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Frauenfiguren in türkischer Migrantenliteratur

©2003 Magisterarbeit 71 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Frauenfiguren aus verschiedenen Romanen und Erzählungen der türkischen Migrantenliteratur. Es soll gezeigt werden, wie Frauen in der deutschsprachigen Literatur von Autorinnen und Autoren türkischer Herkunft dargestellt werden.
Die heute überwiegend als Migrantenliteratur bezeichnete Literatur hat, besonders die Namensfindung betreffend, eine lange historische Entwicklung aufzuweisen. Bezug nehmend auf die aus dem Ausland angeworbenen Arbeitskräfte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde die Literatur der aus dem Ausland kommenden Autoren anfangs „Gastarbeiterliteratur“ genannt. Heidrun Suhr machte 1989 darauf aufmerksam, dass es sehr schwierig sei, für dieses, sich in der deutschen Literatur neu entwickelnde Feld einen nicht zweideutigen Begriff zu finden und stellte fest, dass der Begriff Gastarbeiterliteratur zu beschränkt sei und negative Assoziationen freisetzte. Ebenso empfand sie die Begriffe Ausländer- oder Migrantenliteratur als zu allgemein. Die Bezeichnung Migrantenliteratur erweist sich für die vorliegende Arbeit jedoch als die passendste, da die Literatur von Migrantinnen und Migranten im Mittelpunkt steht. Gestützt wird diese Entscheidung von einer Definition Karin Yesiladas:
In einem Land, das die Einwanderung ausdrücklich ablehnt [...] wäre es ein Politikum, von Immigrantenliteratur zu sprechen. Wenn sie also nicht eingewandert sind, so sind sie doch zumindest gewandert. Da „wandern“ übersetzt ins Fachlatein einfach nur „migrieren“ heißt, ergibt sich die (Not-)Lösung von selbst: Man spricht am besten von der Migrantenliteratur, oder, unpersönlicher, von der Migrationsliteratur.
Standen in der Anfangszeit der Migrantenliteratur noch Symbole wie „Bahnhof und Koffer“ und Themen wie die „Migration, die Sehnsucht nach der Heimat und die Ankunft in Deutschland“ im Vordergrund der literarischen Verarbeitung, so sollen in der vorliegenden Arbeit anhand exemplarisch ausgewählter Migrantenliteratur ab den Achtzigerjahren Frauenfiguren fokussiert werden.
In dieser Arbeit soll geprüft werden, inwieweit die Frauenfiguren aus der behandelten Literatur die soziale Wirklichkeit abbilden. Für den Vergleich dienlich sind Bücher, Berichte und Aufsätze, die sich auf soziologischer Ebene mit der türkischen Gesellschaft und insbesondere mit der Stellung der Frau befassen. Die mit dem Thema eng verbundene Genderproblematik wird hier zwar nicht außer Acht gelassen, doch das Hauptaugenmerk […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6548
Lüling, Aynur: Frauenfiguren in türkischer Migrantenliteratur
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Köln, Universität, Magisterarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung...1
2
Saliha Scheinhardts ,,Drei Zypressen"...4
2.1
Die Erzählung ,,Gülnaz K."... 6
2.2
Die Erzählung ,,Zümrüt Ö." ... 8
2.3
Der von Scheinhardt dargestellte Konflikt zwischen den Wanderungs- und
Folgegenerationen ... 10
2.4
Scheinhardts Darstellung der türkischen Frau in einer binationalen
Liebesbeziehung am Beispiel der Erzählung ,,Zeynep Z."... 11
2.5
Resümee über Scheinhardts Darstellung türkischer Frauen... 13
3
Renan Demirkans ,,Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker" ...13
3.1
Frauenfiguren ... 14
3.1.1
Die Hauptfigur ...14
3.1.2
Die türkische Freundin der Hauptfigur...17
3.1.3
Die Mutter...18
3.2
Einordnung in den Kontext der Migrantenliteratur... 21
3.3
Renan Demirkans Folgewerk ,,Frau mit Bart"... 21
4
Selim Özdoans Roman ,,Mehr"...23
4.1
Untersuchung des Romans nach interkulturellem Potenzial... 24
4.2
Özdoans Frauendarstellungen ... 25
5
Die Romane Emine Sevgi Özdamars...28
5.1
Frauenfiguren in Emine Sevgi Özdamars ,,Das Leben ist eine Karawanserei" .. 29
5.1.1
Die Protagonistin ...30

5.1.2
Verkehrte Geschlechter und parodierte Frauenklischees ...32
5.1.3
Die Romangestalt ,,Seher", verwestlichte Frauen und die Mutter der
Protagonistin ...34
5.1.4
Die Großmütter der Protagonistin ...37
5.1.5
Huren und verrückte Frauen ...40
5.1.6
Die Rolle der Frau in ,,Das Leben ist eine Karawanserei" ...43
5.2
Emine Sevgi Özdamar ,,Die Brücke vom Goldenen Horn" ... 45
5.2.1
Die Protagonistin und die Bedeutung der Junfräulichkeit...46
5.2.2
Die Entwicklung der Protagonistin als Schauspielerin ...48
5.2.3
Die Naivität der Protagonistin...50
5.2.4
Gruppierungen von Frauen und Männern ...52
5.2.5
Fazit über die Frauendarstellungen in ,,Die Brücke vom Goldenen Horn"...54
5.3
Einordnung der Literatur Özdamars in den Kontext des weiblichen
Bildungsromans und der Migrantenliteratur ... 55
6
Schlusswort ...58
7
Literaturverzeichnis ...62

1
1 Einleitung
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Frauenfiguren aus verschiedenen Romanen und Er-
zählungen der türkischen Migrantenliteratur. Es soll gezeigt werden, wie Frauen in der
deutschsprachigen Literatur von Autorinnen und Autoren türkischer Herkunft dargestellt
werden.
