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Die Situation von Sehgeschädigten in der Gesellschaft aus sozialpädagogischer Sicht

Integration - Wunschtraum oder Wirklichkeit

©1996 Diplomarbeit 95 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Eine Diplomarbeit über die gesellschaftliche Situation Blinder zu schreiben, bedeutet, sich auf ein bislang doch sehr vernachlässigtes und sozialwissenschaftlich lückenhaft Erforschtes Gebiet zu begeben. Ein Großteil der verfügbaren Literatur aus dem Bereich der Blindenpädagogik befasst sich primär mit Kindern und Jugendlichen und hier wiederum vor allem mit deren Erziehung und Unterrichtung. Sicherlich ist diese Altersgruppe nicht zu vernachlässigen, jedoch werden dadurch Problematiken Blinder in anderen Lebensphasen vernachlässigt.
Was geschieht mit ihnen nach der Schulentlassung? Ist ihre Rehabilitation und ihre Integration mit der Entlassung oder dem Eintritt ins Berufsleben beendet?
Analysen über die soziale Lage Sehgeschädigter fehlen weitgehend. Überwiegend wird von „dem Blinden“ gesprochen. Selten findet man von Betroffenen selbst geschriebene Literatur. Wenn, so findet man zumeist sehr subjektive Schilderungen. Oftmals können selbst andere Sehgeschädigte bestimmte Aussagen nicht nachvollziehen. Auch in meiner Arbeit sind die getroffenen Aussagen selbstverständlich nicht objektiv. Letztlich kann ich nur Ausschnitte aus alltäglichen Situationen, die ich selbst oder mir bekannte Personen erlebt haben, als Beispiel anführen.
Manchmal kann man über einige teilweise absurde und dennoch realistische Vorkommnisse in unserer Gesellschaft sogar schmunzeln. Dies halte ich sogar für äußerst sinnvoll, denn Humor sollte stets ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens sein!
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach dem Bild „des Blinden“ in der Gesellschaft. Wie werden wir gemeinhin gesehen und „behandelt“? Was ist bei uns anders als bei Sehenden? Werden wir oftmals nicht erst durch die Behandlung Anderer zu „Behinderten“ gemacht? Was können Blinde überhaupt „leisten“ (inwieweit werden wir eingeschränkt)? Wie wird die Arbeit Sehgeschädigter bewertet und inwieweit sind oder werden wir in der Ausübung unserer Arbeit gehindert? Wie gehen Sehgeschädigte mit dieser Problematik und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierung um? Die wichtigste Frage jedoch wird von den wenigsten Autoren behandelt: Woher resultiert dieses Bild in der Gesellschaft, wie und wodurch entstehen die gängigen Vorurteile?
Gang der Untersuchung:
Im ersten, theoretischen Teil, möchte ich allgemeine Definitionen und statistische Daten liefern. In der Literatur und auch im täglichen Leben ist die Situation […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Einleitung

Eigene Motivation zu dieser Arbeit

Methodische und theoretische Vorüberlegungen

1. Blindheit
ein Beispiel für die Abweichung von der Norm
1.1. Begriffsbestimmung Blindheit
Verschiedene Definitionen für "Blindheit" aus der Sicht unterschiedlicher Wissenschaften
1.2. Zeitpunkt des Eintritts der Sehschädigung
1.3. Auswirkungen von Blindheit auf den Körper und die Psyche
1.4. Zur Geschichte des Umgangs mit Blinden
1.5. Ausbildung, Rehabilitation und Berufschancen
1.6. Einige Daten zur Lage Sehgeschädigter in der Bundesrepublik

2. Das Bild der Gesellschaft vom Sehgeschädigten
2.1. Vorurteile, Einstellungen, stereotype Zuschreibungen
Untersuchungen zum Blindheitsstereotyp
2.2. Der Blinde in Massenmedien
2.3. Kritikansatz

3. Beispiele aus alltäglichen Lebenssituationen
3.1. Blickkontakt, das Problem der Kontaktaufnahme
3.2. Partnersuche/Partnerwahl
3.3. Das "Problem" der Liebe, Ehe, Sexualität Ein typisches Beispiel aus der Fachliteratur
3.4. Fallbeispiele aus alltäglichen Lebenssituationen Vorurteile, Diskriminierung und humorvolle Ereignisse

Resümee

Einleitung

Eigene Motivation zu dieser Arbeit

Die Idee zur Untersuchung der gesellschaftlichen und sozialen Situation von Sehgeschädigten in der Bundesrepublik Deutschland ist aus einer gewissen Wut und Trauer meinerseits entstanden. Dies möchte ich kurz anhand meiner eigenen Vorgeschichte erläutern:

Bereits von Geburt an habe ich eine Sehbehinderung, die konkrete Ursache ist unbekannt. Von fünf Geschwistern war ich die einzige mit einer Behinderung und häufig durch Krankenhausaufenthalte bzw. Internatsbesuch abwesend von zu Hause. Als 5jährige kam ich in einen Regelkindergarten, in dem ich mich gut zurechtfand und bei dem mir die Sehbehinderung (90% MdE) kein Hindernis war. Mit 6 Jahren wurde ich nach Anraten des Augenarztes in eine Blinden- und Sehbehindertenschule mit Internat aufgenommen. Hier hatte ich anfangs enorme Schwierigkeiten hinsichtlich der Anpassung (Heimweh etc.), jedoch während der gesamten Schulzeit (10 Jahre) enorme Vorteile den anderen gegenüber, die meist wesentlich schlechter sahen. Somit genoß ich also einen gewissen Schonraum.

Im 20. Lebensjahr erblindete ich an den Folgen einer Netzhautablösung bis auf einen kleinen "Sehrest" (Lichtscheinwahrnehmung, ohne jedoch Umrisse o.ä. noch erkennen zu können). Die Erkrankung wurde zunächst falsch als Bindehautentzündung diagnostiziert, so daß viel kostbare Zeit zur adäquaten Behandlung verloren ging. Mitten in der zum damaligen Zeitpunkt durchgeführten Berufsausbildung mußte ich um meine zugesagte Stelle im Internat für Blinde und Sehbehinderte und um die erfolgreiche Beendigung meiner Berufsausbildung bangen, da eine vollblinde Erzieherin für den Arbeitgeber zunächst als undenkbar erschien.

