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'The Times They Are A-Changin" - Musik und Gesellschaft

Pop- und Rockmusik in den USA der fünfziger und sechziger Jahre

©2003 Magisterarbeit 108 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vielleicht bedeutungsvollste Entdeckung der Menschen in der Geschichte der künstlerischen Darstellung ist die Musik. Keine andere Form der Kunst ist für alle Menschen gleichermaßen verstehbar und hat (dadurch) die Menschheit in ihrem Denken, Fühlen und Leben so geprägt – vor allem nicht im Amerika der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Gesellschaftlich-politische Realität einerseits und kulturelle Entwicklung andererseits verhalten sich auf vielfältige Weise zueinander. Für die fünfziger und sechziger Jahre in Amerika wird in meiner vorliegenden Arbeit die populäre Musik als Teil der allgemeinen kulturellen Entwicklung untersucht. Man kann vermuten, dass das Gesellschaftliche das Kulturelle, hier die Popmusik, dominiert und dass die kulturelle Entwicklung der gesellschaftlichen folgt. Doch allein das auf das Reagieren reduziert bliebe die Wirkung populärer Musik gerade in dieser Zeit unterschätzt. Denn besonders während dieser fünfziger und sechziger Jahre hat sie allem Anschein nach relativ stark auf das politische und soziale Leben des Landes eingewirkt. So wird man letztendlich von einer wechselweisen Beeinflussung und Abhängigkeit beider Bereiche ausgehen müssen.
Also soll mit dieser Arbeit beispielhaft untersucht werden, inwiefern populäre Musik und zeitgenössische gesellschaftliche und politische Entwicklungen der fünfziger und sechziger Jahre in den USA miteinander korrespondieren. Besonders für die „schnelllebige“ Popmusik gilt – wie für jede andere Modeerscheinung auch –, dass sie nicht für sich stehen und klassisch alle Zeiten überdauern kann, sondern vielmehr im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bewegungen und Bedingungen gesehen werden muss: Dazu gehören die technischen Entwicklungen (z.B. die E-Gitarre) und die materiellen Möglichkeiten eines jeden Einzelnen (Plattenverkauf) ebenso wie die Entwicklung sozialer Konflikte und die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Musik publiziert und vertrieben wird. Ein „musikalisches“ Verhalten, das nicht zugleich auch soziales, kulturelles, technisches und kommerzielles Verhalten ist, gibt es dabei ebenso wenig, wie umgekehrt soziale Konflikte (auch) über das Medium Popmusik ausgetragen werden.
Solche soziokulturellen Beziehungen lassen sich methodisch am erfolgreichsten verfolgen, wenn Brüche oder Übergänge bisherige Zustände und Beziehungen verändern. Deshalb konzentriert sich mein Untersuchungszeitraum im Kern auf die Jahre 1953 bis […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6937
Nowak, Nikola: ,,The Times They Are A-Changin" - Musik und Gesellschaft - Pop- und
Rockmusik in den USA der fünfziger und sechziger Jahre
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Fachhochschule Südwestfalen, Universität, Magisterarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Inhalt
1 Einleitung
4
1.1 Die fünfziger Jahre
9
1.2 Die sechziger Jahre
11
2 ,,Rock Around The Clock" ­ Zur Geschichte des
Rock'n'Roll
14
2.1 ,,Sh-Boom" ­ Die Vorläufer des Rock'n'Roll
14
2.1.1 Blues
14
2.1.2 Country
17
2.1.3 Rhythm & Blues
19
2.2 ,,Roll Over Beethoven" ­ Zur Entwicklung des Rock'n'Roll
21
2.2.1 Die Anfänge des Rock'n'Roll
21
2.2.1.1
Verbreitung von Musik und LifeStyle
23
2.2.1.2
Rock'n'Roll-Gegner
24
2.1.2.3
Rock'n'Roll-Helden
26
2.2.2 Elvis Presley ­ ,,The King of Rock'n'Roll"
26
2.2.2.1
,,Jailhouse Rock" (1957)
32
2.2.2.2
,,In The Ghetto" (1969)
35
2.2.3 Das Ende des wahren Rock'n'Roll
37
3 ,,The Times They Are A-Changin'" ­ Bob Dylan 1961-1966
39
3.1 Zu den Anfängen Bob Dylans
39
3.2 Bob Dylan als Protestsänger
42
3.2.1 Die Bürgerrechtsbewegung
42
3.2.2 ,,The Death of Emmett Till" (1962)
44
3.2.3 ,,Blowin' in The Wind" (1962)
49
3.2.4 ,,The Times They Are A-Changin'" (1963)
51
3.3 Der neue Bob Dylan
53
3.3.1 Krise im Herbst 1963
54
3.3.2 ,,Another Side of Bob Dylan"
58
3.3.2.1
Abschied von der Politik?
58
3.3.2.2
Newport Festival 1964 und 1965
60

3.4 Bob Dylans Wandel
63
3.4.1 Ablehnung durch die Folkszene
63
3.4.2 Dylan war nie ein Folkie
66
3.4.3 Bob Dylans Selbstinterpretation
66
3.4.4 Nicht Bruch, sondern künstlerischer Wandel
67
3.5 So klingt der neue Bob Dylan
69
3.5.1 ,,Mr. Tambourine Man" (1964)
69
3.5.2 ,,Like a Rolling Stone" (1965)
72
4 ,,American Pie" ­ Eine Zeitreise durch die fünfziger und
sechziger Jahre
76
4.1 Don McLean
76
4.2 ,,American Pie" (1971)
77
5 Schluss
84
6 Anhang
89
6.1 Glossar
89
6.2 Songtexte
91
6.2.1 ,,Jailhouse Rock" von Elvis Presley (1956)
91
6.2.2 ,,In The Ghetto" von Elvis Presley (1969)
92
6.2.3 ,,The Death of Emmett Till" von Bob Dylan (1962)
93
6.2.4 ,,Blowin' in The Wind" von Bob Dylan (1962)
93
6.2.5 ,,The Times They Are A-Changin'" von Bob Dylan (1963)
94
6.2.6 ,,Mr. Tambourine Man" von Bob Dylan (1964)
95
6.2.7 ,,Like A Rolling Stone" von Bob Dylan (1965)
96
6.2.8 ,,American Pie" von Don McLean (1971)
98
6.3 Soundtrack
101
7 Literatur
102

4
1
Einleitung
Die vielleicht bedeutungsvollste Entdeckung der Menschen in der Geschichte der
künstlerischen Darstellung ist die Musik. Keine andere Form der Kunst ist für alle
Menschen gleichermaßen verstehbar und hat (dadurch) die Menschheit in ihrem
Denken, Fühlen und Leben so geprägt ­ vor allem nicht im Amerika der fünfziger
und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Das Thema
Gesellschaftlich-politische Realität einerseits und kulturelle Entwicklung andererseits
verhalten sich auf vielfältige Weise zueinander. Für die fünfziger und sechziger Jah-
re in Amerika wird in meiner vorliegenden Arbeit die populäre Musik als Teil der all-
gemeinen kulturellen Entwicklung untersucht. Man kann vermuten, dass das Gesell-
schaftliche das Kulturelle, hier die Popmusik
1
, dominiert und dass die kulturelle Ent-
wicklung der gesellschaftlichen folgt. Doch allein das Reagieren reduziert, bliebe die
Wirkung populärer Musik gerade in dieser Zeit unterschätzt. Denn besonders wäh-
rend dieser fünfziger und sechziger Jahre hat sie allem Anschein nach relativ stark
auf das politische und soziale Leben des Landes eingewirkt. So wird man letztend-
lich von einer wechselweisen Beeinflussung und Abhängigkeit beider Bereiche aus-
gehen müssen.
Also soll mit dieser Arbeit beispielhaft untersucht werden, inwiefern populäre Musik
und zeitgenössische gesellschaftliche und politische Entwicklungen der fünfziger
und sechziger Jahre in den USA miteinander korrespondieren. Besonders für die
,,schnelllebige" Popmusik gilt ­ wie für jede andere Modeerscheinung auch ­, dass
sie nicht für sich stehen und klassisch alle Zeiten überdauern kann, sondern viel-
mehr im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bewegungen und Bedingungen
1
Der Begriff Popmusik entzieht sich (bislang) jeder schlüssigen Definition. ,,Wer von
Popular Music
[...]
spricht, meint vielleicht beliebte Musik oder Musik in Nachkriegsjugendkulturen oder anspruchslose
Musik oder massenmedial verbreitete Musik, Musik der Arbeiterklasse oder technisch produzierte
Musik oder afroamerikanische Musik oder alltägliche Musik oder nicht-authentische Musik, rhythmi-
sche Musik oder kommerzielle Musik oder moderne Musik. Vielleicht auch Kombinationen." (Markus
Heuger,
,,Popular
Music
Studies
im
Internet",
in:
http://www.uni-koeln.de/phil-
fak/muwi/forum/heuger/pms.htm, 1997.) Gleichwohl gehe ich aber davon aus, dass alle Musikstile
und ­richtungen, die ich in meiner Arbeit behandele, zur Popmusik gehören. Allerdings bleiben wich-
tige Bereiche der Popmusik, wie z. B. der Jazz, unberücksichtigt.

