftlichen Zusammenhang. In ihren Theorien ist die Präsenz der natur- und
geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse jener Zeit deutlich zu erkennen.
2.2.1 Zum Begriff der Wechselwirkung nach Georg Simmel
Georg Simmel, dem 1911 von der Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde
als Begründer der Wissenschaft Soziologie verliehen wurde, kam 1858 in Berlin
zur Welt.
Er studierte zuerst Geschichte, wechselte dann zur Völkerpsychologie und
schließlich zur Philosophie. 1884 wurde Georg Simmel für das Fach Philoso-
phie habilitiert. Er lehrte daraufhin als Privatdozent an der Universität Berlin.

9
Georg Simmel konzentrierte sich in seinen Vorlesungen nicht nur auf die Ver-
gangenheit, sondern dozierte auch über Gegenwartsphänomene und Alltagser-
scheinungen. 1914 wurde er an die Universität Straßburg berufen, an der er bis
zu seinem Tod im Jahr 1918 lehrte.
Georg Simmel versuchte zwar, die Soziologie als eigenständige Disziplin zu
legitimieren, wandte sich jedoch gegen eine Soziologie als Universalwissen-
schaft. Die Soziologie solle auf die Ergebnisse der bereits bestehenden Gesell-
schaftswissenschaften zurückgreifen und diese verschiedenen Ergebnisse zu
einer neuen Synthese führen.
5
Sie wird dadurch eine Spezialwissenschaft in demsel-
ben Sinn, - bei allen selbstverständlichen Unterschie-
den der Methode und der Resultate - in dem Erkennt-
nistheorie eine solche geworden ist, indem sie die Ka-
tegorien oder Funktionen des Erkennens als solchen
aus der Vielheit der Erkenntnisse einzelner Dinge abs-
trahiert hat.
6
In diesem Sinne betrachtete er auch
[...] das Leben als Einheit von Polaritäten und Dua-
lismen, den Streit als eine ,,positive Vergesellschaf-
tungsform", in dem Gegensätze nicht immer aufgeho-
ben werden müssen, vielmehr beibehalten werden
können und ein ,,drittes Reich", worunter er Toleranz
verstand, gefunden werden müsse.
7
Ausgangspunkt aller soziologischen Überlegungen Georg Simmels ist der Beg-
riff der Wechselwirkung. Jegliche Realität ist für Georg Simmel eine Wechsel-
wirkung zwischen den Teilen dieser Realität. ,,Die Einsicht: der Mensch sei in
seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in
4
Ebd.
5
Ebd. S. 88.
6
Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Bd. 11,
hg. von: Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1992, S. 22.

10
Wechselwirkung mit anderen lebt
[...]"
8
führt natürlich zu einer neuen gesamt-
gesellschaftlichen Betrachtungsweise. Gesellschaft ist somit das Resultat von
Wechselwirkungen zwischen den Individuen, Gruppen und anderen sozialen
Gebilden, die sie konstituieren. ,,Was nun die ,Gesellschaft', in jedem bisher
gültigen Sinne des Wortes, eben zur Gesellschaft macht, das sind ersichtlich
die so angedeuteten Arten der Wechselwirkung."
9
Daraus folgt für Georg Sim-
mel, dass Gesellschaft, als Summe dieser Wechselwirkungen, ein fortdauern-
der Prozess ist, der niemals aufhört. In diesem Sinne setzt Georg Simmel an-
stelle des statischen Begriffes ,Gesellschaft' den Begriff der ,Vergesellschaf-
tung', denn er impliziert einen Prozess und ist somit nicht statisch, sondern dy-
namisch.
