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Geschwisterkonstellationen bei Adoptiv- und Pflegekindern

©2000 Diplomarbeit 105 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Ob ein Mensch mit Geschwistern aufwächst oder als Einzelkind, welche Position er in der Geschwisterreihe und welches Geschlecht er hat, ist für sein ganzes Leben von Bedeutung. Geschwister sind ein Teil der Welt, die zum Leben dazugehören. Mit welcher Situation das Kind in der Familie konfrontiert wird, bildet die Ausgangsbasis für sein späteres Leben und beeinflusst sein Denken über sich und die Welt. Die Geschwistersituation ist eng mit kulturellen Wertvorstellungen, Geschlechterrollen und der Paarsituation der Eltern verknüpft. Sie beeinflusst das soziale Verhalten untereinander und das Verhalten innerhalb der Gemeinschaft.
Geschwister tragen dazu bei zu lernen, auf andere zu reagieren, sich mit anderen anzufreunden, Kontakte durch Kommunikation herzustellen, für andere Sympathie oder Antipathie zu empfinden, sich in die Gemeinschaft einzugliedern. Kann im Laufe des Zusammenlebens die Rivalität und Eifersucht begrenzt werden und entwickelt sich zunehmend eine Geschwisterliebe, hat dieses positive Auswirkungen auf das Verhalten mit der Umwelt.
Die zahlreichen Studien, die es über die Auswirkungen der Geschwisterkonstellation gibt, haben alle eine gemeinsame Erkenntnis: Das erste Kind, das die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern hatte, bekommt Probleme, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt. Das erste ist stärker an den Erwachsenen orientiert, ein späteres Kind hat eine vielfältigere Sozialisation. Es kennt es nicht anders, als mit Erwachsenen und Kindern zu leben und wächst mit zwei Normen auf, denen der Erwachsenen und denen der Geschwister.
Ältere Kinder haben eine schwere Position, ab sofort müssen sie die Liebe und Zuneigung der Eltern teilen, die ihnen bisher alleine galt. Die Eltern erwarten vom Älteren mehr Verantwortung und Vernunft, was bei einem geringen Altersunterschied unrealistisch ist.
Wie ich schon erwähnte, gibt es viele Studien über Geschwisterkonstellationen, die sich auf leibliche Kinder beziehen, Geschwisterbeziehungen von Adoptiv- und Pflegekindern in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sind jedoch wenig erforscht. Nahezu alle Studien, die sich mit geschwisterbezogenen Fragen beschäftigen, werden im Rahmen klinisch-psychologischer Projekte realisiert. Im Mittelpunkt stehen Fragen, die die Platzierung oder Identitätsbildung von Adoptiv- und Pflegekindern betreffen, die von verschiedenen Autoren sehr widersprüchlich beantwortet werden.
Zu den wenigen Untersuchungen mit einer nicht […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6442
Kuhlbrodt, Ulrike: Geschwisterkonstellationen bei Adoptiv- und Pflegekindern
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Ludwigshafen, Fachhochschule, Diplomarbeit, 2000
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

I-
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS I
1.
EINFÜHRUNG 1
2.
LEITGEDANKEN DES DARWINISMUS/ EVOLUTIONÄRE KONFLIKTE
7
2.1.
Natürliche Selektion
7
2.2. Divergenzprinzip 8
2.3. Kindesmord 8
2.4. Geschwisterstrategien 10
3.
TEMPERAMENT 11
3.1. Schüchternheit 11
3.2. Introvertiertheit/Extravertiertheit 12
4.
RECHTLICHE SITUATION
13
5.
KONSTELLATION: LEIBLICHES KIND - ADOPTIVKIND
14
5.1. Zusammenhang Alter und Integration
14
5.2.
Bedeutung der Nische innerhalb der Familie
15
5.2.1.
Familiäre Nische
15
5.3. Geschwisterrollen
17
5.3.1. Unterschiedliche Persönlichkeiten (Der Ritter - der Narr)
17
5.3.2. Das
Erstgeborene
18
5.3.3.
Das einzige Kind
20
5.3.4. Das
zweite
Kind
21
5.3.5.
Das jüngste Kind
22

II-
6.
STUDIEN ÜBER GESCHWISTERBEZIEHUNGEN VON ADOPTIERTEN 24
6.1.
Geschwisterbindungen 26
6.1.1.
Bindung der Jüngeren an die Älteren
27
6.2. Geschwisterverhalten - allgemein
28
6.3.
Geschwisterverhalten - geschlechtsbedingt
29
6.3.1.
Ältere Schwester - jüngerer Bruder
30
6.3.2.
Älterer Bruder ­ jüngere Schwester
31
6.3.3.
Gleichgeschlechtliche Geschwister
31
6.4.
Geschwisterstreitigkeiten 33
I.A1. KONSTELLATION: LEIBLICHES KIND - PFLEGEKIND
36
1.1.
Überlegungen vor Inpflegenahme
36
1.2. Motive für Inpflegenahme
36
1.3.
Strukturprobleme von Pflegefamilien
36
2.
TRAUMATISCHE ERFAHRUNGEN
38
2.1. Deprivation 38
2.2. Hospitalismus 39
3. BINDUNGEN DES KINDES - BIOLOGISCHE UND PSYCHOLOGISCHE
ELTERNSCHAFT 40
3.1. Auswirkungen bei Trennung in früher Kindheit
42
3.2. Beziehungsaufbau zu den Pflegeeltern
43
3.3. Voraussetzungen für eine gelungene Integration
44
4. ZUSAMMENLEBEN IN DER PFLEGEFAMILIE
47
4.1. Geschwistersituation in der Pflegefamilie
47
4.1.1.
Kinder untereinander
48
4.1.2.
Eigenes Kind, fremdes Kind
49
5.
BEISPIEL EINER GESCHWISTERBEZIEHUNG - PROBLEME UND
LÖSUNGEN 51
5.1. Neues Familienmitglied - Beziehungsveränderungen
51