5
gesehen werden muss: Dazu gehören die technischen Entwicklungen (z. B. die E-
Gitarre) und die materiellen Möglichkeiten eines jeden Einzelnen (Plattenverkauf)
ebenso wie die Entwicklung sozialer Konflikte und die ökonomischen Bedingungen,
unter denen die Musik publiziert und vertrieben wird. Ein ,,musikalisches" Verhalten,
das nicht zugleich auch soziales, kulturelles, technisches und kommerzielles Ver-
halten ist, gibt es dabei ebenso wenig, wie umgekehrt soziale Konflikte (auch) über
das Medium Popmusik ausgetragen werden.
Solche soziokulturellen Beziehungen lassen sich methodisch am erfolgreichsten
verfolgen, wenn Brüche oder Übergänge bisherige Zustände und Beziehungen
verändern. Deshalb konzentriert sich mein Untersuchungszeitraum im Kern auf
die Jahre 1953 bis 1965. Während dieser Zeit sind nämlich zwei signifikante Um-
brüche zu verzeichnen, die sich gezielt analysieren lassen: die Entwicklung des
Rock'n'Roll (in den fünfziger Jahren) und der Übergang vom traditionellen Folk-
song zum (Folk-)Rock, der ,,ideale[n] Verschmelzung aus Folk und Rock,"
2
vor al-
lem durch Bob Dylan (in den Sechzigern). Eine ausführlichere Einbeziehung der
Zeit nach 1965 würde die Arbeit überfrachten und die Konzentration auf die Um-
brüche davor verhindern, da sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die
musikalische und die kulturelle Entwicklung gehörig ausweitet und differenziert.
Also werden folgende, konkretere Fragen meine Untersuchungen leiten: Wie rea-
gieren unterschiedliche Bereiche wie Rassenproblematik, ,,große" Politik, Musik-
szene usw. aufeinander? Wie reagiert die Popmusik auf den allgemeinen poli-
tisch-sozialen Wandel? Reagiert auch die Gesellschaft auf Stilwechsel in der Mu-
sik? Welche sozialen Gruppen sind an diesen kulturellen und sozialen Prozessen
in welcher Weise beteiligt?
Letztendlich ist es dann natürlich das Ziel der Untersuchungen, zumindest Ansät-
ze einer Erklärung für spezifische Entwicklungen im Bereich der Popmusik zu je-
ner Zeit in den USA zu finden: Warum, zum Beispiel, entwickelte sich der
Rock'n'Roll so erfolgreich? Warum verliert er dann wieder abrupt an Bedeutung?
2
Ingeborg Schober, Rock Lexikon, München: Verlag Walther Schünemann, 1973, o.S. ­ Eine feste
Definition von Rockmusik gibt es nicht, der Begriff wandelt sich bis heute (Robert G. Pielke, You Say
You Want a Revolution: Rock Music in American Culture, Chicago: Nelson-Hall, 1986, S. 10f.). Bei
Schober wird ,,Rock" als der Nachfolger des Rock'n'Roll bezeichnet, der aber nicht mit ihm verwech-
selt oder gar gleichgesetzt werden darf. Er dient als Oberbegriff für die Musik ab Mitte der sechziger
Jahre, also vor allem auch für den ,,Beat". In meiner Arbeit verwende ich also für die ,,neue Musik" des
Bob Dylan ab 1964 den Begriff ,,Rock"; gelegentlich zur besseren Kennzeichnung seiner Herkunft den
Begriff (Folk-)Rock.

6
Warum erlebt der Folksong einen Niedergang? Warum ändern sich Liedtexte und
ihre Bedeutung in der Popmusik? Usw.
Um sich dabei nicht in Allgemeinheiten zu verlieren, erscheint es notwenig, sich
auf konkrete Erscheinungen zu konzentrieren. Dazu wähle ich als maßgebliche
Musikrichtungen der damaligen Popmusik neben Rhythm & Blues und Blues vor
allem den Rock'n'Roll sowie den Folk- und Protestsong und den (Folk-)Rock. Als
Vertreter dieser Musikstile dienen ihre beiden herausragenden Interpreten: Elvis
Presley und Bob Dylan. Schließlich erklärt sich gerade die Popmusik nicht allein
aufgrund ihres Klanges und Gesanges, sondern sie ist entscheidend durch ihre
Stars geprägt.
Der Aufbau
Obwohl ich die allgemeine Geschichte der USA als bekannt voraussetze, will ich
noch in diesem einführenden Kapitel eine kurze Übersicht über das politisch-
kulturelle Umfeld der USA in den fünfziger und sechziger Jahren geben. Jede
Modeerscheinung, also auch die Musik, ist ein Kind ihrer Zeit, und nur durch die
(politischen) Hintergründe wird vieles verständlich und nachvollziehbar. Im Detail
wird die Wechselwirkung zwischen Musik und Gesellschaft dann im weiteren Verlauf
an der betreffenden Stelle besprochen. Doch dieser erste Überblick soll helfen, die
zeitliche Einordnung der weiteren Inhalte zu erleichtern.
Die Geschichte des Rock'n'Roll in den USA beginnt zwar erst in den fünfziger Jah-
ren, doch lässt sich die Entwicklung des Rock'n'Roll nicht verstehen, wenn man
nicht einen Schritt zurück in die vierziger Jahre geht. So soll im ersten Teil des Ka-
pitels ,,Rock Around The Clock" die Entwicklung der schwarzen Musik hin zum
Rock'n'Roll dargestellt werden. Eine Erläuterung der verschiedenen Wurzeln dieser
neuen Musikrichtung und die zunehmende Akzeptanz und Einflussnahme afroame-
rikanischer Künstler während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist hierfür un-
abdingbar. Im zweiten Teil wird dann die Entwicklung des Rock'n'Roll selbst sowie
sein sprunghaftes Auf und Ab skizziert ­ vor allem am Beispiel des ,,King of
Rock'n'Roll", Elvis Presley. Elvis war
der
Star des Rock'n'Roll und seiner Zeit. Seine
Fans kamen aus fast allen Bevölkerungsschichten ­ aus schwarzen
und
aus wei-
ßen. Man identifizierte sich mit ihm und sah in ihm ein Idol, das Halt gab und an das