10
2.2.2 Die Theorie der Klassengesellschaft nach Karl Marx
Karl Marx wurde am 5.5.1818 in Trier geboren. Er studierte ab 1835 in Bonn
und Berlin Jura, Philosophie und Geschichte. In seinen Studien beschäftigte er
sich hauptsächlich mit der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770 -
1831), über die er 1841 mit einer Arbeit über Die Differenz der demokritischen
und epikureischen Naturphilosophie promovierte. Die Auseinandersetzung mit
Hegel hatte für die Entstehung seines wissenschaftlichen Werkes eine zentrale
Bedeutung. Da das politische Klima in Deutschland eine Habilitation Karl Marx
nicht zuließ, entschied sich dieser für den Journalismus. In der Zeit von 1841 -
1849 entwickelte der mehrmals aus Deutschland ausgewiesene Denker die Kri-
tik an Hegels Philosophie, die dann zu einer der Grundlagen seiner politisch-
ökonomischen Klassentheorie wurde. Am 14.3.1883 starb Karl Marx in London.
Karl Marx richtete ebenso wie Georg Simmel seinen Blick auf die Menschen
und ihr Zusammenleben. Seine Perspektive ermöglichte ihm einen neuen Zu-
gang zur Realität. Er sah die Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Grup-
7
Almut Loycke: Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremd-
seins, Frankfurt/Main/ New York 1992, S.115.
8
Simmel: Soziologie, S. 15.
9
Ebd., S. 19.
10
Korte: Einführung, S. 88f.

11
pen, den Tatbestand des Hungers vieler Menschen und vor allem die Ausbeu-
tung der Arbeiterschaft. Für Marx stand die Tatsache der Arbeit im Mittelpunkt,
denn der Umstand, dass der Mensch arbeiten muss, um sich am Leben zu er-
halten, mache ihn erst zum gesellschaftlichen Wesen. ,,Die Produktion, die
Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur ist für Marx die Basis des
Lebens der Menschen."
11
Eine Gesellschaft besteht jedoch nicht nur aus materieller Produktion, sondern
umfasst auch die Gesetze, Verwaltungen, Kunst, Religion und Moral. Diese bil-
den nach Marx den Überbau, der bestimmt ist durch die Basis. Weiter unter-
scheidet er zwischen Urgesellschaft, Sklavenhalterordnung, Kapitalismus und
Kommunismus. Die bestehende Gesellschaftsform ist die kapitalistische, in der
die ökonomischen Verhältnisse der Menschen in den Vordergrund treten. Marx
konstatiert, dass die gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und die
damit einhergehenden Erfindungen eine gewaltige Entfaltung ermöglichen,
dass sich die Lage der Arbeiter aber verschlechtere. So entstanden nach Marx
die Klassen der Besitzenden und der Besitzlosen. Der Klasse der Kapitalisten
stand somit die Klasse der Proletarier gegenüber.
12
Im Weiteren soll ein Überblick über die soziale Wirklichkeit des ausgehenden
19. Jahrhunderts aufzeigen, wie es zur Entstehung einer naturalistischen Dich-
tung kommen musste, die sich in erster Linie mit der sozialen Frage beschäftig-
te.
2.3 Soziale Wirklichkeit um 1900
Die soziale Wirklichkeit der Jahrhundertwende umfasst natürlich ein wesentlich
breiteres Spektrum, als hier dargestellt werden kann. Da sich diese Arbeit in
erster Linie mit dem Naturalismus und seiner Beziehung zur Frage des Proleta-
riats befasst, soll an dieser Stelle in erster Linie die soziale Wirklichkeit der
arbeitenden Klasse untersucht werden, die auch durch ihr stetes Wachstum
einen immer größer werdenden sozialen Faktor darstellte. Dazu ist es
notwendig, die in jener Zeit herrschenden gesellschaftlichen Zustände so weit
11
Hermann Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opladen 1993, S. 48.
12
Ebd., S.49.