III-
5.2.
Spannungen zwischen Florian und Corinna
52
5.2.1.
Ursachen in Corinnas Leben
52
5.2.2.
Ursachen in Florians Leben
53
5.2.3.
Ursachen im elterlichen Verhalten
53
5.2.4.
Ursachen in der Paarbeziehung
53
5.3. Wege aus der Krise
54
5.3.1.
Rückbesinnung auf die Paarbeziehung
55
5.3.2.
Leben lernen mit einem "Wechselbalg"
55
6. WIE ELTERN EINE GUTE GESCHWISTERBEZIEHUNG VERHINDERN 57
6.1. Fragwürdigkeit der Gleichbehandlung
57
6.2. Favoritentum 58
6.2.1.
Ursachen des Favoritentums
58
6.3.
Der Sündenbock
59
6.3.1.
Wer erhält die Sündenbockrolle?
60
II.1. EINE PFLEGEFAMILIE
63
1.1. Auf der Suche
63
1.2.
Die Kinder
64
1.2.1.
Markus Geschichte
64
1.2.2.
Ginas Geschichte
66
2. GESCHWISTERBEZIEHUNGEN 68
2.1. Die Erstgeborene
68
2.2.
Geschwisterverhalten und Geschlecht
68
2.2.1. Die
Mädchen
68
2.2.2.
Die Jungen
69
2.2.3.
Geschwisterstrategien/Streit
69
2.3.
Integration 70
2.4. Geschwisterrollen und Temperament
71
2.5.
Außenseiterrollen 71
2.5.1.
Das schwarze Schaf
71
2.5.2. Favoritenrolle
73
2.6.
Erziehung unter den Geschwistern
73
2.7.
Verhalten der Großeltern
74

IV-
2.8. Mein Eindruck
74
2.
EINFLUß MEINER JÜNGEREN KUSINE AUF MEINE
PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG 77
2.1. Kleinkindalter 77
2.2. Grundschulalter/Schulalter 79
2.3. Pubertät 82
2.4. Erwachsenenalter 83
3.
DIE BEZIEHUNG ZU MEINER HALBSCHWESTER
85
III.
REFLEXION 87
L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S
97

1
1. Einführung
Ob ein Mensch mit Geschwistern aufwächst oder als Einzelkind, welche
Position er in der Geschwisterreihe und welches Geschlecht er hat, ist für
sein ganzes Leben von Bedeutung. Geschwister sind ein Teil der Welt, die
zum Leben dazugehören. Mit welcher Situation das Kind in der Familie
konfrontiert wird, bildet die Ausgangsbasis für sein späteres Leben und be-
einflusst sein Denken über sich und die Welt. Die Geschwistersituation ist
eng mit kulturellen Wertvorstellungen, Geschlechterrollen und der Paarsi-
tuation der Eltern verknüpft. Sie beeinflusst das soziale Verhalten unterei-
nander und das Verhalten innerhalb der Gemeinschaft.
Geschwister tragen dazu bei zu lernen, auf andere zu reagieren, sich mit an-
deren anzufreunden, Kontakte durch Kommunikation herzustellen, für ande-
re Sympathie oder Antipathie zu empfinden, sich in die Gemeinschaft ein-
zugliedern. Kann im Laufe des Zusammenlebens die Rivalität und Eifer-
sucht begrenzt werden und entwickelt sich zunehmend eine Geschwisterlie-
be, hat dieses positive Auswirkungen auf das Verhalten mit der Umwelt.
Die zahlreichen Studien, die es über die Auswirkungen der Geschwister-
konstellation gibt, haben alle eine gemeinsame Erkenntnis: Das erste Kind,
das die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern hatte, bekommt Probleme,
wenn ein zweites Kind in die Familie kommt. Das erste ist stärker an den
Erwachsenen orientiert, ein späteres Kind hat eine vielfältigere Sozialisati-
on. Es kennt es nicht anders, als mit Erwachsenen und Kindern zu leben und
wächst mit zwei Normen auf, denen der Erwachsenen und denen der Ge-
schwister.
Ältere Kinder haben eine schwere Position, ab sofort müssen sie die Liebe
und Zuneigung der Eltern teilen, die ihnen bisher alleine galt. Die Eltern
erwarten vom Älteren mehr Verantwortung und Vernunft, was bei einem
geringen Altersunterschied unrealistisch ist.
Wie ich schon erwähnte, gibt es viele Studien über Geschwisterkonstellatio-
nen, die sich auf leibliche Kinder beziehen, Geschwisterbeziehungen von