7
man sich klammern konnte. Aber auch der ,,King" wurde von politischen und gesell-
schaftlichen Entwicklungen seiner Zeit beeinflusst. In einem Vergleich zwei seiner
Titel (dem frühen, rockigen ,,Jailhouse Rock" und dem späteren, nachdenklichen ,,In
The Ghetto") will ich den entsprechenden Wandel in seiner Musik verdeutlichen.
Das dritte Kapitel schließt sich chronologisch an. Es behandelt die nächste Um-
bruchphase in der amerikanischen Popmusik: den Wandel vom traditionellen Folk-
und Protestsong zum (Folk-)Rock in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. ,,The
Times They Are A-Changin'" ist der Titel des Kapitels, in dessen Mittelpunkt Bob
Dylan und die Entwicklung seiner Lieder steht: von ,,Blowin' in The Wind" (1962) bis
,,Like a Rolling Stone" (1965). Bob Dylan personifiziert in dieser frühen Phase seines
künstlerischen Wirkens wie kein anderer diese Auflösung traditioneller Gemein-
schaften, hier der amerikanischen Bürgerrechts- und Protestbewegung und des
Folksongs, und den gesellschaftlichen und kulturellen Umbau zu Beginn der sechzi-
ger Jahre in den USA (hier: das Aufleben der Rock- und der Beatmusik). Gegenüber
dem Auftauchen des Rock'n'Roll hatte dieser Wandel eigene soziale Ursachen und
Begleitumstände und wurde von anderen gesellschaftlichen Gruppen geprägt. Er
war aber nicht weniger heftig umstritten und beflügelnd für die Betroffenen.
Um die fünfziger und sechziger Jahre mit ihren politischen und kulturellen Einflüssen
und natürlich ihrer Musik auch miteinander zu konfrontieren, wird im abschließenden
Kapitel, ,,American Pie", der Text dieses Songs von Don McLean aus dem Jahr
1971 analysiert. Der Einfluss der politisch-gesellschaftlichen Ereignisse auf die Mu-
sik wird hier rückblickend durch ein Lied und seinen Text symptomatisch beschrie-
ben; man erkennt, wie sich im Laufe der Jahre die Musik, die Musiker und das Pub-
likum nachhaltig verändert haben.
Den Abschluss der Arbeit bildet eine zusammenfassende Rückschau, die wesentli-
che Ergebnisse zusammenstellt und versucht, Antworten auf die oben gestellten
Leitfragen der Untersuchungen zu geben. Dazu gehört auch ein Ausblick auf die
weitere kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung in den USA ab Mitte der sechzi-
ger Jahre.

8
Quellen zu diesem komplexen Thema, das politische, soziale und kulturelle Aspekte
behandelt, gibt es reichlich. Als Primärquellen dienen in erster Linie einschlägige
Songs, wobei sowohl deren musikalische Gestaltung als auch der Liedtext von Be-
deutung sein können. Weitere Primärquellen sind Äußerungen der Interpreten ­
also vor allem Elvis Presleys und Bob Dylans ­ und anderer Zeitgenossen (in Inter-
views, Reden, Briefen usw.). Bei der Sekundärliteratur überwiegen biographische
Arbeiten, dazu kommt Fachliteratur aus den Bereichen Amerikanistik, Musikwissen-
schaft, Kulturtheorie u. a.; insgesamt gibt es zu diesem Thema vorwiegend popu-
lärwissenschaftliche und journalistische Arbeiten.
Aus stilistischen Gründen habe ich im Text gelegentlich statt der politischkorrekten
Formulierung ,,afroamerikanisch" oder ,,die Afroamerikaner" Begriffe wie ,,schwarz"
oder ,,die Schwarzen" verwendet. Der Einfachheit halber und wegen der besseren
Lesbarkeit werden außerdem Sammelbegriffe wie ,,Jugend", ,,Jugendliche", ,,Stu-
denten", ,,Zuhörer" etc. gebraucht, selbstverständlich sind dabei stets Personen bei-
der Geschlechter gemeint.
Ich habe darauf verzichtet, Zitate und Liedtexte ins Deutsche zu übersetzen, da die
entsprechende Englischkenntnisse vorausgesetzt werden. Außer in Zitaten, die
grundsätzlich unverändert bleiben, ist die Arbeit nach den Regeln der neuen deut-
schen Rechtschreibung verfasst.
Im Anhang zur Arbeit befinden sich
-
ein Glossar näher erklärter (Fach-)Begriffe und Ereignisse (die Schlagworte sind
jeweils im Text unterstrichen),
-
die vollständigen Liedtexte aller besprochenen Songs und
-
eine CD mit den wichtigsten der behandelten Musiktitel; sie ist nach dem Lite-
raturverzeichnis im hinteren Einband eingelegt und soll lediglich als Hörbeispiel
dienen. (Sie ist nicht zur Veröffentlichung oder Vervielfältigung bestimmt.)

9
1.1
Die fünfziger Jahre
Anfang der fünfziger Jahre wurde aus dem so genannten ,,Kalten Krieg", der seit
dem Ende des 2. Weltkrieges zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR
(und den jeweiligen Verbündeten) tobte, ein ,,Heißer Krieg": Unter dem amerikani-
schen Präsidenten Harry S. Truman (Demokrat, 1945-1953) kam es 1950-1953 zum
Krieg in Korea zwischen dem kommunistischen Norden und dem freien Süden des
Landes, in den die USA (mit UN-Mandat) kommandoführend eingriffen. Unter Gene-
ral Douglas MacArthur gingen sie jedoch weit über ihre Kompetenzen hinaus, wofür
dieser 1951 vom Präsidenten zurückbefohlen wurde.
Zeitgleich begann in den USA Senator Joseph R. McCarthy (Republikaner, 1947-
1957) als Vorsitzender des Senatsausschusses zur Untersuchung ,,unamerikani-
scher Umtriebe" (bis 1954) auf Kommunistenjagd im eigenen Land zu gehen. Er war
davon überzeugt, dass die demokratische Partei über 20 Jahre lang Verrat am Va-
terland begangen habe. Während der ,,McCarthy-Ära" schwappte eine allgemeine
Verfolgungswelle über das Land, die antikommunistische, nationalistische und anti-
semitische Vorurteile schürte; auch wer durch Alkohohl- und Drogenkonsum oder
sexuelles ,,Fehlverhalten" auffiel, galt als Sicherheitsrisiko. ,,America had now beco-
me the land of the repressed and the home of the cowardly."
3
Nur wenige wagten,
offen ihre Meinung zu vertreten und wenn, dann nur jene, ohne großen Einfluss und
Macht. Die amerikanische Nachkriegsjugend hatte bislang keinen Sinn, keinerlei
Orientierung in ihrem Leben gefunden. Der 1951 veröffentlichte, berühmte Roman
,,Catcher in The Rye" von J.D. Salinger gibt genau diese Entwicklung wieder.
Anfang 1952 trat Präsident Dwight D. Eisenhower (Republikaner, 1953-1961) seine
erste Amtszeit an. Mit seiner Wahl hatten die Amerikaner ihrem Verlangen nach
einer klaren Unterscheidung der Welt in ,,gut" und ,,böse" Ausdruck gegeben: Sie
sehnten sich nach Ehr- und Pflichtgefühl, Christlichkeit und Moral, nach Sicherheit ­
in einer Zeit, die bereits das nächste Unheil hervorgebracht hatte: die Wasserstoff-
bombe (1952). Dennoch beendete Eisenhower den Koreakrieg und führte den
,,Kalten Krieg" gegen Josef Stalin weiter, bis dieser im März 1953 starb.
3
Pielke, S. 24.

