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Der politische Islamismus in der Türkei

©2003 Magisterarbeit 133 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Als bei den Parlamentswahlen am 24. Dezember 1995 die islamistische Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans mit 22 % als stärkste Partei hervorging, versetzte dies Europa, das türkische Militär und die westlich gesinnten TürkInnen in Aufruhr. Erst nach diesen Wahlen fingen die westlichen Medien an sich mit dem Problem des radikalen politischen Islams in der Türkei zu beschäftigen. So wurde in Europa und in der Türkei gleichermaßen befürchtet, dass die Verwestlichung der Türkei, die seit der Ausrufung der Republik durch Atatürk begonnen hatte, beendet werden würde. Zusätzlich wird der Islam im Hinblick auf die wachsende Anzahl der muslimischen Einwanderer in West- und Mitteleuropa für eines der Hindernisse des europäischen Integrationsprozesses gehalten.
In meiner Diplomarbeit möchte ich herausfinden, wie groß die Gefahr vom politischen Islamismus auf den säkularen türkischen Staat besteht. In diesem Zusammenhang möchte ich auch den Richtungskampf zwischen den Kemalisten, die eine Europabindung der Türkei beibehalten und sie durch eine EU-Mitgliedschaft vertiefen wollen und den „Neuen Osmanen“, die den pantürkischen Islamismus anstreben, untersuchen.
Im I. Teil meiner Arbeit gehe ich sehr detailliert in die osmanische und republikanische Geschichte der Türkei ein, um zu zeigen, dass Modernisierungsreformen in der Türkei nicht mit Atatürk angefangen haben. Vielmehr sehe ich die kemalistischen Reformen als die Fortsetzung der spätosmanischen Modernisierungsversuche. Meiner Meinung nach kann das Erstarken der Islamisten und die Sonderstellung der türkischen Armee nur im Zusammenhang mit dem Kennen der türkischen Geschichte verständlich werden.
Im II. Teil meiner Diplomarbeit gehe ich auf die gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei ein. Spätestens nach den Wahlen vom 3. November 2002 steht fest, dass der Islamismus eine politische Kraft geworden ist, die nicht mehr übergangen oder durch Verbote aus der Welt geschaffen werden kann. Der Führungsanspruch der „Neuen Osmanen“, aus dessen Lager auch der Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan kommt, sind politische Tatsachen.
Ich versuche im II. Teil der Diplomarbeit herauszufinden, was die Islamisten wollen. Streben sie einen Gottesstaat oder ein neues Osmanisches Reich an? Oder können wir vom türkischen Islamismus als einer „islamistischen Version der Demokratie“ sprechen? Würden sich die islamistischen Parteien, wie vergleichsweise die säkularen christlich-demokratischen Parteien […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6850
Kis, Emel: Der politische Islamismus in der Türkei
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Innsbruck, Universität, Magisterarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Der politische Islamismus in der Türkei
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1. EINLEITUNG
4
I. TEIL
6
2. DAS OSMANISCHE REICH
6
2.1 Die Gründung des Osmanischen Reiches
6
2.2 Die Tanzimat-Zeit
8
2.3 Die Hoheitliche Verordnung
11
2.3.1 Die Jungosmanen
12
2.3.2 Die Alleinherrschaft Abdülhamits II.
15
2. 4 Eine türkische Nationalidee entsteht
17
2.5 Die Jungtürken: ,,Einheit und Fortschritt"
20
2.5.1 Die jungtürkische Revolution
21
3. DAS REICH GEHT UNTER
24
3.1 Der Türkische Befreiungskampf gegen die Entente-Mächte und den Sultan 24
3.2 Die Reformen Mustafa Kemals
26
3.3 Der Zentrum-Peripherie-Gegensatz
28
4. DIE IDEOLOGIE DES KEMALISMUS
31
4.1 Analyse der kemalistischen Prinzipien
31
4.2 Die Ideologie in der kemalistischen Türkei 1919-1939
33
5. DIE TÜRKEI NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
43
5.1 Der Übergang vom Einparteien- zum Mehrparteiensystem
43
5.2 Die politische Wende des Jahres 1950
44
5.3 Der Militärputsch vom 27. Mai 1960
45
5.4 Das Memorandum vom 12. März 1971
47
5.5 Der Militärputsch vom 12. September 1980 und seine Folgen
49
5.6 Die Ära Turgut Özal
50

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2
6. DIE TÜRKEI IM AUFBRUCH: DIE HERAUSFORDERUNG DURCH
DIE ,,NEUEN OSMANEN" ­ WOHIN TREIBT DIE KEMALISTISCHE
REPUBLIK?
52
6.1 Die Rahmenbedingungen zum Aufstieg Erbakans
52
6.2 Necmettin Erbakans politische Laufbahn
55
6.3 Der Sturz Erbakans durch das Militär
57
6.4 Was hat Erbakan erreicht?
60
6.5 Die Türkei und ihre Nachbarn: Die Erfindung des Neo-Osmanismus
62
II. TEIL
64
7. RELIGION UND STAAT
64
7.1 Das Amt für religiöse Angelegenheiten
64
7.2 Staatliche Imam-Hatip-Schulen
66
8. WIRD DIE TÜRKEI ENTWESTLICHT ODER DE-SÄKULARISIERT?
71
8.1 Von der Westorientierung zum Islamismus
71
8.2 Entwestlichung der Türkei?
74
8.2.1 Die vergangenen säkularen Reformen
74
8.2.2 Die Wiedergeburt des Islamismus
74
8.3 Eine Verbindung von Islamismus und Neo-Osmanismus
77
9. VOM SÄKULAREN KEMALISMUS ZUM PANTÜRKISCHEN
ISLAMISMUS
80
9.1 Die Politisierung des Islam ist keine Re-Islamisierung
80
9.2 Islamisierung und "Tarikat"-Orden
81
9.2.1 Der Nakschibendi-Orden
83
9.2.2 Der Nurcu ­ Orden
84
9.2.3 Der Süleymanci ­ Orden
85
9.2.4 Die Haltung des Militärs zu den Orden
86
9.3 Säkularisierung von oben ­ Desäkularisierung von unten
87
9.3.1 Auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft?
90
10. DIE TÜRKEI IM LICHTE DES ISLAMISCHEN ERBES
92
10.1 Die osmanische Geschichte im neuen Licht
92
10.1.1 Die deprimierende Gegenwart
93
10.1.2 Der idealisierende Blick auf die Geschichte
94

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11. DER KAMPF DES MILITÄRS GEGEN DEN FUNDAMENTALISMUS
98
11.1 Der Nationale Sicherheitsrat (Milli Güvenlik Kurulu, MGK)
98
11.2 Der Einfluss des Militärs auf die türkische Innenpolitik
99
11.3 Die wirtschaftliche Macht des Militärs
99
11.4 Die Verfassungsänderung vom Oktober 2001
101
12. DIE VORGEZOGENEN PARLAMENTSWAHLEN VOM
3. NOVEMBER 2002
104
12.1 Analyse der Wahlen
104
Türkeiweit 104
PARTEI 104
12.2 Die Reaktionen der EU und der türkischen Armee
109
12.3 Wer ist Recep Tayyip Erdogan?
111
13. PROBLEME UND PERSPEKTIVEN IN DER TÜRKISCHEN
POLITIK UND GESELLSCHAFT
113
13.1 Probleme in der türkischen Politik und Gesellschaft
113
13.2 Die Rolle des Islam
115
13.3 Perspektiven in der türkischen Politik und Gesellschaft
117
14. RESÜMEE UND KRITISCHE REFLEXIONEN
120
15. ANHANG
122
15.1 Abkürzungen und Kurzmerkmale von im Text erwähnten Parteien
122
16. LITERATURVERZEICHNIS
124

