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Formen visueller Autorenschaft: Überhöhte Gewaltexzesse bei den Wachowski Brothers

Anhand der Filme "Bound" und "The Matrix"

©2003 Studienarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die visuelle Gestaltung der beiden bisher veröffentlichten Kinoregiearbeiten der Brüder Larry Wachowski und Andy Wachowski: „Bound“ (USA 1996) und „The Matrix“ (USA 1999). Im Rahmen des Aufbaukurses Filmwissenschaft (Hochschule für Fernsehen und Film München, Abt. I – Kommunikations- und Medienwissenschaften) entstand diese Unter-suchung zu spezifischen Formen visueller Autorenschaft.
Den Kern der Arbeit bildet die Analyse der Besonderheiten in Bezug auf die visuelle Autorenschaft des Films „Bound“ und die Behandlung der Frage, inwiefern „The Matrix“ eine Fortentwicklung der kinematographischen Umsetzung von „Bound“ ist.
Das Hauptaugenmerk liegt auf der visuellen Umsetzung gewaltbestimmter Szenen, ihrer Funktion als dramaturgische Höhepunkte sowie ihrer Bedeutung für den jeweiligen Schauwert beider Filme. Schauwert bedeutet bei den Wachowski Brothers unter anderem, dass sich das Narrative den Fähigkeiten der Kamera unterwirft, überall im Geschehen sein zu können, jedwede Bewegung ausführen zu können und in jedem beliebigen Moment die Zeit verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen zu können. Überbordende Choreografien, extreme Zeitdehnung und eine technisch komplexe Form der hochdynamischen Kamera werden im Detail analysiert.


Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.EINLEITUNG01
2.THEORIE & FRAGESTELLUNG02
3.DAS THRILLER DEBUT „BOUND“ (1996)03
3.1Sex & Crime Forever03
3.2Analyse gewaltbestimmter Szenen04
3.2.1Die Foltersequenz04
3.2.2Der Tod von Gino & Johnnie Marzzone10
3.2.3Caesars Tod14
3.3Visuelle Besonderheiten bei [...] Gewaltexzessen15
4.DER SCIENCE-FICTION HIT „THE MATRIX“ (1999)17
4.1„What is the Matrix?”17
4.2Wo sind die Stilmittel aus „Bound“?18
4.2.1Ein Ballett der Zerstörung (Superzeitlupe)18
4.2.2Die Penetranz des Closeups (freeze in time VFX)19
4.2.3Menschen sind Bretter21
4.2.4Direkte Referenz21
4.2.5Die Matrix ist grün, die Realität ist blau23
4.2.6Telefone statt Drainagen23
4.3Visuelle Verwandschaft „Bound“/“The Matrix“24
5.ERGEBNISSE25
6.ANHANG28
6.1Storyboard „Bound“ – Foltersequenz (Erster Teil)29
6.2Storyboard „Bound“ – Foltersequenz (Zweiter Teil)32
6.3Storyboard „Bound“ – Der Tod von Gino Marzzone [.]35
6.4Storyboard „Bound“ – Caesars Tod47
6.5Übersicht angesprochener Szenen aus „The Matrix”51
7.LITERATUR- & QUELLENVERZEICHNIS52

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6675
Friedrich Böhm
Formen visueller Autorenschaft:
Überhöhte Gewaltexzesse bei den
Wachowski Brothers
Anhand der Filme "Bound" und "The Matrix"
Studienarbeit
an der Hochschule für Fernsehen und Film
Fachbereich Produktion und Medienwirtschaft
Februar 2003 Abgabe

ID 6675
Böhm, Friedrich: Formen visueller Autorenschaft: Überhöhte Gewaltexzesse bei den
Wachowski Brothers - Anhand der Filme "Bound" und "The Matrix"
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: München, Kunst- und Musikhochschule, Studienarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