10
Doch auch in der Folgezeit ging die Auseinandersetzung zwischen dem Kommu-
nismus und der westlichen Welt weiter: Frankreich verlor 1954 seinen Einfluss in
Vietnam, was zur Teilung dieses Landes in einen kommunistischen und einen freien
westlichen Teil führte. Die USA griffen 1955 in die ersten friedensvertraglich be-
schlossenen ,,freien" Wahlen Süd-Vietnams ein, da sich abzeichnete, dass sie
schon im Vorfeld durch die Kommunisten torpediert worden waren.
In den USA verfolgte man die Anhörungen McCarthys vor einem Untersuchungs-
ausschuss des Senats, die ihn als rücksichtslosen und wenig vertrauenswürdigen
Politiker zeigten, was zu einem starken Rückgang seiner Popularität führte. Erst-
mals wurden die Verhandlungen (von April bis Juni 1954) live im Fernsehen über-
tragen. Noch einschneidender als dieses Erlebnis war für die amerikanische Öffent-
lichkeit aber die Entscheidung des Supreme Courts im Fall
Brown gegen Board of
Education of Topeka
vom 17. Mai 1954. Das Gericht hatte einstimmig entschieden,
dass die Rassentrennung in den Grundschulen von Topeka, Kansas, dem Gleich-
heitsprinzip des 14. Amendments widersprochen hatte. Ein Jahr später verschärfte
das Gericht sein Urteil und ordnete an, die Integration in
allen
öffentlichen Schulen
,,with all deliberate speed"
4
voranzutreiben. (Dennoch mussten 1957 nationale Trup-
pen in Little Rock, Arkansas, diesen Beschluss mit Gewalt durchsetzen.)
Ende des Jahres kam es in Montgomery, Alabama, zum ersten großen Auftritt des
jungen, afroamerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr. (ab 1957 Vorsit-
zender der Southern Church Christian Leadership Conference). Als Initiator des fast
ein Jahr dauernden Bus-Boykotts sorgten er und seine Mitstreiter 1956 für die Auf-
hebung der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln in Montgomery. In der
Folgezeit kam es immer häufiger zu Urteilen des Supreme Courts, die die Gleich-
stellung aller Ethnien verlangten. Da die Durchsetzung nicht immer reibungslos von-
statten ging, nahmen die Spannungen im Lande stetig zu.
Im ,,Kalten Krieg" mussten die USA 1957 einen großen Schock verdauen: die Rus-
sen hatten unbemerkt ihre erste Weltraumsonde ins All abgesetzt ­ während in Ca-
pe Canaveral ein (Start-)Versuch nach dem anderen scheiterte. Nach McCarthys
Tod im Mai 1957 wurde im Folgejahr die ,,John-Birch-Society" zur Erinnerung an den
im kommunistischen China getöteten Missionar und Militär John Birch gegründet:
4
Zitiert bei Udo Sautter, Lexikon der amerikanischen Geschichte, München: C.H. Beck, 1997, S. 54.

11
,,Captain" Birch war kurz nach Kriegsende, am 25. August 1945, in der Ortschaft
Schuchow von chinesischen Kommunisten gefangen genommen und grausam hin-
gerichtet worden. Die ,,John-Birch-Society" hatte sich die Bekämpfung der ,,Weltver-
schwörung der Roten"
5
zum Ziel gesetzt. Durch die politischen Fortschritte der
kommenden Jahre, angefangen mit wechselseitigen Besuchen zwischen Vizepräsi-
dent Richard M. Nixon und dem russischen Staats- und Parteichef Nikita Chruscht-
schow 1959, wurde der Gesellschaft allerdings langsam der Nährboden geraubt.
In den fünfziger Jahren hatte sich in den USA eine Kultur der Jugendlichen entwi-
ckelt, die offener und weniger traditionell eingestellt war als die ihrer Eltern. Vor dem
Hintergrund der Erfahrung des 2. Weltkrieges, wo Schwarze und Weiße zusammen
gekämpft hatten, begann allmählich die Akzeptanz der strikten Rassentrennung zu
schwinden. Die technischen Entwicklungen der Zeit sorgten für eine größere
Verbreitung neuer Medien, die ebenfalls die festgefahrenen Traditionen und Ideale
auf den Kopf stellten. Pielke fasst dies wie folgt zusammen:
Underlying all of this was the fact that a conflicting set of fundamental
values had emerged in opposition to the traditional ones, and these new
values were shared by a very large and diverse group of people. Racism
was questioned; sex was seen as good in itself; and the work ethic was
considered irrelevant. Granted that these antitraditional beliefs were of-
ten semiconscious, voiced for the most part negatively and not carefully
reasoned out, they were nevertheless real and potentially explosive. All
that was needed was a catalyst.
6
1.2
Die sechziger Jahre
Zu Beginn der sechziger Jahre litt Amerika unter heftigen gesellschaftlichen Kon-
flikten. Die Gesellschaft schien zerrissen: Die Auswirkungen der McCarthy-Ära hat-
ten das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl verdorben; hinzu kam die innere
Zerrissenheit durch die Rassentrennung. Zugleich gaben die Krisen des ,,Kalten
Krieges" dem zunehmenden Patriotismus der US-Amerikaner aber auch weiter Nah-
rung: Abschuss eines U-2-Aufklärungsflugzeuges über sowjetischem Luftraum
5
Walter Schmitt (Pseudonym ,,Liederschmitt"), Bob Dylan ­ halb & halb, 1. Teilband 1960-66 Loneso-
me Sparrow, 2. Teilband 1967-78 Mighty Mocking Bird, Trier: Editions Trèves, 1978, S. 31 (durchge-
hende Seitenzählung).
6
Pielke, S. 29.

12
(Mai 1960), missglückte Invasion in der Schweinebucht (April 1961), der Mauerbau
in Berlin (August 1961) und dann vor allem die Kubakrise (Oktober 1962).
7
Im Januar 1961 trat der damals erste Katholik und bisher jüngste Präsident der
USA, der 43jährige John F. Kennedy (Demokrat, 1961-1963), sein Amt an. Während
der folgenden knapp drei Jahre bestach er vor allem durch sein vergleichsweise
jugendliches Temperament und die Aura seiner Frau Jacqueline (,,Jacky"), was auf
das ganze Land ausstrahlte. Durch eine nur hauchdünne Mehrheit war er politisch
häufig fast gelähmt und im Senat immer auch auf die Stimmen der Opposition an-
gewiesen. So kam er seinen großen Zielen, einer fairen Sozialpolitik, der ,,New
Frontier" und ersten Schritten zur Beilegung des ,,Kalten Krieges" nur langsam näher
­ letzteres wohl auch, weil er im Oktober 1962 mit der Kubakrise der größten Her-
ausforderung seiner kurzen Amtszeit, der größten Krise des ,,Kalten Krieges", gege-
nüberstand. Mit viel Geduld, Fingerspitzengefühl, Ausdauer und Willensstärke
konnte er sich gegen seine innenpolitischen Widersacher (,,Falken") durchsetzen
und schließlich den Nervenkrieg gegen Chruschtschow gewinnen, ohne die Krise in
einen 3. Weltkrieg eskalieren zu lassen.
Ein weiterer Schauplatz des ,,Kalten Krieges" in den sechziger Jahren war der Welt-
raum. Nach dem ,,Sputnik-Schock" von 1957 konnten die Sowjets noch weitere Er-
folge feiern, indem sie im April 1961 die erste bemannte Erdumrundung erfolgreich
durchführten. John F. Kennedys Ankündigung, die Amerikaner würden als erste und
noch in diesem Jahrzehnt auf dem Mond stehen, sollte sich dann im Juli 1969 mit
Neil Armstrong bewahrheiten.
Diesen Erfolg konnte Kennedy nicht mehr miterleben. Am 22. November 1963 wur-
de er in Dallas erschossen. Seinem Stellvertreter und Nachfolger, Lyndon B. John-
son (Demokrat, 1963-1969), gelang es schließlich, einige der Ziele Kennedys um-
zusetzen: Seine ,,Great Society" war eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen
Reformen, ein nationaler Kampf gegen die Armut. Die fortdauernde Eskalation des
amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg führte allerdings vermehrt zu öffent-
lichen Protesten ­ vor allem unter den Studenten an den Universitäten.
7
Mathias R. Schmidt, Bob Dylan und die sechziger Jahre ­ Aufbruch und Abkehr, Frankfurt: Fischer
Verlag, 1983, S. 32-38.