12
in jener Zeit herrschenden gesellschaftlichen Zustände so weit als möglich zu
beschreiben. Diese Beschreibung bezieht notwendigerweise keine sozialpsy-
chologischen Komponenten in die Darstellung mit ein, da die philosophische
Geisteshaltung der Zeit um 1900 unter anderem stark vom Positivismus August
Comtes beeinflusst wurde, und es in diesen Jahren zu weitgreifenden Verände-
rungen in der Auffassung des menschlichen Bewusstseins und all seiner Aus-
wirkungen auf das soziale Handeln, die Position des einzelnen in der Gesell-
schaft und die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge kam. Kapitel 3.1 wird
sich mit diesem Phänomen detailliert auseinandersetzen. Im Folgenden wird
ausschließlich der sozialgeschichtliche Hintergrund beleuchtet; um die Zusam-
menhänge besser zu verstehen, ist es notwendig, ein wenig auszuholen.
In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts schuf die wirtschaftliche Entwick-
lung eine völlig neue politische und soziale Situation. Die Produktivität der
Schwerindustrie stieg sprunghaft an und vor allem im Ruhr- und im Saargebiet
und in Oberschlesien entstanden industrielle Ballungsräume. Mit Hilfe neuer
Finanzierungsmethoden wie z.B. Aktiengesellschaften und Wirtschaftsbanken
konnten moderne Produktionsverfahren eingesetzt werden, so dass es zu einer
raschen Erweiterung der Märkte kam. Doch mit der Industrialisierung veränder-
te sich auch die soziale Landschaft in Deutschland von Grund auf.
13
Durch die Industrialisierung und den wirtschaftlichen Aufschwung in den Städ-
ten kam es zur so genannten Landflucht. Die Landbevölkerung wollte ihrerseits
an den Vorzügen der Industrialisierung teilhaben und strömte in Massen in die
Städte.
Neben einem wohlhabenden und selbstbewussten Industriebürgertum entstand
so ein stetig wachsendes Industrieproletariat, das nicht nur aus den Landarbei-
tern bestand, sondern sich auch zu einem großen Teil aus ehemals selbständi-
gen Handwerkern zusammensetzte. Die Vermassung in den Städten führte nun
gezwungenermaßen zu Pauperisierung in den unteren Schichten, da sich durch
die sinkenden Reallöhne die Situation der Arbeiter enorm verschlechterte. Die
13
Deutscher Bundestag, Presse- und Informationszentrum Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.):
Fragen an die deutsche Geschichte. Ideen, Kräfte, Entscheidungen. Von 1800 bis zur Gegen-
wart, Bonn 1984, S.156.

13
Arbeiter wohnten oft in menschenunwürdigen Behausungen und ihr Verdienst
lag meist unter der Grenze des Existenzminimums, welches nach heutigen
Maßstäben ein Leben in Würde garantieren sollte. Von einem Leben in Würde
war das deutsche Industrieproletariat jedoch weit entfernt.
Die von der industriellen Entwicklung bedrohten sozialen Gruppen gründeten
Selbsthilfeorganisationen wie Konsumgenossenschaften, Krankenversicherun-
gen und Darlehenskassen, doch alle diese Einrichtungen stellten die bestehen-
de wirtschaftliche und soziale Ordnung nicht in Frage.
Zudem distanzierte sich das Bürgertum zunehmend von der Arbeiterklasse,
denn
[...] als immer mehr Geld zum Fließen gebracht wird ,
als der Mittelstand immer mehr in eine finanzielle Into-
xikation gerät, als er sich immer mehr Allüren aneignet
und sich dadurch im geldlichen sowie im gesellschaft-
lichen Sinne weiter von der Arbeiterklasse distanziert,
wird die Kluft zunehmend größer zwischen den Kapita-
listen und dem Proletariat.
14
Je mehr das Bürgertum an Reichtum anhäufen konnte, desto mehr wollte das
Proletariat teilhaben an den Annehmlichkeiten des neuen Lebensstandards. Es
wollte nicht länger hinnehmen, dass ihre Arbeitskraft allein nicht ausreichen
sollte, um sich ein menschenwürdiges gesichertes Leben zu ermöglichen.
Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich das rasante Anwachsen der sozialen
Kräfte in Deutschland leicht nachvollziehen.