2
Adoptiv- und Pflegekindern in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen
sind jedoch wenig erforscht. Nahezu alle Studien, die sich mit geschwister-
bezogenen Fragen beschäftigen, werden im Rahmen klinisch-psychologi-
scher Projekte realisiert. Im Mittelpunkt stehen Fragen, die die Platzierung
oder Identitätsbildung von Adoptiv- und Pflegekindern betreffen, die von
verschiedenen Autoren sehr widersprüchlich beantwortet werden.
Zu den wenigen Untersuchungen mit einer nicht klinischen Gruppe zählt die
"Delaware Family Study", die u.a. der Fragestellung nachging, ob adoptierte
und nicht adoptierte Geschwister genauso eng aneinander gebunden sind
wie biologische, und ob es vermehrte Probleme zwischen adoptierten und
nicht adoptierten Geschwistern gibt.
Auf die Ergebnisse der Studie werde ich noch ausführlich eingehen.
Weshalb das Gebiet der Geschwisterbeziehungen bei Adoptiv- und Pflege-
kindern so wenig erforscht ist, liegt meiner Meinung daran, dass Praktiker
wie Sozialarbeiter, Pflegeeltern und Heimerzieher die Problematik der Ge-
schwisterbeziehungen nicht kritisch betrachten, weil sie diese idealisieren
und nicht infrage stellen. Sie betonen die positiven Seiten der Beziehung,
die sich in Nähe, Vertrauen und Akzeptanz ausdrückt, berücksichtigen aber
nicht die negativen Aspekte wie Neid, Eifersucht, Rivalität und Aggressivi-
tät, die in allen Geschwisterbeziehungen eine Rolle spielen.
Gerade bei der Aufnahme eines älteren Kindes, das schon die ersten 3 Jahre
seines Lebens in der Herkunftsfamilie oder im Heim verbracht hat, in eine
Familie, in dem bereits ein leibliches Kind existiert, kann zu erheblichen
Problemen führen. Das gesamte bisherige Familiensystem ändert sich, wenn
ein neues Mitglied mit Sonderstatus in die Familie kommt, die Geschwister-
reihe verändert sich, unterschiedliche Traditionen, Regeln und Gewohnhei-
ten stoßen aufeinander.
Das leibliche Kind muss einen Teil seines Besitzes aufgeben, erfährt eine
erhöhte Unsicherheit durch Änderungen im Beziehungsgefüge und in all-
täglichen Gewohnheiten. Es ist unsicher, ob die Beziehung zu den Eltern
stabil bleibt trotz Konkurrenten.
Das "neue" Kind hat zu Beginn das Problem, sich in die Familie zu integrie-
ren. Verhält es sich zunächst angepasst und fügt sich scheinbar in die Fami-

3
lie ein, so ist dies eine vorübergehende Phase. Im Laufe der Zeit testet es die
Grenzen der Pflegeeltern, ob sie es auch dann akzeptieren, wenn es wütend,
aggressiv ist und sich unmöglich benimmt. Belastend ist die Anpassungs-
phase für alle Familienmitglieder, da sich eine verstärkte Eifersucht und Ri-
valität zwischen den Kindern nicht vermeiden lässt. Kommt das Adoptiv-
kind/Pflegekind als Säugling in die Familie, ergeben sich die üblichen Prob-
leme, die auch vorhanden wären, wenn das Familienkind noch ein leibli-
ches Geschwisterkind bekommen würde.
Das Familienkind hat ambivalente Gefühle gegenüber dem "neuen" Kind;
einerseits freut es sich, ein Geschwister zu bekommen und nicht mehr allei-
ne zu sein, andererseits ist es eifersüchtig, da es sich zurückgesetzt fühlt. Al-
les dreht sich um den Säugling, der auch vermehrte Aufmerksamkeit und
Zuwendung braucht, was für das leibliche Kind, je nach Alter, schwer zu
verstehen ist.
In den meisten Adoptiv- bzw. Pflegefamilien bilden die Kinder eine Reihe
wie in jeder anderen Familie auch, es gibt ein ältestes Kind und ein oder
mehrere jüngere Geschwister. Wird das Kind als Säugling adoptiert, nimmt
es den Platz ein, den auch ein leibliches Kind einnehmen würde.
Die Geburtenfolge legt den Platz innerhalb der Familie fest, biologische und
funktionale treffen bei leiblichen Kindern zusammen. Mit der Aufnahme ei-
nes Adoptiv- bzw. Pflegekindes ändert sich die funktionale Geburtenfolge,
da in diesem Fall die biologische entfällt.
Die Geburtenfolge bestimmt die Geschwisterkonstellation, d.h. die Stellung
in der Geschwisterreihe. Der Begriff "Stellung in der Geschwisterreihe" fin-
det sich erstmals bei Alfred Adler. Durch die Geschwisterkonstellation ist
die psychologische Situation jedes Kindes individuell und unterscheidet sich
von der der anderen Kinder. Nicht die Zahl, die das Kind in der Geburten-
folge trägt, beeinflusst den Charakter, sondern die Situation, die es in der
Familie erfährt, und die Art, in der es diese Situation deutet. So wird ver-
ständlich, dass Kinder derselben Familie nicht von derselben Umgebung
geprägt werden.
Adler maß der Geburtenfolge eine zentrale Bedeutung bei; denn sie wirkt
sich auf die Persönlichkeit des Kindes aus, beeinflusst das Temperament, ob