13
Mitte der sechziger Jahre war es nicht nur der Unmut über den sinnlosen Krieg in
Vietnam, der die Menschen zu Tausenden auf die Straßen brachte, sondern auch
die noch immer bestehende Rassendiskriminierung. Bereits im August 1963 nah-
men über 200.000 friedliche Demonstranten am ,,Marsch auf Washington" teil. Die-
ser Marsch stellte den Höhepunkt der populären Bürgerrechtsbewegung in den USA
dar, die seit Jahren mit friedlichen Mitteln gegen Rassendiskriminierung, koloniale
Ausbeutung und Wettrüsten kämpfte. Die Kennedy-Brüder, John F. und Robert,
förderten als Präsident und Justizminister die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung,
besonders wenn es um die Gleichstellung der Afroamerikaner ging. Mit dem
,,Marsch auf Washington" sollte für die Verabschiedung der von John F. Kennedy
vorgeschlagenen Emanzipationsgesetze (,,Civil Right Act") demonstriert werden, die
jedoch erst 1964/65 in Kraft traten.
Martin Luther King hielt bei dieser Gelegenheit die berühmt gewordene Ansprache
(,,I have a dream") und bedankte sich 1964 mit ,,Why we can't wait" für den Frie-
densnobelpreis. Als aber auch er sich 1967 gegen den Vietnamkrieg aussprach,
wurde er von einem radikalen Weißen im April 1968 ermordet, was zu Aufständen in
über 100 Städten führte.
Bereits im Februar 1965 war Malcolm X bei einer Redeveranstaltung in Harlem von
religiösen Feinden umgebracht worden. Wie King war er für die Aufhebung der Ras-
sendiskriminierung eingetreten, doch sehr viel radikaler. So hielt er auch Gewaltan-
wendung gegenüber Weißen notfalls für angebracht.
Mit dem Ende des Jahrzehnts begann 1969 die Amtszeit von Richard M. Nixon (Re-
publikaner, 1969-1974), der sich vor allem außenpolitisch mit zahlreichen diplomati-
schen Erfolgen hervortat. So leitete er das Ende des Vietnamkrieges und die Nor-
malisierung der Beziehungen mit China ein. Während seiner zweiten Amtszeit war
er 1974 zum Rücktritt wegen der so genannten ,,Watergate-Affäre" gezwungen.

14
2
,,Rock Around The Clock" ­ Zur Geschichte des
Rock'n'Roll
2.1
,,Sh-Boom" ­ Die Vorläufer des Rock'n'Roll
Als Vorläufer des Rock'n'Roll wird der Rhythm & Blues bezeichnet, in dem ver-
schiedene schwarze Musikrichtungen (vor allem Blues) mit Musikrichtungen der
Weißen (vor allem Country) zusammenflossen. Dadurch sind sie alle zu Bestand-
teilen des Rock'n'Roll geworden.
2.1.1 Blues
Der Blues geht auf die ländliche Volksmusik der Afroamerikaner zurück. So unter-
schiedlich wie die Lebenssituationen der schwarzen Bevölkerung innerhalb der USA
waren, so bildeten sich auch verschiedene Bluesformen heraus. Noch heute unter-
scheidet man gängigerweise Country-Blues, City-Blues und Rhythm & Blues.
Der Country-Blues hat die wenigsten Spuren im Rock'n'Roll hinterlassen. Seine
Hochburg ist vor allem das Mississippi-Delta. In den vierziger Jahren erobert eine
elektrifizierte Form des Delta-Blues eine Reihe der rasch wachsenden Großstädte
der Vereinigten Staaten, allen voran Chicago. Kennzeichnend für diesen City-Blues
ist, dass die E-Gitarre als Hauptinstrument in den Vordergrund rückt, während sich
der Country-Blues noch längere Zeit überwiegend auf die akustische Gitarre (und
häufig eine Mundharmonika) beschränkt. Gemeinsam ist beiden Bluesformen, dass
sie die Basis bilden, auf der die afroamerikanische Bevölkerung aus ihren Erlebnis-
welten berichtet. In den Städten trifft der City-Blues auch auf Musikformen, wie den
Boogie Woogie, die vor allem Unterhaltungscharakter besitzen. Als Produkt dieser
Begegnung entsteht eine neuartige, vitale und treibende Tanz- und Unterhaltungs-
musik, die ab dem Ende der vierziger Jahre Rhythm & Blues genannt wird.
Michael Haralambos schreibt in seinem Buch Right On über den Wandel und die
gesellschaftlichen Aspekte des Blues: Er sieht einen wesentlichen Zusammenhang
zwischen schwarzer Gesellschaft und schwarzer Musik. Die Veränderungen in der

15
Musik seien nur Reaktionen auf die Veränderungen in der Gesellschaft.
8
Er schildert
den Verfall des Blues, der ursprünglich als die Musik der schwarzen Unterschicht
Amerikas galt, als Folge des Wachsens einer schwarzen Mittelklasse, die sich mit
dem weißen Amerika identifizieren wollte
9
- die schwarze Unterschicht wiederum mit
der schwarzen Mittelklasse, so dass dem Blues praktisch das Thema fehlte. Ameri-
kaner assoziierten mit dem Blues enge Gassen, Trunksucht, Gewalt, Spielsucht,
Gotteslästerung, häufigen Partnerwechsel, Ignoranz, Vaterschaftsklagen, mangeln-
de (Aus-)Bildung und Haft.
10
Die Weißen und die schwarze Mittelklasse lehnten den
Blues aufgrund dieser Assoziationen ab. Ed Cook vom Radiosender WVON aus
Chicago gibt darum auch der afroamerikanischen Mittelklasse die Schuld am Verfall
des Blues: ,,Personally I blame it on the so-called middle-class Negro, who wanted
to identify with white society so much that he thought that there was something to be
ashamend of about blues."
11
B.B. King sieht die Entwicklung nicht ganz so pessi-
mistisch: ,,I've had black people to tell me ,I've never listened to the blues; I've never
liked them.` I think that's an exaggeration. I believe that deep down in, every black
person has got blues, and a lot of whites."
12
Da der Blues aber schon immer mit
diesen negativen Assoziationen verbunden worden war, können diese nicht (allein)
für den Untergang des Blues verantwortlich gemacht werden.
Nach der Entscheidung des Supreme Court 1954 im Fall Brown gegen Board of
Education of Topeka begannen immer mehr Afroamerikaner, sich mit der weißen
Gesellschaft zu identifizieren, und lehnten dadurch die mit dem Blues assoziierten
Stereotype (s. o.) bewusst ab. Der Stolz der Afroamerikaner wuchs stetig, und sie
standen positiv und selbstbewusst zu ihrer eigenen Herkunft; man hätte daher er-
warten können, dass der Blues eine Renaissance erleben würde, aber das Gegen-
teil war der Fall: Seit Mitte der fünfziger Jahre sanken die Zahlen der Blues-
Veröffentlichungen unaufhörlich!
Self-Improvement does run counter to the ,down in the alley` associa-
tions of blues, and is the strongest argument for the rejection of blues
specifically on those grounds. The way of life portrayed in many blues is
8
Vgl. Michael Haralambos, Right on: From Blues to Soul in Black America, London (England): Eddison
Press, 1974, S. 7-10.
9
Jay Butler vom Radiosender WCHB, zitiert bei Haralambos, S. 66: ,,Back in 1954, the black commu-
nity didn`t want to be associated with blues [...] they wanted to be accepted by whites."
10
Vgl. ebd., S. 61-67.
11
Ebd. zitiert, S. 61.
12
Ebd. zitiert, S. 65.