Die mit der voranschreitenden Industrialisierung ständig gewachsene Zahl ab-
hängiger Lohnarbeiter hatte die ,,
[...] Reaktivierung der 1848 abgebrochenen
frühsozialistischen Arbeiterbewegung begünstigt
[...]"
15
. Das Industrieproletariat
begann unter dem stetig zunehmenden Druck der Verarmung eigenständige
Organisationen zu gründen, und es begann auch, sich politisch zu artikulieren.
14
Roy C. Cowen: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1973, S. 14.
15
Karin Gafert: Die soziale Frage in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Ästhetische Poli-
tisierung des Weberstoffes, Kronberg Taunus 1973, S. 16.

14
So riefen die Arbeiter 1863 den ,,Allgemeinen deutschen Arbeiterverein" ins Le-
ben, dessen Präsident der Schriftsteller Ferdinand Lasalle wurde. Er forderte
[...] das allgemeine, gleiche und direkte Wahl- und
Stimmrecht aller Staatsangehörigen vom 20. Lebens-
jahr an, eine direkte Gesetzgebung durch das Volk,
die allgemeine Wehrhaftigkeit, die Abschaffung aller
Ausnahmegesetze ­
namentlich der Preß-, Vereins-
und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze,
welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken
und Forschen beschränken
-, die Rechtsprechung
durchs Volk, die allgemeine und gleiche Volkserzie-
hung durch den Staat und die allgemeine Schulpflicht
als Grundlagen des Staates
[...].
16
1869 bildete sich neben dem ,,Allgemeinen deutschen Arbeiterverein" eine von
August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführte, strenger an Karl Marx orientier-
te Arbeiterpartei, die in Eisenach gegründete ,,Sozialdemokratische Arbeiterpar-
tei". Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben in ihrem zu Beginn der Revolu-
tion von 1848 verfassten ,,Manifest der kommunistischen Partei" die ihrer Mei-
nung nach unüberbrückbare Kluft zwischen Proletarier und Bourgeoisie. Der
Schluss, den sie aus den herrschenden Gegebenheiten ziehen, beraubt die
herrschende Klasse ihrer Existenzberechtigung.
Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem
Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer
unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab.
Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus
entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und
Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bour-
geoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klas-
se der Gesellschaft zu bleiben
[...]
17
16
Dietger Pforte: Die deutsche Sozialdemokratie und die Naturalisten. Aufriß eines furchtbaren
Mißverständnisses. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement, hg. von
Helmut Scheuer, Stuttgart 1974, S. 176.
17
Karl Marx/Friedrich Engels: Das Manifest der kommunistischen Partei. In: Werke. Band 4, hg.
von: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1964, S. 473.

15
1875 schlossen sich in Gotha der ,,Allgemeine deutsche Arbeiterverein" und die
,,sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" zusammen und nannten sich von
1891 an ,,Sozialdemokratische Partei Deutschlands".
Der Zusammenschluss der Arbeiter und ihre Forderungen lösten in den oberen
Schichten Angst vor den zunehmend stärker erscheinenden Massen aus. Aus
diesen Gründen und aus Sorge vor einer sozialen und politischen Revolution
begann Bismarck im Frühjahr 1878 den Kampf gegen die Sozialdemokratie,
indem er zwei von Einzelgängern verübte Anschläge auf den Kaiser der Sozial-
demokratie in die Schuhe schob. Der Reichstag wurde aufgelöst und die Par-
lamentsmehrheit beschloss ,,
[...] das Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie
[...]"
18
, die so genannten Sozialistengeset-
ze. Im November 1878 wurde die sozialdemokratische Partei in Stuttgart verbo-
ten, kurz darauf auch die meisten Fachvereine und vor allen Dingen die Pres-
seorgane der Partei. Die Arbeiterbewegung fand jedoch auch in der Illegalität
ihre Fortsetzung. Neben Zeitungen und Druckschriften wurden auch Flugblätter
verteilt. Das wohl beliebteste Flugblatt war der Wanzentod.