Hinzu kamen noch zahlreiche organisatorische und bürokratische Barrieren seitens des Arbeitsamtes, das mir eine Grundrehabilitation über die Dauer von nur 4 Monaten aus Kostengründen zunächst verweigerte. Es wurden langfristige Vergleiche angestellt, welche Institution kostengünstiger sei, so daß ich zwangsläufig über einen Zeitraum von 12 Monaten völlig abhängig, immobil und ohne Arbeit war. Mein Anerkennungsjahr konnte ich anschließend dennoch beenden.

Durch diese neue Lebenssituation habe ich viel hinzugelernt und mein Leben sukzessive umgestellt. Ich habe mich über diverse Hilfsmittel informiert und eigene Tricks entdeckt und entwickelt, wie ich Arbeiten im Haushalt (u.a. Abmessen von Flüssigkeiten, Nähen, Bügeln) selbständig weiterhin erledigen konnte. Dies war mir stets äußerst wichtig. Von Mitmenschen abhängig zu sein war und ist heute noch für mich ein schrecklicher Gedanke.

Während des Erblindungsprozesses habe ich viel Trauer und Verzweiflung erfahren. Oftmals habe ich an äußeren Gegebenheiten und am Verhalten Anderer - gelegentlich auch an meinem - gezweifelt. Die alltägliche Konfrontation mit der "normalen" Gesellschaft (sozial und/oder beruflich) ließen mich auf das Thema dieser Arbeit kommen.

Gerade weil ich einen Teil meines Lebens als Sehbehinderte (mit gutem Sehrest) mit Blinden und Sehenden gelebt habe, dadurch stark geprägt wurde und jetzt selbst in der Situation bin, blind zu sein, glaube ich, mich in beide Lebensqualitäten einfühlen zu können. Besonders auf der emotionalen Ebene. Außerdem denke ich, daß gerade Betroffene ein Recht haben, sich mit der Diskriminierung und Integration auseinanderzusetzen.

Methodische und theoretische Vorüberlegungen

Eine Diplomarbeit über die gesellschaftliche Situation Blinder zu schreiben, bedeutet, sich auf ein bislang doch sehr vernachlässigtes und sozialwissenschaftlich lückenhaft Erforschtes Gebiet zu begeben. Ein Großteil der verfügbaren Literatur aus dem Bereich der Blindenpädagogik befaßt sich primär mit Kindern und Jugendlichen und hier wiederum vor allem mit deren Erziehung und Unterrichtung. Sicherlich ist diese Altersgruppe nicht zu vernachlässigen, jedoch werden dadurch Problematiken Blinder in anderen Lebensphasen vernachlässigt.

Was geschieht mit ihnen nach der Schulentlassung? Ist ihre Rehabilitation und ihre Integration mit der Entlassung oder dem Eintritt ins Berufsleben beendet?

Analysen über die soziale Lage Sehgeschädigter fehlen weitgehend. Überwiegend wird von "dem Blinden" gesprochen. Selten findet man von Betroffenen selbst geschriebene Literatur. Wenn, so findet man zumeist sehr subjektive Schilderungen. Oftmals können selbst andere Sehgeschädigte bestimmte Aussagen nicht nachvollziehen. Auch in meiner Arbeit sind die getroffenen Aussagen selbstverständlich nicht objektiv. Letztlich kann ich nur Ausschnitte aus alltäglichen Situationen, die ich selbst oder mir bekannte Personen erlebt haben, als Beispiel anführen.

Manchmal kann man über einige teilweise absurde und dennoch realistische Vorkommnisse in unserer Gesellschaft sogar schmunzeln. Dies halte ich sogar für äußerst sinnvoll, denn Humor sollte stets ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens sein!

Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach dem Bild "des Blinden" in der Gesellschaft. Wie werden wir gemeinhin gesehen und "behandelt"? Was ist bei uns anders als bei Sehenden? Werden wir oftmals nicht erst durch die Behandlung Anderer zu "Behinderten" gemacht? Was können Blinde überhaupt "leisten" (inwieweit werden wir eingeschränkt)? Wie wird die Arbeit Sehgeschädigter bewertet und inwieweit sind oder werden wir in der Ausübung unserer Arbeit gehindert? Wie gehen Sehgeschädigte mit dieser Problematik und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierung um? Die wichtigste Frage jedoch wird von den wenigsten Autoren behandelt: Woher resultiert dieses Bild in der Gesellschaft, wie und wodurch entstehen die gängigen Vorurteile?

Methodisch möchte ich folgendermaßen vorgehen:

Im ersten, theoretischen Teil, möchte ich allgemeine Definitionen und statistische Daten liefern. In der Literatur und auch im täglichen Leben ist die Situation Sehgeschädigter kein Thema, das im besonderen Interesse der Gesellschaft steht. Es ist schwierig, umfassende und aktuelle Daten zur Lage Sehgeschädigter in der Bundesrepublik zu beschaffen. In der Regel muß man sich hier mit den Angaben begnügen, die durch die Blindenverbände selbst erhoben wurden. Diese sind jedoch meistens wenig detailliert. Die letzte mir bekannte umfassendere Erhebung stammt von Infratest aus dem Jahre 1980 (soviel zum allgemeinen Interesse).

Generell sind in der Fachliteratur nur wenige konkrete statistische Angaben und einige Definitionen über Blindheit an sich zu finden. Die Aussagen und Angaben weichen oftmals, wenn auch nur geringfügig, voneinander ab.

Interessant erscheint mir auch, auf die historische Entwicklung im Blindenwesen einzugehen. Mir selbst wirkt hier manches zum Status "des Blinden" doch sehr kurios, jedoch für die jeweilige Epoche charakteristisch. Denn nur so kann man die doch positive Entwicklung nachvollziehen und registrieren, daß sich - zwar schleppend, aber immerhin - diesbezüglich etwas getan hat.