HFF - ABT.I: AUFBAUKURS FILMWISSENSCHAFT / FORMEN VISUELLER AUTORENSCHAFT
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
01
2.
THEORIE
&
FRAGESTELLUNG 02
3. DAS THRILLER DEBUT ,,BOUND" (1996)
03
3.1
Sex
&
Crime
Forever 03
3.2
Analyse
gewaltbestimmter
Szenen
04
3.2.1
Die
Foltersequenz
04
3.2.2 Der Tod von Gino & Johnnie Marzzone
10
3.2.3
Caesars
Tod
14
3.3
Visuelle Besonderheiten bei [...] Gewaltexzessen
15
4. DER SCIENCE-FICTION HIT ,,THE MATRIX" (1999)
17
4.1
"What
is
the
Matrix?" 17
4.2
Wo sind die Stilmittel aus ,,Bound"?
18
4.2.1 Ein Ballett der Zerstörung (Superzeitlupe)
18
4.2.2 Die Penetranz des Closeups (freeze in time VFX)
19
4.2.3
Menschen
sind
Bretter
21
4.2.4
Direkte
Referenz
21
4.2.5 Die Matrix ist grün, die Realität ist blau
23
4.2.6
Telefone
statt
Drainagen
23
4.3
Visuelle Verwandschaft ,,Bound"/,,The Matrix"
24
5.
ERGEBNISSE
25

HFF - ABT.I: AUFBAUKURS FILMWISSENSCHAFT / FORMEN VISUELLER AUTORENSCHAFT
6. ANHANG
28
6.1
Storyboard ,,Bound" ­ Foltersequenz (Erster Teil)
29
6.2
Storyboard ,,Bound" ­ Foltersequenz (Zweiter Teil)
32
6.3
Storyboard ,,Bound" ­ Der Tod von Gino Marzzone [...]
35
6.4
Storyboard ,,Bound" ­ Caesars Tod
47
6.5
Übersicht angesprochener Szenen aus "The Matrix"
51
7.
LITERATUR-
&
QUELLENVERZEICHNIS
52

HFF - ABT. I: AUFBAUKURS FILMWISSENSCHAFTEN / FORMEN VISUELLER AUTORENSCHAFT
FRIEDRICH BÖHM: ÜBERHÖHTE GEWALTEXZESSE BEI DEN WACHOWSKI BROTHERS
1
1. EINLEITUNG
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die visuelle Gestaltung der beiden bisher
veröffentlichten Kinoregiearbeiten der Brüder Larry & Andy Wachowski: ,,Bound"
(USA 1996) und ,,The Matrix" (USA 1999).
Ich werde untersuchen, worin die Besonderheiten in Bezug auf die visuelle
Autorenschaft des Films ,,Bound" liegen. Dieser Film bildet den Schwerpunkt der
Arbeit. Inwiefern stellt ,,The Matrix" eine Fortentwicklung der kinematographischen
Umsetzung von ,,Bound" dar?
Beide Filme wurden von Bill Pope fotografiert. Aufgrund mangelnder Informationen
über die künstlerische und produktionstechnische Arbeitsweise ist, wie in beinahe
allen Ensembles zwischen Regisseuren und Kameraleuten, auch hier schwer zu
differenzieren, welche gestalterischen Elemente auf den Kameramann und welche
auf den Regisseur zurückzuführen sind. Beim Hollywoodfilm handelt es sich meist
um die Ergänzung verschiedener künstlerischer Kräfte, den heads of department,
die alle einem gemeinsamen Gesamtwerk zuarbeiten. Im Folgenden wird daher
der Einfachheit halber nur die Rede von den Wachowski Brothers als visuelle
Autoren sein. Storyboardskizzen der Wachowksi Brothers sowie eine intensive
Arbeit mit Layoutfilmen (von den Regisseuren auf Video vorgefertigte
Rohauflösungen zur Verdeutlichung der Kameraarbeit) lassen darauf schließen,
dass den Brüdern eine dominante Position bei der Entstehung und Umsetzung
des visuellen Konzepts zugeschrieben werden kann.