19
In dem wie eine Reklame aufgemachten Handzettel wimmelte es von Wanzen
und anderem Ungeziefer, im Text wurde jedoch gegen menschliches Ungezie-
fer, gegen Wucherer, Fabrikanten, Großgrundbesitzer und Staatsgewaltige vor-
gegangen.
Die Sozialistengesetze vermochten es also nicht, die Kraft der organisierten
Arbeiterbewegung zu schwächen.
1890 wollte Kaiser Wilhelm II. den politischen Einfluss Bismarcks zurückdrän-
gen.
Der Kaiser wollte einen neuen Weg einschlagen und im Innern Deutschlands
eine Aussöhnung mit der übermächtig zu werden scheinenden Arbeiterschaft
herbeiführen; es wurden Gesetze über die Krankenversicherung, Unfallversi-
18
Württembergisches Landesmuseum/ Volkskundliche Sammlung (Hg.): Arbeiterbewegung-
Arbeiterkultur. Stuttgart 1890 ­ 1933, Begleitheft zur Ausstellung, 29.4. ­ 14.6.1981 in der Ga-
lerie im Lichthof, DGB-Haus, Kanzleistraße 20, Stuttgart 198, S. 15.
19
Ebd.

16
cherung und Invaliditäts- und Altenversicherung geschaffen. Die Sozialistenge-
setze wurden nach zwölfjähriger Dauer wieder aufgehoben und Kanzler Bis-
marck entlassen, doch die SPD unter August Bebel beharrte auf ihrer oppositi-
onellen Haltung, nicht zuletzt weil die sozialdemokratischen Forderungen nach
dem Acht-Stunden-Tag, Abschaffung der Frauenarbeit und Beschränkung der
Kinderarbeit abgewehrt wurden mit der Begründung, dass
[...] der Arbeiter seine freie Zeit in Wirtshäusern oder
bei agitatorischen Versammlungen zubringen würde,
daß der Wegfall des Zuschusses der mitarbeitenden
Ehefrauen und Kinder die Arbeiterfamilien in noch
größere Notlagen bringen würde
[...].
20
Zudem sei die Kinderarbeit auch zum Schutz der Kinder zu sehen, da sie sich
ohne Beschäftigung auf der Straße herumtrieben und der Gefahr der Verwahr-
losung ausgesetzt wären. Diese Argumentation zeigt, wie wenig sich die Politik
mit dem Elend des Proletariats auseinandersetzte.
20
Gafert: soziale Frage, S. 23.

17
3 Geistige Voraussetzungen für die Entstehung des Naturalismus
in Deutschland um 1900
Der Naturalismus hat Deutschland fast als letztes europäisches Land erobert.
Dieser Umstand ist zum großen Teil auf die in Deutschland herrschende geisti-
ge und soziale Atmosphäre zurückzuführen, denn in Deutschland hielt eine
durch die Reichsgründung und die Bismarcksche Realpolitik ins Leben gerufe-
ne Scheinkonjunktur der siebziger Jahre diejenigen Kräfte vorübergehend zu-
rück, die sonst in Europa zu einer früheren Entstehung des Naturalismus beige-
tragen hatten.
21
Der Sieg 1871 über Frankreich, die Impulse der Reichseinigung und die Milliar-
den der französischen Kriegsentschädigung brachten für das deutsche Volk
eine Steigerung des nationalen Selbstwertgefühls mit sich. Doch die Not und
das Elend des Industrieproletariats waren nun nicht mehr zu übersehen, denn
,,
[...] immer stärker wird das Bewusstsein von der Ohnmacht des Individuums
vor seiner physischen, ökonomischen und sozialen Umwelt."
22
Die Erkenntnisse der Philosophie formten ein neues positives Bewusstsein vom
Menschen und legten mit den ebenfalls Bahn brechenden Errungenschaften in
den Naturwissenschaften die Grundlagen für den entstehenden Naturalismus.