16
something black Americans want to leave behind, not because it is un-
respectable but rather because it is undesirable.
13
Ein Grund für das Sinken der Zahlen wurde im Desinteresse der afroamerikani-
schen Jugendlichen gesucht und gefunden. Sie wollten nur tanzen und verstünden
den Blues nicht, da sie ihn noch nicht erlebt hätten. Sie müssten erst noch die
,,Blues Maturity" erreichen. Jay Butler sagte hierzu: ,,If you take B.B. King singing
lines like, ,Don't want nobody around my house when my baby's not home,` it
doesn't have the meaning to the young ones because they haven't lived that part of
it yet. Maybe when they get to thirty-five or forty years old and they've been married
and had problems, then it will."
14
Aber obwohl jeden Tag junge Afroamerikaner die
,,Blues Maturity" erreichten, sanken die Verkaufszahlen weiter. Die Jugend der fünf-
ziger Jahre rief nach etwas Neuem, und die Musik wurde souliger, ,,gospeliger" und
,,rock'n'rolliger".
Die Bluessänger erlebten zwar ihre Musik emotional, mussten aber auch versuchen,
von ihr zu leben. Den wenigsten gelang dies und wenn dann nur, weil sie sich um-
stellten. ,,I love the feeling of the blues but what we've turned to now is more or less
a beat. You have to change with the trend. Things will never stay the same as they
were."
15
Für diejenigen, die sich behaupten konnten, gab es im immer größer wer-
denden Musikangebot nur noch eine recht kleine Nische, und Mitte bis Ende der
sechziger Jahre hatten die meisten der kleineren Bluessänger aufgegeben und ei-
nen ,,ordentlichen" Job angenommen. Bluesgrößen wie B. B. King, aber auch Albert
King, Muddy Waters, John Lee Hooker und Lightnin' Hopkins, versuchten dagegen,
den weißen Markt für sich zu gewinnen, um sich über Wasser zu halten. Dies ge-
lang ihnen auch deshalb, weil ,,the whites, they really appreciates the blues, they
really gets with it y'know, they really sincere, it's no come on, it's no gimme, it's no
put on, they for real y'know, and it can make you feel good. I just can't believe they
dig it so deep."
16
Durch die Erfolge ,,bei den Weißen" stieg der Marktwert der Künst-
ler so hoch, dass es sich die ursprünglichen Blues-Bars nicht mehr leisten konnten,
einen Auftritt zu buchen: Der Blues war zu den Weißen und in die großen Konzert-
hallen abgewandert. Die Musik hatte sich mit ihrem sozialen Bezug gewandelt.
13
Haralambos, S. 67.
14
Zitiert ebd., S. 68.
15
Bobby Bland, zitiert ebd., S. 89.
16
B.B. King, zitiert bei Haralambos, S. 91.

17
2.1.2 Country
Die alte Folkmusik der Weißen (z. B. Woody Guthrie
17
) wurde durch den Einfluss
des Blues der Afroamerikaner aus dem Süden der USA zu dem, was man später
Country nannte. Irgendwann in den nächsten Jahren verschwanden die marginalen
Unterschiede zwischen Folk und Blues schließlich ganz.
Die Countrymusik entwickelte sich in den vierziger Jahren von einer ländlichen
Volksmusik der Weißen hin zu einem Popstil, der zunehmend auch städtische Zuhö-
rer ansprach. Die Songs waren harmonisch eher einfach, dabei sehr melodisch, und
sie erzählten zumeist Geschichten aus der Perspektive des kleinen Mannes. Die
Instrumentierung beschränkte sich häufig auf verschiedene Kombinationen von a-
kustischer Gitarre, Dobro, Banjo, Fiedel und Akkordeon. Den Songs ist ein dominie-
render swingender Rhythmus zu eigen, allerdings swingt dieser nicht ­ wie im Jazz
üblich ­ gegen die Eins im Taktmaß, sondern mit der Eins (und der Drei im Vier-
vierteltakt).
Vermarktung / Plattenindustrie
Das Dinwiddie Quartett aus Virginia brachte Ende Oktober 1902 als erste rein afro-
amerikanische Band sechs Singles heraus: fünf Spirituals und ,,Down at the Old
Camp Ground". Bis zum 1. Weltkrieg nahmen dann mehr und mehr weiße Künstler
schwarze Titel in ihr Repertoire auf und gaben sich ,,geschwärzte" Künstlernamen
wie Sophie Tucker und Al Jolson. Seit dem 1. Weltkrieg durften Afroamerikaner
zwar Platten kaufen, doch richtete sich der Markt noch immer ausschließlich nach
weißen Kunden. Besonders die (schwarze) Presse bemängelte dies lautstark und
forderte Platten afroamerikanischer Künstler. Im Juli 1920 schließlich spielte die
Schwarze Mamie Smith den von einem Schwarzen komponierten Titel ,,You Can't
Keep a Good Man Down" an Stelle von Sophie Tucker ein. Durch die massive Wer-
bung der schwarzen Zeitungen wurde er als ,,Crazy Blues" der erste Hit einer afro-
amerikanischen Künstlerin. In den zwanziger Jahren hatten immer mehr Menschen
die Möglichkeit, Grammophone und Radios zu erwerben, so dass sich die neue Mu-
sikkultur besser und schneller verbreiten konnte. Bald hatte jede Plattenfirma min-
destens einen afroamerikanischen Künstler unter Vertrag, so dass spezielle ,,Race"-
17
Siehe auch Kapitel 3.

18
Serien von und für Schwarze entstanden. Schon 1921 wurde die erste rein afroame-
rikanische Plattenfirma gegründet, die aber nur wenig später (1923/24) im Para-
mount-Komplex aufging. In Folge der Depression 1929/30 wurden westlich weniger
Schallplatten verkauft: insgesamt nur noch 6 statt vorher 100 Millionen - die Auflage
von Platten afroamerikanischer Künstler sank von über 14 Millionen auf knapp
1.000 Stück sogar noch deutlicher.
18
Dies lag aber auch daran, dass die ASCAP (American Society of Composers,
Authors and Publishers)
19
so gut wie alle Aufführungsrechte der namhaften und
prägenden Komponisten wie Cole Porter, George Gershwin, Irving Berlin oder Sig-
mund Romberg besaß. Damit kontrollierte sie de facto den Publikumsgeschmack in
den USA, zumal sich die Rundfunkanstalten zunächst verpflichtet hatten, nur AS-
CAP-Produkte auszustrahlen. Im Jahre 1940 änderte sich dies jedoch, als die Mu-
sikverleger für sich und ihre Komponisten und Texter erheblich höhere Honorare
von den Radiosendern verlangten. Die Rundfunkanstalten traten daraufhin fast ein
Jahr in den so genannten ,,ASCAP-Streik". Für die Künstler und Orchester bedeu-
tete dies, dass sie sich praktisch über Nacht ein neues Repertoire zulegen mussten,
wenn sie nach wie vor im Rundfunk gespielt werden wollten.
Die entscheidende Folge des Streikes war auf längere Sicht aber etwas anderes:
Während die viele Jahre dominierende populäre Musik nun zwangsläufig etwas in
den Hintergrund geriet, kamen andere Musikrichtungen, die bislang dem Ge-
schmacksmonopol der ASCAP zum Opfer gefallen waren, an die Oberfläche: Folk-,
Countrymusik und vor allem der Blues. Es schlug nun die Stunde von BMI (Broad-
cast Music Incorporated), einer 1941 von den Rundfunkgesellschaften selbst als
Konkurrenz zur ASCAP gegründeten Urhebergesellschaft, die in das entstandene
Vakuum stieß und dem Publikum ein neuartiges populäres Programm anbieten
konnte. Als schließlich im November 1941 die ASCAP im Tantiemenstreit nachge-
ben musste, hatte sich der Musikgeschmack der breiten Zuhörerschaft so weit ge-
wandelt, dass nun auch die ASCAP auf Vertreter der neuen Musikformen nicht mehr
verzichten konnte. Dies alles führte so zu einer radikalen Demokratisierung der da-
maligen Musikproduktion.
20
18
Vgl. Joel Whitburn, Top R&B Singles 1942-1988, Menomonee Falls: Record Research, 1988, S. 9f.
19
1914 in New York gegründete, bis 1941 einzige Verwertungsgesellschaft musikalischer Rechte.
20
Vgl. Olaf Benzinger, Rock-Hymnen ­ Das Lexikon, Kassel, Basel, London, New York, Prag: Bären-
reiter, 2002, S. 15ff.

