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Dynamik der modernen Gesellschaft

Ein systemtheoretischer Entwurf der Weltgesellschaft unter Berücksichtigung von Politik, Wirtschaft und Massenmedien vor dem Hintergrund der Globalisierung

©2002 Magisterarbeit 124 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, Möglichkeiten und Realitäten gesellschaftlicher Dynamik in der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Aus explizit systemtheoretischer Warte in der Tradition Niklas Luhmanns erfolgt zu diesem Zweck zunächst eine skizzenhafte Beschreibung der modernen Gesellschaft mit Schwerpunkt auf drei sozialen Systemen: dem Funktionssystem Wirtschaft, dem Funktionssystem Politik und dem Funktionssystem Massenmedien. In diesem Kontext wird das Schnittstellenkonzept als heuristisches Instrument zur Konkretisierung struktureller Kopplungen sozialer Systeme entwickelt. Diese Annahmen werden dann um evolutionstheoretische Implikationen erweitert.
Im Anschluss daran werden Globalisierung und Provinzialisierung von Wirtschaft, Politik und Massenmedien skizziert. Damit einhergehen wird die Beschreibung der interdependenten Dynamik der drei Funktionssysteme unter explizit globalen Aspekten.
Das Massenmediensystem wird dabei eine Sonderstellung einnehmen, die zumindest die folgenden Fragen aufwirft: Gibt es eine gesamtgesellschaftliche Funktion der Massenmedien hinsichtlich des politischen Diskurses? Kann man vor dem Hintergrund des Entzugs nationalstaatlicher Kontrolle im Sinne einer Abnahme politischer Effektivität und Absicherung von einer Verantwortung der Massenmedien sprechen? Der Fokus bei der Beantwortung dieser Fragen wird auf der beobachtbaren Konvergenz von Massenmediensystem und Wirtschaftssystem zu vermeintlicher ‚Last‘ des politischen Funktionssystems liegen, die jedoch systemtheoretisch exakter und mit einem Hilfskonstrukt der Globalitätsdifferenz der Funktionssysteme modelliert wird. Globalitätsdifferenzen werden dabei vor allem auf gesellschaftlicher Organisationsebene, und die beobachteten allgemeinen Tendenzen immer als Varianten struktureller Kopplung und Schnittstellen, also: als Interpenetrationen verdeutlicht werden.
Auf einer theoretisch abstrahierenderen Ebene wird der Begriff der Kommunikation als konstitutives und konstruierendes Moment jeglicher kulturellen und sozialen Realität unter Punkt 3.2. ‚Sonderfall: Massenmediensystem‘ diskutiert werden. Die Befunde werden für den Rest der Arbeit gewinnbringend ausgewertet.
Komplementär zu Globalisierung wird Provinzialisierung, deren Begriff spezieller unter Begriffen wie Regionalisierung, Lokalisierung etc. geführt wird, ihre Berücksichtigung finden. Dabei wird Provinzialisierung systemtheoretisch wie empirisch […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6616
Weißenborn, Stefan: Dynamik der modernen Gesellschaft - Ein systemtheoretischer
Entwurf der Weltgesellschaft unter Berücksichtigung von Politik, Wirtschaft und
Massenmedien vor dem Hintergrund der Globalisierung
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Düsseldorf, Universität, Magisterarbeit, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Inhalt
1.
Einleitung
5
2. Die moderne Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive
7
2.1.
Das
Funktionssystem
Politik
11
2.2.
Das
Funktionssystem
Wirtschaft
14
2.3.
Das
Funktionssystem
Massenmedien
16
3.
Strukturelle
Kopplungen
und
Schnittstellen
24
3.1. ,Interpenetrationsdreieck` Politik ­ Wirtschaft ­ Massenmedien
25
3.2. Kultureller Sonderfall: Funktionssystem Massenmedien
33
3.3.
Exkurs:
Funktionssystem
Wissenschaft
39
4. Strukturelle und funktionale Evolution: Dynamik der Funktionssysteme
46
4.1. Restabilisierung, Reproduktion und Stagnation
48
4.2.
Struktureller
und
funktionaler
Wandel
54
4.3.
Systemgenese
und
Systemzerfall
63
5. System(at)ische Globalisierung und Weltgesellschaft
70
5.1. Internationale oder entnationalsierte
strukturelle Kopplungen und Schnittstellen?
71
5.1.1.
Welt-Wirtschaft
72
5.1.2. Internationale und entnationalisierte Politik
79
5.1.3. Globale Strukturen der Massenmedien
88
5.2. Schlussfolgerung: Organisationen der Massenmedien als Teil des
101
ökonomischen Betriebes oder Teil und Vehikel des politischen Diskurses?
5.2.1.
Globalisierung 102
5.2.2.
Provinzialisierung
105
6.
Zusammenfassung
und
Ausblick
108
7.
Literaturverzeichnis
118

5
1. Einleitung
Im Rahmen dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, Möglichkeiten und
Realitäten gesellschaftlicher Dynamik in der modernen Gesellschaft zu beschreiben.
Aus explizit systemtheoretischer Warte in der Tradition Niklas Luhmanns erfolgt zu
diesem Zweck zunächst eine skizzenhafte Beschreibung der modernen Gesellschaft mit
Schwerpunkt auf drei sozialen Systemen: dem Funktionssystem Wirtschaft, dem Funk-
tionssystem Politik und dem Funktionssystem Massenmedien (Punkte 2 und 3). In die-
sem Kontext werde ich das neue Schnittstellenkonzept als heuristisches Instrument zur
Konkretisierung struktureller Kopplungen sozialer Systeme vorstellen. Diese Annah-
men werde ich dann um evolutionstheoretische Implikationen erweitern (Punkt 4).
Im Anschluss daran werde ich versuchen, Globalisierung und Provinzialisierung von
Wirtschaft, Politik und Massenmedien zu skizzieren (Punkt 5). Damit einhergehen wird
die Beschreibung der interdependenten Dynamik der drei Funktionssysteme unter expli-
zit globalen Aspekten.
Das Massenmediensystem wird dabei eine Sonderstellung einnehmen, die zumindest
die folgenden Fragen aufwirft: Gibt es eine gesamtgesellschaftliche Funktion der Mas-
senmedien hinsichtlich des politischen Diskurses? Kann man vor dem Hintergrund des
Entzugs nationalstaatlicher Kontrolle im Sinne einer Abnahme politischer Effektivität
und Absicherung von einer Verantwortung der Massenmedien sprechen? Der Fokus bei
der Beantwortung dieser Fragen wird auf der beobachtbaren Konvergenz von Massen-
mediensystem und Wirtschaftssystem zu vermeintlicher ,Last` des politischen Funkti-
onssystems liegen, die ich jedoch systemtheoretisch exakter und mit dem neuen Hilfs-
konstrukt der Globalitätsdifferenz der Funktionssysteme zu modellieren versuche.
Globalitätsdifferenzen werden dabei vor allem auf gesellschaftlicher Organisationsebe-
ne, und die beobachteten allgemeinen Tendenzen immer als Varianten struktureller
Kopplung und Schnittstellen, also: als Interpenetrationen verdeutlicht werden.
Auf einer theoretisch abstrahierenderen Ebene wird der Begriff der Kommunikation als
konstitutives und konstruierendes Moment jeglicher kulturellen und sozialen Realität
unter Punkt 3.2. ,Sonderfall: Massenmediensystem` diskutiert werden. Die Befunde
versuche ich für den Rest der Arbeit fruchtbar zu machen.
Komplementär zu Globalisierung wird Provinzialisierung, deren Begriff spezieller unter
Begriffen wie Regionalisierung, Lokalisierung etc. geführt wird, ihre Berücksichtigung
finden. Dabei wird Provinzialisierung systemtheoretisch wie empirisch als integrativer
Bestandteil von Globalisierung zu erfassen sein.

6
In diesem Zusammenhang wird die Transzendierung von Territorien oder: der Bedeu-
tungsverlust des Raumes deutlich werden ­ aber eben auch ergo provozierte Gegenphä-
nomene vor allem in Form der Behauptung und Neo-Genese kultureller, nationaler und
generell territorial einschränkbarer Identitäten. Annahmen über Mythenbildung und
Virtualität bzw. Artifizialität werde ich dabei ansatzweise in die Überlegungen integrie-
ren.
Auch ich nehme damit Abstand vom Begriff des Nationalstaates als treffenden oder
deckungsgleichen Terminus für Gesellschaft an sich, ohne dabei die Existenz von Nati-
onalstaaten in Frage zu stellen. Als Gesellschaftsbegriff verwende ich anstelle dessen
den systemtheoretisch konsistenten und ausschließlichen Begriff der einen Weltgesell-
schaft. Ziel ist es letztlich auch, den Begriff der Weltgesellschaft als Gesellschaftsbeg-
riff für die Soziologie erneut zu plausibilisieren, und dies, ohne dabei mit zu treffenden
Annahmen über gesellschaftliche Evolution, Globalisierung und Provinzialisierung, mit
der postulierten Sonderstellung des Massenmediensystems und allgemein mit meinen
systemtheoretischen Annahmen bezüglich der drei herausgegriffenen Funktionssysteme
in Konflikt zu geraten.