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4
1. Einleitung
Als bei den Parlamentswahlen am 24. Dezember 1995 die islamistische
Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans mit 22 % als stärkste Partei hervorging,
versetzte dies Europa, das türkische Militär und die westlich gesinnten
TürkInnen in Aufruhr. Erst nach diesen Wahlen fingen die westlichen Medien an
sich mit dem Problem des radikalen politischen Islams in der Türkei zu
beschäftigen. So wurde in Europa und in der Türkei gleichermaßen befürchtet,
dass die Verwestlichung der Türkei, die seit der Ausrufung der Republik durch
Atatürk begonnen hatte, beendet werden würde. Zusätzlich wird der Islam im
Hinblick auf die wachsende Anzahl der muslimischen Einwanderer in West- und
Mitteleuropa für eines der Hindernisse des europäischen Integrationsprozesses
gehalten.
1
In meiner Diplomarbeit möchte ich herausfinden, wie groß die Gefahr vom
politischen Islamismus auf den säkularen türkischen Staat besteht. In diesem
Zusammenhang möchte ich auch den Richtungskampf zwischen den
Kemalisten, die eine Europabindung der Türkei beibehalten und sie durch eine
EU-Mitgliedschaft vertiefen wollen und den ,,Neuen Osmanen", die den
pantürkischen Islamismus anstreben, untersuchen.
Im I. Teil meiner Arbeit gehe ich sehr detailliert in die osmanische und
republikanische Geschichte der Türkei ein, um zu zeigen, dass
Modernisierungsreformen in der Türkei nicht mit Atatürk angefangen haben.
Vielmehr sehe ich die kemalistischen Reformen als die Fortsetzung der
spätosmanischen Modernisierungsversuche. Meiner Meinung nach kann das
Erstarken der Islamisten und die Sonderstellung der türkischen Armee nur im
Zusammenhang mit dem Kennen der türkischen Geschichte verständlich
werden.
Im II. Teil meiner Diplomarbeit gehe ich auf die gegenwärtigen Entwicklungen in
der Türkei ein. Spätestens nach den Wahlen vom 3. November 2002 steht fest,
1
Vgl. S., Balic: Der Islam im europäischen Umfeld in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22 / 90, 25. Mai
1990, S. 30

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dass der Islamismus eine politische Kraft geworden ist, die nicht mehr
übergangen oder durch Verbote aus der Welt geschaffen werden kann. Der
Führungsanspruch der ,,Neuen Osmanen", aus dessen Lager auch der
Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan kommt, sind politische Tatsachen.
Ich versuche im II. Teil der Diplomarbeit herauszufinden, was die Islamisten
wollen. Streben sie einen Gottesstaat oder ein neues Osmanisches Reich an?
Oder können wir vom türkischen Islamismus als einer ,,islamistischen Version
der Demokratie" sprechen? Würden sich die islamistischen Parteien, wie
vergleichsweise die säkularen christlich-demokratischen Parteien Westeuropas,
zu Organisationen und Trägern des demokratischen Establishments werden?
In diesem gesellschaftlichen Prozess ist natürlich auch die Sonderstellung der
türkischen Streitkräfte von großer Bedeutung. In Kapitel 10 werde ich mich
näher mit ihrer Rolle in der türkischen Gesellschaft und Politik beschäftigen.
Weiters werde ich versuchen herauszufinden, welche Rolle das Militär im
Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus und politischen Islamismus
spielt.

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I. TEIL
2. Das Osmanische Reich
2.1 Die Gründung des Osmanischen Reiches
Durch die Gründung des großseldschukischen Reiches beginnt der Einzug der
Türken in die heutige Türkei. 1071 besiegt Alp Arslan (1036-1072) die
byzantinischen Streitkräfte und öffnet so das Land für das Eindringen der
Türkmenen. In ethnischer Hinsicht sind die Türkmenen die wesentlichen
Urahnen des türkischen Bevölkerungsteils der heutigen Türkei. Im Gegensatz
zum großseldschukischen Reich, dem eine lange Lebensdauer nicht
beschieden war, begannen die Türkmenen in dem neu eroberten und
besiedelten Raum eine Reihe von Staatswesen zu gründen.
2
Osman (1281-1326), der Ahnherr der osmanischen Dynastie, hatte sich als
eifriger Glaubenskrieger durch militärische Aktionen gegen seine christlichen
Nachbarn einen Namen gemacht. Er verstand es, seine Eroberungen durch die
Einrichtung einer wirksamen Verwaltung zu festigen. Gleichzeitig schuf er ein
hierarchisch geordnetes stehendes Berufsheer, das zu einem schlagkräftigen
Instrument bei der raschen Ausbreitung des Reiches werden sollte. Unter
Osmans Sohn Orhan (1326-1360) kam es zu einer weiteren Ausbreitung des
jungen Staates. Unter ihm drangen die türkischen Truppen um 1350 zum ersten
Mal tief auf europäisches Gebiet vor und errichteten einen Brückenkopf, von
dem aus die Eroberung des Balkans planmäßig vorangetrieben werden konnte.
1361 wurde die Stadt Adrianopel (das heutige Edirne), die zweitwichtigste Stadt
des byzantinischen Rest-Staates, erobert. Murat I. (1360-1389) verlegte den
Sultansitz von Bursa nach Edirne. Die Ausbreitung der osmanischen Macht auf
dem Balkan konnte nun zügig vorangetrieben werden. Nach der Schlacht auf
dem Amselfeld kam Serbien unter die Oberhoheit der Osmanen. Unter Murat I.
erhielt das osmanische Reich auch im Inneren eine für die kommenden
Jahrhunderte weitgehend bestimmende Ausprägung. Im Zentrum war der

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Herrscher, der nunmehr Sultan genannt wurde. Das Schwergewicht der
Staatsmacht lag beim Militär. Dies wurde auch mit der Tatsache unterstrichen,
dass das wichtigste Amt der zivilen Rechtspflege mit dem entsprechenden
militärischen Amt verbunden war: Der vom Sultan ernannte Heeresrichter war
zugleich oberster Richter des Osmanenstaates. Grundlage der
Rechtssprechung war die Scharia, das islamische Religionsgesetz, die durch
weltliche Gesetze (Kanun) ergänzt wurde.
Grundlage der sozialen Struktur war ein Lehensystem, das dem europäischen
ähnelte, aber auch eigentümliche Unterschiede aufwies. So hatte jeder
bewährte Krieger Anspruch auf ein Stück Land (Timar). Als Gegenleistung
musste er als belehnter Reitersoldat dienen. Später hatten auch Zivilbeamte
Anspruch auf das militärische Timar-System. Die Pfründen waren nicht erblich.
Mit dem Tod des Inhabers fielen sie dem Staat zur Neuvergabe anheim.
Unter Murat wurde das osmanische Heer durch die Truppe der Janitscharen
ergänzt. Diese Truppe wurde zunächst aus jugendlichen Kriegsgefangenen
rekrutiert. Später wurden sie systematisch unter den Knaben der unterworfenen
christlichen Völker ausgehoben. Diese Kinder, der zumeist bäuerlichen
Balkanvölker, wurden ihren Eltern weggenommen, zum Islam bekehrt, in
besonderen Schulen ausgebildet und bedingungslos auf die Person des
Sultans eingeschworen. Auch nach der Ausbildung in den Kasernen waren sie
einer harten Zucht unterworfen. So wurde ihnen verboten zu heiraten, auch
jegliche sexuelle Betätigung wurde ihnen untersagt.
Am 29. Mai 1453 eroberte sein Nachfolger Mehmet II. (1451-1481)
Konstantinopel. Die Hauptstadt wurde nunmehr Konstantinopel, welcher fortan
Istanbul genannt wurde. Unter ihm wurde die Verwaltung ausgebaut, die Macht
des Sultans gestärkt. Die nicht-islamischen Völker und
Religionsgemeinschaften, die Juden und die Christen, genossen den Status
einer Millet, d.h. einer eigenständigen Gemeinde. Als Untertanen des Sultans
mussten sie zwar Steuern entrichten, doch waren sie in der Verwaltung ihrer
rechtlichen und religiösen Angelegenheiten weitgehend autonom. Sie waren
2
Vgl. Udo, Steinbach, Geschichte der Türkei, München , 2000, S. 9f