Die heute überwiegend als Migrantenliteratur bezeichnete Literatur hat, besonders die
Namensfindung betreffend, eine lange historische Entwicklung aufzuweisen. Bezug
nehmend auf die aus dem Ausland angeworbenen Arbeitskräfte in den Fünfziger- und
Sechzigerjahren wurde die Literatur der aus dem Ausland kommenden Autoren an-
fangs ,,Gastarbeiterliteratur" genannt. Heidrun Suhr machte 1989 darauf aufmerksam,
dass es sehr schwierig sei, für dieses, sich in der deutschen Literatur neu entwickelnde
Feld einen nicht zweideutigen Begriff zu finden und stellte fest, dass der Begriff Gast-
arbeiterliteratur zu beschränkt sei und negative Assoziationen freisetzte. Ebenso emp-
fand sie die Begriffe Ausländer- oder Migrantenliteratur als zu allgemein.
1
Die Bezeich-
nung Migrantenliteratur erweist sich für die vorliegende Arbeit jedoch als die passend-
ste, da die Literatur von Migrantinnen und Migranten im Mittelpunkt steht. Gestützt wird
diese Entscheidung von einer Definition Karin Yeiladas:
In einem Land, das die Einwanderung ausdrücklich ablehnt [...] wäre es ein Politikum, von Immig-
rantenliteratur zu sprechen. Wenn sie also nicht eingewandert sind, so sind sie doch zumindest
gewandert. Da ,,wandern" übersetzt ins Fachlatein einfach nur ,,migrieren" heißt, ergibt sich die
(Not-)Lösung von selbst: Man spricht am besten von der Migrantenliteratur, oder, unpersönlicher,
von der Migrationsliteratur.
2
Standen in der Anfangszeit der Migrantenliteratur noch Symbole wie ,,Bahnhof und
Koffer"
3
und Themen wie die ,,Migration, die Sehnsucht nach der Heimat und die An-
kunft in Deutschland"
4
im Vordergrund der literarischen Verarbeitung, so sollen in der
vorliegenden Arbeit anhand exemplarisch ausgewählter Migrantenliteratur ab den
Achtzigerjahren Frauenfiguren fokussiert werden.
In dieser Arbeit soll geprüft werden, inwieweit die Frauenfiguren aus der behandelten
Literatur die soziale Wirklichkeit abbilden. Für den Vergleich dienlich sind Bücher, Be-
richte und Aufsätze, die sich auf soziologischer Ebene mit der türkischen Gesellschaft
und insbesondere mit der Stellung der Frau befassen. Die mit dem Thema eng ver-
1
Vgl. Suhr, Heidrun: Ausländerliteratur: Minority Literature in the Federal Republic of Germany.
In: New German Critique 46 (1989). S. 74.
2
Yeilada, Karin: ,,Göçmen Içi Yazini" ­ oder: ,,How Turkish Is It?" (Ms.). S. 6.
3
Ebenda. S. 3.
4
Ebenda. S. 8.

2
bundene Genderproblematik wird hier zwar nicht außer Acht gelassen, doch das
Hauptaugenmerk der Arbeit wird auf die gesellschaftliche und soziale Position der dar-
gestellten Frauen gelegt. Zudem soll ein Augenmerk darauf gelegt werden, wie im Zu-
ge dessen kulturelle Begebenheiten und Besonderheiten vermittelt werden. Die Arbeit
soll folglich in erster Linie soziale Unterschiede, aber auch ­ in etwas geringerem Ma-
ße ­ Kultur- und Geschlechterkonflikte thematisieren.
Die Arbeit ist inhaltlich in drei große Teile gegliedert. Die Literatur dreier Autorinnen
und eines Autors türkischer Abstammung werden einander gegenübergestellt. Unter-
schiede in Bezug auf die Darstellung der Frauen in deren Literatur bestimmen die Ein-
teilung der Arbeit. Diese ist so gestaltet, dass sie sich nach der zeitlichen Erscheinung
und nach dem qualitativen Fortschritt der Literatur richtet.
Im ersten Teil wird die Literatur Saliha Scheinhardts behandelt, die bereits seit den
Achtzigerjahren deutschsprachige Literatur publiziert und sich vornehmlich mit der tür-
kischen Frau beschäftigt. In dieser Arbeit wird ihr Buch ,,Drei Zypressen ­ Erzählungen
über türkische Frauen in Deutschland"
5
näher analysiert. Im Verlauf des ersten Teils
soll gezeigt werden, dass die Literatur Scheinhardts auf Grund von Stereotypisierun-
gen der Trivialliteratur zuzuordnen ist. Anhand Scheinhardts eindimensionaler Darstel-
lung türkischer Frauen soll gezeigt werden, dass ihre Literatur nicht in der Lage ist,
soziale Wirklichkeiten abzubilden, sondern dass sie eher noch Vorurteile aufbaut.
Der zweite Teil beleuchtet den Roman ,,Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker"
6
von
Renan Demirkan. In diesem Teil sollen die Unterschiede in der Darstellung der Frau im
Vergleich zu der Literatur Scheinhardts ergründet werden. Ziel ist es, durch die Ge-
genüberstellung einen qualitativen Unterschied zu verdeutlichen.
Kurz angerissen wird das zweite Buch der Autorin ,,Frau mit Bart"
7
, das sich gänzlich
von der Migrationsproblematik abwendet. Es soll herausgefunden werden, warum sich
das Folgewerk von diesem Thema abkehrt.