4
z.B. ein Kind schüchtern, introvertiert oder extravertiert ist, ob eine gute o-
der schlechte Geschwisterbeziehung entsteht, sie beeinflusst das Verhalten
der Eltern, wie sie ihre Kinder behandeln, ob z.B. eines der Kinder in die
Sündenbockrolle gedrängt wird oder eines der Kinder von den Eltern favori-
siert wird, welche familiäre Nische der Einzelne besetzt. Bei einem fremd-
platzierten Kind ist die Geschwisterkonstellation entscheidend für das Ge-
bzw. Misslingen bei der Integration und Entwicklung des Kindes.
Obwohl 85 % der Pflegefamilien außer dem Pflegekind noch ein oder meh-
rere leibliche Kinder oder Adoptivkinder haben, beschränke ich mich bei
meinen Ausführungen im ersten Teil auf die Konstellation von zwei Kin-
dern: In der Familie ist ein leibliches Kind vorhanden, ein Adoptiv- bzw.
Pflegekind, das 3-4 Jahre jünger als das vorhandene Kind ist, wird in die
Familie aufgenommen.
Da es gravierende rechtliche Unterschiede zwischen Adoptiv- und Pflege-
kindern gibt - ein adoptiertes Kind wird zum leiblichen Kind der Adoptiv-
familie, ein Pflegekind dagegen bleibt Kind zweier Familien, der Herkunfts-
familie und der Pflegefamilie- werde ich getrennt auf die Geschwisterbezie-
hungen von Adoptierten und Pflegekindern eingehen. Es gibt zwar keine
empirischen Studien, die sich mit der Frage befassen, welche Arten von Ge-
schwisterbeziehungen sich zwischen Adoptiv- bzw. Pflegekind und leibli-
chen Kindern entwickeln. Mehrere Autoren sind sich aber einig, dass nach
innerfamilialer Bewältigungen typischer Konflikte sich zwischen den Kin-
dern "normale" Beziehungen ausbilden, wie sie auch in Kernfamilien vor-
handen sind.
Ein Kind, das im Säuglingsalter adoptiert wird, hat noch keine Integrations-
probleme, wie ein älteres Kind, es passt sich der häuslichen Umgebung an
und wird ein Mitglied der Familie. Für Kinder, die Geschwister haben, ist es
unbedeutend, ob sie biologisch miteinander verwandt sind oder nicht. Tatsa-
che ist, dass sie in ein und derselben Familie aufwachsen und sich miteinan-
der auseinandersetzen müssen - und das täglich. Inwieweit "normale" Ge-
schwisterbeziehungen entstehen können, hängt auch vom Verhalten der El-

5
tern ab. Sie dürften eher das Problem mit dem Status "Adoptivkind" haben
als die Geschwister, denn sie können nicht ignorieren, dass das Kind von
ihnen adoptiert wurde.
Wie äußert sich eine "normale" Geschwisterbeziehung? Sie äußert sich in
Machtkämpfen, Streitereien, Eifersucht, Rivalität, Hass, Solidarität, Für-
sorglichkeit, Zusammengehörigkeit, Liebe, Verständnis. Eine Geschwister-
bindung besteht ein Leben lang, eine gemeinsame Geschichte prägt die Be-
ziehung.
Da immer wieder bestätigt wird, dass sich normale Geschwisterbeziehungen
in Adoptiv- und Pflegefamilien entwickeln, habe ich Literatur über biologi-
sche Geschwister verwendet und auf die Konstellation leibliches Kind-
Adoptivkind übertragen. Wenn ich in meinen Ausführungen von Geschwis-
tern spreche, meine ich die Beziehung zwischen leiblichem Kind und Adop-
tivkind.
Kommt ein älteres Kind als Pflegekind in eine Familie, ergeben sich andere
Probleme als bei Aufnahme eines Säuglings. Psychologische Konzepte ge-
hen davon aus, dass eine Aufnahme in Vollzeitpflege stressvolle Ereignisse
darstellen, so dass es Anpassungsprobleme für alle Beteiligten gibt. Es
kommt zu mehreren Komplikationen, wenn ältere Kinder aufgenommen
werden, da sie von Bezugspersonen getrennt werden und neue Beziehungen
erst aufbauen müssen. Die Verlusterfahrungen führen dazu, dass diese Kin-
der vermehrt unangepasstes Verhalten und ein geringes Selbstwertgefühl
zeigen.
Im zweiten Teil, dem praktischen Teil, schildere ich die Ergebnisse eines In-
terviews mit einer Pflegefamilie, die 5 Kinder hat (3 leibliche Kinder und 2
Pflegekinder).
Als Sonderfall gebe ich meine Erfahrungen als adoptiertes Einzelkind wie-
der. Das ist nichts Besonderes, das Besondere daran ist, dass ich mit zwei
Kusinen im gleichen Haus aufwuchs und meine Persönlichkeitsentwicklung
besonders durch die jüngere Kusine stark beeinflusst wurde.

6
Kurz möchte ich auch auf die Beziehung zu meiner Halbschwester einge-
hen, die ich vor 2 Jahren kennen lernte.
Im dritten Teil fasse ich die Erkenntnisse zusammen, die ich durch die Be-
schäftigung mit dem Thema gewonnen habe.
Befasst man sich mit Geschwisterbeziehungen - unerheblich dabei ist es, ob
leibliche oder nichtleibliche Kinder zusammen in einer Familie aufwachsen
- kommt man nicht darum herum, auf die Evolutionstheorie von Charles
Darwin einzugehen.
Er geht davon aus, dass Geschwisterrivalität und die Unterscheidung der
Geschwister in der Evolution begründet sind. Evolutionstheoretisch gese-
hen, ist das Verhalten darauf gerichtet, den Kampf ums Überleben zu ge-
winnen.