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auch vom Dienst in der osmanischen Armee ausgeschlossen. Ihre religiösen
Würdenträger erhielten bedeutende Privilegien und waren auch die politischen
Führer ihrer Gemeinde und vertraten diese gegenüber dem osmanischen Staat.
Die territoriale Ausdehnung des osmanischen Staates ging weiter. 1517 gelang
die Eroberung Kairos und der Kalif wurde nach Istanbul gebracht. Dieser
übergab seinen Kalifentitel dem osmanischen Sultan. Mit dieser Würde war
keine politische Macht verbunden. Der Idee nach war der Kalif der Nachfolger
des Propheten Mohammeds in der Führung seiner Gemeinde, der Statthalter
Allahs auf Erden. Er war die Verkörperung der islamischen Staatsidee und
manifestierte die Einheit der Muslime. Gegen Ende des Reiches besinnten sich
die Sultan-Kalifen verstärkt auf diese Würde und leiteten daraus ihre
Legitimation als Oberhaupt und Führer aller Muslime. Mit der Eroberung Kairos
fielen den Osmanen auch die heiligen Städte Mekka und Medina zu, was das
religiöse Element in der Legitimation der Osmanen stärkte.
Mit Süleyman (dem Prächtigen, 1520-1566) erhielt das osmanische Reich seine
größte Ausdehnung. Unter Süleyman dem Prächtigen wurden die
diplomatischen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und dem
Osmanischen Reich ausgebaut und das Osmanische Reich wurde als eine
europäische Macht anerkannt. Ab Sultan Süleyman begann der langsame
Zerfall und die innere Stagnation des Osmanischen Reiches.
Die Niederlage vor Wien und die folgenden Friedensschlüsse bildeten eine
deutliche Zäsur in der osmanischen Geschichte und leiteten die Phase des
machtpolitischen Niedergangs gegenüber den europäischen Großmächten ein.
3
2.2 Die Tanzimat-Zeit
Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Reformen, türkisch ,,Tanzimat"
(Neuordnung). Damit waren wirkliche Reformen gemeint, nicht nur die
Restaurierung der alten Zustände. Die Tanzimat-Periode umfasst die
3
Vgl. Michael W. Weithmann, Atatürks Erben auf dem Weg nach Westen ­ Die Türkei im
Spannungsfeld zwischen Nahost und Europa, München, 1997, S. 51

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Regierungszeit der Reformsultane Mahmud II. (1808-1839) und Abdülmecit I.
(1839-1861).
4
Die ersten umfassenden Erneuerungen werden im Bereich des Militärs
durchgeführt. Französische, später preußische Militärberater reorganisieren das
osmanische Heer. In technischen Lehranstalten sollte der Offiziersnachwuchs
herangebildet und durch Aufenthalte in den europäischen Metropolen geschult
werden. Die modernen europäischen Ideen gingen natürlich nicht spurlos an
ihnen vorüber. Hier sieht man auch ein typisch türkisches Phänomen der
neueren Zeit: Das Militär wird zum Wegbereiter nach Europa und zum
Verfechter des fortschrittlichen europäischen Gedankens. Das altosmanische
Offizierkorps setzt sich aus allen sozialen Schichten zusammen, weil ein
Adelsstand fehlt. Die osmanischen Reformen begannen somit von oben, um die
politischen Interessen der herrschenden Eliten und der höheren Ränge der
Bürokratie und der Armee zu schützen.
5
Hinter den Reformen stand der
Wunsch das Staatsapparat vor inneren und äußere Bedrohungen zu
beschützen.
Die neuorganisierte Armee bietet fähigen und gerade an der Technik
interessierten jungen Männern Ausbildungs- und Aufstiegschancen. So entsteht
eine neue klassenübergreifende Schicht von Offizieren, Technikern und
Ingenieuren. Politisch sind sie radikalreformerisch, antiklerikal und später auch
republikanisch eingestellt. Ende des 19. Jahrhunderts fasst der türkische
Nationalgedanke gerade bei dieser neuen Elite Fuß.
Zuerst werden Taktik, Bewaffnung, Uniformierung und Rangordnung
europäisiert. Die preußische Militärmission unter Helmut von Moltke hatte hier
entscheidenden Einfluss. Moltkes Tätigkeit ist der Anfang einer intensiven
militärischen deutsch-türkischen Zusammenarbeit, die bis heute andauert.
6
4
Vgl. Michael W., Weithmann (1997), S. 63
5
Vgl. R. H. Davison, Reform in the Ottoman Empire 1856-1876, Princeton : Princeton University Press,
1963, S. 6-8
6
Vgl. M. Weithmann (1997), S. 64

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Die Grundvoraussetzung für alle Reformen ist die Abschaffung des schon
längst in Anarchie übergegangenen alten Lehenswesens. Die alten Lehen
gehen in Staats- oder Privatbesitz über. Die Steuern werden nach Besitz
erhoben, und der Landbesitz wird durch Grundbücher gesichert. Der
französische Aufbau zeigt sich in den Verwaltungsreformen, in der
Neuorganisation des Staatsaufbaus, der Bürokratie und der diplomatischen
Vertretungen im Ausland. Auch das Erziehungswesen wird einer radikalen
Modernisierung unterzogen. So kommt an die Stelle der alten Koranschulen ein
allgemeines, weltliches Grundschulsystem und Höhere Schulen und
Universitäten. Auch die Rechtsordnung wird völlig umgekrempelt. Das
islamische Scheriatrecht wird durch eine unabhängige Rechtssprechung
europäischer Prägung ergänzt.
Die Hauptreformen der Tanzimat-Zeit auf politisch-administrativer Ebene
können folgendermassen zusammengefasst werden:
7
1. the abolishment of the patrimonial system of tax-farming and the creation
of a monetised and rationalised system to levy taxes;
2. the secularisation and formalisation of education and of the administra-
tion of justice;
3. the functional differentiation of branches of government;
4. an increasing division of the powers of government leading to the estab-
lishment of an Ottoman parliament and an Ottoman constitution;
5. a differentiation of the means of physical force according to the separate
realms of internal and external security;
6. the introduction of a new system of provincial administration.

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All diese Punkte sind ein Hinweis für die Transformation des Osmanischen
Reiches von einem alten überkommenen System zu einer legalen Herrschaft.
"The Ottoman reformers who acted in this web of power relations were driven
not only by structural conditions but also by two other important sources of so-
cial action: first, their conviction of the dire necessity of the reforms; second,
personal interests. An amalgam of interests and ideas was also behind the new
social forces which, as supporters of the reforms, began to endanger the impe-
rial order of the state. The rise of the opposition movement of the "Young Otto-
mans", the Ottoman constitution of 1876 and the short parliamentarian experi-
ence between December 1876 and February 1878 are indicators that the mod-
ern legal content of the reform edicts had developed in a framework of refer-
ence for political discourse and action. The political conflicts and intellectual
debates of the late Ottoman Empire were increasingly dominated by the new
power struggle among modernising forces and by the frictions within the hege-
monic bloc that dominated the reform process in the first half of the nineteenth
century."
8
2.3 Die Hoheitliche Verordnung
1839 werden alle Tanzimat-Reformdekrete in einem Reichsreformgesetz, der
Hoheitlichen Verordnung zusammengefasst. Das Gesetz enthält die Trennung
von weltlicher und religiöser Macht und bedeutet das Ende der islamischen
Staatsordnung und somit auch das Ende der orientalischen Form des Staates.
Alle Untertanen des Sultans, Muslime und Nicht-Muslime werden als
,,Osmanen" bezeichnet, sind gleichberechtigt und haben dieselben
Bürgerrechte.
1856 werden diese Prinzipien in einer neuen Hoheitlichen Verordnung neu
verankert und das Scheriatrecht für ungültig erklärt. 1876 wird die erste
osmanische Verfassung beschlossen. Das Osmanische Reich ist ­ zumindest
auf dem Papier ­ ein laizistischer Rechtsstaat geworden. Die Hoheitlichen
7
D. Jung, W. Piccoli, Turkey at the Crossroads ­ Ottoman Legacies and a Greater Middle East, New
York, 2001, S. 40
8
D. Jung, W. Piccoli, 2001, S. 43