Die Berufstätigkeit von Blinden und deren Status erläutere ich ebenfalls anhand von statistischen Daten und mündlich weitergegebenen Informationen. Nach wie vor gibt es "blindenuntypische" Berufe, die aufgrund eines speziellen Talents auch von Blinden ausgewählt und praktiziert werden. Hinweise auf deren Eignung für Sehgeschädigte sucht man jedoch z.B. in den Informationsschriften der Bundesanstalt für Arbeit vergeblich (etwa das Berufsbild der Erzieherin...).

Im zweiten Teil möchte ich auf theoretische und praktische Auswirkungen von Vorurteilen und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Stellung der Sehgeschädigten eingehen.

Vorurteile können in besonderem Maße durch die modernen audiovisuellen Massenmedien gebildet werden, da sie auf das menschliche Empfinden oftmals viel subtiler wirken als geschriebene Informationen. Durch ein Seminar "Zwischen Alltagsbewältigung und Wunderheilung - Blindheit im Film", welches ich im Oktober 1994 besuchte, habe ich Anregungen zu diesem doch sehr vernachlässigten und dabei so bedeutsamen Thema erhalten.

Denn gerade in den Medien, die in welcher Form auch immer, auf jeden Menschen einwirken und stets zugänglich sind, liegen die Ursachen für das "Bild des Blinden"; oftmals Muster, nach denen man die Person als Objekt, nicht aber als Individuum betrachtet und "behandelt". Diese negative Lobby ist bezeichnend auch für die doch relativ negative berufliche Integration von Sehgeschädigten.

Die Bereitschaft, einen blinden Mitarbeiter einzustellen, ist relativ gering. Da zahlen die Arbeitgeber doch lieber die ohnehin gering bemessene Ausgleichsabgabe... (vgl. Kapitel 1.5.2)

Im dritten Teil möchte ich auf rein praktische, alltägliche Erlebnisse von Betroffen eingehen. Die teilweise skurrilen Schilderungen erscheinen einem Außenstehenden oftmals unglaubwürdig, wüßte ich nicht selbst aus eigener Erfahrung, daß solche Vorkommnisse durchaus realistisch sind.

Die geschilderten Begebenheiten an sich sind zwar traurig, jedoch empfinde ich (wohl auch aus dem entfernteren Blickwinkel eines "Beobachters") einige Episoden als äußerst amüsant.

Deutlich zum Ausdruck bringen möchte ich in diesem Teil das permanente Anrennen gegen bestehende Normen und Vorurteile. Besonders letzteres erfordert von den Betroffenen ein hohes Maß an Energie, so daß Aufklärungsarbeit fast eine Leistung ist, die nur beiläufig erbracht werden kann, da sie sich ja stets an andere Adressaten richtet und sich damit ständig wiederholt. Der Alltag raubt gelegentlich die Kraft und den Ideenreichtum, um "mithalten" zu können.

Dieser Druck wird nicht von jedem Einzeln als so massiv empfunden. Oftmals haben Betroffene Mechanismen und Verhaltensweisen herausgebildet, um den Druck zu umgehen, sich den Erwartungen der Umwelt anzupassen oder unangenehmen Situationen auszuweichen. Sie vermeiden dann, um ein konkretes Beispiel aus meinem Umfeld zu nennen, das für Blinde schwierige Essen von Geflügel mit Messer und Gabel in der Öffentlichkeit und verzichten, trotz Appetits, lieber ganz darauf, anstatt es in die Hand zu nehmen.

1. Blindheit - ein Beispiel für die Abweichung von der Norm

Die Bedeutung von Werten als "gesellschaftliche Erwartungsäußerungen" und den daraus resultierenden Normen als ein Machtinstrument wird besonders dann deutlich, wenn die Normen verletzt werden. Das Übertreten bzw. Nichteinhalten von Normen wird sanktioniert. Bestimmte gesellschaftliche Instanzen übernehmen die Aufgabe, diese Verletzungen zu erkennen und zu ahnden.[i]

Die öffentliche Kontrolle erfolgt in erster Linie durch juristische, aber auch durch medizinische Instanzen. Die Gültigkeit von Normen wird dabei oft nicht in Frage gestellt. Zudem werden, sofern keine eigene Betroffenheit besteht, die Abweichungen von der Norm meist als nicht gesellschaftlich relevant betrachtet. Indem z.B. Krankheit oder Behinderung als individuelles Problem angesehen wird, werden dadurch auch gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen leicht verwischt.

Diese öffentliche Kontrolle und Sanktionierung kann durch private ergänzt oder ersetzt werden. Die private Kontrolle von blinden Kindern und Erwachsenen findet z.B. in der Familie, im Internat, im Beruf und in der Ehe statt. Und hier gelegentlich in Form von Gewalt verschiedener Arten, die wiederum in der Öffentlichkeit nicht als Überschreitung von Normen angesehen wird.

Krankheit wird als eine Form der Abweichung noch eher akzeptiert, zumal, wenn sie nur vorübergehend anhält, ein Ende abzusehen ist und der Betroffene nach einem bestimmten Zeitraum den von der Gesellschaft geforderten normativen Anforderungen wieder nachkommen kann. Welches Ausmaß nimmt dann eine Behinderung ein, bei der ersichtlich ist, daß bestimmte Normen nicht bzw. nicht in vollem Umfang geleistet, erfüllt und befriedigt werden können?

Im folgenden werde ich mich mit der Definition von "Blindheit" auseinandersetzen und den aktuellen Zustand beschreiben. Anschließend versuche ich die Entstehung und Wirkung von Vorurteilen zu beleuchten, um schließlich anhand praktischer Beispiele deren Auswirkungen aufzuzeigen.

1.1. Begriffsbestimmung Blindheit
Verschiedene Definitionen für "Blindheit" aus der Sicht unterschiedlicher Wissenschaften.