Auf den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit folgen drei kurze Kapitel, die sich mit der
Literatur eines männlichen Vertreters beschäftigen. Frauenfiguren und die Frage ob
und wie die türkische Kultur in Selim Özdoans ,,Mehr"
8
dargestellt wird, stehen in die-
sen drei Kapiteln im Vordergrund.
5
Scheinhardt, Saliha: Drei Zypressen ­ Erzählungen über türkische Frauen in Deutschland.
Freiburg im Breisgau 1992.
6
Demirkan, Renan: Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker. 2. Auflage. München 1993.
7
Demirkan, Renan: Frau mit Bart. Köln 1994.
8
Özdoan, Selim: Mehr. Berlin 2001.

3
Der dritte und umfangreichste Teil beschäftigt sich mit der Schriftstellerin Emine Sevgi
Özdamar und ihren beiden Romanen ,,Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen
aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus"
9
und ,,Die Brücke vom Goldenen
Horn".
10
In diesem Teil soll herausgearbeitet werden, warum die Literatur Özdamars zu
der qualitativ hochwertigen Literatur gerechnet wird.
Im Laufe des dritten Teils wird gezeigt, dass der erste Roman ,,Das Leben ist eine Ka-
rawanserei", der Anfang der Neunzigerjahre verfasst wurde, ein differenziertes Bild der
in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Türkei lebenden Frauen dreier Generati-
onen wiedergibt. Die verschiedenen Darstellungsweisen, die dieses Bild erzeugen,
werden in diesem Teil herausgearbeitet. Neben der Hauptfigur, einem jungen Mäd-
chen, aus dessen Sicht der Roman erzählt wird, werden auch diverse Nebenfiguren in
dieser Analyse berücksichtigt.
Der zweite Roman ,,Die Brücke vom Goldenen Horn" ist die Fortsetzung des ersten. In
diesem Roman steht anfänglich die Migration der Protagonistin nach Deutschland im
Vordergrund. Dieser Teil der Arbeit behandelt schwerpunktmäßig die Entwicklung der
türkischen Heldin auf mehreren Ebenen. Die Emanzipation der Hauptfigur soll an die-
ser Stelle eingehend erläutert werden. Zusätzlich soll, wenn auch knapper als in ,,Das
Leben ist eine Karawanserei", die Darstellung der weiblichen Nebenfiguren untersucht
werden.
Die vorliegende Arbeit wird nach den Bestimmungen der neuen Rechtschreibregeln
verfasst. Zitate aus Werken, die nach den alten Rechtschreibregeln verfasst wurden,
wurden ohne Veränderung übernommen.
9
Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich
rein aus der anderen ging ich raus. (im Folgenden zit. als: Das Leben ist eine Karawanserei) 4.
Aufl. Köln 1999.
10
Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn. 2. Aufl. Köln 2000.

4
2 Saliha
Scheinhardts
,,Drei Zypressen"
Als die Migrantenliteratur in Deutschland entstand, waren daran relativ wenige Frauen
beteiligt.
11
Größtenteils waren es Männer, die schrieben. Saliha Scheinhardt gehörte zu
den frühen türkischen Autorinnen in Deutschland. Bereits seit 1983 veröffentlicht sie
Erzählungen und Romane. Das Buch ,,Drei Zypressen ­ Erzählungen über türkische
Frauen in Deutschland" von Saliha Scheinhardt wurde erstmals im Jahre 1984 veröf-
fentlicht und enthält drei Erzählungen über drei verschiedene Frauenschicksale. Dabei
handelt es sich durchweg um sehr junge türkische Frauen. Die Erzählungen sind je-
weils zirka 40 bis 50 Seiten lang und nach dem vollen Vornamen und dem ersten
Buchstaben des Nachnamens der Frau benannt, deren Schicksal erläutert wird (Gül-
naz K., Zümrüt Ö. und Zeynep Z.). Die einzelnen Frauenfiguren erzählen in der Ich-
Form von ihrem Leben, das rückblickend vom Beginn ihrer Geschichte bis hin zu ihrer
momentanen Situation geschildert wird. Die autobiografische Erzählform vermittelt den
Eindruck nichtfiktionaler Erzählungen. Während der Lektüre dieser Erzählungen fallen
starke Eindimensionalitäten und Stereotypisierungen auf. Die Darstellung der Frauen
ist undifferenziert und melodramatisch. Allen Frauen wiederfahren große Ungerechtig-
keiten, die ihnen größtenteils von Männern angetan werden. Eine Betrachtung unter
feministischem Blickwinkel scheint an dieser Stelle angebracht.
Im Zuge ihrer feministischen Forschung fasst Natascha Würzbach die Grundannahme
feministischer theoretischer Ansätze, folgendermaßen zusammen:
Gemeinsam ist den verschiedenen feministischen Ansätzen, daß die bestehenden Gesellschafts-
formen wesentlich von Geschlechtsunterschieden geprägt sind, die erhebliche Ungerechtigkeiten
in der Bewertung, der Zuweisung von Rechten und Pflichten und den daraus resultierenden Er-
lebnis- und Handlungsmöglichkeiten enthalten. Dies wird als Sexismus, als Ungleichbehandlung
der Geschlechter bezeichnet.
12
Die Gesellschaftsform, die in den Erzählungen in ,,Drei Zypressen" wiedergegeben
wird, weist Sexismus auf. Dies tritt in den folgenden Kapiteln schon anhand der kurzen
Inhaltsangaben der einzelnen Erzählungen so deutlich hervor, dass nicht an jeder Stel-
le gesondert darauf aufmerksam gemacht werden muss.