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Verordnungen von 1839 und 1856 sind entscheidende Etappen der
Europäisierung und der Umwandlung der traditionellen muslimischen
Gesellschaft in eine bürgerliche Zivilgesellschaft. Doch es sind Reformen von
oben, d.h. es ist eine Modernisierung per Sultansbefehl. Einer der Gründe
hierfür ist sicher, dass ein Bürgertum, wie in Europa, in der muslimischen
Mehrheitsbevölkerung weitgehend fehlt. Eine Bourgoisie gibt es hingegen bei
den reichen griechischen und armenischen Kaufleuten, die auch von der
Tanzimat-Periode enorm profitieren und eine Mittlertätigkeit zum einströmenden
westlichen Kapital einnehmen. Vor allem bei der zweiten Hoheitlichen
Verordnung von 1856 ist der ausländische Einfluss besonders sichtbar. Sie ist
eine Konzession an die Westmächte, die das Osmanische Reich im Krimkrieg
gerettet hatten und nun als Gegenleistung ihren wirtschaftlichen Einfluss weiter
ausbauen wollen.
9
2.3.1 Die Jungosmanen
Die Hoheitlichen Reformen stoßen nicht nur beim rückwärtsgewandten Klerus
auf Widerstand, sondern auch bei kleinen intellektuell einflussreichen Gruppen
von liberal und konservativ Gesinnten. Einer dieser oppositionellen
Intellektuellenzirkel aus dem Jahr 1865 sind die Jung-Osmanen. In ihrem
Programm sind die Reformierung des Islam, die Abschaffung des sultanischen
Absolutismus und liberales Gedankengut zu finden. Ihre Ideen sind in drei
Kategorien unterteilt:
,,Firstly, the institutional ideas of the Young Ottomans concerned the introduc-
tion of a constitutional order and representative institutions, which were to be
based on Islamic principles. Secondly, they supported the concept of a strong
central state against the autonomous aspirations of ayan and derebeys. Finally,
the promoted the idea of a new political identity in which the traditional loyalty to
the millet, the religious community, was to be replaced by the vatan, the father-
land, which is above religious, ethnic or regional divisions."
10
9
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 66-67
10
K.H. Karpat, ,,The transformation of the Ottoman State, 1789-1908, International Journal of Middle
East Studies, 1972, S. 262-5

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Der führende Kopf der Jung-Osmanen ist der Schriftsteller und Dichter Namik
Kemal, der 1868 ins Exil gehen musste. Mit seinem Drama, wo er das
Vaterland in den Mittelpunkt stellt, hat er 1877 zum ersten Mal eine breite
patriotische Gefühlsbewegung hervorgerufen.
The Young Ottomans formed a modern political opposition which was nationally
minded, liberal in ist institutional concepts, and reverted to the legitimate power
of traditional Islamic symbols. In agitating against the over-westernised bureau-
cratic elite of the country, who had almost completely monopolised the re-
sources of the modern state apparatus, the Young Ottomans combined both a
critique of the "aristocratic" political establishment of the Empire and their own
aspirations to participate in the power resources provided by the modern sec-
tors of Ottoman society. They can be considered as the Ottoman pioneers of a
modern discourse of constitutionalism, a representational system of govern-
ment, the modern division of power, and national language reform. This dis-
course, which grew out of both the societal changes of the Tanzimat period and
the legal spirit of the reform edicts, was later incorporated into the Turkish Re-
public.
11
Im Dezember 1876, kurz vor der Thronbesteigung des neuen Sultans
Abdülhamid II., tritt zum ersten Mal das Parlament zusammen. Das Datum ist
kein Zufall, da sich zu diesem Zeitpunkt europäische Diplomaten in Istanbul
zusammengetroffen haben, um über die antiosmanischen Aufstände am Balkan
zu beraten. Als Grundprinzipien werden die politische Gleichberechtigung, die
rechtliche Gleichstellung und die Religionsfreiheit aller osmanischen Bürger
erklärt. Neu ist die Nennung des Islam als osmanische Staatsreligion. Der
Staatsaufbau folgt aber europäischen Mustern. Nach belgischem Vorbild wird
ein Zweikammer-System eingerichtet. Der vom Sultan einberufene Senat hat
die Gesetzesinitiative, das reichsweit gewählte Parlament mit 130
Abgeordneten ist abstimmungsberechtigt. Dieses Modell, mit der starken
Stellung des Monarchen, wird als besonders geeignet für autoritätsgewohnte
Gesellschaften angesehen. Doch mit dem Prinzip der Wahl hat auch der
Gedanke der Volkssouveränität Eingang in die osmanische Gesellschaft
11
D. Jung, W. Piccoli, 2001, S. 44-45

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gefunden. Das Osmanische Reich wurde 1876 mit einem Schritt zu einer
Konstitutionellen Monarchie gewandelt. Doch leider ist dies nur auf dem Papier
und nur für ein Jahr geschehen. Trotzdem kann dieses Jahr als ein
Wendepunkt in der osmanischen Geschichte gesehen werden. Nach der
russischen Invasion 1877/78 löst Abdülhamid II. das Parlament auf und setzt
die Verfassung per Notstandsgesetz außer Kraft. Auch nach dem Berliner
Kongress 1878, wo die unmittelbare Gefahr für das Reich gebannt wurde,
behielt der Sultan die Alleinherrschaft.
12
Ein tiefer Riss hatte sich im hegemonialen Block, welcher den Reformprozess
seit der Ausschaltung der Janitscharen beherrscht hatte, entwickelt. Die
wirklichen modernen Kräfte der Bürokratie, das Militär und die Intelligenzija,
(were breaking away) brachen vom traditionellen Anspruch nach Macht der
osmanischen Dynastie ab. In der Tanzimat-Zeit verlor der Hof die Kontrolle über
die Reformen an die Bürokratie.
13
Die Bürokraten der Tanzimat ,,had liberated
themselves from the shackles of a slave bureaucracy and had taken into their
own hands the reins of the modernization movement"
14
Während diesem
sozialen Prozess erhob die neue bürokratische Elite trotzdem Anspruch auf die
Sultane und die Wiederherstellung des vergangenen Glanzes der osmanischen
Herrschaft. Außerdem wurden sie in die osmanische Hofgesellschaft und in die
europäische diplomatische Aristokratie integriert, wo viele osmanische Beamte
verwestlicht wurden.
15
In einem hegemonialen Block einer Interessenskoalition
zusammengehalten, wurden die aristokratischen Werte und die elitären
Haltungen der Osmanen ein Teil des sozialen Gefüges der neuen
bürokratischen Elite. Somit handelten die Bürokraten der Tanzimat selber als
Potentat.
16
Die soziale Haltung der modernen reformierenden Elite behielt weiterhin den
aristokratischen Dualismus, mit ihrer Verachtung der gewöhnlichen Untertanen,
12
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 70-71
13
Vgl. D. Jung, W. Piccoli, 2001, S. 46
14
S. Mardin, ,,Super-westernization in urban life in the Ottoman Empire in the last quarter of the nine-
teenth century", in Benedict et al. (eds.), S. 403-46
15
Vgl. C. V., Findley, ,,Ottoman Officialdom. A Social History", Princeton: Princeton University Press,
1989. S.188 ff
16
Vgl. S. Mardin, ,,The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish
Political Ideas", Princeton: Princeton University Press, 1962, S. 108-12