7
2. Leitgedanken des Darwinismus/ Evolutio-
näre Konflikte
2.1. Natürliche
Selektion
Durch die Einsicht, dass Organismen in ständiger Auseinandersetzung mit
der Umwelt stehen, zu der Räuber und krankhafte Gene zählen, gelangte
Darwin zur Theorie der natürlichen Selektion. Beim Kampf ums Überleben
bleiben vorteilhafte Variationen eher erhalten, unvorteilhafte werden ver-
nichtet, wodurch neue Arten entstehen. Eigenschaften, die Individuen Vor-
teile beim Überlebenskampf bieten, geben diese an ihre Nachkommen wei-
ter. Durch die natürliche Selektion werden Arten an Gefahren, die in der
Umwelt lauern, angepasst. Sie richtet sich auf das Wohl des Individuums
und ist selbst bezogen.
W. Hamilton ging der Frage nach, weshalb Lebewesen trotzdem miteinan-
der kooperieren und kam zur Theorie der "Verwandtenselektion". Kopien
der Gene finden sich bei den nächsten Verwandten. Die Verwandtschaft
profitiert von altruistischen Handlungen, die genetisch kodiert sind. Geht
man davon aus, dass Geschwister die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben,
kann der Altruismus allerdings nicht grenzenlos sein.
So ist es verständlich, dass Geschwister die Aufteilung gemeinsamer Res-
sourcen sehr unterschiedlich beurteilen, und es als gerecht empfinden, statt
der Hälfte nur ein Drittel abzugeben. Eltern dagegen verstehen nicht, wes-
halb sie die Mittel so ungerecht verteilen und jeder mehr für sich selbst als
für den anderen beansprucht.

8
2.2. Divergenzprinzip
Gemäß dem Divergenzprinzip nach Darwin ist eine Koexistenz von Lebe-
wesen nur dann möglich, wenn eine evolutionäre Diversifikation besteht.
Eine Ausprägung von Unterschieden ist nützlich, wenn um knappe Ressour-
cen konkurriert wird. Darwin macht dieses Prinzip anhand der Darwinfin-
ken auf den Galapagos Inseln deutlich: Die Mitglieder der Unterfamilie be-
setzen verschiedene ökologische Nischen und können deshalb zusammenle-
ben. Die Fressgewohnheiten einiger Darwinfinken sind die gleichen, wes-
halb sie gemäß dem Konkurrenzausschlussprinzip nie auf derselben Insel
vorkommen. Zwei Arten, deren Anforderungen an die Umwelt identisch
sind, können niemals im gleichen Lebensraum koexistieren. Leben ähnliche
Arten nebeneinander, dann existieren Unterschiede in der Schnabelgröße, so
dass die Konkurrenz um dieselbe Nahrung abnimmt.
2.3. Kindesmord
Anpassungsvorteile hat ein Lebewesen unter Umständen, wenn es seine
nächsten Verwandten tötet. Kindesmord ist bei Insekten, Fischen, Vögeln
und Säugetieren weit verbreitet. Die Jungen der Sandhaie fressen sich in den
Eileitern des Muttertieres auf, bis ein einziges wohlgenährtes Junges übrig
bleibt. Am perfektesten inszeniert der Kuckuck den Geschwistermord, in-
dem das Weibchen in andere Vogelnester ein Ei pro Nest legt. Nachdem er
ausgeschlüpft ist, beginnt er instinktiv alle Eier und Küken aus dem Nest zu
stoßen.
Andere Vogelarten haben Gegenstrategien entwickelt, um den Geschwis-
termord zu verhindern: Das Kanarienvogelweibchen legt in einen Zeitraum
von mehreren Tagen 4-5 Eier. Die Küken kriechen im Abstand von einem
Tag heraus, die älteren beanspruchen natürlich die Monopolstellung beim
Futter. Dieses wird dadurch ausgeglichen, indem jedes weitere Ei eine grö-
ßere Testosterondosis enthält, so dass das letztgeschlüpfte Küken 20 mal

9
mehr Testosteron aufweist als das Erstgeschlüpfte. Das Hormon macht die
Vögel kampflustig und beschleunigt das Wachstum.
Nach dem Darwinschen Prinzip sind Geschwistermord, elterlicher Kindes-
mord, nachlässige Versorgung mit Nahrungsmitteln verwandte Phänomene.
Auch spontane Fehlgeburten, verursacht durch Stress und falsche Ernäh-
rung, lassen sich in die Kette einreihen. Ebenso kennt der Mensch die "Kin-
destötung" in utero: Viele Zwillinge, die im Ultraschall zu sehen sind, wer-
den nie geboren. Die Mutter absorbiert den kleineren Zwilling vor Beginn
des 7. Monats. In traditionellen Gesellschaften töten Eltern ihre Kinder,
wenn die Geschwister in zeitlich zu kurzem Abstand geboren werden oder
wenn die Ressourcen knapp sind. Die "Geschwisterselektion" vollzieht sich
auf Kosten der Spätergeborenen. Wenn Eltern ihre unerwünschten Nach-
kommen nicht gleich töten, so kann die nachlässige Versorgung mit Nah-
rung das gleiche bewirken ("maskierter Kindesmord")...
In Lateinamerika ist die Kindersterblichkeit bei Kindern, die Platz 5 oder
darüber in der Geburtenfolge haben zwei- bis dreimal höher als bei Erstge-
borenen. In Entwicklungsländern besteht die Chance 2:1, die Kindheit zu
überleben; je höher der Geburtsrang ist, umso niedriger besteht die Wahr-
scheinlichkeit des Überlebens.
Auch in der Familie existiert der Leitgedanke Darwins: Ein zentraler Faktor
bei der Anordnung in der Familie ist die Geburtenfolge neben anderen Fak-
toren wie Eltern-Kind-Konflikt, Temperament, zahlreiche Wechselfälle in-
dividueller Erfahrungen, die ebenfalls eine Rolle spielen. Geschwister kon-
kurrieren um Leistung, Intelligenz, Schönheit. Wer intelligenter, mehr leis-
tet oder schöner als der andere ist, in den werden die Eltern eher investieren
und damit seine Ausgangschancen für die Zukunft verbessern. Konkurrenz
bedeutet Überleben oder nicht! Als Akt der Selbsterhaltung wird auch kein
Geschwistermord gescheut. Der bekannteste Brudermord steht in der Bibel:
Kain erschlug Abel, da Gott das Opfer Kains nicht annahm.