Im allgemeinen wird Blindheit mit dem Zustand des "Nicht-Sehen-Könnens" gleichgesetzt, und es scheint nicht notwendig zu sein, das näher zu definieren. Diskussionen bestehen darüber, wie weit und wie eng er gefaßt werden kann und aus welcher Sicht man ihn sieht: der pädagogischen, der medizinischen, der juristischen oder der sozialen. Im folgenden finden sich einige Beispiele der vielfältigen, in der Literatur vorkommenden Definitionen in chronologischer Reihenfolge:

Eine Definition aus 1961 unterscheidet zwischen drei Blindheitsgraden:

"...

1. Absolut blind ist, wer an beiden Augen nichts sieht oder wer Lichtschein erkennt, diesen jedoch falsch projiziert.
2. Praktisch blind ist, wer wegen seiner Sehbehinderung in fremder Umgebung auf Hilfe angewiesen ist.
Das ist vom Erkennen von Lichtschein bis zu einem Visus (Sehschärfe) am besseren Auge von 1/60 (1,7%) der Fall.
3. Sozial blind ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht aufgrund eines Berufes verdienen kann, dessen Arbeitsweise optischer Kontrolle bedarf, obgleich diese betroffenen Menschen z.T. selbständig Weg und Steg finden können. Dies ist der Fall, wenn der Visus am besseren Auge 1/60 (1,7%) bis 6/60 (10%) beträgt oder hochgradige Gesichtsfeldeinengung vorliegt"[ii]

"Vom Erziehungsstandpunkt ist eine Person dann blind, wenn ihre Sehfähigkeit so mangelhaft ist, daß sie nicht durch visuelle Methoden unterrichtet werden kann. Diese Kategorie umfaßt sowohl diejenigen, die hell-dunkel und grob Umrisse erkennen können, als auch die vollkommen Blinden."[iii]

Diese Definition umfaßt also Personen, deren fehlendes oder verringertes Sehvermögen eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht an einer Regelschule weitgehend ausschließt. Auch Kaden beschreibt später diese Form der Blindheit "im pädagogischen Sinne" (auch "Schulblindheit"), wenn ein Schüler "Geschriebenes oder Gedrucktes nicht lesen und dadurch am normalen Unterricht nicht erfolgreich teilnehmen kann."[iv]

Ziff. 122, Abs. 1 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973) besagt:

"Als blind sind auch die Beschädigten anzusehen, deren Sehschärfe so gering ist, daß sie sich in einer ihnen nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden können. Dies ist im allgemeinen dann der Fall, wenn auf dem besseren Auge nur eine Sehschärfe von nicht mehr als 1/50 besteht oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzuachten sind."[v]

In einem Gutachten der Blindenkommission des Deutschen Bildungsrates aus 1975 gelten Personen dann als blind, wenn

"...

1. sie ihr Weltbild nicht mehr optisch aufzubauen vermögen,
2. die Sehschärfe wirtschaftlich nicht mehr verwertbar ist,
3. die eigenen Vorstellungen nur bzw. überwiegend mittels Gehör und Tastsinn gebildet werden,
4. sie auf spezielle Hilfsmittel, besonders auf die Brailleschrift (Punktschrift) angewiesen sind und
5. sie nicht fähig sind, ohne fremde Hilfe besonders in fremder Umgebung sich zurechtzufinden."[vi]

"Als blind im strengen, wissenschaftlichen Sinne gilt, wer sein Sehvermögen völlig verloren hat, d.h. Hell und Dunkel nicht mehr unterscheiden kann (Amaurose/ Lichtlosigkeit)."[vii]

Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) definiert im § 24 Abs. 1 und 2, daß neben den völlig blinden ebenfalls als blind zu gelten haben, solche Personen

"...

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 (2%) beträgt und
2. bei den durch Nr. 1 nicht erfaßten, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind."[viii]

Neben den oben genannten Blindheitsformen werden noch sogenannte "Sonderformen" beschrieben. Es handelt sich dabei um Sehschädigungen, denen keine direkte Beeinträchtigung des Auges zugrundeliegt. Beispiele dafür sind

Die Seelenblindheit, deren Ursache in einer Störung des Okzipital-(=Hinter) Hirns begründet ist. Objekte können zwar noch gesehen, jedoch nicht mehr erkannt werden. Erst durch das Betasten von Gegenständen ist es den Betroffenen möglich, diese auch zu identifizieren. Sowie die hysterische Blindheit, die als Ausdruck eines seelischen Leidens auftritt und nicht aufgrund eines Sehschadens im schulmedizinischen Sinne.

Kritikansatz

Hier wird die Medizin zur Entscheidung aufgefordert, wo die sozialen Konsequenzen eines körperlichen Defektes, einer Sehschädigung, als Voraussetzung für gesellschaftliche Hilfen zu diagnostizieren wären. Es sollte nicht allein um die Festsetzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder sonstiger "Eingruppierungen" gehen, wie in den meisten der o.g. Beschreibungen.

Besonders anhand der Definition aus dem Bundessozialhilfegesetz wird deutlich, daß der Gesetzgeber sich mit einer unbestimmten, stereotypenhaften Umschreibung des Defektes begnügt. Er stellt also keine Sozialdiagnose der Zustände auf, die im sozialpolitischen Handeln angeregt und behandelt werden müßten. Die Medizin wird benutzt und als kompetent angesehen, den Personenkreis für jeweils unterschiedliche und abgestufte Sozialleistungen zu bestimmen.

Dies entspricht genau dem Bild der heute so nach Leistung strebenden und orientierten Gesellschaft. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Fixierung des Begriffes liegen in

1. einer exakten Grenzziehung im medizinischen Bereich.
2. unterschiedlicher Bedeutung des Sehens in verschiedenen Lebensphasen mit unterschiedlichen Folgen in einzelnen Lebensbereichen.
3. individuell unterschiedlichen Anforderungen an das Sehvermögen, abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie der vorliegenden wirtschaftlichen und beruflichen Situation.