Der politische Islamismus in der Türkei
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15
der osmanischen Gesellschaft bei. Obwohl die Jung-Osmanen und später die
Jung-Türken diese Vernachlässigung des Volkes und die starke Dichotomie
zwischen Herrscher und Beherrschten kritisierten, nahmen sie später diese
Haltung der bürokratischen Elite der Tanzimat an.
17
Betreffend der politischen Kultur war diese Einstellung in dem militärischen Titel
Pascha, wie führende Repräsentanten des osmanischen Reiches und der
türkischen Republik genannt wurden, symbolisiert. In diesem Fall ist die
Trennung zwischen dem zivilen und militärischen Aspekt von staatlicher Macht
verschwommen. Die Tatsache, dass dies beibehalten wurde, zeigt bis zu einem
bestimmten Grad die autoritäre Vorstellung der Eigenstaatlichkeit in der
Türkei.
18
2.3.2 Die Alleinherrschaft Abdülhamits II.
In der widersprüchlichen Persönlichkeit Abdülhamits II. ist der große Gegensatz
zwischen dem Orient und Europa ersichtlich. Einerseits ist der Sultan ein
Herrscher mit asiatischem Zuschnitt, der seine Gegner mit Grausamkeit, Zensur
und Tücke verfolgt, andererseits kommen während seiner Regierungszeit viele
Tanzimat-Reformen, der Modernisierung und Zentralisierung der Verwaltung
und der zentralstaatlichen Kontrolle über die Provinzen, und weitere
europäisierende Maßnahmen zur Geltung. So wird die Gewaltenteilung gemäß
europäischer Staatslehre eingeführt und alle gültigen Gesetze in einem
Bürgerlichen Gesetzbuch zusammengefasst, das dem Scheriatrecht nur noch
wenig Raum lässt. Auch wird ein weltliches Schulsystem, zwar am Anfang nur
in der Hauptstadt und in den urbanen Metropolen, eingeführt. Die alten
Medresen, die Koranschulen, bleiben aber weiterhin bestehen. Weiters wurden
auch die Kommunikationsmöglichkeiten im Reich verbessert. Obwohl sie einer
strengen Zensur unterlagen, stieg die Verbreitung von Zeitungen, Zeitschriften
und Büchern. Der Einfluss westlicher Ideen war aber den Intellektuellen im Exil
zu verdanken.
19
So dienten die Reformen Abdülhamits II. der Mobilisierung der
17
Vgl. S. Mardin, ,,Power, civil society and culture in the Ottoman Empire", Comparative Studies in
Society and History, 11 (1), 1969, S. 274-81
18
Vgl. M. A. Birand, "Shirts of Steel. An Anatomy of the Turkish Armed Forces", London: I.B. Tauris,
1991, S. 178
19
Vgl. B. Lewis, ,,The Emergence of Modern Turkey", Oxford: Oxford University Press, 1961, S. 181-94

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staatlichen Verwaltungsmacht. Den Reformen der ,,unitiy and survival"
20
untergeordnet, verwendete er den modernisierten Staatsapparat als ein
Instrument der Überwachung. ,,In this respect Hamidian absolutism was a cul-
mination of the reform process from above, which had created the necessary
means for the state to monitor its populace more closely and to secure the sul-
tan´s domination through "enlightened despotism"."
21
Die Instrumentalisierung des Islam als eine Ideologie der Einheit kann als Bruch
Abdülhamits II. mit den Bestrebungen der Tanzimat gesehen werden. So
versucht der Sultan den Islam zu modernisieren und ihn vom Staat zu trennen.
Für das Reich propagiert er den Osmanismus, eine übernationale und
überreligiöse Bewegung. Doch der Osmanismus steht im krassen Gegensatz
zu den aufkommenden nationalistischen Bestrebungen der Griechen, der
Armenier, der Türken, der Araber und der Kurden. Doch weder Panislamismus,
noch die Europäisierung des Islam oder der Osmanismus waren erfolgreich. So
versuchte der Sultan einen Kompromiss zwischen den reformerischen und den
traditionellen Kräften herbeizuführen, indem er beide Systeme nebeneinander
herlaufen lässt. Doch dies scheitert. Denn beide Seiten radikalisieren sich.
Doch gerade während Abdülhamids Regierungszeit erfolgt ein
Modernisierungsschub in Richtung Westeuropa. Es tritt auch immer eine größer
werdende einheimische türkische Führungsschicht hervor, die sich dem großen
Vorhaben der Europäisierung freiwillig und überzeugt anschließt. Europa wird
als Hort von Wissenschaft und Technik, aber auch als Hort von nationaler und
individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit gesehen.
22
Selim Deringil argumentiert, dass die Hinwendung Abdülhamids II. zum
Panislamismus und sein Aufruf zur moslemischen Solidarität eine Reaktion auf
die Legitimationskrise des Reiches, das mit Mahmud II. begann und unter
Abdülhamids Regierungszeit seinen Höhepunkt fand, war: ,,This was a crisis
that had both external and internal dimensions. The external dimension was the
uphill struggle to secure the acceptance of the Ottoman State as a legitimate
20
S. Duguid, ,,The politics of unity: Hamidian policy in eastern Anatolia", Middle Eastern Studies, 9, S.
139
21
D. Jung, W. Piccoli, 2001, S. 47
22
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 72-73

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polity in the international system. The internal dimension was the struggle to
overcome the ,,legitimation deficit" that accrued as the state permeated society
physically and ideologically to an unprecedented extent."
23
2. 4 Eine türkische Nationalidee entsteht
Da es im Islam keinen Nationalismus gibt, fiel der Nationalismus bei den
Muslimen lange Zeit auf unfruchtbaren Boden. Der Begriff Muslim ist in erster
Linie religiös definiert und kennt innerhalb der universalen Gemeinschaft der
Gläubigen, der Umma, keine ethnischen Unterschiede. Erst mit der
Verwestlichung des Osmanischen Reiches kommt der Begriff Osmane als
Staatsbürger auf, aber ohne Unterscheidung nach Sprache und Herkunft. Erst
als die Griechen und Armenier in der Folge der Tanzimat-Reformen
wirtschaftlich und politisch aufrücken, entsteht als Reaktion der türkische
Nationalismus.
Die Jungosmanen waren die erste politische Gruppe, die die neue Idee der
Loyalität zum Vaterland (vatan) fördern. Während die konstitutionelle Bewegung
der 1870er um eine Integration der verschiedenen Völker, millets, unter dem
Schirm einer osmanischen Herrschaft wünschten, eignete sich unter
Abdülhamit das Konzept des vatan eine deutlichere Muslim und Türken
Assoziation an, und Anatolien wurde ihr territorialer Kern. Der türkische
Nationalismus zeigt starke Anklänge an die deutsche Nationalromantik. Diese
betont besonders das echte Volkstum, das arteigene Brauchtum, die reine
Volkssprache, bildet Abstammungsmythen und glorifiziert die Vergangenheit.
Gleichzeitig fordert die Nationalromantik auch Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit.
Widerhall finden diese Ideen zuerst bei den jung-osmanischen Dichtern und
Denkern, später in den neuen aufstrebenden Schichten, bei
Verwaltungsbeamten, Lehrern, Technikern und bei den höheren militärischen
Rängen. ,,Das ursprüngliche ,,türkische Volkstum" soll die Kraftquelle für die
Erneuerung des schon arg geschrumpften Reiches bilden. Als das eigentlich
23
S. Deringil, ,,The Well-Protected Domains. Ideology and the Legitimation of Power in the Ottoman