In den Erzählungen Scheinhardts wird dies besonders daran deutlich, dass den Figu-
ren geschlechtsspezifische Eigenschaften zugeschrieben werden, die sich stark kon-
11
Vgl. Suhr, Heidrun: ,Heimat ist, wo ich wachsen kann'. Ausländerinnen schreiben deutsche
Literatur. In: Begegnung mit dem ,,Fremden": Grenzen ­ Traditionen ­ Vergleiche. Hg. von Eijiro
Iwasaki. Band 8. Emigranten- und Immigrantenliteratur. München 1991. S. 74.
12
Würzbach, Natascha: Feministische Forschung in Literaturwissenschaft und Volkskunde. In:
Die Frau im Märchen. Hg. von Sigrid Früh und Rainer Wehse. Kassel 1985. S. 195.

5
trastierend ausdrücken. Die hier auftauchenden Stereotypen sind als von Natascha
Würzbach so genannte ,,Polarisationsstereotypen" auszumachen. Ihre Definition lautet
folgendermaßen:
Die Zuschreibung geschlechtsspezifischer Eigenschaften entwickelte sich in einem Maße in der
Form von Gegensätzlichkeiten, wie sie durch den rein biologischen Unterschied in keiner Weise
mehr begründbar sind. Erkennbar wird dies in Polarisationsstereotypen, d.h. in kulturellen Objek-
tivierungen, die vom Individuum abstrahieren, jedoch als Orientierungsschemata Wahrnehmung
und Handeln weitgehend bestimmen.
13
Diese entwickelten sich auf Grund der fälschlicherweise aus der biologischen Ge-
schlechtszugehörigkeit abgeleiteten Zuweisung von Eigenschaften und Verhaltenswei-
sen. Die von Würzbach definierten ,,Polarisationsstereotypen" sind dadurch gekenn-
zeichnet, dass dem biologisch männlichen Geschlecht folgende Eigenschaften zuge-
sprochen werden: Aktivität, handelndes, selbstbestimmendes Subjekt, Egoismus,
Durchsetzungsvermögen, Rationalität, Intelligenz, Stärke, Mut, hohes Selbstwertgefühl
und öffentliche Aufgaben (Produktionsbereich). Kontrastierend dazu wird der Frau Fol-
gendes zugesprochen: Passivität, fremdbestimmtes Objekt, Altruismus, Einfühlung,
Opfermentalität, Emotionalität, Schwäche, Ängstlichkeit, Unsicherheit und private Auf-
gaben (Reproduktionsbereich).
14
Dieser Art aufgeteilte Eigenschaften sind in ,,Drei Zypressen" wiederzufinden. Das Lei-
den der Frauen, die Schicksale und ihre Lebensabläufe sind durchweg gezeichnet von
männlicher Dominanz. Väter, Brüder, männliche Verwandte und Bekannte kontrollieren
das Leben der Frauen. Alle Frauen beschreiben ihr Leben als ein von Männern unter-
drücktes. Klischees
15
und Vorurteile werden auf- und nicht abgebaut. Die Frauen be-
finden sich in der absoluten Opferrolle und leiden. Keinem Mann werden durchgängig
positive Charaktereigenschaften zugesprochen. Dass gerade Türkinnen in Deutsch-
land, bedingt durch Negativberichte, stereotypisiert werden, veranlasste auch das
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend darauf einzugehen und
die Situation kritisch zu durchleuchten.
Bereitwillig aufgenommen werden alle Berichte, die besonders krasse Beispiele der Unterdrü-
ckung und Misshandlung türkischer Frauen zum Inhalt haben ­ wenn sie durch türkische Männer
(Väter, Brüder, Ehemänner, Söhne) begangen worden sind und sich als eklatantes Exempel einer
fremdkulturellen Lebensweise darstellen lassen [...]. Dann lässt sich das (konsequenzlose) Mitleid
13
Ebenda. S. 195.
14
Vgl. ebenda. S. 195­196.
15
Der Begriff ,,Klischee" beruht ursprünglich auf dem französischen Wort ,,cliché" und bedeutet
übersetzt ,,Abklatsch". Bildungssprachlich steht ,,Klischee" für eine unschöpferische Nachbildung
und für eine eingefahrene, überkommene Vorstellung. Vgl. Brockhaus ­ Die Enzyklopädie: in 24
Bänden. ­ 20., überarb. und aktualisierte Aufl. ­ Bd. 12. Leipzig, Mannheim 1997. S. 106. In der
vorliegenden Arbeit wird der Begriff ,,Klischee" definitionsgemäß genutzt. Das ,,Klischee" wird als
ein unkritisch von der Allgemeinheit übernommenes Bild betrachtet, das auf undifferenzierten,
eingefahrenen Meinungen und Eigenschaften beruht.

6
mit ,,der" türkischen Frau mit einer Feindlichkeit ,,dem" türkischen Mann gegenüber verbinden und
als Legitimation ethnischer Distanzierung verwenden.
16
Diese Beobachtung, die sehr genau mit dem übereinstimmt, was Scheinhardt durch
ihre Literatur vermittelt, kann in den drei Erzählungen, die im Folgenden unter ver-
schiedenen Gesichtspunkten analysiert werden, nachvollzogen werden. Deutlich geht
dies unter der Berücksichtigung der starken Stereotypisierungen und dem Leid hervor,
das den Frauen von türkischen Männern angetan wird.
2.1 Die
Erzählung
,,Gülnaz K."
Die Lebensgeschichte der Gülnaz K. ist die erste Erzählung des Buches.
17
Schon der
Verlauf der gesamten Erzählung besteht aus Stereotypen und Klischeeanreihungen.