7
2. Die moderne Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive
Es geht im Folgenden um eine skizzenhafte Beschreibung der modernen Gesellschaft.
Sie wird hier beschrieben als funktional differenzierte, polykontexturale Gesellschaft
1
:
Die Gesellschaft ist von hoher Komplexität gekennzeichnet, die auf den drei Systemre-
ferenzebenen Gesellschaft, Organisation und Interaktion zu Selektivität, zu Differenzie-
rung, zu Komplexitätsreduktion zwingt.
2
Ich betone, dass es sich bei der hier vorliegenden um eine mögliche Beschreibung von
Gesellschaft handelt. Denn: "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt." (Matura-
na/Varela 1987, S.38), womit die chilenischen Systembiologen und Inspiratoren Niklas
Luhmanns, Humberto Maturana und Francisco Varela, in einem ihrer Kernaphorismen
die Perspektivität alles Gesagten (hier Geschriebenen) ­ kurz: Beobachterabhängigkeit
­ zum Ausdruck bringen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der "Verle-
genheit der Ontologie" (Luhmann 1975, S.63) und verweist damit auf das Problem der
(Un-)Begründbarkeit des Wesens differenzierter Systeme.
Also: Wie kann Gesellschaft aus der gewählten Perspektive, als differenziertes System
wenn nicht begründet, aber dann weiterhin beschrieben werden? Was systemtheoretisch
unter Gesellschaft verstanden wird, "hängt nicht davon ab, was und wie die Menschen
denken, sondern davon, welche Bedingungen der Kommunikation die Menschen vor-
finden, um ihre Gedanken zu äußern" (Wehner 2000, S. 97). Luhmann (be)schreibt:
"Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreich-
baren Handlungen" (Luhmann 1975, S.11). Logisch gefolgert gibt es zum einen außer-
halb dieses Systems nichts Soziales mehr. Gesellschaft genügt sich demnach selbst.
3
Und zum anderen ergibt sich: "Gesellschaft ist ein Zusammenhang von Kommunikatio-
nen" (Fuchs 1997, S.40) oder genauer: "Gesellschaft ist das autopoietische System, das
Kommunikationen in einem Netzwerk von Kommunikationen produziert
[...].Kommunikationen verketten sich mit Kommunikationen mit Kommunikationen..."
(ebda., S.59). Es lohnt sich für die Soziologie angesichts dieser Außengrenze von
1
Andere Typisierungen der modernen Gesellschaft ­ etwa als Informationsgesellschaft, als Wissensge-
sellschaft, Multioptionsgesellschaft oder polyzentrische Gesellschaft ­ s. Bühl, Achim (2000), S. 38­74.
Nach Willke 1997, S. 9ff. ist die Gesellschaft auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.
2
Im Folgenden spreche ich von ,Systemreferenzen` (Gesellschaft ­ Organisation ­ Interaktion), um
Missverständnisse einer Wert-Hierarchie der Systeme auszuschließen. Der Begriff ,Ebene` solle keine
Ordnung der Wertigkeit implizieren, sondern lediglich auf den je nach Systemtypus unterschiedlichen
Grad an Komplexität sowie die damit zusammenhängende interne Differenzierung der Funktionssysteme
verweisen. So ist z. B. eine politische Partei als Organisationssystem Ausdruck der Binnendifferenzierung
des Funktionssystems Politik und somit weniger komplex als das Funktionssystem selbst.
3
Allein der sprachlichen Logik Rechnung tragend müsste konsequenterweise schon an dieser Stelle von
Weltgesellschaft gesprochen werden. Aus inhaltlich-dramaturgischen Gründen werde ich diesen Termi-
nus jedoch erst später im Fließtext verwenden.

8
Kommunikation und Gesellschaft
4
nur die Umschau innerhalb der Gesellschaft ­ der
Blick auf die gesellschaftlichen Teil- oder Subsysteme und deren Aus- und Binnendiffe-
renzierung und autopoietische Reproduktion. Ein Blick nach außen wäre auch gar nicht
möglich, denn: Das Sozialsystem Gesellschaft ist dabei die äußere Grenze der Instituti-
onalisierbarkeit. "Gesellschaft ist dasjenige soziale System, das die letzten grundlegen-
den Komplexitätsreduktionen institutionalisiert und dadurch die Prämissen für das Ope-
rieren aller anderen sozialen Systeme [...] setzt" (Baraldi 1999b, S. 63, Hervorhebung
nicht im Original). Jede Beschreibung von Gesellschaft ist ergo ein gesellschaftsinternes
Ereignis
5
­ somit zugleich Selbstbeobachtung und Selbstreproduktion.
6
Mittels funktionaler Differenzierung in Funktionssysteme
7
gelingt es der Gesellschaft
zunächst auf der Makroebene, die Komplexität zu reduzieren, oder anders ausgedrückt:
jeweils systemspezifisch-universale Sinnhorizonte kommunikativ zu etablieren. "Funk-
tionale Differenzierung meint die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kommunikati-
onszusammenhänge, die sich, orientiert an spezifischen Bezugsproblemen, bilden" (Ge-
recke 1998, S.19):
8
Diese greifen auf die Welt je global zu, und zwar in dem Sinne, dass
sie aus systemspezifischer Perspektive komplett entworfen wird:
"In der Wirtschaft werden Sie über die Dominanz der Wirtschaft keine Zweifel finden. In der Religion
ist klar, daß sie das entscheidende und unverzichtbare System ist. Das Recht wird dasselbe behaupten,
die Wissenschaft nicht minder, die Politik sowieso, und die Kunst in einem geradezu emphatischen
Ausmaß. Sie haben also lauter wichtigste Systeme, also eigentlich in dieser Hinsicht gleiche Systeme"
(Fuchs 1997, S. 98).
So gesehen bedeutet funktionale Differenzierung nicht die Dekomposition in Teile eines Ganzen wie sie
Max Weber noch definierte, sondern sie bedeutet Emergenz.
"Die Ausdifferenzierung der Teilsysteme erfolgt dieser Sichtweise zufolge als Kultivierung, Vereinsei-
tigung und schließlich Verabsolutierung von Weltsichten, bis diese sich in Form jeweils hochgradig
spezialisierter, selbstreferentiell angelegter binärer Codes etabliert haben [...] ...säuberlich aufeinander
abgestimmte[...] Leitdifferenzen gesellschaftlicher Kommunikation konstituieren keine überschnei-
dungsfreien Zuständigkeitsbereiche, sondern eine polykontexturale Gesellschaft" (Schimank/Volkmann
1999, S. 9; Hervorhebung im Original).
Analog schreibt Luhmann:
"Es geht nicht um eine Dekomposition eines »Ganzen« in »Teile«, [...]. Systemdifferenzierung heißt
gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch aus den
Teilen und aus den »Beziehungen« zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsys-
tem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystem-
spezifische) Differenz von System und Umwelt. Durch Systemdifferenzierung multipliziert sich gewis-
sermaßen das System in sich selbst durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten
im System" (Luhmann 1997a, S. 598; Hervorhebungen im Original).
4
Zur inhaltlichen Nähe, ja fast Äquivalenz der beiden Begriffe Ausführlicheres unter Punkt 3.2.
5
Zur reflektierten Autologie der Soziologie vgl. Luhmann 1997a, S. 1128ff.
6
Zur basalen Definition von Gesellschaft in der Theorie sozialer Systeme vgl. auch Willke 2001, S.
116/117.
7
Die Begriffe Funktionssystem, Teilsystem, Primärsystem und Subsystem verwende ich synonym.
8
Vgl. dazu sehr anschaulich Fuchs 1997, S.84.

9
In so fern ,gibt` es das umfassende System nicht ­ zumindest kann es in Beobachtungen
nicht zur Erscheinung gebracht werden, da eine einzunehmende Perspektive immer eine
teilsystemspezifische, wenn auch jeweils universale ist. In diesem Zusammenhang
spricht Luhmann von einer Multiplikation des Gesamtsystems innerhalb der Teilsyste-
me, und zwar so vielfach wie es Teilsysteme gibt. Gesellschaft kann sich demnach un-
möglich unter einer Perspektive selbst beschreiben.
Die für mein Anliegen wichtigsten Primärsysteme gesellschaftlicher, funktionaler Diffe-
renzierung und deren spezifische Perspektiven werden im Folgenden kurz beschrieben:
das Funktionssystem Politik, das Funktionssystem Wirtschaft und das Funktionssystem
Massenmedien. Letzteres werde ich wegen besonderer Relevanz hinsichtlich übergrei-
fender kultur- und sozialkonstituierender sowie -repräsentierender Funktionen ausführ-
licher erläutern. Strukturelle Kopplungen untereinander werde ich dabei zunächst nur
am Rande und der Vollständigkeit einer adäquaten Beschreibung halber erwähnen. Un-
ter dem Stichwort ,Interpenetrationsdreieck' werden sie unter Punkt 3.1. tiefergehende
Erwähnung finden. Andere Teilsysteme primärer gesellschaftlicher Differenzierung wie
das Rechtssystem, das Erziehungssystem, das Wissenschaftssystem, das Kunstsystem,
das Religionssystem usw. finden keine oder marginale, wenn für diese Arbeit relevante
Beachtung. In einem Exkurs wird das Funktionssystem Wissenschaft behandelt werden
(Punkt 3.3.).
Angemerkt sei, dass althergebrachte Differenzierungsformen wie beispielsweise seg-
mentäre und stratifikatorische innerhalb der modernen Gesellschaft koexistieren oder
genauer: koprozessieren, nur eben nicht als Primat der Differenzierung: der Primat der
Differenzierung ist die funktionale Differenzierung. Segmentäre Differenzierung findet
als Binnendifferenzierung innerhalb der Funktionssysteme statt, stratifikatorische bei-
spielsweise als Herausbildung von Zentren und Peripherien.
Im Gegensatz zu älteren Gesellschaftsformationen besteht also strukturelle Inklusions-
gleichheit der unterschiedlichen Funktionssysteme. "...die moderne Gesellschaft [ist, S.
W.] durch die primäre Form der funktionlen Differenzierung bestimmt, nämlich durch
die funktionale Ungleichheit strukturell gleicher Teile: Die gesellschaftlichen Teilsys-
teme erfüllen universal unterschiedliche Funktionen, sie beziehen sich auf sich selbst
und können sich gegenseitig nicht ersetzen." (Wobbe 1999, S.45). Diese spezifischen
Funktionen und die damit verbundenen Sinnhorizonte werden für die drei genannten
Teilsysteme in den nächsten Abschnitten genauer ins Blickfeld gerückt.
Generell gilt für gesellschaftliche Funktionen Folgendes: "Funktionen des Gesell-
schaftssystems lassen sich weder aus dem Systembegriff noch aus dem Evolutionsbeg-

10
riff durch deduktive Operationen ableiten; sie sind als ausdifferenzierte Zentralperspek-
tiven des gesellschaftlichen Lebens immer historisch bedingt, immer Resultate der Evo-
lution" (Luhmann 1976, S. 291). Der Funktionsbegriff ist zudem brauchbar bei der Su-
che nach funktionalen Äquivalenten (vgl. Gerecke 1998, S.26). Wenn im Folgenden
Funktionen herausgestellt werden, so sind diese prinzipiell historisch singulär, da sie als
Kommunikationen nur in ihren spezifischen Gegenwarten Bestand haben. Dieses
schließt jedoch nicht ihre Reproduktionen und Restabilisierungen aus, die sie längerfris-
tig beständig erscheinen lassen.
Die Gesamtheit aller anderen (Funktions-)Systeme, autopoietische gesellschaftliche und
psychische oder allopoietische Systeme eingeschlossen
9
, bilden für je ein Funktionssys-
tem die Umwelt. Auch die ökologische Umwelt wird als Teil dieser Umwelt anbetrach-
tet. Kurz: Alle Systeme stellen untereinander jeweils auch einen Teil der Umwelt für-
einander dar, von der sie sich ausdifferenzieren. "Vom Teilsystem aus gesehen, ist der
Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teil-
system dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Die Sys-
temdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten."
10
(Luh-
mann 1997a, S.597).
Die Ausdifferenzierung eines Systems geschieht durch Komplexitätsreduktion, womit
jedes System hinsichtlich und vermittels seines Codes und aus eigener Perspektive we-
niger komplex als seine Umwelt(en) wird. "Seiner stets übermäßig komplexen Umwelt
setzt das System seine Einheit als Gesichtspunkt der Selektion eines engeren Kreises
von Möglichkeiten entgegen" (Luhmann 1975, S. 59). Durch diese binäre Unterschei-
dung und deren Gebrauch wird etwas ausgezeichnet, was ohne diese Auszeichnung gar
nicht sichtbar wäre: ein Sinnhorizont. Mit anderen Worten: Realität ­ so auch die sys-
temspezifische (wie jede Realität spezifisch ist) ­ wird so erst erfahrbar (vgl. Wehner
2000, S. 99).
9
Zur Unterscheidung von autopoietischen und allopoietischen Systemen vgl. Esser 1993, S. 496.
10
In systemtheoretischer Terminologie: ein re-entry (vgl. Esposito 1999b, vgl. Luhmann 1997a, S.45ff).