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18
türkische Land treten nun die kragen Weiten Anatoliens in den Gesichtskreis
der nationalen Erwecker. Als nationaler Idealtyp schält sich der rauhe und
kriegerische, dabei gutmütige und unverbildete anatolische Bauer und Hirte
heraus. Lange genug haber er, der die Last all der vergangenen Kriege und
Nöte getragen habe, sich von geschäftstüchtigen Levantinern, Armeniern und
Griechen übers Ohr hauen lassen."
24
Es war unter der Herrschaft Abdülhamits
II., ,,that Ottoman identity assumed an increasingly Turkish character, even if
this identity was packaged in universalist Islamic terms".
25
Der Aufstieg des türkischen Nationalismus vollzog sich im internationalen
intellektuellen Klima von historischen, rassistischen und linguistischen
Gedanken der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die bürokratischen
Interessen an der türkischen Geschichte waren ,,coupled with the growing
awareness that Turkish history was in effect one`s own history."
26
Die
intellektuellen Zirkel entwickelten eine idealisierte Geschichte der Türken und
ihrer ,,inborn capacity to become civilized and to civilize others."
27
In den besseren Kreisen wird der Volksname Türke salonfähig, vorher wurde
nur die Volksmasse der niederen Landbevölkerung so bezeichnet. Die
Stadtbewohner und die Angehörigen der gehobenen Schicht sahen sich vorher
als Osmanen, der einfache Untertan hingegen sah sich einfach nur als
Gläubiger, ein Muslim. Als Landes- und Staatsbezeichnung werden nun die
Begriffe Türkei oder Türkisches Reich gebräuchlich.
Im Zuge des Nationalismus wird auch die Sprachenfrage dringlicher. Die
osmanische Amts- und Literatursprache, die in arabischer Schrift geschrieben
wurde, ist zwar im Grunde türkisch, aber dermaßen mit arabischen und
persischen Ausdrücken überfrachtet, dass man eigentlich von einer
Mischsprache reden kann. In den Koranschulen wurde Arabisch gelehrt, in den
Salons und auf internationaler Ebene wurde französisch gesprochen. Nur auf
dem Land spricht man ein Idiom, das dem ursprünglichen Türkisch nahekommt.
Empire 1876-1909, London: I.B. Tauris, 1998, S. 166
24
M. W. Weithmann, 1997, S. 77
25
S. Deringil, 1998, S. 11
26
D. Kushner, ,,The Rise of Turkish Nationalism, London: Frank Cass. 1977, S. 29
27
D. Kushner, 1977, S. 31

Der politische Islamismus in der Türkei
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Dies wurde von oben jedoch als Umgangssprache der Dörfler verachtet. Mit
dem Nationalgedanken drehen sich die Verhältnisse jedoch um. Die Sprache
des Volkes wird zum Ideal erhoben, und das multikulturelle Osmanische als
dekadent und zum Symbol der Überfremdung erklärt. In der Folge wurde
versucht, die Sprache von den allgegenwärtigen arabischen und persischen
Begriffen zu reinigen, um die echte türkische Sprache, die für alle
Gesellschaftsschichten verbindlich sein soll, wiederherzustellen. Bis heute
dauert dieser Vorgang an.
Türkische Idealisten fingen an, sich mit der türkischen Nationalgeschichte zu
befassen. Dabei versuchten sie, die eigenen historischen Leistungen besonders
hervorzuheben. Interessanterweise waren es europäische, vor allem
französische, deutsche und österreichische, Wissenschaftler gewesen, die sich
im 19. Jahrhundert zum ersten Mal mit der türkischen Geschichte und der
türkischen Sprache befasst hatten. Somit baut der türkische Nationalismus auf
ihren Erkenntnissen auf, und der um die Jahrhundertwende plötzlich
aufbrechende türkische Nationalismus beruht auf einem Ideenimport aus
Europa. Der wichtigste Vertreter des frühen türkischen Nationalismus ist der
Philosoph und Schriftsteller Ziya Gökalp (1876-1924). 1911 gründet Gökalp mit
Studenten und Intellektuellen die Organisation Türk Ocagi (Türkischer Herd),
die sich der pantürkischen Idee und der Rückbesinnung auf vorislamische
Werte verschreibt.
Um die Jahrhundertwende existiert der türkische Nationalgedanke jedoch noch
nicht als eine feste Weltanschauung. Viele Ideen kursieren, teils ergänzen sie
sich, teils widersprechen sie sich. Als gemeinsamer Nenner entpuppt sich
jedoch Europa mit seinen fortschrittlichen Institutionen als großes Vorbild.
Eine wichtige Frage jedoch stellt sich: Wie wird das Verhältnis des türkischen
Nationalismus zum Islam sein? Einig ist man sich im strikten Säkularismus nach
europäischem Vorbild, das heisst in der Trennung von Kirche und Staat. Dies
im Islam zu erreichen ist schwieriger, weil hier die staatliche Macht nie in einen
weltlichen und einen religiösen Teil gespalten war. Auf jeden Fall soll der
Glaube auf die Privatsphäre abgedrängt werden. Die Mehrheit der Nationalisten

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besteht auf eine Synthese von Türkentum und Islam, will jedoch den Islam im
europäischen Sinne reformieren. Zahlreiche Stimmen plädieren dafür, den
Islam zu türkisieren und seine arabischen Wurzeln zurückzudrängen.
Unklar sind sich die Nationalisten über die Grenzen des anzustrebenden
Nationalstaates. Nach der Niederlage in den Balkankriegen 1912/13 gerät
Anatolien und das thrakische Vorfeld Istanbuls in den engeren Gesichtskreis.
28
2.5 Die Jungtürken: ,,Einheit und Fortschritt"
Nach der Jahrhundertwende erfasst der Widerstand gegen Abdülhamids
Alleinherrschaft mehr und mehr Kreise. Das Komitee Einheit und Fortschritt hat
längst den Großteil des Offizierskorps und der Ministerialbürokratie auf seine
Seite gezogen. Hochburgen des Komittees sind die Garnisonen in Edirne und
Saloniki.
In Europa werden diese reformfreundlichen Kräfte in der Opposition pauschal
als ,,Jungtürken" bezeichnet. Dies wird von den Türken später auch selbst
übernommen. Ein einheitliches Reformprogramm besteht natürlich nicht. Im
Gegenteil: in der jungtürkischen Bewegung vereinigen sich viele politsche,
soziale und nationale Richtungen, die sich zum Teil auch widersprechen.
Zwei Fraktionen sind deutlich unterscheidbar:
·
die Liberalen: Sie wollen die Monarchie in ihrer konstitutionellen Form
weiterführen. Das osmanische Universalreich soll bestehen bleiben,
allerdings föderal, und mit weitgehender Autonomie für die nichttürkischen,
bzw. nichtislamischen Gebiete. Sie propagieren den Osmanismus, den
übernationalen Reichspatriotismus. Der Islam soll als Staatsreligion
verankert bleiben, ohne dass die anderen Glaubensbekenntnisse
benachteiligt werden. Das jungosmanische Erbe ist deutlich sichtbar.
Anhänger der Liberalen sind die besseren Kreise Istanbuls, die kultivierte
frankophile Führungsschicht, die sich der neuen Zeit gegenüber sehr
aufgeschlossen zeigt. Auch beim armenischen und griechischen
28
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 76-81