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FRIEDRICH BÖHM: ÜBERHÖHTE GEWALTEXZESSE BEI DEN WACHOWSKI BROTHERS
2
2. THEORIE & FRAGESTELLUNG
Das Hauptaugenmerk möchte ich auf die visuelle Umsetzung von
gewaltbestimmten Szenen richten. Hier scheinen die Wachowski Brothers eine
besondere kreative Energie entwickelt zu haben.
Meine Theorie lautet, dass ungewöhnliche Stilmittel verwendet wurden, um
Gewaltexzesse als dramaturgische Höhepunkte zu inszenieren. Ferner bilden
diese Szenen die Spitzlichter des Gesamtschauwerts, dessen
Publikumswirksamkeit zumindest am Box Office Gross von ,,The Matrix" ersichtlich
ist. Kleine optische Leckerbissen, wie z.B. eine Fahrt aus dem Lauf eines
Revolvers heraus, oder die Verfolgung eines Telefonkabelwegs im Zeitraffer (aus
,,Bound"), sind mit großer Regelmäßigkeit über beide Film gestreut, haben auch
eine Bedeutung für den Gesamtschauwert, müssen aber im Zuge der
Beschränkung auf Gewaltexzesse ausgeklammert werden.
Schauwert bedeutet bei den Wachowski Brothers unter anderem, dass sich das
Narrative den Fähigkeiten der Kamera unterwirft, überall im Geschehen sein zu
können, jedwede Bewegung ausführen zu können und in jedem beliebigen
Moment die Zeit verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen zu können.
Überbordende Choreografien, extreme Zeitdehnung und eine technisch komplexe
Form der hochdynamischen Kamera finden sich also in beiden Filmen.
Die entscheidenden Gewaltexzesse stehen abseits vom schmutzigen Sterben, wie
man es zum Beispiel von Francis Ford Coppola, Sergio Leone, dem frühen Martin
Scorsese oder Sam Peckinpah kennt. Stattdessen handelt es sich um eine
saubere, geschmeidige und auf Hochglanz polierte Art der visuellen Attraktion.
Statt albern oder unrealistisch findet die Majorität der Zuschauer dies innovativ
oder kunstvoll. Abseits von der Meinung der Kritiker machen die Wachowski
Brothers für ihr Publikum also Kunst? Wie wird diese Kunst kinematographisch
bewerkstelligt?

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FRIEDRICH BÖHM: ÜBERHÖHTE GEWALTEXZESSE BEI DEN WACHOWSKI BROTHERS
3
3. DAS THRILLER DEBUT ,,BOUND" (1996)
3.1
Sex & Crime Forever
,,Sex and crime forever"
1
ist für ,,Bound"
2
mehr als ein
Werbeslogan. Als spannendes Thrillerkonstrukt scheint
dieser Film offenkundig um Szenen voller
publikumswirksamer Schauwerte herumgebaut zu sein:
Lesbischer Sex, die Brutalität der Mafia sowie
Hitchcockartige Hochspannungssequenzen bilden die
Attraktionen des Films. Die toughe Corky (Gina
Gershon), eine lesbische Ex-Knastschwester, die in
einem Apartmenthaus als maintenance woman arbeitet,
macht eines Tages Bekanntschaft mit ihren Nachbarn
Violet (Jennifer Tilly) und deren charismatischem Freund Caesar (Joe Pantoliano),
der für die örtliche Mafia Geld wäscht. Unvermittelt entbrennt zwischen Corky und
Violet eine geheime, hemmungslose Sex-Affäre. Sie beschließen, sich gegen
Caesar zu verbünden und einen Koffer mit $2.000.000 Gangstergeld zu stehlen,
den Caesar in Kürze unter seiner Aufsicht haben wird, um ihn dem größten
Mafiapaten von Chicago, Gino Marzzone (Richard C. Sarafian), zu übergeben. Ihr
geschickter Plan ist, dass Caesar vor der Mafia als Sündenbock erscheinen wird.
Doch als dieser den Braten riecht und plötzlich außerplanmäßig intelligent
reagiert, beginnt ein mörderischer battle of wits, in dem Corky und Violet ihre
Gerissenheit an der von Caesar messen müssen. Ein erpresserisches Dreierspiel
voller überraschender Wendungen nimmt seinen Lauf und endet mit einem
Showdown zwischen der emanzipierten Violet und dem irren Caesar.
Unter dem Gewand eines B-Movies verbirgt sich ein raffinierter, mit Film-Noir-
Elementen durchsetzter Thriller, der um die Themen Verdacht, Paranoia, Irrsinn
und den allgegenwärtigen Edelmorast des organisierten Verbrechens kreist. Fast
alle Geschehnisse passieren innerhalb eines Apartmentkomplexes, entweder in
1
Posterheadline des US-Filmplakats (Quelle: Internet Movie Data Base)
2
USA 1996, 35mm 1:1.85, 108 Minuten, Buch & Regie: The Wachowski Brothers, DoP: Bill Pope, Production Design: Eve
Cauley, Produzent: Dino De Laurentiis (DDLC), Executive Producers: The Wachowski Brothers