11
2.1. Das Funktionssystem Politik
Auch bezüglich des politischen Systems der moderen Gesellschaft haben wir es mit
einer solchen Stabilisierung einer Differenz von Innen und Außen durch Einengung des
Möglichkeitskreises zu tun. Wie aber werden diese Möglichkeiten eingeschränkt? Oder
mit anderen Worten: Welche Möglichkeiten lohnen aus Sichtweise des politischen Sys-
tems überhaupt der Evaluation? Systemtheoretisch gesprochen gibt es für Systeme je-
weils einen binären Code, der Möglichkeiten einschließt und diese dann einer Entwe-
der-oder-Bewertung aussetzt. Einen solchen Code gibt es für jedes Teilsystem, und
beim politischen System ist es der Code der Macht: Unterlegene/Überlegene (vgl. Ba-
raldi 1999d, S. 135).
11
Hintergrund ist die politische Funktion, "die Fähigkeit zu ge-
währleisten, kollektiv bindend zu entscheiden" (ebda.). Wer also Politik betreibt, muss
sich unter den Code unterlegen/überlegen subsumieren lassen. Das System ist operativ
geschlossen. Nichts kann im System Politik prozessiert werden, was nicht unter die Kri-
terien des eigenen binären Codes fällt. Und umgekehrt: Die Welt und ihre Erscheinun-
gen sind mittels dieses Codes konstruierbar; was nicht unter den politischen Code fällt,
dafür ist das politische System blind. Es zeichnet sich ein universaler Sinnhorizont des
politischen System ab, ein projektiver Komplettzugriff auf Welt. Zwar können Systeme
in der Umwelt beobachtet werden, das aber nur nach Maßgabe der eigenen Unterschei-
dungen. "Es [das System, S. W.] kann nicht mit Ereignissen in seiner Umwelt kommu-
nizieren. Es kann nur über Ereignisse kommunizieren" (Wehner 2000, S. 99, Hervorhe-
bung im Original).
Man ist nun entweder Teil der Regierung oder Teil der Opposition.
"Für das System sind Regierung und Opposition gleich relevant, aber die Regierung stellt einen positi-
ven Wert (Anschlusswert) und die Opposition einen negativen Wert (Reflexionswert) dar. Durch diesen
Code kann das politische System sich selbst beobachten und zu einer Zuschreibung aller Entscheidun-
gen (auf die Regierung oder auf die Opposition) kommen" (Baraldi 1999d, S. 136).
Diese Verantwortlichkeit politischen Handelns, fremdreferentiell eng an das sanktionie-
rende Funktionieren eines Rechtssystems gebunden ­ womit die strukturelle Kopplung
politisches System/Rechtssystem angedeutet sei ­, ist Kennzeichen sogenannter Kon-
kurrenzdemokratien als politische Form in der modernen Gesellschaft. Mit anderen
Worten: "Die Unterscheidung Regierung/Opposition begründet die Politikform der
Demokratie" (ebda., S. 136). (Logisch gefolgert ergibt sich: Fällt die Unterscheidung
Regierung/Opposition weg, so fällt dieser politische binäre Code weg, der dann aller-
dings durch einen funktional äquivalenten Code substituiert werden muß, um das Sys-

12
tem offiziell legitimieren zu können; wir haben es dann mit einer Nicht-Demokratie,
womöglich mit einer Diktatur oder Monarchie zu tun, für die nur der basale Code unter-
legen/überlegen gilt.) Die binäre Kontingenz der politischen Spitze wird manifestiert
und legitimiert durch die Selektionsform der freien und geheimen Wahlen, die das binä-
re Element von ,Entweder Regierung ­ Oder Opposition` institutionalisiert. Mit dem
Phänomen der Wahlen liegt ein Funktionsprinzip der Legitimation durch Verfahren
(vgl. dazu Luhmann1997b) vor: Man wird entweder als Regierender oder als Opponie-
render legitimiert.
Als Hauptfunktionen von Wahlen als wichtigster politischer Institution werden die fol-
genden genannt (vgl. Treibel 2000, S. 35): Zum einen reduzieren Wahlen die Komplexi-
tät des politischen Systems für die Bevölkerung, die pro Legislaturperiode nur einmal
zur Wahl ,muss`. Insofern findet Politik in der Bevölkerung nur alle paar Jahre statt.
Desweiteren ist die Institution der Wahlen befähigt, politischen Protest zu absorbieren.
Man denke an Protestwähler, die nur durch Wahl, jedoch nicht mittels (physischer) Ge-
walt ihrem Protest Ausdruck verleihen.
12
Zuletzt nennt Treibel die Funktion von Wah-
len, zur Ausdifferenzierung des politischen Systems beizutragen ­ durch Produktion
von Unterlegenen und Überlegenen.
Bei Treibel nicht genannt wird die m. E. wichtige Funktion von Wahlen für die Selbst-
beobachtung des politischen Systems (unter Zuhilfenahme politischer Theorie und Sta-
tistik): Ergebnisse von Wahlen ­ als Indikator für Wählerbedürfnisse, die der Umwelt
des politischen Systems zugerechnet werden können ­ stellen für Politiker die Möglich-
keit dar, ihre Chancen auf die Option einer Regierungsbeteiligung zu berechnen.
Fremdreferentielle Einflüsse werden durch Wahlen prozessiert und durch Wahlergeb-
nisse repräsentiert.
Neben dem hochabstrakten binären Code eines jeden Systems spricht man auf einer
konkreteren Ebene von Programmen, die die binären Codes praktisch umsetzen. Im
demokratischen politischen System sind das die Programme der Regierung bzw. der
Opposition. "Die demokratisch gewählte Regierung formuliert das Programm, das in
der Politik die Präferenz hat in dem Sinne, daß es die Kommunikationen instruiert, die
zu kollektiv bindenden Entscheidungen führen" (Baraldi 1999d, S. 137).
Das politische System unterliegt Beschränkungen:
11
Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium findet fremdreferentiell Eingang in
andere Funktionssysteme (vgl. Gerecke 1998, S. 24). Darauf wird noch zurückzukommen sein.
12
Eine andere Facette des Zusammenhangs von politischem System und Gewalt skizziert Bolz 2001, S.
149: "Während unsere Gesellschaft mit dem Extremwert Pornographie ihren Frieden gemacht hat, muß
sie beim Thema Gewalt mit Intoleranz reagieren, denn es geht hier um den bestandssichernden symbioti-
schen Mechanismus des politischen Systems."

13
Durch strukturelle Kopplungen v. a. mit dem Rechtssystem (Recht), dem Massenme-
diensystem (Berichterstattung) und dem Wirtschaftssystem (Geld) hat man es mit Inter-
dependenz- und Interpenetrationsphänomenen trotz jeweiliger operativer Geschlossen-
heit der Subsysteme zu tun. Diese Restriktionen ­ und ebenso die des Wirtschafts- wie
des Massenmediensystems ­ werden aus jeweiliger systemspezifischer Perspektive als
Phänomene der Fremdreferenz bzw. fremdreferentieller Einflüsse beobachtet. Eine wei-
tere Beschränkung für das politische System ergibt sich, wenn man Staat und Politiksys-
tem als territorial deckungsgleich auffasst.
13
In diesem Sinne würde aktive Politik durch
Staatsgrenzen eingeschränkt werden. Der radikale Nominalist Norbert Bolz schreibt:
"Von allen sozialen Systemen der modernen Gesellschaft sind Recht und Politik am
stärksten am Prinzip der Territorialität orientiert. Das macht sie in einer Zeit der totalen
Mobilmachung und Weltkommunikation hilflos" (Bolz 2001, S. 58). Das Festhalten am
Raumbegriff als Erbe der Moderne stellt sich zu Zeiten eingeforderter politischer Hand-
lungsfähigkeit auf globaler Ebene auf den ersten Blick als unüberwindbare Hürde dar.
Diese Einschätzung bedarf jedoch einer differenzierteren Beleuchtung. Ich denke dabei
an schon erwähnte, aber noch nicht genauer definierte Komplementärphänome der Glo-
balisierung und die noch nicht gänzlich obsolete Rolle des Nationalstaates hinsichtlich
politischer Handlungsfähigkeit. Ich werde darauf unter Punkt 5.1.2. zurückkommen.
Innerhalb des politischen Systems als Teilsystem gesellschaftlicher Primärdifferenzie-
rung gibt es sozial stabilisierend wirkende Binnendifferenzierung. Ein Beispiel ist mit
der Differenzierung in Regierung und Opposition bereits genannt. Weitere sind die
Ausdifferenzierung von Parteien, Bürgerinitiativen, Interessenverbänden, allgemein die
von politischen Organisationen. Es zeigt sich "eine hochdifferenzierte Arbeitsteilung
innerhalb des Teilsystems Politik, wobei in allen Unterabteilungen des politischen Sys-
tems der gemeinsame Leitwert der Macht mit seinem binären Code gilt" (Sauer 2000, S.
36).
Eine Unterscheidung in Bezug auf Binnendifferenzierung muss allerdings deutlich her-
ausgestellt werden: Es gibt segmentäre Binnendifferenzierung und die in Zentren und
Peripherien. Bezogen auf die obigen Beispiele sind alle genannten binnendifferenzierte
Segmente, unterliegen also einer institutionalisierten Gleichberechtigung. Die Ausnah-
me bildet das Beispiel Regierung/Opposition, in dem sich die institutionalisierte Un-
gleichverteilung der Macht zeigt. Es ist eine Differenzierung in Zentrum und Peripherie.
13
Zur historischen Beziehung von Staat und Gesellschaft, die vor analoge Probleme gestellt ist wie die
Beziehung von Staat und Politiksystem vgl. Albrow 1998a, S. 71­75, vgl. Luhmann 1998, S. 345ff.