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Großbürgertum finden diese Aussagen Zustimmung. Durch behutsame
soziale und wirtschaftliche Reformen sollen die bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse möglichst bewahrt werden. Ausgeprägt ist
eine enge außenpolitische Orientierung an Frankreich.
·
Die Unionisten: Hier sind alle Schattierungen des türkischen Nationalismus
und der pantürkischen Einheitsideologie vertreten. Sie rekrutieren sich aus
den neuen aufstrebenden Schichten und haben von Anfang an das größere
Gewicht in der Erneuerungsbewegung. In ihren Programmen plädieren sie
für einen radikalen Umbau der alten Gesellschaft nach europäischem
Muster. Ein starker Flügel fordert die Abschaffung des Sultanats und die
Schaffung einer Republik. Dem Islam steht man indifferent bis feindlich
gegenüber. Der neue Staat soll laizistisch sein. Im Mittelpunkt steht die
türkische Nation. Ein nationaltürkisches Reich wird angestrebt, das streng
laizistisch regiert werden soll. Die Unionisten und Nationalisten gingen
davon aus, dass nur eine starke Staatsmacht auch Reformen durchsetzen
und reaktionäre Widerstände ausschalten kann. Minderheitenrechte oder
Sonderregelungen für andere Sprachgruppen haben keinen Platz. Mit dieser
Forderung kündigt sich eine kompromisslose Türkifizierungspolitik
gegenüber Griechen, Armeniern, Kurden und Arabern an. Die Unionisten
und Nationalisten sind sich in der außenpolitischen Orientierung uneinig,
doch sie scheinen sich eher Berlin zuzuwenden als London und Paris. Vor
allem viele Offiziere und Armeeangehörige sind unter den Unionisten zu
finden. Hier reift auch der Gedanke einer Entwicklungsdiktatur heran, durch
welche das Land, wenn nötig, gewaltsam auf den rechten Weg des
Fortschritts gebracht werden muss.
29
2.5.1 Die jungtürkische Revolution
Im Juli 1908 muss Abdülhamit aufgrund der Drohungen der Militärs aus Saloniki
die Verfassung von 1876 wieder in Kraft setzen und Parlamentswahlen
vorbereiten lassen. Major Enver Bey verspricht Presse- und
Versammlungsfreiheit und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Vor
29
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 90-93

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allem Griechen und Armenier feiern enthusiastisch, weil sie sich Autonomie
erhoffen.
Bei den Wahlen 1908 erreichen die Kandidaten des Komittees ,,Einheit und
Fortschritt" die Mehrheit. Die national ausgerichteten Parteien der Griechen,
Albaner und Armenier schliessen sich ihnen an, da sie glauben, die Jungtürken
wären bereit ihnen Autonomie zu gewähren.
Sultan Abdülhamit II. sieht nur mehr die Möglichkeit, mit Gewalt die Macht
zurückzuerobern. Ihm stehen treu ergebene Palasttruppen und korrumpierbare
Befehlshaber zur Seite. Seinen Hauptwidersacher, Enver Bey, glaubt er
ausmanövriert zu haben, indem er ihn als Militärattachee nach Berlin geschickt
hat. Doch der entscheidende Fehler des Sultans besteht darin, dass er sich
zudem der reaktionären islamischen Geistlichkeit, fundamentalistischer
Koranstudenten und fanatischer Derwischorden bedient. Anfang 1909 brechen
diese fundamentalistischen Gruppierungen in die Ausländerviertel Istanbuls ein,
in Izmir kommt es zu antigriechischen Ausschreitungen und in Adana nach
einem antitürkischen Aufruhr zu Massakern an den Armeniern. Enver Bey
marschiert dann mit dem Auftrag, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen und
unter wohlwollender Billigung der Großmächte daraufhin mit der türkisch-
mazedonischen Armee in Istanbul ein und wirft den sultanischen Putsch am 31.
März 1909 nieder. Der ,,31. März", nach julianischer Zeitrechnung der 12. April,
an dem die jungtürkische Revolution endgültig die Oberhand gewinnt, ist ein
wichtiges Datum der neueren Türkei.
Enver Bey hat später die eigentlichen Fäden der nun folgenden national- und
sozialrevolutionären jungtürkischen Erneuerung in der Hand, und baut seine
Machtstellung immer weiter aus. Auch Mustafa Kemal, später Atatürk genannt,
hat sich an der jungtürkischen Revolution und am Einmarsch in Istanbul aktiv
beteiligt, zieht sich aber zunächst wieder aus der Politik zurück.
Die Haltung der Großmächte gegenüber den Jungtürken ist zunächst gemischt.
Sie erwarten ein Wiedererstarken der Türken, das nicht mehr ins internationale
Konzept passt. Vor allem die Bestrebungen der Jungtürken, ihre Probleme im

Der politische Islamismus in der Türkei
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nationalen Rahmen und ohne fremde Beteiligung zu lösen, machten das
Ausland argwöhnisch. So fordert die neue Regierung in Istanbul die
Abschaffung der uralten Kapitulations-Verträge, die den Handel und die
einheimische Wirtschaft knebeln.
30
,,Although the Ottoman monarchy formally existed until the proclamation of the
Turkish Republic in 1923, the Young Turk revolution marks the end of the impe-
rial order. The social and political dynamics of the reform process eventually
destroyed the foundations of the sultanate and put an end to more than 500
years of Ottoman rule. From the perspective of the palace, the apprehension of
external conspiracy and internal betrayal, expressed most vividly in the para-
noid character of Abdülhamid II, had seemingly been proven right. While the
European powers had frequently broken their promises to guarantee and re-
spect the integrity and souvereignty of the Ottoman state, social forces within
the new army and the modern bureaucracy, built up to secure that state, finally
turned against the symbol of the empire."
31
30
Vgl. M. W. Weithmann, 1997, S. 94-96
31
D. Jung, W. Piccoli, 2001, S. 53

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3. Das Reich geht unter
Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutet auch gleichzeitig das Ende des
osmanischen Reiches, denn das osmanische Reich schrumpfte zur Türkei. Der
Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920 machte die Türkei zu einem Spielball
der Siegermächte. Armenien annektierte bereits 1919 die östlichen Vilayets und
wurde als unabhängiger Staat anerkannt. Griechenland erhielt Ostthrakien, die
Inseln Imbros und Tenedos sowie Izmir samt dessen Hinterland. Auch auf die
arabischen Provinzen musste das Osmanische Reich zugunsten der
Ententemächte verzichten und man gewährte England, Frankreich und Italien
ausgedehnte Einflusszonen im Süden bzw. Südwesten Anatoliens. Weiters war
östlich vom Euphrat ein autonomes Kurdengebiet vorgesehen. Das
Osmanische Reich war nunmehr ein Rumpfstaat im Norden Kleinasiens mit der
Hauptstadt Istanbuls.
3.1 Der Türkische Befreiungskampf gegen die Entente-Mächte und den
Sultan
Der türkische Befreiungskampf ist als eine Widerstandsbewegung gegen die
Bestimmungen der Versailler Friedensordnung im Nahen Osten entstanden.
32
Die Türken befürchteten, dass sie die Bastion in Anatolien verlieren würden.
Gerade die griechische Invasion Anatoliens mündete schließlich in einer
umfassenden Niederlage der Besatzungsmächte. In Izmir fanden Massende-
monstrationen statt, an denen neben den überwiegend jungtürkisch-
nationalistischen Wortführern auch Vertreter der liberalen Intelligenz
teilnahmen. So verlor auch die Regierung des Sultans in Istanbul, die bis dahin
immer die guten Absichten des Westens betont hatte, immer mehr an Ansehen.
Der nachfolgende Unabhängigkeitskrieg von 1919 -1922 gegen die Kräfte von
außen ­ die Griechen und Armenier wurden zurückgedrängt ­ und gegen das
Ancien Regime, dem ottomanischen Hof, hatte als Primärziel die Verteidigung
Anatoliens.
32
Vgl. http://www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/1_00/tuerkei03.htm (Abfrage: 23. März 2002)