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FRIEDRICH BÖHM: ÜBERHÖHTE GEWALTEXZESSE BEI DEN WACHOWSKI BROTHERS
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Corkys Wohnung, in Violets Wohnung oder im Flur bzw. Treppenhaus des
gleichen Gebäudes. Dieser Minimalismus der Settings scheint die kreative
Gestaltungskraft herausgefordert zu haben: Die virtuos fotografierte und an die
40er/50er Jahre angelehnte Eleganz des Mafiatums ist ein besonders
augenfälliges Charakteristikum der Inszenierung.
Der eigentliche Star des Films ist der professionelle Bösewicht Caesar, gespielt
von Joe Pantoliano, der im Zuge der immer zwangvolleren Erpressung durch das
weibliche Buddyteam Corky und Violet über sich hinauswächst. Seine
Ausweglosigkeit und paranoide Verzweiflung werden förmlich spürbar.
3.2
Analyse gewaltbestimmter Sequenzen
Obwohl ,,Bound" ständig um das Oberthema Gewalt (bzw. crime) kreist, gibt es nur
drei Sequenzen, in denen diese auch physisch zum Ausbruch kommt. Alle drei
Sequenzen haben eine jeweils unterschiedliche Art und Weise, die Gewalt zu
überhöhen, sie zu einem überspitzten Schauwert auszubauen.
Zusammengenommen ergeben sie eine stilistische Einheit, die in 3.3
zusammengefasst wird. Ein vollständiges Storyboard bzw. Einstellungsprotokoll
der betreffenden Sequenzen findet sich im Anhang (6). Im Folgenden werde ich
auf die kinematographischen Besonderheiten im Einzelnen eingehen.
3.2.1 Die Foltersequenz
oder: Kloschüsseln, Rot-Weiß Kontrast, Topshot und Closeup
Diese Sequenz wird in der Mitte von einer anderen Sequenz unterbrochen und
lässt sich also in zwei Abschnitte unterteilen
3
.
Im Badezimmer von Caesars Wohnung haben sich diverse Gangster der
Chicagoer Mafia versammelt, um einen Mann namens Shelly (Barry Kivel) zu
foltern. Wir werden in dieser Sequenz lernen, worin ,,das Geschäft" besteht, das
Violet in einem Dialog mit Corky zuvor angesprochen hat. Shelly soll den
3
Erster Teil: 26. bis 28. Filmminute, Zweiter Teil: 30. bis 31. Filmminute