Gülnaz wird im Alter von 17 Jahren von ihrem Vater, der einige Jahre zuvor ohne Fa-
milie nach Deutschland migriert war, dorthin mitgenommen, um ihn zu versorgen. Mo-
natelang lebt sie in Deutschland ohne Kontakt zur Außenwelt. Ihr einziger Lebensinhalt
besteht anfangs darin, die Wohnung zu putzen und ihren Vater zu bekochen. Einige
Zeit später darf sie in einer Fabrik arbeiten und muss ihrem Vater das gesamte Geld
abgeben. Nur gelegentlich erhält sie ein wenig Taschengeld. Während eines gemein-
samen Urlaubs bei der Familie in der Türkei wird Gülnaz mit Hilfe mehrer Männer ent-
führt und muss somit den türkischen Moralvorstellungen zufolge ihren Entführer heira-
ten. Mehrere Tage wird sie von ihrem Entführer und dessen Helfern in den Bergen
festgehalten, damit ihre Familie sie nicht findet. Die Ich-Erzählerin beschreibt ihre Situ-
ation und die Gründe für die bald stattfindende erzwungene Eheschließung folgender-
maßen:
Niemand würde mich als ehrenwürdige Ehefrau haben wollen, nachdem ich zehn Tage mit vier
Männern in den Bergen war. Niemandem konnte ich nun klarmachen, daß ich unschuldig an dem
Ganzen war. Meine Schuld war, als Frau geboren zu sein.
18
Schließlich verliebt sie sich aber tatsächlich in ihren Entführer und ist sehr glücklich
über die Eheschließung. Sie holt ihn nach Deutschland. Dort muss er sich um das ge-
meinsame Kind kümmern, während sie arbeiten geht. Den Klischeevorstellungen ent-
sprechend kommt er als türkischer Mann mit dieser Rolle nicht zurecht. Schließlich
endet die Erzählung damit, dass er bei einem jämmerlichen Versuch, als Mann endlich
Geld zu verdienen, ins Gefängnis kommt.
16
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sechster Familienbe-
richt. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland ­ Leistungen-Belastungen-
Herausforderungen. Drucksache 14/4357. 2000. S. 89.
17
Scheinhardt, Saliha: Drei Zypressen. S. 7­ 51.
18
Ebenda. S. 45.

7
Gülnaz verkörpert die wehrlose junge türkische Frau, die erst zum Opfer ihres Vaters
und später das Opfer eines Mannes wird, der sie mit Gewalt zu seiner Frau macht. Sie
wehrt sich weder gegen den Vater, noch gegen ihren Peiniger. Allein die Tatsache,
dass sie ohne familiäre Aufsicht mit ihrem Entführer und dessen Helfern in den Bergen
war, ist für die türkische Gesellschaft aus ihrem Elterndorf ein hinreichender Grund
dafür, dass sie den Mann nun heiraten muss. Aus dem oben zitierten Textstück geht
hervor, dass die Gesellschaft davon ausgeht, dass ihr Entführer sie umgehend verge-
waltigt haben muss. Ohne ihre Jungfräulichkeit ist sie für keinen anderen Mann mehr
als ehrwürdige Frau annehmbar. Obwohl dies nicht geschehen ist, kennt Gülnaz die
Regeln ihrer Gesellschaft sehr genau und fügt sich ihrem Schicksal. Sie weiß, dass ihr
niemand glauben würde. Ihr Altruismus und die Opferrolle im Gegensatz zu dem
Egoismus und dem Durchsetzungsvermögen des Mannes kennzeichnen deutliche Po-
larisationsstereotypen. Die Tatsache, dass sie sich dennoch in ihren Mann verliebt,
mindern nicht die Brutalität und die Ungerechtigkeit, die ihr während der Entführung
wiederfahren sind.
Die Bedeutung der Jungfräulichkeit in der türkischen Gesellschaft wird in Kapitel 5.2.1
dieser Arbeit näher erläutert.
Anhand der Erzählung Gülnaz K. verdeutlicht Karin Yeilada ihren in einem Aufsatz
geprägten Begriff der ,,geschundenen Suleika".
19
Yeilada versucht die Bildkonstruktion
der türkisch-arabischen Orientalin, die größtenteils in der Reiseliteratur des 18. und 19.
Jahrhunderts auftaucht, mit dem Pseudonym ,,Suleika"
20
zu etablieren. Dieses Pseu-
donym greift sie in Zusammenhang mit der verallgemeinernden Darstellung der türki-
schen Frau in den deutschen Medien und in der deutschsprachigen Literatur türkischer
Autorinnen auf.
21
Die Suleika in der Gegenwart beschreibt Yeilada folgendermaßen:
Wie ihre Ahnherrin aus der Reiseliteratur ist auch sie eine dunkeläugige, exotische Schönheit mit
langen lockigen Haaren, eine junge Türkin, die von ihrer Familie, vor allem von Vater und Brü-
dern, unterdrückt und erst durch das Eingreifen eines (blonden) deutschen Helden von ihrem
Joch befreit wird.
22
19
Yeilada, Karin: Die geschundene Suleika. Das Eigenbild der Türkin in der deutschsprachi-
gen Literatur türkischer Autorinnen. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen
Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. Hg. von Mary Howard. München 1997. S.
95­114.
20
,,Suleika" ist ein arabischer Name, der übersetzt die ,,Verführerin" bedeutet. Vgl. Seibicke,
Wilfried: Vornamen. Hg. von der Gesellschaft für deutsche Sprache. 2., vollst. überarb. Aufl.
Frankfurt am Main 1991. S. 243. Yeilada wählt diesen Namen als Synonym für sogenannte
,,Orientalinnen", in diesem Fall für Türkinnen. Vgl. Yeilada, Karin: Die geschundene Suleika. S.
97.
21
Vgl. Yeilada, Karin: Die geschundene Suleika. S. 96.