3.1 Der Positivismus als Grundlage einer neuen Weltanschauung
Als Begründer der positivistischen Methode gilt August Comte. Die früheren
philosophischen Positionen werden von ihm strikt abgelehnt, da sie den Er-
scheinungen, die den Menschen umgeben, eine eigene, metaphysische Wirk-
lichkeit zusprechen, die als einzige Quelle wahrer und sicherer Erkenntnis an-
gesehen wurde, die aber der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind.
21
Roy C. Cowen: Naturalismus. In: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3, Vom Realismus
bis zur Gegenwartsliteratur, hg. von Ehrhard Bahr, Tübingen 1988, S. 93.
22
Roy c. Cowen: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1973, S. 21.

18
Für Comte gilt die These, dass Quelle jeder menschlichen Erkenntnis allein die
beobachtbaren, für die sinnliche Erfahrung wahrnehmbare Tatsachen sind, die
sich als eine Vielzahl von Erscheinungen darstellt, in denen bestimmte Regel-
mäßigkeiten festzustellen sind. Von diesen Regelmäßigkeiten ausgehend las-
sen sich auf induktivem Weg die Gesetze ihrer Erscheinungsweise formulieren.
Mit einem Wort, die grundlegende Umwälzung, die die
Mannbarkeit unserer Intelligenz kennzeichnet, besteht
im wesentlichen darin, überall an Stelle der unzugäng-
lichen Bestimmung der eigentlichen Ursachen die blo-
ße Forschung nach den Gesetzen, d.h. den konstan-
ten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beo-
bachteten Erscheinungen existieren.
23
Die erkenntnistheoretische Grundlage des Positivismus wird von Auguste Com-
te in seinem Dreistadiengesetz erläutert. Demnach durchlaufen der gesamte
geschichtliche Zivilisationsprozess sowie die einzelnen Wissenschaften drei
Stadien. Im ersten - dem theologischen oder fiktiven - Stadium strebt der
Mensch auf der Grundlage seines religiösen Weltbildes absolute Erkenntnis an
und führt die Naturerscheinungen auf die Einwirkung göttlicher Wesen zurück.
Im zweiten - dem metaphysischen oder abstrakten - Stadium treten Philosophie
und Metaphysik an die Stelle von Religion und Theologie und die übernatürli-
chen göttlichen Mächte werden ersetzt durch abstrakte Kräfte oder Wesenhei-
ten. Das Endziel, das positive Stadium, verzichtet auf Erklärungen der Wirklich-
keit, die außerhalb der erfahrbaren Tatsachen liegen.
24
Die geistige Welt funktioniere also - ebenso wie die natürliche - ausschließlich
nach Kausalgesetzen.
23
Auguste Comte: Abhandlung über den Geist des Positivismus, hg. von Friedrich Sebrecht,
Leipzig 1915, S.16.
24
Dieter Gutzen, Norbert Oellers, Jürgen H. Petesen: Einführung in die neuere deutsche Litera-
turwissenschaft. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1976, S. 144.

19
3.2 Die Auswirkung des Positivismus auf die Kunstauffassung der
Jahrhundertwende
Hippolyte Taine (1828-1893) übertrug den Positivismus auf die Beurteilung von
Geschichte und Kunst und stellte den bestimmenden Einfluss von race, milieu
und temps heraus. Wie in den Naturwissenschaften versucht Taine ,,
[...] auch
in der menschlich-gesellschaftlichen Welt ,Gesetze' zu erkennen, deren prakti-
sche Inkarnation er in Rasse und Milieu zu finden vermeint."
25
So wird der Mensch auch in der Kunst wie ein Produkt seiner Umgebung be-
handelt. Sein Handlungsspielraum ist abhängig von den soziologischen und
ökonomischen Vorraussetzungen seiner Zeit, und er ist eingespannt in den de-
terminierten Ablauf der Dinge, es gibt für ihn keine Willensfreiheit. Auch die Ab-
stammungslehre nach Charles Darwin gewinnt nun einen rein materiellen und
milieubedingten Charakter.