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5
Gangstern verraten, ,,wo das verdammte Geld ist"
4
. Es handelt sich um die
$2.000.000, die Violet und Corky später stehlen werden. Für die Foltersession
stellt Caesar sozusagen die Örtlichkeit, während der impulsive Johnnie Marzzone
5
und der eiskalte, fischäugige Mafiascherge Mickey Mainato (John Ryan) als
professionellste Autorität im Raume, die Ausführung der Folter übernehmen.
Hierzu taucht zunächst Johnnie (gespielt von Christopher Meloni) den Kopf von
Shelly unter zynischem Gebrüll mehrmals in die Kloschüssel und schlägt ihn
einige Male auf den weißen Keramikrand, sodass Blut in den Ausfluss tropft und
den gesamten Bereich um die Kloschüssel herum stark kontaminiert. Johnnie tritt
anschließend mehrmals auf Shelly ein, als dieser bereits völlig entkräftet auf dem
Boden liegt. Die Gangster erkennen jedoch, dass sie mit dieser Methode nicht
weiterkommen. Also holt Caesar eine metallene Gartenschere hervor, des
konservativen Mickeys Lieblingsfolterinstrument
6
. Während Shelly vom massigen,
aber eher schweigsamen Partner Mickeys festgehalten wird (Peter Spellos als
,,Lou"), setzt Mickey die Gartenschere am kleinen Finger des mit einem weißen
Handtuch geknebelten Shelly an. ,,Ich zähle jetzt bis zehn. Hörst du? Bis zehn." Es
ist bekannt, dass ein Mensch zehn Finger hat. Die Sequenz endet damit, dass
Mickey sagt, ,,Eins. Wo ist das Geld?", nicht eine Sekunde auf Antwort wartet und
den ersten Finger von Shelly abtrennt. Man kann vermuten, dass Shelly das
Geheimnis unter diesen Umständen sehr bald verraten wird.
Es geht hier nicht um den Grund, weshalb Shelly gefoltert wird, sondern primär um
die Charakterisierung der diversen Gangsterfiguren und ihrer Beziehungen
zueinander: Mickey, Johnnie und Caesar. Die Sequenz erreicht ihren Höhepunkt
im Ausbruch der bestialischen Gewalt (Abtrennen des Fingers), Schauwert und
Höhepunkt der Charakterisierung zugleich. Spätestens hier weiß man, dass diese
Leute echte Gangster sind. Mickey ist extrem gefährlich und schreckt vor nichts
zurück. Diese Information wird noch im späteren Verlauf des Films von großer
Bedeutung sein, als Mickeys Misstrauen sich gegen den Hauptantagonisten
Caesar wendet. Ferner erfährt man, das Caesar ein Problem mit der dümmlich-
4
Dialog Johnnie Marzzone
5
Ginos Sohn; eine Karikatur von Sonny Corleone aus dem Film ,,The Godfather" (USA 1972, R: Francis Ford Coppola)
6
Abtrennen von Fingern war bereits in der Prohibitionszeit der 30er Jahre eine weit verbreitete Sanktionierungsart innerhalb
der Gangsterkreise von New York und Chicago.