14
Und ebenso ist eine Verschränkung der Differenzierungsformen sichtbar, wenn Tertiär-
oder höhergradige Binnendifferenzierung mit ins Blickfeld genommen wird: Am Bei-
spiel der segmentären Parteien können parteiintern Hierarchien festgestellt werden.
Immer aber gilt, dass Binnendifferenzierung durch höhergradige Reduktion von Kom-
plexität sozial stabilisierend wirkt.
2.2. Das Funktionssystem Wirtschaft
Der übergeordnete binäre Code des Wirschaftssystems der modernen Gesellschaft ist
zahlen/nicht zahlen, in Konseqenz der Code haben/nicht haben. Dementsprechend sind
die Operationen des Systems Zahlungen, der Träger dieser das Kommunikationsmedi-
um Geld. Auch im Wirtschaftssystem ist ein Entweder-Oder-Mechanismus zu beobach-
ten, der hier auf Güterknappheit fußt: "Das Bezugsproblem der Wirtschaft ist die
Knappheit der Güter ­ also die Tatsache, daß einige Güter nur in begrenztem Maße ver-
fügbar sind: Der Zugang der einen auf diese Güter schließt den möglichen Zugang an-
derer aus" (Esposito 1999c, S. 209). Wie im politischen System die basale Ausschluss-
alternative unterlegen/überlegen besteht, so ist man aus Perspektive des
Wirtschaftssystems entweder Eigentümer oder Nicht-Eigentümer.
Vom binären Code zahlen/nicht zahlen leitet sich im Wirtschaftssystem alles ab: Ebenso
wie im politischen System und von dessen Code in letzter Konsequenz der Entwurf ei-
ner kompletten Welt. Die Welt der Wirtschaft besteht aus Zahlungen. Alles andere ist
aus systemspezifischer Perspektive operativ nicht fassbar. Der universale Sinnhorizont
des Wirtschaftssystems geht, ebenso wie der des politischen Systems, notwendigerweise
einher mit der Blindheit für Phänomene der Umwelt. Deren Existenz schlägt sich in
strukturellen Kopplungs- oder Interpenetrationsphänomenen nieder, ist jedoch nicht
wirklich ,wahrnehmbar`. Anders wäre der universale wirtschaftliche Sinn nicht mög-
lich.
Vergleicht man vormonetaristische Wirtschaftssysteme mit monetaristischen
14
, so
kommt zur eigentlichen Güterknappheit im monetaristischen System die Knappheit des
Geldes, die Zweitcodierung des Eigentums hinzu. Es entsteht eine Verdopplung der
Knappheit (vgl. ebda., S. 210). Bei Gebrauch des Geldes zirkuliert das Eigentum: Man
hat oder hat nicht, und man ist zahlungsfähig oder ist zahlungsunfähig; wobei Besitz
und Zahlungsfähigkeit immer wieder angestrebt werden, aber bei anderen auch immer
14
Bemerkungen zur Entstehung der modernen Ökonomie im gleichnamigen Aufsatz von Dieter Claes-
sens in Claessens 1998.

15
wieder Zahlungsunfähigkeit und Nicht-Besitz erzeugen. In diesem Streben nach Besitz
zeigt sich ein Streben nach Bedürfnisbefriedigung. Diese Bedürfnisbefriedigung ist na-
turgemäß zukunftsorientiert. Das Kommunikationsmedium Geld nimmt die Funktion
der Absicherung der Zukunft an: "Ich muß heute schon feststellen, daß ich die Bedürf-
nisse von morgen befriedigen kann ­ das wird durch die Knappheit des Geldes ausge-
drückt. Knappheit entsteht also prinzipiell als Artefakt der Gesellschaft, sobald zukünf-
tige Bedürfnisse als heutiges Problem behandelt werden" (Bolz 2001, S. 87). Norbert
Bolz bezeichnet Geld als Gewissheitsäquivalent.
Der abstrakte Code zahlen/nicht zahlen macht für sich gesehen Angaben über Wahr-
scheinlichkeiten von Zahlungen nicht möglich. Er bedarf auch im Wirtschaftssystem der
Konkretisierung durch Programme, und diese stützen sich in der Wirtschaft auf Preise.
"Die Motivation, eine Zahlung zu vollziehen, kann nun nicht direkt aus einem Bedürf-
nis gewonnen werden (das als Umweltgegebenheit innerhalb des Systems nicht behan-
delt werden kann), sondern benötigt eine Orientierung am Preis" (Esposito 1999c, S.
210). So gesehen bedeutet der Preis ein Evaluationsinstrument für die Auslotung der
Wahrscheinlichkeit von Zahlungen. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass Umweltkonditi-
onierungen in Form von Bedürfnissen als Fremdreferenz systemintern nur über den
Preis verarbeitet werden können: "...man zahlt, wenn der Preis stimmt" (ebda.). Zudem
bietet sich ein Vergleich von Preisen im Wirtschaftssystem mit Wahlen im politischen
System an: Wie Wirtschaftsfunktionäre ihr wirtschaftliches Handeln am erwarteten oder
faktischen Preis und am Marktgeschehen ausrichten, so richten Politiker analog dazu ihr
politisches Handeln am erwarteten oder faktischen Wahlergebnis aus, wenn kein ande-
rer Indikator für die Erwartbarkeit des Zugriffs auf Macht bereitsteht.
An dieser Stelle ­ der Preis als Indikator für Zahlungen und deren Motivationen ­ wird
die Existenz struktureller Kopplungen des Wirtschaftssystems mit anderen Systemen
deutlich. Denn Änderungen in der Umwelt des Wirtschaftssystems, beispielsweise eine
Änderung der auf Tabakwaren und Spirituosen veranschlagten Steuer mittels Bestim-
mung durch Repräsentanten des politischen Systems, schlägt sich innerhalb des Wirt-
schaftssystems lediglich durch Preisänderung nieder. Änderungen verursachen Kosten
oder Nicht-Kosten. Sensibel ist das Wirtschaftssytem nur in Hinsicht auf den eigenen
Code; hinsichtlich anderer Codes, z. B. eines moralischen, zeigt es sich hochgradig in-
different: "Nehmen wir an, Sie würden einen Supermarkt aufmachen, in dem es nur
moralisch saubere Artikel gibt, wenn es so etwas gäbe. Aber entweder, Sie haben Erfolg
am Markt (es werden hinreichend Zahlungen geleistet), oder Sie gehen Konkurs ­ Mo-
ral hin oder her." (Fuchs 1997, S. 92).

16
Am Beispiel des Marktes zeigt sich nicht nur das Selbst-Regulativ der Preise, sondern
er fungiert zudem als Instrument der Selbstbeobachtung des Wirtschaftssystems. Wirt-
schaftsprozesse können systemintern ,in ihm` von anderen Repräsentanten beobachtet
werden. Esposito spricht in Anlehnung an Luhmann vom Markt als ,innerer' Umwelt
des Wirtschaftssystems. Es ist "der Ort, an dem das Wirtschaftssystem sich bezogen auf
die eigenen Aktivitäten so zeigt, als sei es Umwelt." (Esposito 1999c, S. 211). Durch
diese Selbstbeobachtung etablieren sich Erwartungen und Erwartungserwartungen, die
sich in Produktions- und Investitionsplänen niederschlagen.
15
Und diese werden realisiert von Organisationen als Phänomene der Binnendifferenzie-
rung des Wirtschaftssystems. Die Rede ist von Dienstleistungs- und Produktionsunter-
nehmen, die auf den ersten Blick betrachtet segmentär zweitdifferenziert erscheinen.
Ebenso einleuchtend ist jedoch folgende Auffassung:
"Man übertreibt nicht, wenn man annimmt, daß heute die Segmentierung des Wirtschaftssystems nach
Produktionsbetrieben (Dienstleistungen eingeschlossen) und Märkten ersetzt worden ist durch eine
Zentrum/Peripherie-Differenzierung. [...] Das Zentrum würde [allerdings, S. W.] kollabieren, wenn es
keine Peripherie gäbe, die Kredite nachfragen und Liquidität abspeichern würde." (Luhmann 2000, S.
103).
Innerhalb des Wirtschaftssystems wird institutionalisierte Einteilung in Segmente, die
auch hier eine eigentliche strukturelle Gleichstellung bedeutet, abgelöst durch ein ge-
genseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Zentrum und Peripherie, das ­ diese Abhän-
gigkeit in den Vordergrund gestellt ­ auf einer höheren Ebene der Betrachtung erneut
eine den gegenseitigen Erhalt angehende Gleichstellung einfordert.
2.3. Das Funktionssystem Massenmedien
Wird bei manchen Autoren das System der Massenmedien nicht in letzter Konsequenz
als eigenständiges System funktionaler Primärdifferenzierung begriffen (so z. B. bei
Fuchs 1997, S. 98)
16
, so werden ,die Medien' doch landläufig "zunehmend als eigener
Bereich der Gesellschaft wahrgenommen" (Blöbaum 1999, S. 184). Und das nicht zu-
letzt durch das Wachstum des Mediensektors als Wirtschaftsfaktor in den letzten Jahren
(vgl. ebda.), etwa seit Mitte der 1980er Jahre. Jedoch kann systemtheoretisch konsistent
von einem System der Massenmedien gesprochen werden, da Massenmedien in der
15
Vgl. auch das einschlägige Kapitel "Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems" in Luhmann
1988, S.91­130.
16
Bei Weischenberg (z. B. 1994) ist Journalismus das übergeordnete System, das Informationen bearbei-
tet (vgl. das Zwiebelmodell Weischenbergs, ebda. S. 429). In der Systemtheorie Luhmanns jedoch findet
Journalismus untergeordnet als Berufsausbildung in den Techniken Platz, die den für die Selbsterhaltung
des Massenmediensystems notwendigen Informationsbedarf befriedigen (vgl. Luhmann 1996). Darüber