22
Ebenda. S. 96.

8
Als ,,geschundene Suleika" bezeichnet Yeilada sie, weil die Frau auf mehrere Arten
von ihrem Umfeld geschunden wird. Yeilada stellt die These auf, dass einige türkische
Autorinnen das bereits bestehende Bild der geschundenen Suleika reproduzieren wür-
den.
23
Über die Erzählung Gülnaz K. schreibt sie Folgendes:
Saliha Scheinhardt ist keine Übertreibung zu schade, um die Grausamkeit des Schicksals ihrer li-
terarischen Heldinnen möglichst plastisch darzustellen. Am Ende des trivialen Melodrams über
Gülnaz K. bleibt der unverrückbare Eindruck einer geschunden Suleika.
24
Dies ist sie laut Yeilada, weil sie vom Vater, vom Schicksal der Migration, vom Entfüh-
rer und von der türkischen Gesellschaft geschunden wird.
25
Das folgende Zitat von Yeilada erscheint mir sehr nachvollziehbar und richtig, da sie
treffend zusammenfasst, dass die Texte Scheinhardts ein falsches Bild türkischer
Frauen wiedergeben.
Die wissenschaftliche Rezeption von Scheinhardts Texten steht häufig im Gefolge einer umfang-
reichen Sozialforschung zur vermeintlichen Situation türkischer ,,Frauen und Mädchen", ohne je-
doch textkritisch Sprache, Stil und Schreibweise der Texte zu untersuchen. Auf diese Weise wer-
den Scheinhardts Texte ungeachtet ihres zweifelhaften Gehalts als soziales Dokument aufgewer-
tet. Kolportage erhält damit einen festen Platz in der Migrationsliteratur.
26
Die Ausführung Yeiladas verdeutlicht den in diesem Rahmen wichtigen Punkt, dass
Literatur dieser Art als Beleg für die klischeehaft vermutet schlechte Lage von Türkin-
nen in Deutschland gelesen werden kann.
2.2 Die
Erzählung
,,Zümrüt Ö."
Das Bild der geschundenen Suleika wird auch in den anderen beiden Erzählungen
reproduziert. In der zweiten Erzählung
27
wird die knapp zwölfjährige Zümrüt Ö. mehr-
mals von ihrem erwachsenen türkischen Nachbarn vergewaltigt. Im Laufe der folgen-
den Jahre entwickelt der Nachbar namens Beir eine regelrechte Obsession für Züm-
rüt. Er verfolgt sie permanent, vergewaltigt sie weiterhin und macht ihr das Leben
schwer. Ihr Vater, dem sie eines Abends die ganze Geschichte erzählt, will nichts da-
von hören und glauben.
23
Vgl. ebenda. S. 98.
24
Ebenda. S. 101­102.
25
Vgl. ebenda. S. 102.
26
Ebenda. S. 102­103.
27
Scheinhardt, Saliha: Drei Zypressen. S. 52­101.

9
Sie verliebt sich in einen türkischen Schulkameraden namens Hakan, dem sie sich
ebenfalls anvertraut. Trotz der Tatsache, dass sie keine Jungfrau mehr ist, heiratet
Hakan sie. Doch während der Ehe und nach der Geburt des Kindes vernachlässigt er
Zümrüt immer mehr.
Sie flüchtet zurück in die Arme ihres Peinigers Beir und wird schwanger von ihm. Ge-
meinsam reisen Beir und Zümrüt in die Türkei, um dort eine Abtreibung vornehmen zu
lassen. In der Türkei schleppt Beir sie in sein Heimatdorf und hält sie dort gefangen,
bis sie schließlich von ihrem Ehemann Hakan befreit wird. Hakan und sie sprechen
sich aus und nehmen den Versuch auf, die Ehe weiterzuführen. Als Beir sich erneut in
ihr Leben einmischt, versucht Zümrüt ihn umzubringen. Der Versuch scheitert und sie
landet im Gefängnis. Vor Gericht erzählt sie rückblickend ihre Geschichte. Diese Er-
zählung weist ,,Suleikalismus"
28
auf. Die Frau wird als permanentes Opfer der Männer
dargestellt. Der Nachbar vergewaltigt sie, der Vater glaubt ihr nicht und ihr Ehemann
vernachlässigt sie. Sie wird geschlagen und missbraucht und schafft es erst nach zahl-
losen brutalen Schlägen und Demütigungen sich aufzulehnen, indem sie versucht, ih-
ren Vergewaltiger umzubringen.
In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, das Bild der türkischen Frau in
Deutschland zu beleuchten. Marilya J. Veteto-Conrad fasst die vorherrschenden Ste-
reotypen, die in der deutschen Gesellschaft und in den deutschen Medien über türki-
sche Frauen herrschen, folgendermaßen zusammen: ,,Therefore, the predominant ste-
reotype of the Turkish woman is that of a victim."
29
Sie beklagt in diesem Zusammen-
hang: ,,The portrayal of women is complex and not completely free from frequently
damaging stereotyping on the part of Turkish women writers themselves."
30
Als Vertre-
terin dieser Autorinnen nennt auch sie Saliha Scheinhardt und kritisiert ebenso wie
Yeilada, dass Scheinhardt das Bild der türkischen Frau als Leidende fördere. Dies
stelle eine Ungerechtigkeit für die Integration dar und fördere zusätzliche Vorurteile.
Dieser Teufelskreis könne nur durchbrochen werden, indem man die türkische Frau
nicht immer als Opfer darstelle.