1.2. Zeitpunkt des Eintritts der Sehschädigung

In der älteren Literatur finden sich unterschiedliche Angaben über die Einteilung Blinder in verschiedene Altersgruppen. Während Garbe[ix] (1965) nur "Geburtsblinde und Erblindete" unterteilt, teilte Scholtyssek[x] bereits 1948 Blinde ein in:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der neueren Literatur tendiert man nun, wie bereits Kaden (1978), eher zu der gleichen Einteilung, wie sie von Scholtyssek vorgenommen wurde, nur daß die Altersangaben für die einzelnen Gruppen herabgesetzt wurden:[xi]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die angegebenen Zahlen gelten natürlich nur als Anhaltspunkte:

Neben dem Zeitpunkt des Eintritts der Sehschädigung spielen andere Faktoren, die im direkten Zusammenhang mit der Blindheit stehen, für das Verhalten des Blinden eine große Rolle:[xii]

1. Dauer der Blindheit (vorübergehende (z.B. nach einen Unfall) oder bleibende)
2. Art der Erblindung (plötzlich oder allmählich)
3. Ausmaß der verbliebenen Sehfähigkeit
4. Grund der Blindheit
5. Zusammentreffen mit zusätzlichen Behinderungen

Diese Vielzahl von Faktoren macht deutlich, daß nur selten einheitliche Gruppen von Sehgeschädigten vorkommen, daß es "den Blinden" genauso wenig gibt, wie "den Deutschen" oder "den Ausländer". Deshalb ist es auch nach meiner Überzeugung so schwierig, Früh- Jugend- Spät- und Altersblinde zu definieren, d.h. ihnen bestimmte "Merkmalen" zuzuordnen. In diesem Zusammenhang ist natürlich festzustellen, daß zwischen Geburts- und Späterblindeten zweifellos ein wesentlicher Unterschied besteht, da der letztgenannte gesehen hat und sich eine "reale Vorstellung von der Welt des Lichtes"[xiii] machen kann.

"Sie haben außerdem den Vorteil, daß sie die zahllosen Bewegungsabläufe ihres Körpers unter der Kontrolle der Augen erlernen und auch die beim zwischenmenschlichen Kontakt übliche Gebärdensprache, also das Kopfschütteln, das Krausziehen der Stirn usw. beiläufig durch einfaches Nachahmen übernehmen konnten"[xiv]

Der Geburts- oder Früherblindete erlebt im Gegensatz zum Späterblindeten, dem das gesamte Umlernen und das Ausnutzen der verbliebenen Sinne erst einmal verständlicherweise sehr schwer fällt, das Blindwerden nicht oder nicht so bewußt und setzt sich hauptsächlich mit den besonderen Lebensbedingungen des Blindseins auseinander. Für den Altersblinden ist es zumeist schwierig, sich mit der Situation abzufinden, weil "neben der Erblindung oftmals noch andere Erkrankungen auftreten, und die Rehabilitation für viele zu kompliziert und zu anstrengend ist".[xv]

Nach einer Ermittlung der Blindenverbände können nur ca. 15% der Altersblinden Punktschrift lesen, obgleich sie die größte Gruppe von Blinden ausmachen.[xvi]

Häufigkeit von Erblindungsursachen

Kaden führt in seinem Buch "Sehbehindert - Blind" (1978) auf, daß weltweit ca. 17 Millionen Blinde leben, der größte Teil in Asien, Afrika und Südamerika. Die Zahl der blinden Menschen dürfte sich in den vergangenen 18 Jahren erhöht haben. Setzt man die Zunahme der Weltbevölkerung von rd. 4,3 Mrd. Menschen in 1978 auf rd. 5,8 Mrd. Menschen in 1996 zugrunde, so dürfte sich die Zahl der heute lebenden Blinden nach vorsichtiger Schätzung auf rd. 23 Mio. erhöht haben. Ggfs. ist sie aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung in den Entwicklungsländern etwas geringer anzusetzen.[xvii]

Für die Bundesrepublik Deutschland existieren neuere statistische Angaben, aus denen hervorgeht, daß die Anzahl der Blinden in 1994 rd. 155.000 Personen mit leicht steigender Tendenz beträgt. Nähere Einzelheiten sind im Kapitel 1.6 beschrieben.[xviii]

In den letzten hundert Jahren haben sich die Erblindungsursachen stark verändert. Führten früher in Europa Entzündungen von Horn- und Gefäßhaut, Verletzungen und Netzhautablösungen oftmals zur Erblindung, so sind in der heutigen Zeit eher Alters- und Gefäßerkrankungen, Mißbildungen, Netzhautdegeneration und vor allem Erkrankungen am grünen Star und diabetischer Retinopathie (Auswirkung der Zuckerkrankheit auf das Auge) zu nennen.[xix]

Blindheit von Geburt an ist ein seltenes Ereignis und tritt hauptsächlich dann auf, wenn schwere Augenmißbildungen vorliegen. Die Netzhauterkrankung der Frühgeborenen (retrolentale Fibroplasie), die ab dem zweiten Lebensmonat auftreten kann, aber in der Regel nur Frühgeburten unter 1.600g Geburtsgewicht betrifft, hat den ersten Platz der Erblindungsursachen im Kindesalter eingenommen.[xx]

Diese Erblindungsursache liegt oftmals darin, daß der frühgeborene Säugling im Inkubator eine falsche Sauerstoffbehandlung erhält.[xxi]

Erbkrankheiten können sowohl im Kindes- aber auch im Jugend- und Erwachsenenalter zur Erblindung führen. "30% aller älteren Blinden und 50% aller blinden Kinder unter sechs Jahren haben ihr Sehvermögen durch Erbkrankheiten (z.B. Buphtalmus = grüner Star, verbunden mit einer abnormen und auffälligen Größe des Auges oder Retinitis pigmentosa (Netzhauterkrankung) mit allmählichem Verlust des Sehvermögens und Gesichtsfeldeinengung) verloren"[xxii]