17
modernen Gesellschaft diese unter dauernden Beschuss von Irritationen nehmen und
damit nach Maßgabe eines spezifischen Codes Kommunikation fortlaufend ermöglichen
(vgl. Wehner 2000, S.108f). So geht auch Luhmann von einem eigenen Funktionssys-
tem der Massenmedien aus (vgl. Luhmann 1996, S. 21­22, S. 126­127); auf seine Aus-
führungen werde ich mich im Folgenden weitgehend stützen.
"Gegenüber vielen kommunikationswissenschaftlichen Modellen, die Massenmedien und Öffentlich-
keit in sehr enge Beziehung setzen, hat Luhmanns Konstruktion den Vorteil, in eine zumindest in sich
konsistente Theorie eingearbeitet zu sein, die es zum Bespiel erlaubt, Gesellschaft (oder Weltgesell-
schaft) und Politik auseinanderzuhalten und sowohl den Massenmedien wie auch der Öffentlichkeit ei-
nen Platz zuzuweisen, der funktional auf die jeweiligen Leistungen bezogen ist" (Blöbaum 1994, S.
68f.).
Auch das Massenmediensystem ist ein ausdifferenziertes und sich ausdifferenzierendes
System, das sich mittels Autopoiesis selbst reproduziert. Nach seinen eigenen Funkti-
onsmechanismen realisiert es die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz: Durch
diese Ziehung der eigenen Systemgrenze stellt es die Selbsterhaltung sicher.
Der binäre Code, der diese Unterscheidung ermöglicht und dem sich alle spezielleren
Programme unterordnen, ist Information/Nicht-Information.
17
Jedes konkrete Programm
muss aufbauend auf Informationen Informationen enthalten. Dabei veraltet sich das
System selbst (vgl. ebda. S. 42), da eine Information durch den Kommunikationsakt zur
Nicht-Information wird. Vor diesem Hintergund muss das System ständig Überra-
schungen und Irritationen
18
, d.h. Informationen produzieren, um nicht zu kollabieren.
Dieser ,Produktionsvorgang` verweist auf ein konstruktives Moment: auf die Realitäts-
konstruktion durch Massenmedien. Luhmann spricht hier von einer Verdopplung der
Realität der Massenmedien (ebda. S.12ff). Zum einen gibt es die Realität der massen-
medialen Operationen. Es wird massenmedial produziert und rezipiert, auf Basis des
technisch Machbaren als Bedingung jeglicher Systemoperationen:
"Die Verbreitungstechnologie vertritt hier gleichsam das, was für die Ausdifferenzierung der Wirtschaft
durch das Medium Geld geleistet wird: Sie konstituiert selber nur ein Medium, das Formenbildungen
ermöglicht, die dann, anders als das Medium selbst, die kommunikativen Operationen bilden, die die
hinaus versucht sich Weischenberg durch einen "handlungsorientierten Systembegriff" (ebda. S. 430) von
Luhmann abzugrenzen.
17
Dies zumindest ist der Code, den Luhmann (vgl. Luhmann 1996, S. 36) einführt. Der zugrunde liegen-
de Informationsbegriff findet Anlehnung an Gregory Batesons Informationsbegriff, wonach Information
beschrieben wird als "irgendein Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied aus-
macht" (Bateson 1981, S. 488 zitiert nach Luhmann 1996, S. 39). Einen anderen Code führt Marcin-
kowski ein: Bekanntsein/Nicht-Bekanntsein (vgl. Marcinkowski 1993). Auf letzteren Code werde ich
mich allerdings nicht stützen.
18
Zur Darstellung der sich ändernden Umweltverhältnisse in Relation zum System benutzt Luhmann den
Begriff der Irritation bzw. Perturbation. Zur genaueren Erläuterung dieses re-entry-Phänomens vgl. Luh-
mann 1997a, S. 789ff. Irritation ist darüber hinaus nun keine Besonderheit des Systems Massenmedien,
sondern Teil Luhmanns Theoriekonstrukts ,Autopoiesis ­ strukturelle Kopplung ­ Irritation', das für die
Beschreibung jedes System Geltung in Anspruch nimmt.

18
Ausdifferenzierung und die operative Schließung des Systems ermöglichen"
19
(Luhmann 1996, S. 11,
vgl. auch Luhmann 1997a, S. 1103).
Diese Realität der Massenmedien ­ die im System ablaufenden Kommunikationen bzw.
Operationen ­ nennt Luhmann die reale Realität der Massenmedien. Die Technologie
als Voraussetzung ist für ihn in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht die "Materialität
der Kommunikation" (vgl. Luhmann 1996, S.13) und gehört nicht zu den systeminter-
nen Operationen.
Daran anknüpfend lässt sich die ,zweite' Realität erläutern, die das Mediensystem von
anderen Subsystemen unterscheidet: Die systeminternen Kommunikationen bzw. Ope-
rationen des Massenmediensystems sind die, die für sie oder durch sie für andere als
Realität erscheinen (vgl. ebda., S. 14). Mittels dieser Kommunikationen wird Realität
konstruiert, die Luhmann mit der Kantschen transzendentalen Illusion vergleicht. Auf
flächendeckende Art und Weise in Form einer "gesellschaftsweiten Aufmerksamkeits-
bündelung" (vgl. Wehner 2000, S. 108) entsteht ein Sinnhorizont, der für alle Gesell-
schaftsmitglieder ­ egal welches System sie in einem bestimmten Moment repräsentie-
ren ­ der gleiche insofern ist, als dass "es Massenmedien einzig darum [geht], eine
Realität bereitzustellen, auf die sich jeder beziehen kann, ohne sich hierbei meinungs-
mäßig festlegen zu müssen" (Wehner 2000, S. 108).
Das schließt allerdings nicht die Bildung eines systeminternen Sinnhorizonts aus, der
analog zu Sinnhorizonten innerhalb anderer Subsysteme universalen Anspruch erhebt.
"Indem sie nun die Zugehörigkeit der Kommunikation fortlaufend kontrollieren, entwi-
ckeln die Massenmedien ­ wie andere Systeme [...] auch ­ eine Sicht der Welt, die nur
hier und sonst nirgendwo gepflegt wird. Code und Programme der Medien spalten die
Welt auf in ein Innen und Außen..." (Wehner 2000, S. 102). Hier kann folgerichtig von
einer Verdopplung der Sinnhorizonte gesprochen werden: Es entsteht der systeminterne
Horizont, und es entsteht der der gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeitsbündelung.
Als die historische Hauptvoraussetzung für die Ausdifferenzierung eines Massenme-
diensystems nennt Luhmann (Luhmann 1996, S. 13) die Erfindung der Verbreitungs-
medien. "Verbreitungsmedien sind solche Medien [...], die die Unwahrscheinlichkeit
bearbeiten, daß die Kommunikation die Adressaten erreicht" (Baraldi 1999f, S. 199,
vgl. Luhmann 1997, S. 202ff.). Denn zur Ausdifferenzierung eines autopoietischen Sys-
tems der Massenmedien muss Kommunikation unter Anwesenden ausgeschlossen wer-
19
Zu Unterscheidung und Zusammenhang von Form und Medium Luhmann 1990, S. 53ff, 181ff, Luh-
mann 1997a, S. 190ff. bzw. Corsi/Esposito 1999.

19
den
20
(vgl. Luhmann 1996, S. 11); oder anders herum: möglichst viele Zuhörer, Leser
oder Zuschauer müssen erreicht werden, und das kann nur ,anonym' und gemessen an
Individualkommunikation: unwahrscheinlich, also mit hinreichend gesichertem Erfolg
nur unter Umgehung der Individualkommunikation geschehen. Genau das ­ größtmög-
liche Erreichbarkeit, d.h. die Erzeugung von sozialer Redundanz durch millionenfaches
Wiederholen von Informationen mittels Kopiervorgängen (vgl. ebda. S. 43 und vgl.
Wehner 2000, S. 101) ­ leisten Verbreitungsmedien
21
; sie generieren so einen "Über-
schuß an Kommunikationsmöglichkeiten" (Luhmann 1996, S. 11) ­ alles wird kommu-
nikabel, jedoch kann unmöglich alles kommuniziert werden: "Daraus ergibt sich [...]
eine immer größere Diskrepanz zwischen aktueller und potentieller Kommunikation,
also auch ein stärkerer Selektionszwang" (Baraldi 1999f, S. 202). Selektion findet auf
zwei Weisen statt: Zum einen müssen Sinnangebote seitens einer massenmedialen Insti-
tution bereitgestellt werden (diese wird über strukturelle Kopplungen mit der Werbe-
wirtschaft irritiert), und zum anderen muss der Empfänger Rezeptionsinteresse bekun-
den ­ aus welchen Gründen auch immer, welche ihrerseits nur über metaindividuelle
Erwartungserwartungen wahrscheinlichkeitsmäßig bestimmt werden können. "Die Ab-
nehmer machen sich allenfalls quantitativ bemerkbar: durch Absatzzahlen, durch Ein-
schaltquoten. Aber nicht entgegenwirkend. Das Quantum ihrer Präsenz kann bezeichnet
und interpretiert werden, wird aber nicht über Kommunikation rückvermittelt" (Luh-
mann 1996, S. 34).
Wir haben es folglich mit zwei von Luhmann so genannten Selektoren zu tun. Anders
als in der interaktionellen Kommunikation kann der massenmediale Sinnanbieter ledig-
lich "Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz" der Inhalte seiner Kommunika-
tionen bei den Empfängern anstellen (vgl. Luhmann 1996, S. 12). Es werden ,Charakte-
risierungen' des Menschen gebildet. Diese machen die strukturellen Kopplungspunkte
des Massenmediensystems mit der Menschenumwelt aus (vgl. ebda. S. 135/136). Inso-
20
Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass mit Emporkommen der Schrift gesellschaftliche Diffe-
renzierung überhaupt erst angeregt wurde: durch Fixierung von Ideen als Entstehungsvoraussetzung einer
gesellschaftlichen Semantik. Mit Erfindung des Buchdrucks wurde diese Entwicklung ­ wenn auch viel
später erst ­ voran getrieben: Der Übergang von stratifizierter zu differenzierter gesellschaftlicher Ord-
nung verdankt sich einer stärker werdenden Autonomie des Textes, der Autor und Leser voneinander
entkoppelt, sowie der dadurch ermöglichten Beobachtbarkeit der gesellschaftlichen Semantik. Die Umge-
hung der Individaulkommunikation findet hier ihre Anfänge und wird konsequenter fortgesetzt durch
Telekommunikation und elektronische Medien. Ausnahme bildet in der Telekommunikation das Telefon
(vgl. Baraldi 1999f, S. 200f.). Im Bereich der elektronischen Medien lässt das Internet erneut bidirektio-
nale Kommunikation zu.
21
Der Begriff der Massenmedien wird sinnhaft: Denn "...aufgrund der beliebigen Kopierstärke einer
Information in der Reichweite unbegrenzter Vernetzung, was die Aufmerksamkeit der Medienempfänger
sichert und damit den Begriff der Massen-Medien rechtfertigt, der einen einheitlichen Problembezug
ansonsten so unterschiedlicher Medien wie Funk, Fernsehen oder Zeitung voraussetzt" (Wehner 2000, S.
101), erfährt er eine ihm adäquate Generalisierung.