10
Natürliche Selektion, Divergenz, Kindes- bzw. Geschwistermord sind An-
passungsstrategien, um das Überleben zu sichern. Hierzu zählen auch die
Geschwisterstrategien, die dazu dienen, möglichst viel elterliche Liebe und
Zuneigung zu bekommen.
2.4. Geschwisterstrategien
In allen Gesellschaften behandeln die Eltern ihre Kinder nicht gleich: 2/3
befragter Kinder erklärten, ihre Mutter sei parteiisch. Kinder sind sehr
wachsam, wenn die elterliche Gunst ungleich verteilt wird und reagieren
empfindlich darauf, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Um möglichst viel Zuwendung der Eltern zu erhalten, gibt es verschiedene
Strategien, zu denen Geschwister greifen, die von Körpergröße und Stärke
abhängig sind. Eine Strategie könnte darin bestehen, die Gunst der Eltern
durch Helfen und Gehorchen zu erlangen. Das jüngere Kind, das sich unter-
drückt fühlt, könnte Friedensangebote gegenüber dem Älteren machen oder
gegen ihn rebellieren, oder auch beides kombinieren. Es wendet sich Dingen
zu, die das Ältere noch nicht für sich entdeckt hat und sieht auf diese Weise
zu, in eine überlegenere Position zu gelangen.
Aufgrund der physischen Überlegenheit neigt der Ältere dazu, eher physi-
sche Stärke anzuwenden und somit die Position des Gegners einzunehmen.
Das jüngere Kind versucht seine geringere Körpergröße durch entsprechen-
de "Untermacht-Strategien" wieder auszugleichen: es fügt sich, kooperiert,
verhandelt mit dem Geschwisterkind, sucht bei den Eltern Schutz.
Geschwisterstrategien hängen auch vom Temperament ab. Je nach Tempe-
rament verhält sich der Ältere dem Jüngeren gegenüber dominant oder
nicht, was wiederum ihr Verhalten zueinander beeinflusst.

11
3. Temperament
Viele Verhaltensweisen sind zwar genetisch bedingt, sind jedoch nicht
vorherbestimmbar, da sowohl physische als auch psychische Eigenschaften
von verschiedenen Umwelteinflüssen abhängen. Eigenschaften, die mit dem
Gefühlsleben eines Menschen zu tun haben, werden als "Temperament" be-
zeichnet. Schon bei Neugeborenen gibt es individuelle Unterschiede in der
Stimmungslage und dem Aktivitätsniveau. Je nach familiärer Nische hat das
Temperament verschiedene Folgen für die Persönlichkeitsstruktur der Ge-
schwister.
3.1. Schüchternheit
Verhaltensgenetische Untersuchungen ergaben, dass die Neigung zu
Schüchternheit zu ca. 50 % vererbt wird. Je nach familiärer Nische, Verhal-
ten der Geschwister und Geschwisterkonstellation wird Schüchternheit eher
begünstigt oder verhindert. Ist der Altersabstand gering, ist das jüngere Kind
scheuer und neigt als Kleinkind zu reservierterem Verhalten als das ältere.
Die Familiengröße darf man bei der Entwicklung von Schüchternheit nicht
außer Acht lassen. Hat das jüngere Kind bei einer kleinen Geschwisterzahl
Erfolg mit seinen Strategien, um mit dem Älteren fertig zu werden und hat
es die Möglichkeit, das Geschwisterkind in kognitiver und physischer Hin-
sicht zu erreichen, so wird es seine Schüchternheit ablegen. In größeren Fa-
milien wird sie eher bestehen bleiben, da das jüngere Kind mehr hin- und
her geschoben wird.
Um die Schüchternheit zu überwinden, bedarf es einer "inneren Revoluti-
on", die das Spätergeborene ablegt, indem es gegen das Geschwister rebel-
liert. Es kultiviert seine Offenheit für Erfahrung systematisch, was zu einer
verminderten Schüchternheit führt. Solche Entwicklungsergebnisse muss
man im Kontext des Familiensystems sehen, abhängig von den Geschwis-

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terstrategien um das Ringen der innerfamiliären Hierarchien und Nischen.
Die Nischen entscheiden über die Persönlichkeitsstruktur und nicht die an-
geborene Veranlagung. Schüchternheit ist Ursache und Wirkung, abhängig
von der Wechselwirkung zwischen Geschwisterstrategien und Möglichkei-
ten, die das Familienleben bietet. Aufgrund der Wechselwirkung von Erban-
lagen und Umwelt kann ein jüngeres Kind rebellisch und schüchtern
zugleich sein.
3.2. Introvertiertheit/Extravertiertheit
Zwischen Introvertiertheit und Schüchternheit besteht ein enger Zusammen-
hang, was einige physiologische Indikatoren bestätigen. Schüchterne sind
introvertiert, weil sie ängstlich sind und sich gegenüber Fremden unwohl
fühlen. Ein introvertiertes Kind, das ruhig ist, sich in sich selbst zurückzieht,
wird andere Konkurrenzstrategien gegenüber dem Geschwisterkind einset-
zen als ein extravertiertes, das impulsiv ist, viele Freunde hat und sozial
aufgeschlossen ist.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen, die Bedeutung für alle Geschwis-
terbeziehungen haben, wende ich mich nun speziell den Adoptiv- und Pfle-
gekindern zu.