Unbedingt festgehalten werden muß, daß die Erblindungsursachen in Entwicklungsländern ganz andere sind als in den hochentwickelten, zivilisierten Ländern. So wird 20% der Weltblindheit durch die altersbedingte Linsentrübung (Cataracta senilis) verursacht, während in unserem Land nur 2-3% an dieser heilbaren Augenkrankheit leiden. Außerdem gibt es in verschiedenen Ländern bzw. Kontinenten z.B. in Afrika, Erblindungsursachen, die uns gänzlich fremd sind; die Flußblindheit (Onchozerkose) tritt dort verstärkt auf.[xxiii]

Eine Tabelle, die nach längeren Untersuchungen (von 1972 - 1986) von Makabe und Hellwig in der Universitätsklinik Frankfurt am Main 1988 entstand, soll nun noch abschließend zeigen, welche Augenkrankheiten zur Erblindung oder zumindest zur hochgradigen Sehbehinderung führen können:[xxiv]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.3. Auswirkungen von Blindheit auf den Körper und die Psyche

"Der Blinde ist in seiner Haltung, Verhaltens- und Handlungsweise nicht von sich aus blind - er wird es durch seine soziale Umwelt."[xxv]

Die Biologie unterteilt, um Übersicht über die Komplexität der Nervengewebe im menschlichen Körper zu bekommen, das Nervensystem, gemäß seiner Funktionen, in zwei Teile ein. Zum einen ist das Zentralnervensystem zu nennen, zu dem Gehirn und Rückenmark sowie die peripheren Nerven und Sinnesorgane gehören, und zum anderen das vegetative Nervensystem. Letzteres gliedert sich in einen sympathischen (fördert alle Organe, die der körperlichen und geistigen Aktivität dienen, "Aktivierungsteil"), aber auch u.a. die innere Sekretion und die Hormonregelung) und einen parasympathischen Teil (aktiviert die Teile, deren Tätigkeit die Reserven des Körpers regenerieren, "Erholungsteil"). Der Sympathicus ist bei intensiver Arbeit und in Alarmsituationen tätig, der Parasympathicus in der Schlaf und Traumphase.

Das vegetative Nervensystem ist, im Gegensatz zum Zentralnervensystem, zuständig für den Ablauf unbewußter Vorgänge und wird auch, weil alle Ausdrucksvorgänge Leistungen von diesem sind, "Lebensnerv" genannt. Das vegetative Nervensystem wird als Bindeglied zwischen Leib und Seele bezeichnet.[xxvi]

Bei Blinden können oftmals vegetative Funktionsstörungen auftreten. Dieses ist wie folgt zu erklären: Über das Auge nimmt der Mensch die Lichtstrahlen auf. Das Auge hat dabei nicht nur die Funktion für das Sehen, sondern es steuert auch durch die Aufnahme und Weiterleitung von Lichtreizen bestimmte Leistungen des vegetativen Systems. Die damit verbundene Beeinflussung des hormonellen Systems durch das Licht ist nach der Erblindung beeinträchtigt bzw. gehemmt.[xxvii] Ob und in welcher Intensität die vegetativen Funktionsstörungen auftreten, hängt u.a. vom Grad der Erblindung (vollblind oder sehbehindert) ab.

Durch Scholtyssek (1948) wurden die o.g. vegetativen Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf den Hormonhaushalt in den Kriegsblindenlazaretten zum ersten Mal in aller Deutlichkeit registriert. Die sehr plötzliche Erblindung rief Dysfunktionen der Soldaten im Blutgefäßsystem, bei der Schweißsekretion, bei der Magenfunktion etc. hervor.

Ebenso wurden rasche Ermüdbarkeit, vorzeitiges Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit und Schlafstörungen beobachtet.[xxviii]

Auch Kaden und spätere Autoren beschreiben diese insbesondere bei vollblinden Menschen (Vorliegen einer Amaurose) vorkommende Unterfunktionen der Zwischenhirn-Hypophysen-Tätigkeit und die damit verbundene Unterfunktion von Nebennierenrinde, Schilddrüse und Keimdrüsen.[xxix]

Neben dem Auge, so Scholtyssek (1948), fungiere auch die Haut als Aufnahmeorgan für das Licht. Dieses Vermögen der Haut könne teilweise die Funktion des Auges kompensieren, nämlich die Aufnahme und Weiterleitung von Lichtreizen an das vegetative System. Dies wurde von Scholtyssek durch folgende Beobachtung erkannt: Späterblindete, bei denen sich die o.g. Funktionsstörungen einstellten, wurden nach kurzer Zeit wieder davon befreit.[xxx]

Wie jetzt (1995) Wissenschaftler der Harvard-Universität (Charles A. Czeisler und Mitarbeiter)[xxxi] herausgefunden haben, liegt der Grund der Schlafstörungen, an denen die meisten Blinden leiden in der fehlenden Synchronisation der zirkadianen Rhythmik durch das Tageslicht.

Hierbei handelt es sich um die innere biologische Uhr. Sie sorgt dafür, daß wir abends müde werden und morgens auch bei abgedunkeltem Raum aufwachen. Diesen tageszeitlichen Schwankungen unterliegen noch mehr als einhundert verschiedene Körperfunktionen, wie z.B. Körpertemperatur und Hormonspiegel. Die innere Uhr geht selten genau. Der innere Tag ist keine 24 Stunden lang, sondern meistens etwas länger. Dies erklärt, warum es mehr Morgenmuffel als Frühaufsteher gibt. Die Differenz kann pro Tag bis zu einer Stunde betragen. Aus diesem Grund muß die innere Uhr ständig neu gestellt werden.