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rabiaten Art von Playboygangster Johnnie hat. Mit Nachdruck brüllt Caesar ihn zu
Ende des ersten Abschnitts an: ,,Hör auf! Es wird mir viel zu laut!"
Dass sich derart mörderische Handlungen im Badezimmer eines normalen
Apartments abspielen, ist erschreckend. Der Verbrechenssumpf rückt für den
Zuschauer ein ganzes Stück näher.
Die Sequenz wird dadurch eingeleitet, dass Corky, die im benachbarten
Apartment gerade an einem Waschbeckenrohr herumschraubt (6.1.1), das
rhythmisch rumpelnde Geräusch des auf das Keramikbecken aufschlagenden
Schädels von Shelly vernimmt. Dies äußerst sich zunächst an feinen Vibrationen,
die im Wasser von Corkys Kloschüssel zu sehen sind. Die Kamera schleicht an
ihre Kloschüssel heran (6.1.2/4 ) und fährt dann von oben auf die vibrierende
Wasseroberfläche hinzu (6.1.6a). Wir nähern uns dem Abfluss, so wie wir uns
auch dem ersten konkreten Gewalterlebnis der Gangsterwelt nähern. Diese
Analogie ist bezeichnend: Ein Bluttropfen fällt und vermischt sich mit dem klaren
Wasser (6.1.6b). Von nun an geht es um ,,das Geschäft". Die Kamera fährt nun
den gleichen Weg wieder rückwärts. Immer mehr Bluttropfen und Blutschlieren
besudeln die sonst so reinliche Kloschüssel (6.1.6c). An diesem Punkt wird (u.a.
durch den Ton) deutlich, dass wir uns bereits in Caesars Badezimmer befinden,
wo Shellys Kopf von Johnnie auf die Kloschlüssel geschmettert wird. Wir sind auf
dieses einfache Täuschungsmanöver der Kameraführung hereingefallen. Die
unmerklich
ausgetauschten Kloschüsseln (geschickt über eine
zwischengeschnittene Zufahrt auf Corky gelöst) bilden sozusagen das
Übergangsmedium vom Apartment Corky zum Apartment Caesar/Violet.
Nebenbei angemerkt, fügt sich dieser Kloschüsselübergang in eine Abfluss- und
Drainagen-Metaphorik ein, welche die gesamte Exposition des Films durchzieht.
Sie versinnbildlicht das dreckige, morastige Gangstertum, in das wir als Zuschauer
im Laufe des Films hinabsteigen werden. Hier ein paar andere Hinweise:
Zur Einführung von Corkys Beruf der maintenance woman wird gezeigt, wie
sie mit einer elektrischen Pumpe pechschwarzen Fäulnisschlick aus ihrem
Badewannenabfluss hervorsaugt (2. Filmminute). Diese Arbeit scheint sie
auf eine seltsame Weise zu befriedigen.

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Der Name von Corkys Stammkneipe ist ,,The Watering Hole" (Türschild
sichtbar in der 4. Filmminute).
Beim ersten Kontakt zwischen den beiden Frauen soll Corky für Violet ihren
Ohrring, den letztere mit durchtriebener Absicht in den Waschbecken-
abfluss geworfen hat, herausholen. Man sieht in Zeitlupen-Großaufnahme,
wie Corky an dem phallischen, tropfenden Abwasserrohr herumschraubt,
um das Kniestück auszubauen (6. Filmminute). Die Szene hat einen
starken sexuellen Subtext. Später wird Corky mit genau der gleichen
auswringenden Handbewegung den Unterleib von Violet ,,reparieren".
Eine weitere Großaufnahme zeigt, wie Corky im Waschbecken ihre
Malerpinsel auswäscht und mit den Fingern lasziv durch die Borsten
streicht (10. Filmminute). Wieder ist ein sexueller Subtext lesbar.
Es ist offensichtlich, dass die Abwasser- und Drainagenmetaphorik sowohl eine
Anspielung auf den kriminellen Sumpf des Gangstermilieus, aber auch auf die
erotische Beziehung Violet/Corky ist, wobei das eine ohne das andere nicht
möglich wäre. Die Wachowski Brothers bleiben ihrer Headline ,,Sex & Crime
Forever" treu.
Optisch auffällig ist bei der Foltersequenz auch die Farbgebung im Badezimmer.
Der klinisch weiß ausgestattete Raum zeugt eigentlich von Sauberkeit und
Korrektheit. Umso kontrastreicher ist die Wirkung der roten Blutschlieren, die
zusammen mit dem weißen Untergrund einen optimalen Farbkontrast bilden. Auch
das weiße Handtuch, mit dem Shelly geknebelt ist, wird im Verlaufe der Folter rot.
Plakativer könnte die Gewalt dieser Sequenz kaum dargestellt werden. Ein
weiteres Farbenspiel findet sich in der Garderobe der Gangster. Alle sind grau,
schwarz oder weiß gekleidet. Lediglich der impulsive Johnnie, dem die Folter am
meisten Spaß zu machen scheint, trägt auffälliges weinrot. Johnnie ist also der
metzgerhafte Aggressor in der Runde.
Der Topshot (auch: overhead shot) wird vielmals als die Wachowski-eigene key
visual trademark bezeichnet. Zu Recht. Auch in dieser Sequenz wird er mehrmals
eingesetzt, hat allerdings eine eher ästhetisch motivierte Funktion, als dass er die
Narration unterstützen würde. In 6.1.1 wird der Topshot als Establishment Shot