Sie wird zu einer Theorie, die den Menschen vorwie-
gend als ein ökonomisch handelndes Wesen betrach-
tet und daher in allen ideellen Komponenten nur se-
kundäre Auswirkungen der materiellen Grundstruktur
sieht.
26
Es bildet sich ein Bewusstsein des Individuums heraus, das beherrscht ist von
der Ohnmacht gegenüber seiner ökonomischen und sozialen Umwelt.
Die Grundlage aller politischer und kultureller Wandlungen ist nicht mehr ein
hinter dem Menschen stehendes Großes, Einzelnes, sondern vielmehr die
Masse, deren Verhalten sich nun ausschließlich nach ökonomischen Gesetz-
mäßigkeiten richtet, wie es Karl Marx in seiner Theorie bereits konstatiert hatte.
[ ... ] unser Gesetzesbegriff, an der Naturwissenschaft
und am Recht gebildet, schließt immer Allgemeinheit
25
Hippolyte Taine: Philosophie der Kunst, Berlin 1987, S. 16.
26
Richard Hamann, Jost Hermand: Naturalismus. Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur
Gegenwart, Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 125.

20
ein, Gleichgiltigkeit gegen das Individuelle, Unterord-
nung des Einzelnen unter eine für Alle giltige Norm.
27
Der Einzelne verschwindet in der Masse und ist somit als einzelnes Individuum
weder wahrnehmbar noch für die gesamt - gesellschaftlichen Zusammenhänge
von Relevanz. Die Lehre vom freien Willen erscheint nun als Produkt einer Zeit
in der die Intelligenz vom sozialen Leben entfernt war und ,,[...] demgemäß den
Zusammenhang ihres Wollens mit ihrem sozialen Müssen nicht merkte."
28
Erst
als die Schriftsteller von ihrer literarischen Produktion leben mussten, erhielten
sie Einblick in die ökonomischen Beziehungen und kamen zu der Erkenntnis,
dass das Wollen des Menschen abhängig ist von den Verhältnissen, in denen
er lebt. So halten im Zeichen ,,
[...] von Milieutheorie und Evolutionslehre [...] die
Naturwissenschaften Einzug in die Literatur und Literaturprogrammatik."
29
27
Georg Simmel: Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart (1902). In: Ästhetik
und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, hg. von Hannes Böhringer und
Karlfried Günther, Frankfurt am Main 1976, S. 232.
28
Michael Georg Conrad: Die Sozialdemokratie und die Moderne. In: Die literarische Moderne.
Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, hg. von Gotthart
Wunberg, Frankfurt am Main 1971, S. 115.
29
Theo Mayer: Naturalistische Literaturtheorien. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen
Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7, Naturalismus Fin de siecle Expressi-
onismus 1890-1918, hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S.31.

21
4 Zum Begriff Naturalismus
Im Allgemeinen wird der Beginn des Naturalismus mit der Herausgabe der Kriti-
schen Waffengänge der Brüder Heinrich (1855 - 1906) und Julius (1859 - 1930)
Hart angesetzt. Sie bildeten den ersten wichtigen Ausgangspunkt für die Zu-
sammenführung junger oppositioneller Literaten im Berlin der 80er Jahre. Durch
ihre Publikation wurden sie zu einem ersten wichtigen Kristallisationspunkt einer
neuen literarischen Oppositionsbewegung.
30
Darüber hinaus gelten nach Theo Meyer die Kritischen Waffengänge (1882 -
84) als das wichtigste Organ des deutschen Frühnaturalismus, da sie von gene-
reller, wegweisender Bedeutung für die ganze weitere Entwicklung des deut-
schen Naturalismus gewesen seien.