Bei Sehenden erfolgt, wie oben beschrieben, die fortlaufende Synchronisation mit Hilfe der Augen über das Tageslicht. Hier werden die aufgefangenen Photonen über die Netzhaut an das Gehirn weitergeleitet. "Dies geschieht an der Kreuzung der beiden Sehnerven, dem Chiasma opticum. Direkt oberhalb des Chiasma gibt es eine Ansammlung von Nervenzellen, den Nucleus suprachiasmaticus. Er ist der Ort des Tag-Nacht-Schrittmachers. Vom Nucleus suprachiasmaticus werden die vom Auge eintreffenden optischen Informationen zur Zirbeldrüse (Corpus pineale) weitergeleitet."[xxxii]

An dieser Stelle wird das Schlafhormon Melatonin produziert. Bei Tag, unter Lichteinfluß, ist die Bildung des Melatonins vermindert. "Die Untersuchungen von Czeisler u. Mitarbeiter ergaben jedoch, daß bei drei von elf Blinden Licht zu einem Absinken des Melatoninspiegels führt. Es handelte sich dabei gerade um jene Patienten, die nicht über Schlafstörungen klagten. Aufgrund neurologischer Untersuchungen ist auszuschließen, daß die Patienten über ein Restsehvermögen verfügten. Die einzige Erklärung ist deshalb, daß einige Blinde offenbar in der Lage sind, Licht unbewußt wahrzunehmen. Dies hat durchaus praktische Konsequenzen. Bisher wurden vielen Menschen, die als Kind erblindet waren, die Augäpfel entfernt."[xxxiii] Damit hat Czeisler Scholtysseks These der Lichtwahrnehmung über die Haut widerlegt.

Besonders bei Geburts- und Frühblinden kommt es neben den beschriebenen Störungen häufig zu hospitalistischen Verhaltensmustern (Blindismen). Diese äußern sich in stereotypen Bewegungen wie Schaukeln (Vor- und Zurückbewegen des Oberkörpers), Kopfwackeln, Augenbohren, Zappeln und Drehen der Hände bis hin zu Extremformen wie Hyperventilieren mit anschließenden Trancezuständen und starkem Speichelfluß. Letzteres tritt nach meinen Erfahrungen ausschließlich bei mehrfachbehinderten Blinden auf. Die Ursache liegt u.a. in der eingeschränkten Mobilität und dem damit verbundenen Bewegungsmangel, der durch die aufgeführten Bewegungen kompensiert wird. Zudem liegen psychische Ursachen durch eine große Fluktuation von Bezugspersonen vor, bedingt durch längere Krankenhaus- und Heimaufenthalte.[xxxiv][xxxv]

"Vor kurzem wurde in einer Diskussionsrunde geäußert, es werde im Pädagogenkreis durchaus die Ansicht vertreten, blinde Kinder und Jugendliche hätten ein "Recht auf Blindismen". Wenn es ihrem Bewegungsdrang entspreche, müsse man diese Anomalien den blinden Menschen doch zugestehen. Sehende hätten schließlich auch Verhaltensweisen, die nicht allseits akzeptiert werden."[xxxvi]

Solche Ansichten halte ich für gefährlich, da es sicherlich nicht der Integration förderlich ist, wenn ein Blinder z.B. in einem Bewerbungsgespräch seine Nervosität so ausdrückt, daß er vor dem Personalchef hin- und herwackelt oder in den Augen bohrt. Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, daß Blinde, die derartige Bewegungsstereotypen an den Tag legen, weitaus weniger ernst genommen als andere. Durch die fehlende optische Kontrolle und das fehlende Lernen durch Beobachtung können Geburtsblinde die Auswirkungen solcher Verhaltensweisen kaum selbst beurteilen. Es hat sich gezeigt, daß Späterblindete oder sportlich Aktive diese monotonen Bewegungen nicht praktizieren.

Ich würde mir wünschen, daß bereits Kinder, die blind geboren werden, frühzeitig mit geeigneten Spielmaterialien beschäftigt werden, um den durch die Behinderung vorhandenen Bewegungsmangel auszugleichen. Meine persönliche Berufserfahrung mit blinden Jugendlichen hat gezeigt, daß es später sehr schwierig und für beide Seiten frustrierend ist, dieses Verhalten "abzustellen". Ein Vorgehen "mit der Brechstange" halte ich für sinnlos. Wenn dem Betroffene die Einsicht und der Wille fehlt, ist es sinnlos, daran zu arbeiten. Ein möglicher Lösungsansatz wäre, diese Verhaltensweisen auf bestimmte (private) Umgebungen zu beschränken.

Neben den körperlichen Auswirkungen kommt besonders bei Späterblindeten durch die Abgeschnittenheit von dem optischen Bereich meist eine psychische Beeinträchtigung hinzu. Durch die plötzlich veränderten Lebensumstände, die Hilflosigkeit, Desorientierung und Abhängigkeit treten oft starke Depressionen auf. Doch auch die ständigen Anforderungen der Gesellschaft, bei denen sich ein Blinder stets gegenüber Sehenden "beweisen" muß, führen oftmals zu einem mangelnden Selbstwertgefühl. Dazu paßt die Aussage eines Betroffenen: "Glauben Sie mir, daß ich nichts lieber täte als sozusagen einmal in Ruhe mit Blinden blind sein zu dürfen, anstatt ständig Zirkuskunststücke für Sehende zu vollbringen."[xxxvii]

Dieses Zitat ist meiner Meinung nach typisch für einen Späterblindeten, der aus eigenem Anspruch heraus den alltäglichen Anforderungen in besonderem Maße gewachsen sein will. Doch dieses ist für niemanden möglich und auch gar nicht notwendig. Schon Plato sagte: "Ich kenne keinen sicheren Weg zum Erfolg, nur einen zum sicheren Mißerfolg - es jedem recht machen zu wollen."

In einem Vortrag "über das Selbstwertgefühl eines blinden Menschen" zitiert der blinde Pfarrer H. Zedlitz Christian Morgenstern: "Sieh nicht, was andre tun, der andren sind zu viel. Du kommst nur in ein Spiel, das nimmermehr wird ruh'n."[xxxviii]

Diese Zeilen nutzt er als Einleitung für seine Schlußfolgerungen, die letztlich besagen, daß das Selbstwertgefühl nicht in eine Abhängigkeit geraten darf von dem, was anderen aufgrund ihrer Augen möglich ist. "Rechtfertigungszwänge, denen Blinde oft unterliegen, braucht es für keinen Menschen zu geben. Und wenn tatsächlich ein Mensch nach Fertigkeiten wie z.B. Auto zu fahren beurteilt wird, so sagt dies über den, der so urteilt und so schnell damit fertig ist, weit mehr aus als über den Beurteilten selbst. Es ist wichtig, gegen die Versachlichung des Menschen, gegen Schubladendenken und Vorurteile vorzugehen. [...] Am Sehen wird heute fast alles gemessen, auch das, was sich der Meßbarkeit eigentlich entzieht."[xxxix]

[...]