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4. Rechtliche Situation
Adoptiv- und Pflegekinder haben die Gemeinsamkeit, bei nichtleiblichen
Eltern aufzuwachsen, ihre Sozialisation bei fremden Bezugspersonen, den
sozialen Eltern stattfindet, ein Unterschied ihren Status betreffend, besteht
in rechtlicher Hinsicht. Mit Beschluss des Vormundschaftsgerichts erhält
das Adoptivkind den Status eines leiblichen Kindes. Juristisch begründete
Verbindungen zu den leiblichen Eltern bestehen nicht mehr. Im Fall des
Pflegekindes bleiben die Rechte und Pflichten der leiblichen Eltern beste-
hen. In Streitfällen ist es möglich - auch gegen seinen Willen und den Wi-
derstand der Pflegeeltern - das Kind in die Herkunftsfamilie zurückzugeben.
Durch die rechtliche Vorgabe des Pflegekindverhältnisses ist eine Kontinui-
tät des Aufwachsens in der Pflegefamilie erschwert, da dieses wieder aufge-
hoben werden kann, was bei einer Adoption grundsätzlich nicht möglich ist.
Diese geringere Kontinuität beeinflusst die Gestaltung der Geschwisterbe-
ziehungen. Wenn allerdings Pflegekinder lange Zeit ohne Kontakt zu den
leiblichen Eltern in der Pflegefamilie verbringen, entwickelt sich ein Ver-
hältnis, das der Adoptivfamilie ähnelt. Es gibt genug Pflegeeltern, die sich
darum bemühen, ein Langzeitpflegekind zu adoptieren.

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5. Konstellation: Leibliches Kind - Adoptiv-
kind
5.1. Zusammenhang Alter und Integration
Bei der Integration eines Kindes ist darauf zu achten, dass das "neue" Kind
in einer natürlichen Abfolge zu dem anderen Kind steht, und dass der Al-
tersabstand entsprechend groß ist. Deshalb ist es sinnvoll, ein Kind aufzu-
nehmen, das deutlich jünger ist als das bereits in der Familie lebende Kind.
In der Praxis hat sich ein Altersabstand zwischen den Kindern von mindes-
tens 3 Jahren als günstig erwiesen.
Besteht ein geringerer Altersunterschied, erhöht sich die Konkurrenz um die
elterliche Investition, was zur Folge hat, dass die Eltern-Kind-Konflikte sehr
heftig sind und die Geschwisterrivalität zunimmt. Sind bei der Aufnahme
beide Kinder im Kleinkindalter, so erhöht sich die Misserfolgswahrschein-
lichkeit der Integration erheblich, da das neue Kind in seinen Bedürfnissen
in zu starke Konkurrenz zu dem Familienkind gerät, das selbst noch ein ho-
hes Maß an Zuwendung durch die Eltern braucht. Ist das nächstfolgende
Geschwisterkind 6 Jahre und mehr jünger als das ältere, so sind beide funk-
tional wie Einzelkinder zu betrachten.
Ein Kind, das im Babyalter in die Adoptivfamilie kommt, hat weniger Prob-
leme eine "normale" Geschwisterbeziehung zu dem anderen Kind in der
Familie aufzubauen als ein älteres Kind. Der Säugling muss zunächst lang-
sam eine Beziehung zu den Adoptiveltern aufbauen und muss sich nicht so-
fort die Geschwisterposition erkämpfen. Als jüngstes Kind, das körperlich
und wissensmäßig die schwächste Position einnimmt, stellt für das andere
Kind in dieser Hinsicht keine Bedrohung dar, aber bedrohlich ist, dass das
vorhandene Kind die Liebe und Zuwendung, die ihm bisher alleine gegolten
hat, nun teilen muss. Es ist eifersüchtig auf das Baby, fühlt sich zurückge-

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setzt, da dem neuen Kind nun mehr Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet
wird als ihm. Alfred Adler spricht in diesem Zusammenhang von der "Ent-
thronung" des Erstgeborenen durch das Geschwisterkind, die bei der Bil-
dung von Verhaltensweisen mitverantwortlich ist. Wenn auch das Gefühl
für das Kind sehr schmerzlich ist, "entthront" zu werden, so hat es doch den
Vorteil, dass es seine Nische in der Familie schon gefunden hat, die der
Säugling, - wenn er ins Kleinkindalter kommt -, sich erst aufbauen muss.
5.2. Bedeutung der Nische innerhalb der Familie
5.2.1. Familiäre Nische
Eine Nische in der Ökologie heißt, wie verschiedene Arten die verfügbaren
Ressourcen nutzen. In der Familie beschreibt der Begriff "Nische", wie die
einzelnen Familienmitglieder im System unterschiedliche Rollen ausbilden.
Sie stellt sich als Anordnung verschiedener Nischen dar, die jeweils von ei-
nem Familienmitglied besetzt ist. Das Erstgeborene nimmt gegenüber dem
Geschwisterkind eine Vorrangstellung ein, da es sich schon eine familiäre
Nische aussuchen konnte, die von dem Spätergeborenen, - was das hinzuge-
kommene Baby ist - nicht eingenommen werden kann. Die erste familiäre
Nische, die nicht zufällig entsteht, sondern einer bestimmten Ordnung folgt,
abhängig von Geburtenfolge, Temperament und Geschlechtszugehörigkeit,
bleibt dem anderen verwehrt. Das ältere Geschwisterkind besetzt die am
leichtesten verfügbaren Nischen, wie. z.B. schulischen Erfolg oder über-
nimmt Erwachsenen ähnliche Verhaltensweisen, indem es gegenüber dem
jüngeren Geschwister als Ersatzeltern fungiert. Es richtet seine Interessen
nach denen der Eltern aus, übernimmt Vorstellungen, die Eltern von einem
Familienleben haben. Die Nische, die es besetzt, verteidigt es gegen Über-
griffe durch das Jüngere. Beim Konkurrieren um die Gunst der Eltern, ent-
wickeln beide Kinder ihre eigene Strategie, wie sie sich die Liebe und Auf-
merksamkeit der Eltern sichern können. Eine Strategie besteht in der Aus-
prägung von unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten. Ein Kind erlangt