20
fern entsteht standardisierte Kommunikation, die bei Nichtaktzeptanz durch Empfänger
nicht gleich zum Erliegen kommt, da sie nicht von direkter Kommunikation abhängt.
Mit anderen Worten: Das Individuum wird entindividualisiert und fiktionalisiert, damit
die Kommunikation fortfahren kann, ohne die Operation des geschlossenen psychischen
Systems einbeziehen zu müssen (vgl. ebda. S. 134). Auf diese als Umwelt hat das Mas-
senmediensystem keinen direkten Zugriff.
Im System der Massenmedien entspricht die Unterscheidung Selbstreferenz / Fremdre-
ferenz der Unterscheidung Funktionen/Themen (vgl. ebda. S. 30). Hauptfunktion ist die
Sicherstellung der Anschlusskommunikation
22
; es muss Interesse beim Publikum ange-
nommen werden. Die Themen repräsentieren die Fremdreferenz
23
: Sie machen, indem
sie als der Umwelt zugerechnete Kommunikationen aufgegriffen werden (Luhmann
spricht von einer "Abstimmung von Fremdreferenz und Selbstreferenz innerhalb der
systemeigenen Kommunikation"
24
, ebda. S. 28), die strukturelle Kopplung mit anderen
Subsystemen aus. Sie werden also nicht systemintern produziert, auch wenn sie dann
innerhalb des Massenmediensystems einer "Themenkarriere" ausgesetzt werden
25
: Sie
dienen als Basis, um darauf aufbauend Informationen als neu einzuführen (vgl. ebda. S.
28ff.).
An dieser Stelle muss die Selbstveraltung des Systems noch einmal erwähnt werden.
Aus Information wird durch Kommunikation Nicht-Information. "Informationen lassen
sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation.
Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber
ihren Informationswert" (Luhmann 1996, S. 41). Es geht, zumindest was die nun ,veral-
tete' Information anbetrifft, die Möglichkeit zur Anschlusskommunikation verloren und
damit die Voraussetzung zur Reproduktion der System-Umwelt-Differenz. Um die Au-
topoiesis sicherzustellen, ist das System demnach auf neue Informationen angewiesen.
Da es zu riskant wäre, sich Irritationen aus der Umwelt, die ja andauernd gegeben sein
müßten, zu verlassen, muss sich das System der Massenmedien diese stets selbst liefern
22
An anderer Stelle ist die Erzeugung eines sozialen Gedächtnisses als die gesellschaftliche Funktion der
Massenmedien genannt. Im Zusammenhang mit diesem Gedächtnis erzeugten Realitätsannahmen, die auf
genannter Realitätskonstruktion fußen, werden als bekannt vorausgesetzt, um Anschlusskommunikatio-
nen zu ermöglichen (vgl. Luhmann 1996, S. 120­121).
23
Bezüglich Themen ergibt sich eine bemerkenswerte Analogie zu Preisen im Wirtschaftssystem: Beide
mitkonstituieren die strukturelle Kopplung des jeweils eigenen Systems mit der Umwelt unter Vorausset-
zung einer metaindividuellen Erwartungserwartbarkeit (vgl. Luhmann 1996, S. 29).
24
Auf dieses ­ wie wir sehen werden: äußerst umfassende ­ re-entry-Phänomen wird unter 3.2. zurück-
zukommen sein.
25
Es geht also nicht um die Produktion, sondern um die Auswahlprinzipien der Massenmedien, die je
nach Programmbereich im Detail variieren, prinzipiell aber die gleichen bleiben. Selektivität wird entwi-
ckelt, "die sich auf die Inhalte der Kommunikation auswirkt und die Kommunikationsmöglichkeiten

21
­ aus Selbsterhaltungstrieb. (Insofern bezeichnet Luhmann Massenmedien zu Recht als
Institutionalisierung des Unwahrscheinlichen ­ vgl. ebda. S. 78 ­ wenn sie so die stän-
dige Bereitschaft der Gesellschaft erzeugen, mit massenmedialen Störungen zu rechnen.
Harro Zimmermann schreibt diesbezüglich:
"Indem die Massenmedien
[
...
]
ihre selektiven Informationen erzeugen, spannen sie vielmehr einen Ho-
rizont von Ungewißheit über der Gesellschaft aus, die einen zwanghaften Sog nach weiteren Informati-
onen verursacht. Massenmedien steigern also die Irritierbarkeit der Gesellschaft und erhöhen dadurch
ihren kommunikativen Problemdruck, ihre Fähigkeit, ständig variierende Informationen zu verarbei-
ten", Zimmermann 2000, S. 44.)
"Der Systemzustand geht als Irritation, als Überraschung, als Neuheit in die weitere
Kommunikation ein, ohne daß dies Mysterium des Ursprungs, der Herkunft der Neuheit
des Neuen mit den Operationen des Systems geklärt werden könnte" (Luhmann 1996,
S. 27, vgl. Luhmann 1997a, S. 790). Neuheiten ­ massenmedial prozessiert in Form von
Informationen ­ liefern dann Anschlussmöglichkeiten für weitere Kommunikationen.
Es werden einmal gebrachte Informationen nämlich als bekannt vorausgesetzt und als
Basis dafür genutzt, um neue Informationen anzuschließen, die ihrerseits wiederum ähn-
lich generiert
26
werden können. In "dem Auftrag, neue Informationen zu beschaffen,
liegt letztlich die immanente Antriebsenergie der Massenmedien. Sie hat aus den Me-
dien eine unermüdliche und allgegenwärtige Informationsbeschaffungs- und Vernich-
tungsmaschine gemacht" (Wehner 2000, S. 102 in Anlehung an Luhmann 1996, S.
40ff.). Es geht also darum, auf ,vernichtete' Informationen aufzubauen, um die An-
schlussfähigkeit der Kommunikation zu gewährleisten. "Das System muß, da es selbst
Bekanntheit produziert, also Information vernichtet, ständig selbst neue Information
erzeugen, neue Überraschungswerte produzieren" (Luhmann 1997a, S. 1103). Oder an
anderer Stelle: Formen der Massenkommunikation stimmen darin überein, "Vorausset-
zungen für weitere Kommunikationen zu schaffen, die nicht eigens mitkommuniziert
werden müssen" (Luhmann 1996, S. 120).
Man kann zunächst zusammenfassen: Die Art und Weise, wie Massenmedien mit Hilfe
der Verbreitungtechnologien Realität auf doppelte Weise konstruieren, bleibt durch die
operative Schließung des Systems bedingt und liegt in seiner Operationsweise nach dem
Code Information/Nicht-Information begründet.
Dieser binäre Code des Massenmediensystems enthält jedoch das Paradox der Informa-
tivität der Nicht-Information: Die Aussage, dass etwas keine Information ist, ist selbst
beeinflußt; die Kommunikationsthemen müssen sich an die Selektion dessen anpassen, was in den Tech-
niken der Medien (Zeitschrift, Fernsehen etc.) ,gut' kommuniziert werden kann (Baraldi 1999f, S. 202).
26
Wohlgemerkt werden nicht Themen oder gar Ereignisse ,generiert', sondern diese werden als informa-
tiv oder nicht-informativ eingestuft und dann aufgegriffen oder nicht aufgegriffen: Insofern werden In-
formationen ,generiert'.

22
Information. Um diesen Regress zu stoppen, benötigt auch das Massenmediensystem
eine Konkretisierung des Codes durch Programmierung in Programme, denn "Das
Problem des unendlichen Regresses stellt sich nur bei Letztbegründungen, und dazu hat
das Mediensystem ohnehin keine Zeit" (ebda. S. 37). Es wird programmiert, was als
informativ behandelt werden kann und was nicht. Wehner spricht von einer "medien-
spezifischen Festlegung dessen, was als Neuigkeit gilt" (Wehner 2000, S. 102). Es wer-
den Möglichkeitsräume festgelegt in doppelstufiger Selektion: es wird selegiert, woraus
Information bestehen darf (was o. g. Regress stoppt, indem die Information der Nicht-
Information früher oder später ausgeschlossen wird), und es wird die eigentliche Infor-
mation ausgewählt (vgl. Luhmann 1996, S. 38).
Der abstrakte und universelle Code zwingt so zur Konkretisierung, aber auch zur Bin-
nendifferenzierung in Programmbereiche. Nach Luhmann gibt es derer drei: Nachrich-
ten/Berichte, Werbung und Unterhaltung. Was aus deren Sicht als relevante Information
angesehen wird, das lässt sich zum einen anhand der Nachrichtenwerttheorie ablesen ­
das gilt v. a. für Nachricht und Bericht ­, zum anderen gibt es für die zwei weiteren Be-
reiche ebenso besondere Aufmerksamkeitskriterien: Bei der Werbung sind es mit Luh-
mann solche, die das Verhältnis von Redundanz und Varietät in der Alltagskultur zu
stabilisieren helfen (vgl. Luhmann 1996, S. 94). "Ihre latente Funktion liegt
[
...
]
in der
Erzeugung und Festigung von Kriterien des guten Geschmacks für Leute, die von sich
aus darüber nicht mehr verfügen" (Luhmann 1997a, S. 1105). Bei der Unterhaltung sind
es die Kriterien, die offen, d.h. nicht völlig irreal, eine fiktive Realität zu konstruieren
helfen (vgl. Luhmann 1996, S. 96ff.). "Solche Typisierungen sorgen dafür, dass Ereig-
nisse immer im Hinblick auf ihre medieninterne Verwertbarkeit und Anschließbarkeit
an bereits verbreitete Informationen und Themen überprüft und so zu etwas eigenem der
Medien umgeformt werden" (Wehner 2000, S. 103).
Es wird bezüglich des Systems der Massenmedien zwar operative Geschlossenheit pos-
tuliert, jedoch deutet jene Umformung wie auch die o. g. Erwartung an ein Publikum
bereits an, dass auch das Massenmediensystem nicht ohne Rücksicht auf seine Umwelt
oder andere Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft operiert. Auch es ist struktu-
rell verkoppelt. Anhand von Nachrichten und Berichten kann strukturelle Kopplung mit
dem politischen System deutlich gemacht werden: "Meldungen in den Medien erfordern
zumeist eine Reaktion im politischen System, die im Regelfalle in den Medien wieder-
erscheint" (Luhmann 1996, S. 124). Ähnliches gilt für die Werbung als strukturellem
Kopplungspunkt mit dem Wirtschaftssystem: Produkte müssen über die Funktionswei-
sen der Massenmedien angepriesen werden, auch wenn sie im Wirtschaftssystem als