19
Künstler wie Nat (,,King") Cole und Louis Jordan entwickelten daraufhin noch 1941
den so genannten Jump Blues. Er wurde durch das Zusammenspiel der schwarzen
(,,Race") und weißen (Pop und Country) Hitparaden hervorgebracht und war da-
durch allgemein sehr beliebt. Im 2. Weltkrieg litt die Plattenindustrie unter der Ratio-
nierung von Schellack und Benzin, während den Big Bands Probleme aus der Ein-
berufung ihrer Musiker entstanden, was schnell zum Ende der so genannten ,,Swing
Ära" (z. B. Duke Ellington, Glenn Miller) führte. Sie hatte in der Phase nach der De-
pression 1929 und während des Krieges für Ablenkung und Erholung gesorgt, was
vor allem durch die enorme Verbreitung des Radios möglich gewesen war. Sowohl
schwarze als auch weiße Musiker spielten mittlerweile den neuen Sound, den Jazz,
und kleine, rein afroamerikanische Bands (z. B. das King Cole Trio), die sich häufig
gegenseitig kopierten, übernahmen nun die Bühnen, was auch deshalb möglich
war, weil seit den späten dreißiger Jahren die Gitarren elektrisch verstärkt werden
konnten.
21
Ebenfalls in den vierziger Jahren begann das Musikmagazin Billboard parallel zu
seinen üblichen Chartlisten regelmäßig die ,,Harlem Hit Parade" zu veröffentlichen.
Anfänglich richteten sie sich nur nach den Verkaufszahlen in den großen Städten
der Ostküste, aber später wurden die Zahlen nationaler, und man nannte sie ­ der
Mode hinterherhinkend ­ ,,Race Records". Seit dem 25. Juni 1949 hieß die Hitpara-
de dann politisch korrekter ,,Rhythm & Blues", da dieser Begriff alles Afroamerikani-
sche der Musik miteinander verband.
22
2.1.3 Rhythm & Blues
Bis 1950 hatte sich ein großer weißer Markt für Rhythm & Blues-Platten entwickelt.
Die Plattenfirmen, besonders die kleineren, reagierten schnell und boten schwarze
Musik auch dem weißen Publikum an. Radiosender folgten dem Trend und spielten
ebenfalls mehr afroamerikanische Musik für ihr überwiegend junges Publikum.
21
Zu diesem Zeitpunkt war es aber noch so, dass sich die meisten Gitarristen des neuen Klangvolu-
mens nur dann bedienten, wenn sie Soli spielten. Wenn sie sangen, schalteten sie die elektrische
Verstärkung wieder aus.
22
Vgl. Whitburn, S. 9ff.

20
Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass in den fünfziger Jahren wie aus
dem Nichts eine raue, wilde und mitreißende Mischung aus Country, City-Blues und
Rhythm & Blues zunächst die ganzen USA überschwemmten und schon bald der
populären Musik der gesamten westlichen Welt eine neue Richtung gab: der
Rock'n'Roll. An dessen Bestandteile hatte sich das Publikum in den Jahren zuvor
langsam, aber stetig gewöhnt.
Rhythm & Blues verband Gospel mit Blues, Boogie und Swing und integrierte darin
die Erotik und Leidenschaft der lebenslustigen Afroamerikaner. Natürlich rief dies
Eltern, Kirche und zahlreiche moralische Bedenkenträger auf den Plan. Kurt Rohr-
bach zitiert in seinem Buch Rockmusik ein entsprechendes Plakat:
ACHTUNG! STOP! Rettet die Jugend Amerikas! Kauft keine Negerplat-
ten. Hören Sie sich auch keine Negerplatten im Radio an. Die idioti-
schen Texte und die Urwaldmusik dieser Platten untergraben die Moral
unserer weißen amerikanischen Jugend. Rufen Sie bei Firmen an, die in
einem Rundfunksender werben, der solche Musik spielt, und beschwe-
ren Sie sich bei ihnen!
23
Ende 1953 / Anfang 1954 fanden eine Reihe von erfolgreichen Titeln der
Rhythm & Blues-Hitparaden ihren Weg auch in die allgemeinen Charts ­ allerdings
vorerst nur die Cover-Versionen
24
der prominenten, erfolgreichen, weißen Künstler
(z. B. ,,Shake, Rattle and Roll" von Joe Turner und gecovert von Bill Haley; ,,Since-
rely" von den McGuire Sisters, aber im Original von den Moonglows und ,,Tweedle
Dee" von LaVerne Baker, neu eingespielt von Georgia Gibbs). Mitte März 1954
nahmen die Chords, eine afroamerikanische Sechs-Mann-Gesangsgruppe aus der
New Yorker Bronx, den Titel ,,Sh-Boom" auf, der im April veröffentlicht wurde. Am
3. Juli dann standen sie auf Platz 8 der Billboard-Rhythm & Blues-Charts ­ und
gleichzeitig auch, ebenfalls im Popmusik-Fachblatt Billboard, auf der weißen Best-
seller-Liste. Dies führte schließlich dazu, dass auch Titel afroamerikanischer Künst-
ler in den weißen Charts zu finden waren. Währenddessen unterstützte auch der
United States Supreme Court durch verschiedene Entscheidungen den Abbau der
Rassendiskriminierung. ,,There was a striking historical parallel between the evoluti-
on of the black freedom struggle and the various transformations of Rhythm and
23
Kurt Rohrbach, Rockmusik ­ Die Grundlagen, Oldershausen: Institut für Didaktik populärer Musik,
o.J., S. 112.
24
Neuinterpretation und Neueinspielung eines bereits von einem anderen Musiker oder einer anderen
Band aufgenommenen Songs.

21
Blues, as art and industry, process and product."
25
Daraufhin schafften es 1955
weitere Rhythm & Blues-Stars wie Fats Domino und Little Richard mit ihren Titeln,
allein und direkt in den allgemeinen, weißen Charts aufzutauchen.
2.2
,,Roll Over Beethoven" ­ Zur Entwicklung des
Rock'n'Roll
Die fünfziger Jahre gelten als das Jahrzehnt des Rock'n'Roll. Als 1955 Bill Haley's
,,Rock Around The Clock", was heute landläufig als der erste Rock'n'Roll-Titel gilt,
bekannt wurde, begannen die USA zu einem völlig neuen Sound zu tanzen. Den
größten Teil der Musik aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren macht
ein unbefangener, fröhlicher Musikstil aus, der die Euphorie und den grenzenlosen
Optimismus nach dem 2. Weltkrieg widerspiegelt. Die Jugend der Zeit hatte keine
Erfahrung mit dem Krieg gemacht, hatte keine Entbehrungen auf sich nehmen müs-
sen und suchte nun nach etwas Aufregendem, etwas Neuem, etwas, wodurch sie
ihre Jugend leben konnte: Die Antwort war der Rock'n'Roll.
2.2.1 Die Anfänge des Rock'n'Roll
Seit 1953/1954 etablierten sich mehr und mehr schwarze Künstler in den weißen
Hitparaden, aber schon 1951 hatte es einen anderen großen Wendepunkt im ameri-
kanischen Musikgeschäft gegeben: Ein junger, weißer herumreisender Countrysän-
ger mit Namen Bill Haley beschloss, selbst einmal ein paar Rhythm & Blues-Stücke
aufzunehmen. Er war damit sofort erfolgreich und spielte noch mehr Stücke ein. Bis
Mitte der fünfziger Jahre rückten Country und Rhythm & Blues immer enger zu-
sammen: Die neue Musik war auch für die derzeit aktiven Musiker auf ihren eige-
nen, ,,alten" Instrumenten schnell und leicht zu erlernen bzw. zu spielen. Sie sprach
im Prinzip die ganze Bevölkerung an ­ wenigstens die ganze junge Bevölkerung.
Diese neue Musik verband die Kultur der Weißen und die der Schwarzen miteinan-
der zu etwas Neuem und unterstützte so die aufstrebende Multikultur der USA. Der
Begriff ,,Rock'n'Roll", der daraufhin von dem weißen New Yorker Rhythm & Blues-
25
Brian Ward, Just My Soul Responding ­ Rhythm and Blues, Black Consciousness and Race relati-
ons, London (England): UCL Press, 1998, S. 2.