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z.B. Anerkennung durch sportliche Leistungen, das andere tut sich durch
seine künstlerische Begabung hervor
Da Geschwister verschiedene Nischen besetzen, erleben sie die Familie auf
unterschiedliche Weise und machen deshalb auch unterschiedliche Erfah-
rungen. Zum einen sind dies zufällige Erfahrungen, die außerhalb der Fami-
lie gemacht werden, zum anderen sind es systemische Einflüsse, die inner-
halb der Familie auf die Kinder wirken. Jede Nische eröffnet unterschiedli-
che Perspektiven, weshalb jeder gleiche Ereignisse auf seine Weise wahr-
nimmt. Geschwister schaffen sich anpassungsfähige Nischen, um sich die
elterlichen Ressourcen zu sichern. Die Divergenz nützt bei der Anpassung,
um elterliche Zuwendung zu erlangen und die direkte Konkurrenz zu ver-
ringern.
Geschwisterunterschiede sind ein deutlicher Beweis für Darwins Divergenz-
theorie, die die Einzigartigkeit des Individuums hervorhebt. Diverse Persön-
lichkeitsmerkmale sind unterschiedliche Strategien, um die elterlichen In-
vestitionen zu erhalten und damit das Überleben zu sichern.
Das Prinzip der Diversifikation bietet folgenden Vorteil: Geht es um ähnli-
che Fertigkeiten ist das Spätergeborene aufgrund seines Alters im Entwick-
lungsrückstand. Deshalb sucht es sich eine von anderen anerkannte Nische,
die sich zur Nische des Erstgeborenen unterscheidet. Dabei kommt ihm die
Eigenschaft zur Offenheit für Erfahrung auf der Suche nach einer neuen Ni-
sche zugute. Das jüngere Kind entfaltet eigene Interessen und Fähigkeiten,
die die Eltern unterstützen und durch das Ältere noch nicht besetzt sind.
Dies ist strategisch sehr geschickt, denn so ergeben sich weniger Ver-
gleichsmöglichkeiten von Seiten der Eltern in Bezug zu dem älteren Ge-
schwisterkind. Divergenz bedeutet für die Familie Arbeitsteilung, einzelne
Familienmitglieder erhalten eine größere Bandbreite an sozialen und intel-
lektuellen Gesichtspunkten.

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5.3. Geschwisterrollen
5.3.1. Unterschiedliche Persönlichkeiten (Der Ritter - der Narr)
Geschwister, die im gleichen häuslichen Umfeld aufwachsen, erleben dieses
auf individuelle Weise. Davon abgesehen, hat keines der Kinder identische
familiale Aufwachsbedingungen, schon alleine deshalb, weil Unterschiede
im Verhalten der Eltern, in der Paarbeziehung oder in der Kindererziehung
bestehen.
Beim ersten Kind sind sie in ihrer Elternrolle noch unsicher, sind ange-
spannt und nervös, beim zweiten Kind, sind sie ruhiger und entspannter.
Das Kind der nervösen Eltern lernt, sich allem Neuen vorsichtig und eher
schüchtern zu nähern und Gefahren aus dem Weg zu gehen; das zweite
Kind lernt, seine Umwelt neugierig und mutig zu erforschen. Beim ersten
Kind haben die Eltern noch vermehrt finanzielle Schwierigkeiten, müssen
länger arbeiten und haben weniger Zeit für ihr Erstgeborenes. Das zweite
Kind erlebt, dass die Eltern Zeit haben, nicht mehr so viel arbeiten müssen
aufgrund ihrer verbesserten wirtschaftlichen Lage. Das Älteste bekommt
Respekt vor Geld und harter Arbeit, das Jüngere verlässt sich darauf, dass es
von anderen versorgt wird. Die Eltern probieren je nach gesellschaftlichem
Trend, verschiedene Erziehungsstile aus: Das Erstgeborene wird gefüttert,
wann es Hunger hat, wird ins Bett gebracht, wenn es müde ist. Beim Spät-
ergeborenen gelten andere Maßstäbe: ein fester Zeitplan, festgelegte Mahl-
und Schlafzeiten.
Verschiedene Temperamente der Kinder führen zu unterschiedlichen Ver-
haltensweisen der Eltern, so dass sie für jedes der Kinder ein eigenes Um-
feld schaffen. Ein freundliches und unkompliziertes Kind wird eher bevor-
zugt als ein eigensinniges und willensstarkes, das problematischer ist und
zurückstehen muss.
Die Rollenfestlegung durch die Eltern und die Art ihres Verhaltens stellen
einen weiteren Aspekt der "nichtgemeinsamen Umwelt" von Geschwistern
im gemeinsamen Elternhaus dar.
In kleineren Familien sind die Rollen polarisiert und bauen auf klar definier-
ten Gegensätzen auf, wie z.B. der Ernsthafte und der Clown, der Ritter und

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2000
ISBN (eBook)
9783832464424
ISBN (Paperback)
9783838664422
DOI
10.3239/9783832464424
Dateigröße
616 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Ludwigshafen am Rhein – unbekannt
Erscheinungsdatum
2003 (Februar)
Note
2,0
Schlagworte
geschwister geschwisterkonstellationen adoptivkinder pflegekinder
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Titel: Geschwisterkonstellationen bei Adoptiv- und Pflegekindern
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