31
Die Erzählung der Zümrüt Ö. macht meiner Meinung nach jedoch auch deutlich, dass
im Zuge dieses Gedankens, nicht nur die Darstellung der Frau als ewiges Opfer geän-
dert werden müsste. Auch die Darstellung des ewig brutalen und unterdrückenden tür-
28
Der Begriff ,,Suleikalismus" stammt von Karin Yeilada und bezieht sich auf die Reproduktion
des Bildes der geschundenen Suleika. Vgl. Yeilada, Karin: Die geschundene Suleika. S. 98.
29
Veteto-Conrad, Marilya J.: Finding a Voice: Identity and the Works of German-Language Tur-
kish Writers in the Federal Republic of Germany to 1990. New York 1996. S. 64.
30
Ebenda. S. 64.
31
Vgl. ebenda. S. 65.

10
kischen Mannes müsste sich wandeln. Gerade diese Erzählungen, die der Klappentext
als authentische Geschichten definiert, vermitteln dem Leser den Eindruck, dass sich
grundsätzlich so die Realität der türkischer Frau abspiele. Für diese Vorgehensweise
kritisiert Heidrun Suhr Saliha Scheinhardt in diesem Zusammenhang sogar auf das
Allerschärfste:
Sie sammelt Lebensgeschichten türkischer Frauen, authentische Fälle, für die sie recherchiert,
als ob sie eine Reportage schreiben würde, und die sie dann als Erzählungen veröffentlicht. Nicht
nur ist dieses Vorgehen problematisch und kritikabel, sie trägt mit den krassen Schilderungen ex-
tremer Familiensituationen mit Sicherheit nicht zum Abbau von Vorurteilen bei.
32
2.3 Der von Scheinhardt dargestellte Konflikt zwischen den Wanderungs- und
Folgegenerationen
Auffällig an den Erzählungen in ,,Drei Zypressen" ist der Konflikt zwischen der Genera-
tion der Eltern, die nach Deutschland migrierte und deren Kindern. Insbesondere die
weibliche Folgegeneration erlebt starke Diskrepanzen zwischen den Erziehungsidealen
der Wanderungsgeneration und ihren eigenen Vorstellungen vom Leben in Deutsch-
land. Die jungen Frauen möchten sich gerne an die deutsche Lebenssituation anpas-
sen. Die Eltern dagegen, insbesondere die Väter, versuchen zwanghaft an Idealen,
Moralvorstellungen und traditionellen Begebenheiten, die sie aus ihren Heimatdörfern
und -städten kennen, festzuhalten. Dieser Konflikt wird in den Erzählungen zwar the-
matisiert aber er verläuft immer auf die gleiche Art und Weise. Die Komplexität dieses
Konfliktes wird nicht herausgearbeitet. Immer versuchen die Töchter, sich der deut-
schen Kultur anzunähern und daran teilzuhaben, und stets wird ihnen von ihren männ-
lichen Verwandten ein Riegel vorgeschoben. Eine von den Vätern und Brüdern tolerier-
te oder sogar positiv akzeptierte Annäherung an ihr deutsches Umfeld findet in keiner
Erzählung statt.
Die in ,,Drei Zypressen" dargestellten Geschlechterbeziehungen entsprechen nur noch
bedingt den aktuellen Geschlechterbeziehungen in der Türkei. Dass in ihren Herkunfts-
ländern während ihrer langjährigen Abwesenheit ein sozialer Wandel stattfindet, wird
von vielen Migranten ignoriert. Die heutige Türkei ist nicht mehr die Türkei, die der Ar-
32
Suhr, Heidrun: ,Heimat ist, wo ich wachsen kann'. S. 75.
Kritik an der Literatur Scheinhardts äußert Heidrun Suhr nicht nur einmal. Auch ihr Aufsatz Aus-
länderliteratur: Minority Literature in the Federal Republic of Germany enthält negative Aussa-
gen hinsichtlich Scheinhardts Literatur: Suhr, Heidrun: Ausländerliteratur: Minority Literature in
the Federal Republic of Germany. In: New German Critique 46 (1989). S. 71­103.

11
beitsmigrant vor vielen Jahren verlassen hat und nun nur noch aus Urlaubsreisen
kennt.
33
Dies zeigt auch folgendes Zitat:
Migranten tendieren zudem dazu, sich ein Bild ihrer Herkunftsgesellschaft zu bewahren, dass sie
sich bis zur Migration erstellt haben, sodass die meisten ein konservativeres Bild von ihrer Her-
kunftsgesellschaft haben, als es der aktuellen Wirklichkeit entspricht.
34
Saliha Scheinhardt produziert durch die Veröffentlichung dieser Erzählungen nicht nur
ein konservatives, sondern auch brutales Bild der türkischen Herkunftsgesellschaft.
Dadurch evoziert sie erneut einen Konflikt zwischen ihr als Vertreterin der Wande-
rungsgesellschaft und Vertreterinnen der Folgegeneration. Moderne türkische Zeitge-
nossinnen in Deutschland und in der Türkei können sich mit dem von Scheinhardt dar-
gestellten Frauenbild nicht identifizieren. Karin Yeilada berichtet von einer Autorenle-
sung in Istanbul, bei der Saliha Scheinhardt vor einem überwiegend weiblichen Publi-
kum aus einem ihrer Bücher las und dabei ins Weinen geriet. Die zuhörenden Türkin-
nen reagierten dagegen mit Befremden auf das Vorgelesene, da sie sich mit der Dar-
stellung der türkischen Frau in diesem Buch kaum identifizieren konnten.
35
2.4 Scheinhardts Darstellung der türkischen Frau in einer binationalen Liebes-
beziehung am Beispiel der Erzählung ,,Zeynep Z."
In der dritten und letzten Geschichte Zeynep Z.