23
Reaktion darauf bezahlt oder nicht bezahlt werden. Erneute u. U. modifizierte Bewer-
bung des Produkts kann sich daraufhin anschließen.
27
Mit Wehner halten wir fest, dass die "Bildung eigensinniger Kommunikationsformen
und eines darauf spezialisierten Codes [...] nicht in einem Widerspruch zum Gebot mög-
lichst intensiver Vernetzung der Medien mit anderen Teilsystemen" (Wehner 2000, S.
104/105) steht.
Die Funktion der Massenmedien
28
liegt nach Luhmann im Dirigieren der Selbstbeo-
bachtung des Gesellschaftssystems, "in der Absorption von Unsicherheit bei der Her-
stellung und Reformulierung von Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen" (Luhmann
1997a, S. 1103). Diese Selbstbeobachtung ist in projektiver Form zunächst jedem Teil-
system der Gesellschaft nach eigenen Maßgaben möglich, denn jedes konstituiert seinen
universellen Sinnhorizont. Doch nur in Spezialfällen ist eine Orientierung an beispiels-
weise Recht oder Wissenschaft gefragt. Und auch das konventionelle Alltagswissen
29
stellt keine ausreichende Orientierunghilfe in der zunehmend komplexen Gesellschaft
dar. Einzig die Massenmedien besitzen die Ressourcen, allen Funktionssystemen eine
gesellschaftsweit akzeptierte, also auch Individuen bekannte Gegenwart zu sichern.
Welt wird als Ganze kommunikabel ­ und das nicht zuletzt durch das tendenzielle Au-
ßerkrafttreten räumlicher und zeitlicher Restriktionen für Kommunizierende (vgl. Ba-
raldi 1999f, S. 201). So gesehen besitzt das System der Massenmedien dank der
Verbreitungsmedien und der so möglichen Überformung der Weltwahrnehmung eine
Sonderstellung, die Herstellung von Öffentlichkeit und universelle Wirklichkeitskon-
struktion erst ermöglicht. Dieses Phänomen ­ die Leistung einer "Begrenzung der Viel-
zahl möglicher Lesarten gesellschaftlicher Ereignisse" (Wehner 2000, S. 105) ­ werde
ich unter Punkt 3.2. eingehender erläutern.
27
Eine weitere strukturelle, wenn auch weniger wechselseitige Kopplung vermutet Luhmann zwischen
Unterhaltung und Kunstsystem: Unterhaltung trivialisiert Kunst zunächst, indem sie ihr einen immer
breiteren, als bekannt vorauszusetzenden Bekanntheitsgrad verschafft, der die Selbstreferenz der Informa-
tion für das Werk ausblendet. Es wird dann als trivial und unterhaltend empfunden und nur in Bezug auf
Überraschung vorgeführt. Als Reaktion darauf versucht das Kunstsystem sich durch massenmedial immer
unkonsumierbarere Formen vom (Massen)mediensystem abzugrenzen (vgl. dazu Luhmann 1996, S.
123f.).
28
Zwei Funktionsdimensionen müssen unterschieden werden: Die Funktionsdimension, die die Selbstre-
ferenz des Massenmediensystems in Form der Sicherstellung der Anschlusskommunikation repräsentiert,
und die gesamtgesellschaftliche Funktionsdimension, die hier angesprochen wird.
29
Dieses ,konventionelle' Alltagswissen gibt es vor dem Hintergrund einer Mediatisierung des Alltags in
einer puren, historisch vormassenmedialen Form sowieso nicht mehr.

24
3. Strukturelle Kopplungen und Schnittstellen
Nach vorangegangener Kurzbeschreibung der Funktionssysteme der modernen Gesell-
schaft Politik, Wirtschaft und Massenmedien soll im weiteren eingehender untersucht
werden, wie diese drei Systeme miteinander gekoppelt sind (Punkt 3.1.). Aus Sicht der
jeweiligen Systeme geht es also um Fremdreferenz, um Umweltbezug. Strukturelle
Kopplungen wurden bereits erwähnt, jedoch betreffen diese eine hochabstrakte Ebene.
Diese Ebene soll in der Betrachtung verlassen werden ­ zugunsten eines Blickes auf
konkretere Phänomene, ohne dabei die operative Geschlossenheit von Systemen in Fra-
ge zu stellen. Die Heuristik der strukturellen Kopplungen sollte deshalb stets im Auge
behalten werden.
Den Begriff der strukturellen Kopplung grenze ich vom Begriff der Schnittstelle ab. Mit
,Schnittstelle` sollen Konkretisierungen struktureller Kopplungen der drei
Funktionssysteme begrifflich erfasst sein. Gemeint sind Phänomene bidirektionalen
Störens und Interpenetrierens der ko-evoluierenden Systeme (bzw. deren so
beschriebenen Selbstirritationen ausgehend von Umweltereignissen). Ähnlich wie die
Programmierung von Programmen als Konkretisierung der hochabstrakten binären
Codes eingeführt wurde, sollen Schnittstellen analog dazu ,Anwendungen` struktureller
Kopplungen in Form wechselseitiger Koordinationen der Strukturen der Systeme
ermöglichen. Deren denkbare gegenseitige Abhängigkeit soll verdeutlicht werden.
30
Exemplarisch am System der Massenmedien sind verschiedene Schnittstellen je nach
Programmbereich denkbar. Konsistent dazu Luhmann: "Das führt zu der ausgearbeite-
ten Vorstellung, das System benutze seine Programmatik, um seine Beziehungen zu
anderen Funktionssystemen der Gesellschaft zu diversifizieren; und dies auf strukturel-
ler Ebene, weil Kontakte auf operativer Ebene ausgeschlossen sind (Luhmann 1996, S.
127, Hervorhebung im Original).
31
Diese Diversifikation deutet bereits an, dass
Schnittstellen wesentlich konkreterer und spezifischerer Natur sein können, als mit dem
30
Zum Strukturbegriff als Bedingung der Autopoiesis jedes Systems vgl. Corsi 1999c, S. 184­
186.Wohlgemerkt geht es in Abgrenzung zu Strukturen nicht um eine Koordination der Elemente der
Systeme ­ das nämlich würde die Kopplung auf operativer Ebene unterstellen, die sich nur in der Heraus-
bildung von so genannten ,Verhandlungssystemen' realisieren kann und immer strukturelle Kopplungen
schon voraussetzt (vgl. Luhmann 1997a, S. 788) und hier nicht behandelt werden soll (vgl. dazu weiter-
führend Willke 1998, S. 109ff.). Der hier eingeführte Schnittstellenbegriff ist dann auch nicht zu ver-
wechseln mit dem ,interface`-Begriff, der operative Kopplungen, u. U. in Form so genannter ,Verbin-
dungsorganisationen`, begrifflich spezifizieren soll (vgl. Teubner 1978, vgl. Luhmann 1997a, S.
812/813).
31
Vgl. dazu Luhmann 1996, S. 129. Sagen Codes und Programme an sich noch nichts über die spezifi-
schen Beziehungen eines Systems zu seiner Umwelt aus, so werden Beziehungen bei Luhmann zunächst
mit strukturellen Kopplungsphänomenen erfasst. Diversifizierungen und Spezifizierungen dieser ­ unter
Zuhilfenahme der je eigenen Programmatiken ­ sollen hier mit dem Begriff der Schnittstelle bezeichnet
werden.

25
Begriff der strukturellen Kopplung erfasst werden könnte. Dessen Abstraktheit und Ein-
fachheit geht in der Bezeichnung auf Kosten des Konkreten.
Unter Punkt 3.2. wird dann das System der Massenmedien explizit in seiner Eigenschaft
als gesellschaftsumspannender Sinnstifter behandelt werden. Dabei wird es zum einen
darum gehen, die Besonderheiten des Systems im Vergleich zu anderen Funktionssys-
temen herauszustellen. Zum anderen wird in diesem Kontext der Begriff der Kommuni-
kation besondere Beachtung finden. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem
die Frage, was an den Kommunikationen des Massenmediensystems im Vergleich zu
den Kommunikationen anderer Funktionssysteme besonders ist.
Der Exkurs über das System Wissenschaft wird anhand des systemeigenen Codes
wahr/unwahr epistemologische Fragen berühren (Punkt 3.3.).
3.1. ,Interpenetrationsdreieck` Politik ­ Wirtschaft ­ Massenmedien
Mit dem Herausgriff dieser drei Funktionssysteme der modernen Gesellschaft soll keine
Hierarchie der Systeme impliziert werden. Nicht das Wirtschaftssystem, nicht das Sys-
tem Politik und auch nicht das Massenmediensystem soll als je strukturell hegemoniales
System begriffen werden genausowenig wie die übrigen Funktionssysteme ­ ich be-
schreibe hingegen eine polykontexturale Gesellschaft (vgl. Punkt 2), die auf Ebene
funktionaler Primärdifferenzierung keine Hierarchie zulässt. Das impliziert zudem, dass
bezüglich der Kopplungsverhältnisse und Schnittstellen keine Hierarchie unterstellt
wird, denn "faktisch sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Kopplungen mitein-
ander verbunden und in der Gesellschaft gehalten" (Luhmann 1997a, S. 779).
32
Dennoch die drei Systeme herausgegriffen zu haben, verdankt sich Fragestellungen, die
oftmals eine Kommerzialisierung in dem Sinne unterstellen, dass andere Funktionssys-
teme ­ wie hier v. a. das Politiksystem, aber auch das System Massenmedien ­ unter
Durchdringung des Wirtschaftssystems dem Untergang geweiht seien. Systemtheore-
tisch gesprochen wird die Fremddetermination der Elemente des Politiksystems bzw.
der Elemente des Systems der Massenmedien durch das Wirtschaftssystem unterstellt
(was den Zerfall der beiden erstgenannten bedeutete). Demhingegen meint beispielswei-
se die Mediatisierung des politischen Systems nicht eine Fremddetermination politi-
scher Elemente durch das System Massenmedien, sondern eine Form intensiver Inter-
penetration
33
und wechselbezüglicher Abhängigkeit. Die Fragestellung sollte sich so
32
Zur strukturellen Inklusionsgleichheit vergleiche auch Fuchs 1997, S. 128.
33
An dieser Stelle eine Definition: "Als Interpenetration wird [...] ein privilegiertes Verhältnis zweier
operational geschlossener Systeme vermutet, die in der Lage sind, in einer zirkulären Beziehung gegen-