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eingesetzt, um Corky, die auf dem Rücken liegt, zu zeigen, wie sie in ihrem
Apartment das Waschbecken repariert. Die Einstellung erzeugt einen leichten
Hauch von Suspense: Indem die Kamera die auf dem Rücken liegende Frau von
oben ins Visier nimmt, wirkt sie wehrlos, zumal sie die Kamera nicht sehen könnte,
da ihr Kopf unter dem Waschbecken ist. Corky scheint der Gewaltschraube des
Films ausgesetzt zu sein. Dies erzeugt eine gewisse subtile Spannung. In 6.2.7
steht der sehr auffällige Topshot hingegen für eine Zäsur in der Handlung. Wir
sehen von oben, wie Mickey Johnnie bei der Folter von Shelly ablöst; Die Herren
positionieren sich behäbig um. Die Einstellung sagt uns: Jetzt stoßen wir in
Sachen Folter in ein neues Kapitel vor, denn jetzt ist Mickey an der Reihe. Er ist
der wahre Metzger, der dies aber nicht offen nach außen trägt. Ein netter
Nebeneffekt ist, dass das Wasser in der Kloschüssel von oben wie ein dicker roter
Punkt inmitten von weiß (Interieur des Badezimmers) und schwarz/grau (Kleidung
der Gangster mit Ausnahme von Johnnie) aussieht. Man könnte sagen, dass
dieser Topshot die besondere Farbgebung anschaulich macht.
Der Closeup von Gegenständen spielt bei der Auflösung dieser Sequenz eine
wichtige Rolle und wird als Mittel zur indirekten Gewaltdarstellung eingesetzt. So
sehen wir vor dem Badezimmer ein Closeup der Gartenschere, die Caesar Mickey
zeigt (6.2.2). Er lässt sie in der Luft einige Male auf und zu schnappen. Somit wird
die Spannung auf den tatsächlichen Einsatz dieses Instruments enorm erhöht.
Jeder kann sich vorstellen, dass Gartenscheren sehr schmerzhaft sind, wenn man
sie zweckentfremdet. Die Gewissheit dieses Schmerzes ist nervenraubend. Im
Zuge der Intensivierung der Folter wird diese Closeuptechnik ausgeweitet.
Insgesamt zweimal sehen wir den Finger von Shelly in groß, und wie die
Schneiden der Schere bereits angesetzt sind (6.2.11/13), was die Spannung
dehnt. Es wird noch nicht zugedrückt. Der Bildausschnitt des Closeups ist beim
zweiten Mal minimal enger, was die Spannung verdichtet. Aber anstatt das
Zudrücken tatsächlich zu zeigen, sehen wir im Moment des Schmerzes das
Gesicht von Mickey und hören im Off das Schnalzen der Schere plus Shellys
Schmerzensgebrüll. Dass Mickey in dieser Einstellung reglos und ausdruckslos
ins Leere starrt, zeugt von seiner Eiseskälte und verleiht der Schnittfolge eine

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832466756
ISBN (Paperback)
9783838666754
DOI
10.3239/9783832466756
Dateigröße
13.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Fernsehen und Film München – Produktion und Medienwirtschaft
Erscheinungsdatum
2003 (April)
Note
1,0
Schlagworte
kamerastil filmwissenschaft zeitlupe crime closeup
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