36
kontrollieren die beiden Brüder und
der Vater der Protagonistin deren Leben extrem und schlagen sie oft. Sie darf keine
Ausbildung machen und vertraut ihren Kummer ihrer Lehrerin an. Bei geheimen Besu-
chen bei ihrer Lehrerin lernt sie deren Sohn Werner kennen. Die beiden verlieben sich.
Zeynep flieht von zu Hause und lebt versteckt bei Werner in dessen Wohngemein-
schaft. In dieser Erzählung wird eine türkische Frau in einer binationalen Liebesbezie-
hung dargestellt. Zeynep wird von ihrem Vater und ihren Brüdern geschlagen und ge-
schunden und rettet sich in die Arme eines ,,deutschen Helden". Die Flucht zu ihrem
Freund findet heimlich statt, da es bei der Strenge ihres Elternhauses undenkbar wäre,
in einem offenen Gespräch darüber zu reden, dass sie sich in einen deutschen Mann
verliebt hat und nun mit ihm, zudem auch noch ohne Trauschein, zusammen leben
möchte. Eine für Zeynep absolut unvorstellbare Situation. Daher weiß sie, dass sie nur
unter größter Vorsicht fliehen kann. Diese, zwar sehr melodramatisch beschriebene
Situation, könnte man auf reale Begebenheiten in Deutschland zurückführen. Selbst
1998 konnten sich nur 6,3 Prozent der türkischen Väter und 3,0 Prozent der türkischen
Mütter vorstellen, dass ihre Kinder auf jeden Fall einen deutschen Partner heiraten
33
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sechster Famili-
enbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. S. 75.
34
Ebenda. S. 75.
35
Vgl. Yeilada, Karin: Die geschundene Suleika. S. 102
36
Scheinhardt, Saliha: Drei Zypressen. S. 102­139.

12
werden. Die Divergenz zwischen Wanderergeneration und Folgegeneration wird erneut
deutlich, wenn man hingegen berücksichtigt, dass aber 46,0 Prozent der türkischen
Töchter auf jeden Fall einen deutschen Partner heiraten möchten. Die türkischen Söh-
ne gaben zu 31,2 Prozent an, definitiv eine deutsche Partnerin heiraten zu wollen.
37
Die hier von Scheinhardt melodramatisch wiedergegebene Erzählung ist sicherlich
nicht als repräsentative Darstellung türkischer Frauen anzusehen, die eine binationale
Ehe mit einem deutschen Partner eingehen möchten. Man kann jedoch, in Anbetracht
der Zahlen, sagen, dass die oben beschriebene Situation in dieser Erzählung einer
authentischen Situation entsprechen könnte. Doch diese Begebenheit soll die Literatur
Scheinhardts nicht von der bisher geäußerten Kritik freisprechen, sondern lediglich
darstellen, dass neben der berechtigten, negativen Kritik durchaus auch ein guter An-
satz erkennbar ist und dass Scheinhardt nicht ausschließlich unglaubwürdige Situatio-
nen türkischer Frauen wiedergibt. Der melodramatische Stil der Erzählungen impliziert
trotz allem Trivialität. Daher bedürfen ihre Erzählungen trotz einiger nachvollziehbarer
Ansätze dennoch einer kritischen Analyse. Bezug nehmend auf diese Erzählung macht
Heidi Rösch darauf aufmerksam, dass die Erzählung Teil einer Reportage sei, in die
Scheinhardt die Ergebnisse vieler Befragungen hineinlege.
38
Daher warnt sie davor,
den Text als wahre Lebensgeschichte einer einzelnen Person zu betrachten:
Der Text ,,Zeynep Z." ist also nicht einfach die Beschreibung der Erfahrung eines bestimmten tür-
kischen Mädchens, sondern er ist die verdichtete Erzählung über Erfahrungen verschiedener tür-
kischer Mädchen, aus denen Saliha Scheinhardt die Geschichte ,,Zeynep Z." konstruiert hat, um
wie gesagt auf spezifische Zusammenhänge aufmerksam zu machen und sie lebensnah und
möglichst authentisch darzustellen.
39
Die binationale Liebesbeziehung zwischen Zeynep und Werner endet letztendlich nicht
glücklich. Alle von Yeilada aufgeführten Attribute, die eine geschundene Suleika aus-
machen, sind auch hier zu finden. Doch die Darstellung des ,,deutschen Helden" wird
später gebrochen. Der Retter erweist sich als kein echter, durchgängiger Held. Werner
bekommt Angst, dass er von Zeyneps Verwandten getötet werden könnte. Er eröffnet
ihr, dass er sich die gesamte Situation nicht so problematisch vorgestellt hätte. Er ver-
langt von Zeynep, dass sie ,,ihren Lebensweg gefälligst selber ebnen soll"
40
. Sie ver-
lässt ihn und findet für ihn und ihre eigene Situation folgende Worte:
37
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sechster Famili-
enbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Tabelle IV.6 Wahrscheinlichkeits-
einschätzung einer Heirat mit einem einheimischen Ehepartner bei italienischen, griechischen,
türkischen und Aussiedler-Jugendlichen und ihren Eltern. S. 85.
38
Vgl. Rösch, Heidi: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext: eine didaktische Studie zur
Literatur von Aras Ören, Aysel Özakin, Franco Biondi und Rafik Schami. Frankfurt am Main
1992. S. 51.
39
Ebenda. S. 51.
40
Scheinhardt, Saliha: Drei Zypressen. S. 130.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783956360022
ISBN (Paperback)
9783832465483
Dateigröße
688 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Philosophie
Erscheinungsdatum
2003 (März)
Note
2,3
Schlagworte
migration scheinhardt demirkan özdogan özdamar
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Titel: Frauenfiguren in türkischer Migrantenliteratur
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