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Destruktivität und Suizid

©2002 Diplomarbeit 83 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Ist es in der Belletristik oder in den Dramen der Unterhaltung, etwa die verschmähte oder unglückliche Liebe, so ist es in den realen Lebensverhältnissen meist doch nüchterner, weshalb sich Menschen gegen ihren Körper (durch Destruktivität) bzw. gegen ihr eigenes Leben (durch Suizidalität) wenden. Das Phänomen Destruktivität und Suizid ist ein komplexer Untersuchungsgegenstand.
Wie ist das Paradox des Suizids zu erklären? Kann man ihn als eine freie Entscheidung ansehen oder geschieht er aus einer Verkettung unglücklicher Lebensumstände. Das Interesse zur Beantwortung des Phänomens ist im Lauf der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts größer geworden. In der interdisziplinären Suizidforschung, die sich als eigener Forschungsstrang, namens „Suizidologie“ etabliert hat, läßt sich der Erklärungsgegenstand grob in zwei wissenschaftlichen Interessenrichtungen teilen. Zum einen, stellt sich die Frage für die Soziologie und Philosophie; welche äußeren Einflüsse und Umstände (d.h. Wann, Wo, Wie?) der erlebten Umwelt/Gesellschaft lassen Suizidhandlungen zu, beziehungsweise begünstigen ihn sogar? Zum anderen, gerät das Individuum in den Fokus des Interesses, insbesondere bei den Psychoanalytikern und der Psychopathologie; es wird gefragt aus welchen inneren Antrieben (d.h. Wer der Betroffene ist, Wie er geworden ist, Welche Gründe?) - vor allem psychischer Natur - bildet sich eine suizidale Bedrohung bilden bzw. ausgelöst werden kann, beziehungsweise Möglichkeiten zur nachhaltigen Suizidprophylaxe oder seelsorgerische Hilfsmaßnahmen?
Der Suizid ist keine Erscheinung der industriellen Revolution oder des alten oder neuen Jahrtausend, so kann man davon ausgehen, daß seit der Genese der Menschheit Selbsttötung praktisch als eine Möglichkeit zum subjektiv-individuellen Handeln existiert. Einige destruktive Verhaltensweisen sind recht neu, möglicherweise sind sie der Ausdruck „neuerer“ gesellschaftlicher Strömungen - nicht zuletzt im Kontext der Beckschen Risikogesellschaft, der „Fahrstuhleffekt“ der Individualisierung führt zu Opfern, aufgrund „krankmachenden“ Gesellschaftsverhältnisse - in subjektiven Ausdrücken von Drogensucht, Fettsucht, Magersucht oder anderen Autoaggressionen.
Wie kommt es zu einem Verhalten das gegen den Selbsterhaltungstrieb arbeitet, also negativ für das Individuum ist, kurz; sich gegen seinen eigenen Körper richten? Welche Grundlagen müssen geschaffen sein - wenn es sich überhaupt festlegen läßt - um […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Abgrenzung und Inhalt der Begriffe
2.1 Destruktivität.
2.2 Selbstmord
2.3 Freitod
2.4 Suizid
2.4.1 Suizidversuch
2.4.2 Suizidmethoden
2.4.3 Suizidhandlung.

3. Drei Erklärungsperspektiven von destruktiven Verhalten und Suizidhandlung
3.1 Soziologische Theorien
3.1.1 Durkheim und "Der Selbstmord".
3.1.2 Die Grundtypen des Suizids.
3.1.2.1 Altruistischer Selbstmord
3.1.2.2 Egoistischer Selbstmord
3.1.2.3 Fatalistischer Selbstmord
3.1.2.4 Anomischer Selbstmord
3.1.3 Weitere soziologische Ansätze seit Durkheim.
3.2 Psychoanalytische Theorien
3.2.1 Freuds Theorie von Frustration und Aggression – destruktives und konstruktives Verhalten
3.2.2 Weitere psychoanalytische Theorien
3.2.2.1 Henseler
3.2.2.2 Narzißmus.
3.3 Psychopathologische Theorien
3.3.1 Präsuizidales Syndrom
3.3.2 Depression

Exkurs: Der Suizid in der Philosophie

4. Der Suizid in der Statistik
4.1 Die Ermittlung und Kategorisierung der Suizidrate...
4.2 Statistische Messprobleme

5. Destruktives Verhalten und Suizidhandlung in der Gesellschaft..
5.1 Alters- und Geschlechtsspezifische Eigenschaften zum destruktiven Verhalten und Suizidhandlung
5.1.1 Kinder und Jugendliche
5.1.2 Frauen und Männer – Relationen zwischen den Geschlechtern
5.1.3 Alte und Kranke
5.2 Die herauszulesenden und wiederkehrende Hauptmerkmale des Erklärungsgegenstandes zum destruktiven und suizidalen Verhaltens
in den Theorien
5.2.1 Konflikt: Krise und Belastung.
5.2.2 Störung der intersubjektiven Kommunikation.
5.2.3 Negative Lösungsstrategien zur Konfliktbewältigung.
5.2.3.1 Äußere Aggression und Autoaggression
5.2.3.2 Drogenkonsum

6. Läßt sich der Suizid über spezifische Zusammenhänge erklären?

7. Schlussbetrachtung.

Literaturverzeichnis

Ich weiß, dass ich nichts weiß!