26
gesehen eher darauf konzentrieren, inwiefern Interpenetrationen mit einem im Vergleich
höhergradig globalisierten Wirtschaftssystem die Erfüllung normativer ,Aufgaben` der
Systeme Politik und Massenmedien (auf nationalstaatlicher Basis) gefährden.
34
Es geht
also höchstens um eine ­ wenn auch intensive ­ wechselseitige Koordination der Sys-
temstrukturen, um Diversifizierungen der Beziehungen zueinander.
Zunächst werde ich versuchen, die Schnittstellen der ausgewählten drei Funktionssys-
teme adäquat anhand der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Schon hier werden
sich die Begriffe Gesellschaft und Weltgesellschaft nicht scharf voneinander trennen
lassen (was ich auch nicht versuchen werde). Vielmehr wird ein erster Verdacht ihrer
Äquivalenz aufkommen: Alles, was gesagt wird, gilt nicht für eine territorial begrenzte
Gesellschaft, sondern für die Weltgesellschaft.
35
Im System Politik wird zum Beispiel anhand von Medien- und Wirtschaftspolitik, aber
auch anhand von internen Mediatisierungsphänomenen oder etwa dem Staatshaushalt
deutlich, dass es Kopplungen und Schnittstellen zu den anderen Funktionssystemen
gibt. In den Massenmedien gilt Ähnliches: Es kann über alles berichtet werden ­ so
auch über Ereignisse in anderen Funktionssystemen, die ihrerseits auf diese Berichter-
stattung reagieren. In der Wirtschaft gibt es politische wie rechtlichen Maßgaben, die
das eigene Prozessieren mal mehr, mal weniger zu stören in der Lage sind. Und anhand
der Wichtigkeit von möglichst kollektiv wirkenden images und brands
36
kann eine mal
mehr, mal weniger enge Bindung aller Funktionssysteme an das Massenmediensystem
und dessen Monopol auf gesamtgesellschaftlich sinnkostituierende Kommunikation-
möglichkeiten durch Verbreitungsmedien beschrieben werden.
Selbstbezügliche ,interne Kopplungen'
37
, wenn mit Politik Politik bestimmt wird, wenn
mit ,Geschäften Geschäfte gemacht werden`, und wenn Massenmedien über Massen-
medien(berichterstattung) berichten, konstituieren jeweils interne Umwelten, die die
Schnittstellenproblematik mittelbar berühren: Wenn Systeme unter Selbstbeobachtung
auf sich selbst reagieren, d. h. sich selbst kontrollieren, dann verändern sie sich ständig.
seitiger Störung besonders gezielte und wirkungsvolle Reizreaktionen auszuüben" (Esposito 1999a, vgl.
Luhmann 1997a, S. 108). So ergeben sich im Dreieck Massenmedien ­ Wirtschaft ­ Politik drei direkte
Interpenetrationsverhältnisse.
34
Bezüglich der Fehleinschätzung einer Dominanz des Wirtschaftssystems vgl. Gerecke 1998, S. 28/29.
35
Was selbstverständlich nicht die Existenz von Zentren und Peripherien (allgemeiner: Inklusionen und
Exklusionen) auf globalem wie auf nationalem Vergleichsmaßstab ausschließt. Diese können hingegen
innerhalb der Theorie gedacht werden.
36
Zur Funktion der Marke vgl. Bolz 2001, S.71, 115ff.
37
Nicht zu verwechseln mit dem später benutzten Begriff der ,inneren Kopplung`.

27
Jeweils als Teil der Umwelt halten sie in diesem Prozess prinzipiell sich verändernde
Voraussetzungen für Interpenetrationen der Systeme bereit.
38
Im System Politik wird nach operativ geschlossener und systemspezifischer Weise Poli-
tik betrieben. Die Politik des politischen Systems findet jedoch nicht im luftleeren
Raum statt. Davon abgesehen, dass jedes System für seine Existenz eine Umwelt vor-
aussetzt, bezieht sich Politik nicht nur auf das System Politik selbst ­ vielmehr stellt das
den systemtheoretisch betrachtet komplexeren, da auf Beobachtung zweiter Ordnung
basierenden Vorgang politischen Handelns dar ­ , sondern auf seine Umwelt. Dieser
Bezug zur Umwelt (oder: zu anderen Funktionssystemen) realisiert sich auf struktureller
Ebene zunächst durch Kopplungen. Es haben sich Begriffe wie Medienpolitik oder
Wirtschaftspolitik herausgebildet, die die Kopplung mit anderen Systemen umgangs-
sprachlich erfassen. Die Systeme koordinieren sich strukturell in zirkulären Wechselbe-
ziehungen, ohne sich operativ ineinander zu verzahnen. Diese Verzahnung wird land-
läufig unterstellt, wenn behauptet wird, ,die Wirtschaft' hätte die Macht übernommen.
Der binäre Code der Macht ist (und bleibt wohl noch) die Leitdifferenz der Politik.
39
Wie aber können die dynamischen, strukturellen Wechselbeziehungen oder: strukturel-
len Kopplungen als Schnittstellen genauer beschrieben werden?
Zunächst erwähne ich die enge Kopplung des Politiksystems an das Rechtssystem: ohne
Rechtsetzung keine verbindliche Durchsetzung politischer Entscheidungen ­ et vice
versa. Mit anderen Worten: Diese Kopplung ist durch die Verfassung geregelt.
"Einerseits bindet die Verfassung das politische System an das Recht mit der Folge [...], daß rechtswid-
riges Handeln politisch zum Mißerfolg wird; und andererseits ermöglicht es die Verfassung, das
Rechtssystem auf dem Wege der politisch inspirierten Gesetzgebung mit Neuerungen zu überschütten,
die ihrerseits wieder der Politik als Erfolg bzw. Misserfolg zugerechnet werden" (Luhmann, 1997a, S.
782).
Hier soll es jedoch in der Hauptsache um die erwähnten strukturellen Kopplungen und
Schnittstellen zu den Funktionssystemen Wirtschaft und Massenmedien gehen.
Strukturelle Kopplung und Schnittstellen zwischen den Funktionssystemen Politik und
Wirtschaft realisieren sich zunächst durch Steuern und Abgaben. Verfügung über Geld
bleibt dabei immer eine wirtschaftssysteminterne Operation nach dem Code zah-
len/nicht zahlen, wobei jedoch diese Verfügung politisch konditioniert sein kann, wenn
es darum geht, wofür das Geld verwendet wird. Irritationen für das politische System
38
Dass Systeme ohnehin keine festen Gebilde oder Entitäten darstellen, sondern als eine Haupteigen-
schaft dynamische Stabilität und Prozesshaftigkeit vorweisen, soll als bekannt vorausgesetzt werden. Nur
lediglich eine Facette dieser Dynamik wird durch andauernde Selbstbeobachtung und der Reaktion in
Form von Selbstkontrolle realisiert. Vgl. dazu die Annahmen über gesellschaftliche Evolution (Punkt 4).
39
Was nicht die Existenz von Macht im Wirtschaftssystem oder anderen Systemen ausschließt. Hier ist
sie jedoch nicht Leitdifferenz.

28
entstehen, wenn weniger Steuern den Staatshaushalt füllen (als erwartet); für das Wirt-
schaftssystem bedeutet es Störung, wenn die Steuern (unerwartet) steigen (vlg. Luh-
mann 1997a, S. 781). Beschrieben ist damit ein Komplementärverhältnis, dessen eine
Seite ausschließlich vom Code des Wirtschaftssystems systemintern berechnet werden
kann, die andere Seite ausschließlich vom politischen System. Blinde Flecken entstehen
bezüglich der nicht berechenbaren Seite jeweils für das System, das sich durch diese
spezifische Unfähigkeit auszeichnet.
Systemintern ,weiß` man jedoch bei Beobachtung zweiter Ordnung immer, dass es sich
um ein Komplementärverhältnis handelt. Dieses Bewusstsein einer anderen Seite macht
erst jene o. g. Erwartungen möglich, die sich auf Steuern beziehen. Insofern trägt dieses
Verhältnis, tragen diese Erwartungen die System/Umwelt-Differenz jeweils erneut in
das jeweilige System hinein. Die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz tritt
sowohl in das politische System wie auch in das Wirtschaftssystem erneut in Form von
(Erwartungs-)Erwartungen ­ in diesem Beispiel bezüglich der Steuern ­ ein.
40
Strukturelle Kopplung und Schnittstellen zwischen den Funktionssystemen Politik und
Massenmedien vollziehen sich zumindest auf zweierlei Weise: Das Interpenetrations-
verhältnis zwischen politischem Alltag und politischer Berichterstattung in den Pro-
grammbereichen Nachricht und Bericht zeigt ein unvermitteltes Verhältnis und stellt die
eine Variante dar. Der normative, intentionale Eingriff seitens des politischen Systems
geschieht mittelbar via Rechtsetzung und meint die andere Variante, die einen ,Umweg`
über das Rechtssystem impliziert. Oder genauer: eine Schnittstelle zwischen Massen-
mediensystem und Rechtssystem beschreibt ­ motiviert durch politische Kommunikati-
on. Herausgebildet haben sich dabei Institutionalisierungen in Form öffentlich-
rechtlicher Rundfunkorganisationen oder rechtlicher Maßgaben, wie Privatfunk betrie-
ben werden darf;
41
aber auch wurde versucht, politische Funktionen der Massenmedien
im System der Massenmedien in Form demokratiereproduzierender Aufgaben zu imp-
lementieren. Dabei handelt es sich um politische Steuerungsversuche
42
im Sinne einer
40
Weitere dort so genannte Steuerungsinstrumente über die sich strukturelle Kopplungen realisieren,
führt Willke 2001b, S. 11 in Anlehnung an 0´Brian 1995 mit der "Kompetenz, Geld zu drucken" und der
"Kompentenz in Staatsanleihen und anderen Formen priviligiert Schulden zu machen" auf.
41
Vgl. dazu Meyn 1999, S. 177ff. und 207ff. Zu diesbezüglicher Reglementierung in Deutschland in
Form der Rundfunkstaatsverträge vgl. ebda., S.172ff.
42
Faulstich (1998, S. 55) subsumiert dieses Phänomen unter die so genannte Instrumentalisierungsthese,
nach der Medien abhängig von der Politik seien. Es stellt sich hier die weiterführende Frage nach politi-
scher Planung und Steuerbarkeit sozialer Systeme (vgl. dazu etwa Luhmann 1971). Bei Ger-
hards/Neidhardt (1991, S. 37) wird dem System Politik sogar eine "übergeordnete Stellung" zugewiesen
in dem Sinne, dass es ein Steuerungs- und Zugriffsrecht auf andere Systeme habe. Diese Sonderstellung
wird in dieser Form im Rahmen dieser Arbeit ausgeschlossen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832466169
ISBN (Paperback)
9783838666167
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Wirtschaftsinformatik
Note
1,7
Schlagworte
schnittstelle evolutionstheorie internet/online-medien organisation systemtheorie
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Titel: Dynamik der modernen Gesellschaft
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