22
Discjockey Alan Freed für diese ,,neue" Musik geprägt wurde, beschreibt also etwas,
was es im Prinzip schon die ganze Zeit gegeben hatte und ermöglicht es so auch
gerade den Weißen, diese Musik selbst zu spielen.
Die Kehrseite dieser Umbenennung ist allerdings, dass damit die afroamerikani-
schen Wurzeln der Rockmusik verdeckt werden, denn der Rock'n'Roll hatte nicht
mit den Weißen Bill Haley und Elvis Presley begonnen, sondern mit den Afroameri-
kanern Little Richard, Fats Domino und vor allem Chuck Berry.
The Negro singers ­ Fats Domino, Chuck Berry, Little Richard ­ who
achieved success as Rockers, without significantly tailoring their style for
white consumption show the direct development of the parent style, ba-
sically suitable as it was for white audiences, and, notwithstanding this,
the radical cultural movement undertaken by white teenagers in order to
be able to accept a genuine, even if sophisticated, Negro style.
26
,,Generell kann man immer wieder feststellen: Die Rockmusik ist künstlerisch die
Domäne der Schwarzen, wenn auch die größeren kommerziellen Erfolge der Wei-
ßen dem oberflächlichen Betrachter hier das Gegenteil suggerieren wollen."
27
Barry
Graves bringt es auf den Punkt:
Alles, was die Rockmusik heute [1989] ist, verdankt sie schwarzen
Künstlern aus den US-Südstaaten, amerikanischen Großstadt-Ghettos
und der karibischen Region ­ vom ersten Elektro-Gitarristen T-Bone
Walker bis zu den Rap-Artisten aus der Bronx, aus Los Angeles und Mi-
ami, die allein es heutzutage verstehen, der Rockmusik ein Gefühl von
Drama, Leidenschaft, Risiko und Glaubwürdigkeit zu geben. Schwarze
Musik war nie bloß Feierabend-Fez, Zeitvertreib-Beat, Rebellen-
Randale, um die Eltern zu erschrecken. Schwarze Musik machte als
Gospel Hoffnung auf Erlösung von Erniedrigung und Ausgestoßensein,
artikulierte als Blues Schwermut, Verzweiflung, Hass und unterdrückte
Sehnsucht einer Ghetto-Existenz, löste im Jazz Underdog-Gefühle in
ekstatischen Synkopen auf, vermittelte im Soul neues schwarzes
Selbstbewusstsein und machte im Rap die Rechnung für die seit zwei-
hundert Jahren anhaltende Diskriminierung auf.
28
Es ist auch darum schwer zu sagen, welches der erste echte Rock'n'Roll-Titel ist.
Für einige ist es Jackie Brenston's ,,Rocket 88" aus dem Jahr 1951 mit Ike Turner an
26
Richard Middleton, Pop Music and the Blues ­ A Study of the Relationship and its Significance,
London: Victor Gollancz, 1972, S. 149.
27
Benzinger, S. 18.
28
Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bernward Halbscheffel, Rock-Lexikon, Reinbek: Rowohlt,
1998, S. 9.

23
den Keyboards. Andere sagen, es ist das 1954 als ein Remake aufgenommene
,,Shake, Rattle and Roll"
29
von Bill Haley and his Comets. Stars aus der Zeit haben
ihre eigene Vorstellung: ,,I am the architect of Rock'n'Roll!", rief Little Richard immer
wieder. Heute schreiben diesen Erfolg auch viele einem ganz anderen zu: Chuck
Berry, der 1956 mit ,,Roll Over Beethoven" die inhaltlich programmatische Parade-
nummer schuf und damit dem Rock'n'Roll endgültig zum Durchbruch verhalf. Auf
selbstbewusste, freche Weise setzte er ein deutliches Zeichen: Beethoven ist Ver-
gangenheit, die Zeit ist über sie hinweggegangen ­ das ist Rock'n'Roll!
2.2.1.1 Verbreitung von Musik und LifeStyle
Ganz gleich, wer den Rock'n'Roll ,,erfunden" hat, die Verantwortung für den durch-
schlagenden Erfolg der neuen Musik im Publikum trug die Massenverbreitung durch
die Schallplatte. Sie war die akustische Vorlage für Konzertprogramme, sie war das
Medium für die weltweite Verbreitung der Musik. Liveauftritte im Fernsehen, Inter-
views im Radio und Konzerte waren zwar wichtige PR- und Marketing-Events, aber
die Schallplatten waren ,,das ,Herzstück der Rockmusik`, das als kultureller Bot-
schafter die gleiche Musik der gleichen Künstler in China wie in Ägypten, in der
Schweiz wie in Kanada, in Australien wie in Argentinien zum Klingen bringt ­ politi-
sche Restriktionen vor Ort einmal außer Acht gelassen."
30
Die Plattenindustrie wur-
de zu einem weltweit bedeutsamen, milliardenschweren Wirtschaftszweig, und der
Großteil ihrer Produkte bediente das Rock-Publikum. Die erste Hälfte der fünfziger
Jahre war noch fest in Händen der Tin Pan Alley-Gruppe,
31
aber späterhin nahm
dieser Einfluss ab. Wenn man die Spitzentitel von 1945 mit denen von 1955 ver-
gleicht, erkennt man, dass viele der Tin Pan Alley-Songschreiber immer wieder an
erfolgreichen Titeln beteiligt waren ­ 1955 aber keiner mehr.
In seiner reinsten Form hat der Rock'n'Roll drei Akkorde (Tonika, Subdominante,
Dominante), einen starken, betonten Rhythmus und eine eingängige Melodie. Der
frühe Rock'n'Roll basierte auf vielfältigen Quellen: Blues, Rhythm & Blues und
29
Obwohl Big Joe Turner den Titel schon früher als einen Rhythm & Blues-Titel aufgenommen hatte,
war dies 1954 der große Durchbruch und erster Millionseller von Bill Haley. Es handelt sich hierbei
um eine mildere Version des Turner-Titels, da Haley den Text stark abschwächte.
30
Benzinger, S. 21f.
31
Eine Gruppe von Musikverlagen, die Komponisten und Songschreibern eine feste Anstellung bot, um
erfolgreiche Titel zu schreiben.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832469375
ISBN (Paperback)
9783838669373
DOI
10.3239/9783832469375
Dateigröße
873 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main – Neuere Philologien, England- und Amerikastudien
Erscheinungsdatum
2003 (Juni)
Note
2,0
Schlagworte
rock roll elvis presley dylan
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Titel: 'The Times They Are A-Changin" - Musik und Gesellschaft
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