31
Sie erschienen in sechs Heften unregelmäßig zwischen März 1882 und Früh-
sommer 1884 in Leipzig und enthielten ausnahmslos von den Brüdern Hart
selbst verfasste literaturkritische Aufsätze, die sich gegen ,,
[...] Effekthascherei,
Eklektizismus, Verflachung durch literarische Fabrikarbeit und Geschmacksver-
irrung des Publikums
[...]" richten.
32
Naturalismus kann nicht nur verstanden werden als genau umrissener Begriff,
der eine einmalige künstlerische Ausprägung beschreibt; er beinhaltet eine re-
volutionäre Grundsubstanz, die nicht nur formal ­ ästhetisch zu betrachten ist,
da die Kunst in allen Epochen, in der der Naturalismus aufgetreten ist, nur als
Mittel einer gesellschaftlichen und politische Umwälzung verstanden wird. So
findet sich ein Naturalismus des frühen 15. Jahrhundert, des Barock und des
Sturm und Drang.
30
Manfred Brauneck, Christine Müller (Hgg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur
deutschen Literatur 1880-1900, Stuttgart 1987, S.21.
31
Theo Meyer: Theorie des Naturalismus, hg. von Theo Meyer, Stuttgart 1973, S.17.
32
Günter Butzer, Manuela Günter: Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende. In: Hansers
Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7, Na-
turalismus Fin de siecle Expressionismus 1890-1918, hg. von York-Gothart Mix, München 2000,
S. 117.

22
Der Naturalismus entwickelt keine stilbildenden Funktionen, sondern stellt die
jeweils vorangegangene Epoche mit ihren bisherigen Idealen in Frage, indem
die Formlosigkeit des rein Natürlichen über sämtliche bestehenden geistigen
und moralischen Werte gestellt wird. Diese Beschränkung auf das bloß Natürli-
che verleiht dem Naturalismus zwar Intensität, birgt aber auch eine Enge in
sich, da eine derartige Bündelung der künstlerischen Kräfte nur wenige Jahre
aufrecht zu erhalten ist. So deckt sich die naturalistische Antriebskraft oft mit
dem Anfangsstadium einer neuen Epoche, in der eine aufsteigende Gesell-
schaftsschicht versucht, ihre Ansprüche geltend zu machen, und mündet später
in einen Realismus, der sich wieder traditioneller Formkräfte bedient, um nicht
ins Unkünstlerische der Plakative abzugleiten.
Der deutsche Naturalismus, der historisch den Zeitraum von den späten siebzi-
ger Jahren bis in die Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts umfasst,
lässt sich am besten als proletarischer Naturalismus kennzeichnen, da in die-
sen Jahrzehnten die Existenz und der Kampf der Arbeiterklasse in das Be-
wusstsein des Bürgertums drangen.
33
Doch der konsequente Naturalismus wurde schon bald wieder abgelöst, da sich
schon in seinen Anfängen Tendenzen bemerkbar machten, die sich nicht nur
gegen den Naturalismus an sich, sondern vielmehr gegen die gesamte zu ihm
hinführende Entwicklung wandten.
Die im Realismus aufgekommenen Tendenzen sowohl zur subjektivierenden
als auch zur objektivierenden Gestaltungsweise trennten sich am Ausgang des
19. Jahrhunderts voneinander. Sie radikalisierten sich zum einen im Naturalis-
mus, der sich hauptsächlich auf die äußeren gesellschaftlichen Zusammenhän-
ge bezog und sie übersteigert darstellte, zum anderen in den Gegenströmun-
gen des Naturalismus, die sich verstärkt auf das Innere, das Subjektive des In-
dividuums konzentrierten.
33
Hamann, Hermand: Naturalismus, S. 7f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832470401
ISBN (Paperback)
9783838670409
DOI
10.3239/9783832470401
Dateigröße
797 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – Geistes- und Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2003 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
gerhart hauptmann positivismus sozialdemokratie arno holz
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Titel: Die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit im sozialen Drama des Naturalismus
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