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Die treibende Kraft im Befreiungskampf war Mustafa Kemal. Durch gezielten
Einsatz von nationalistischen Parolen gewann er die breite Unterstützung des
Volkes. Er nützte den türkischen Nationalismus ganz gezielt. Unter seiner
Leitung wurde es schon im Sommer 1919 im Kongress von Sivas möglich,
Einigkeit darüber zu erzielen, dass die territoriale Integrität des Landes mit allen
Mitteln zu verteidigen sei, wobei man davon ausging, dass das gesamte am
Kriegsende noch von den osmanischen Truppen kontrollierte Gebiet den
territorialen Bestand des unabhängigen osmanischen Staates bilde. Weiters
gehörte seiner Meinung nach die Souveränität ohne jegliche Restriktion dem
Volk. Nur so ließe sich eine neue und moderne Gesellschaft nach seinen
Vorstellungen aufbauen.
Aufgrund dieser Entwicklungen in Anatolien sah sich die Regierung in Istanbul
genötigt, allgemeine Wahlen abzuhalten. Im neugewählten Parlament bestand
die Mehrheit aus kemalistischen Abgeordneten aus der Provinz. Ende Januar
1920 wurde der sogenannte ,,Nationalpakt" verabschiedet. Unter dem Druck der
Besatzungsmächte auf diese Wende war die Reaktion der Regierung die
Auflösung des Parlaments. Das aufgelöste Parlament trat aber am 23. April
1920 als die Große Nationalversammlung in Ankara erneut zusammen. Sie
erhob den Anspruch im Namen der gesamten osmanischen Nation zu handeln.
Als erstes war die Große Nationalversammlung von Ankara mit der Aufgabe
konfrontiert, die künftige Staatsform zu regeln. Unklar war, durch welche
Regierung das Land ­ die von Ankara, die von Istanbul oder durch beide
gemeinsam ­ auf dem bevorstehenden Friedenskonferenz vertreten sein
würde. Ende Oktober 1922 wurde das osmanische Sultanat per Beschluss
endgültig abgeschafft.
Auf der Friedenskonferenz von Lausanne vom 24. Juli 1923 ging es um die
Revision des Vertrages von Sèvres. Die Staatsgrenzen wurden international
akzeptiert festgelegt. Dabei wurden zwei Gebiete herausgenommen ­ Mossul-
Kirkuk, blieb im Sinne Großbritanniens einem Entscheid des Völkerbundes
vorbehalten und Sandschak Hatay, heute Teil Syriens aber damals unter
französischem Mandat. Diese sind heute immer noch Diskussionspunkte mit

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dem Irak und Syrien. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Vertrages konnte
eine Elite unter Führung Mustafa Kemals darangehen, die Türkei mit
umfassenden politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Reformen zu
einem modernen Nationalstaat nach westlichem Vorbild umzugestalten. Am 29.
Oktober 1923 wurde die Republik Türkei ausgerufen. Gleichzeitig wurde
Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, zum Präsidenten der Republik
ausgerufen und Ankara wurde zur neuen Hauptstadt erklärt.
3.2 Die Reformen Mustafa Kemals
Der Modernisierungsprozess Mustafa Kemals verlief nicht ohne Brüche.
Nachdem er zum Präsidenten der Republik gewählt wurde setzte er seinen
Willen insoweit durch, dass nun praktisch nur jene ins Parlament gewählt
werden konnten, die von ihm selbst nominiert wurden. So verfügte er stets über
überwältigende Mehrheiten, auf welcher Basis er eine Politik der vollendeten
Tatsachen betrieb.
Seine Mitkämpfer aus dem Befreiungskampf befürchteten eine Errichtung einer
Diktatur. Denn als Präsident bestand Mustafa Kemal darauf, zugleich
Vorsitzender der Volkspartei (CHP) zu sein. Um der Opposition den Wind aus
den Segeln zu nehmen, die das Kalifenamt als mögliches Gegengewicht gegen
ihn betrachtete, setzte er Anfang März 1924 die Abschaffung des Kalifats durch.
Gleichzeitig wurden per Gesetz das Ministerium für religiöse Stiftungen
aufgelöst und die Schulbildung vereinheitlicht. Dies bedeutete die Schließung
aller islamischen Schulen. Einige seiner ehemaligen Weggefährten gründeten
aus Protest im November 1924 die Fortschrittliche Republikanische Partei.
Doch nach einem Aufstand im Südosten des Landes im Jahre 1925, der
religiös-restaurative sowie kurdisch-nationale Ziele verfolgte, diente dies der
Regierung als Anlass, mit der Opposition abzurechnen. Durch Errichtung
außerordentlicher ,,Unabhängigkeitstribunale" wurde neben dem Aufstand im
Osten auch die Presse im Westen unterdrückt und die Fortschrittliche
Republikanische Partei verboten.
Nachdem die Opposition ausgeschaltet wurde war der Weg für die
kemalistische Kulturrevolution frei. Als erstes wurde im Sommer 1925 der

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traditionelle Fes verboten. Bald wurden die alten Herrschaftsstrukturen zerstört,
die die Entmachtung der traditionellen Machteliten und die Diskreditierung der
überkommenen Muster der politischen Legitimation zum Ziel hatten. So wurden
im September 1925 die Derwischkonvente geschlossen. 1926 wurde das
internationale Kalender- und Uhrzeitsystem und Jahreszählung nach Christi
Geburt eingeführt. Bedeutend war auch die Annahme des Schweizer
Zivilgesetzbuches Anfang Oktober 1926. Ab nun galten Ehen, die nur in
religiöser Form geschlossen wurden, als rechtlich unwirksam. Auch Polygamie
wurde verboten. Die Einführung der lateinischen Schrift im November 1928 war
der Höhepunkt der Reformbewegung. Danach folgte eine Art
Sprachenrevolution um Volks- und Bildungssprache zu vereinen. Sein Prinzip
war es, dass eine Nation nur eine Sprache haben kann. Dies hat immer noch
Auswirkungen auf die Kurdenfrage. Weiters wurde auch das Wahlrecht für
Frauen eingeführt.
Auch die türkische Wirtschaft wurde in Angriff genommen. So verlangte ein
Alltürkischer Wirtschaftskongress besondere Förderungsmaßnahmen für die
einheimischen Unternehmer, denn die Heranbildung einer nationalen
Bourgeoisie hatte Vorrang. Man wollte von der Abhängigkeit von der
Landwirtschaft wegkommen, deshalb wurde eine Industrialisierungswelle
gestartet. Doch über 80 Prozent der Bevölkerung lebte immer noch von der
Landwirtschaft. Der neue Kurs lag zwischen Kapitalismus und Sozialismus mit
staatlichen Eingriffen und protektionistischen Maßnahmen.
Obwohl Atatürk mit der Türkei einen politischen Neuanfang machen wollte,
blieben alte Elemente vom Osmanischen Reich weiter bestehen. Geblieben ist
etwa die Vorstellung eines starken Staates, der der Gesellschaft übergeordnet
ist. Eine autoritäre Staatsgewalt sollte das Gleichgewicht zwischen den
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die sich aus Institutionen wie
Zünften, Bruderschaften oder Religionsgemeinschaften zusammensetzten,
sichern. Auch patriarchale Strukturen blieben weiterbestehen. In der
Gesellschaft richten sich noch immer große Teile auf starke
Führerpersönlichkeiten aus. Auch sind die feudalen Verhältnisse im Osten des
Landes bis heute intakt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832468507
ISBN (Paperback)
9783838668505
Dateigröße
891 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck – Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Politikwissenschaft
Note
2,0
Schlagworte
geschichte türkei fundamentalismus politisches system neo-osmanismus
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