[i] vgl. Schilling, Johannes: "Didaktik/Methodik der Sozialpädagogik", Luchterhand 1993, S.128

[ii] Goldmann, Dr. H. Bern / Rintelen, Dr. F., Basel 1961, zit. nach Harmsen, Hans (HRSG.): "Sozialhygienische Forschungen" Band 11. Hamburg, Bielefeld 1962, S. 8ff.

[iii] Lucas, Kristel: "Silke, ein behindertes Kind", München 1979, S.9

[iv] Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S.16

[v] "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" (Ausgabe 1973), Ziff. 122, Abs. 1

[vi] Hudelmayer, Dieter: "Die Erziehung Blinder". In: Deutscher Bildungsrat, "Gutachten und Studien der Blindenkommission" Band 52, Stuttgart, 1975

[vii] Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S. 10

[viii] Bundessozialhilfegesetz Ausgabe 1992, §24 Abs.1 und 2

[ix] vgl. Garbe, Herbert: "Die Rehabilitation von Blinden und hochgradig Sehbehinderten", München, Basel, 1965, S.12

[x] vgl. Scholtyssek, H: "Späterblindete", Enke, Stuttgart, 1948, S.3

[xi] vgl. Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S.2

[xii] ebenda, S. 2

[xiii] Lüthi, Rose-Marie: "Die Bedeutung des Gehörs für den Blinden", Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, 1976, S. 33

[xiv] Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S. 2f

[xv] Lüthi , Rose-Marie: "Die Bedeutung des Gehörs für den Blinden", Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, 1976, S. 30f

[xvi] vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V.: "Kommunikation zwischen Partnern: Blinde - Sehbehinderte - Taube" Band 218, 5. Auflage, Düsseldorf, 1990, S.144

[xvii] Statistisches Bundesamt / Vereinte Nationen, T-Online-Recherche

[xviii] Deutscher Blindenverband: "Anerkennungsbescheide der Versorgungsämter", telefon. Auskunft des DBV, Bonn, Bismarckallee 53

[xix] vgl. Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S 22ff.

[xx] Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V.: "Kommunikation zwischen Partnern: Blinde - Sehbehinderte - Taube" Band 218, 5. Auflage, Düsseldorf, 1990, S.27

[xxi] vgl. Walter, Irmgard: "Heimwelten im Vergleich - Blinde und sehbehinderte Jugendliche zwischen Internat und Elternhaus", Diplomarbeit im Fachbereich Sozialarbeit der FH Frankfurt/Main, 1991, S. 15

[xxii] Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V.: "Kommunikation zwischen Partnern: Blinde - Sehbehinderte - Taube" Band 218, 5. Auflage, Düsseldorf, 1990, S. 70

[xxiii] ebenda, S. 76ff.

[xxiv] ebenda, S. 77

[xxv] Krähenbühl, Peter: "Der Blinde in gemischten sozialen Situationen", 1983, Punktschriftausgabe S.60

[xxvi] vgl. Krumwiede, Dieter / Miram, Wolfgang: "Informationsverarbeitung", 1989, Hannover, S. 82ff.

[xxvii] vgl. Harmsen, Hans: "Sozialhygienische Forschungen" Band 11, Hamburg, Bielefeld, 1962, S. 15ff.

[xxviii] vgl. Scholtyssek, H: "Späterblindete", Enke, Stuttgart, 1948, S. 10ff.

[xxix] vgl. Kaden, Reinhard: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag Stuttgart, 1978, S.5

[xxx] vgl. Scholtyssek, H: "Späterblindete", Enke, Stuttgart, 1948, S. 27ff.

[xxxi] Czeisler, Charles A et al.: "Suppression of Melatonin secretion in some blind patients by exposure to bright light." New England Yournal of Medicine - Band 332, 1995 S.6-11 in Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS): "Marburger Beiträge" 6/95 S.719, Punktschriftausgabe

[xxxii] ebenda, S.719f, Punktschriftausgabe

[xxxiii] ebenda, S.721, Punktschriftausgabe

[xxxiv] vgl. Brambring, Michael / Tröster, Heinrich: "Zur Stabilität von Bewegungsstereotypen bei blinden Klein- und Vorschulkindern." Sonderdruck Nr. 29, SFB 227 Bielefeld, 1990

[xxxv] vgl. Hoshmand, Lisa. T.: "Blindisms: Some Observations and Propositions." Education of Visually Handicapped 1975 S.56-60

[xxxvi] Deutscher Blindenverband e.V., Zeitschrift "Die Gegenwart", Ausgabe 7-8/95, Kassettenausgabe

[xxxvii] Ein Späterblindeter in "Die Blindenselbsthilfe" 9/76 in Kaden: "Sehbehindert - Blind", Thieme-Verlag, Stuttgart, 1978, Vorwort

[xxxviii] Zedlitz, H., Vortrag "Das Selbstwertgefühl eines Blinden Menschen", gehalten am 17.3.95 im Akademischen Arbeitskreis des EBS Deutschland in Bad Orb, in: DBV: "Marburger Beiträge" 6/95, S. 699 Punktschriftausgabe

[xxxix] ebenda, S. 700 Punktschriftausgabe

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1996
ISBN (eBook)
9783832465452
ISBN (Paperback)
9783838665450
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Fulda – Sozialwesen
Note
1,0
Schlagworte
blind sehbehindert medien ausbildung film
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Titel: Die Situation von Sehgeschädigten in der Gesellschaft aus sozialpädagogischer Sicht
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