Sokrates (469-399 v. u. Z.)

1. Einleitung

Ist es in der Belletristik oder in den Dramen der Unterhaltung[1], etwa die verschmähte oder unglückliche Liebe, so ist es in den realen Lebensverhältnissen meist doch nüchterner, weshalb sich Menschen gegen ihren Körper (durch Destruktivität) bzw. gegen ihr eigenes Leben (durch Suizidalität) wenden. Dennoch sind Beziehungsdramen einer zerbrochenen Liebe ebenso ein "triftiger" Grund, insbesondere für junge Menschen, um ein kommunikatives Zeichen nach Aufmerksamkeit oder gewissermaßen als Appell zu setzen, eine Todes- oder Zerstörungssehnsucht nachzugehen. Aber das Phänomen ist weitaus komplexer, andere "triftige" Gründe gibt es in facettenreicher Vielfalt, die das Leben nicht mehr liebenswert erscheinen lassen. Wir wollen uns in dieser Arbeit näher mit dem komplexen Phänomen von destruktiven und suizidalen Verhaltensweisen auseinandersetzen und versuchen die Ursachen zu bestimmen.

Wie ist das Paradox des Suizids zu erklären? Kann man ihn als eine freie Entscheidung ansehen oder geschieht er aus einer Verkettung unglücklicher Lebensumstände. Der Suizid ist ein universales und ubiquitäres Phänomen, es Sterben weltweit pro Jahr ca. 600.000 Menschen durch ihr eigenes handeln.[2] Der Begriff Suizid stammt aus dem Lateinischen. "Sui" bedeutet sich selbst und "caedere" bedeutet töten. Der Suizid ist keine Erscheinung der industriellen Revolution oder des alten oder neuen Jahrtausend, so kann man davon ausgehen, daß seit der Genese der Menschheit Selbsttötung praktisch als eine Möglichkeit zum subjektiv-individúellen Handeln existiert.[3] Einige destruktive Verhaltensweisen[4] sind recht neu, möglicherweise sind sie der Ausdruck "neuerer" gesellschaftlicher Strömungen - nicht zuletzt im Kontext der Beckschen Risikogesellschaft, der "Fahrstuhleffekt" der Individualisierung[5] führt zu Opfern, aufgrund "krankmachenden" Gesellschaftsverhältnisse - in subjektiven Ausdrücken von Drogensucht, Fettsucht, Magersucht oder anderen Autoaggressionen:

"Selbstvernichtung aber ist ein Signal für Probleme ganz anderer Größenordnung. Auf jeden Selbstmord kommen hunderte tief verzweifelter Menschen und tausende, die still ein geschädigtes Leben führen."[6]

Unter dem Gesetz der subjektiven Selbsterhaltung gibt es Verhaltensformen die sich für die Gemeinschaft und den Integrationsgehalt der Gesellschaft positiv auswirken, z.B. unter Einsatz des eigenen Lebens nahe stehende Personen schützen oder beim Militärdienst gesellschaftliche Verwicklungen (Krieg) und Verpflichtungen (natürliche oder unnatürliche Katastrophen, z.B. bei Überschwemmungen, Deichbrüchen, ABC-Unfällen etc.) nachzukommen. Wie kommt es jedoch zu einem Verhalten das gegen den Selbsterhaltungstrieb arbeitet, also negativ für das Individuum ist, kurz; sich gegen seinen eigenen Körper richten? Welche Grundlagen müssen geschaffen sein - wenn es sich überhaupt festlegen läßt - um destruktive und suizidale Verhaltensweisen zu begehen, das also die eigene innere Selbsterhaltung im geistigen Bewußtsein, mittels negativer wiederkehrender Schlüsselreize, die letztlich für den einzelnen Menschen zermürbend wirken und schließlich ganz aufhört zu existieren?[7] Dieses sind einige Fragen der vorliegenden Arbeit. Die Destruktivität und der Suizid sind dann folglich Ausdruck einer menschlich-sozialen Desintegration par Excellenze. Bei beiden besteht ein unauflösbarer Widerspruch: Opfer und Täter zugleich zu sein. Zumindest der Suizid stößt (als Spitze des Eisberges) auf Unbehagen in der Gesellschaft.[8] Er wird einerseits als Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft gesehen, und andererseits, als Ausdruck der Nicht-Anerkennung und letztlich der Vereinzelung ohne Anschluß an die Gemeinschaft oder durch weitere Auslöser gesellschaftlicher Art. Und zum anderen, als individuelle Krankheitsausprägung verstanden, die ihre Wurzel in der frühen Kindheit findet oder als eine Form von Glaubensschwäche oder gar sündiger Besessenheit wie es teilweise (je nach ideologischer Auffassung) in der Geschichte dem religiösen Glauben entsprach. Bei tödlich verlaufenden Suizidhandlungen wurde der Leichnam früher an einem Scheideweg beerdigt, damit der Verkehr - die Unruhe - den Geist davon abgehalten werden sollte, sich aus dem Grab aufzuerstehen.[9]

Das Interesse zur Beantwortung des Phänomens ist im Lauf der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts größer geworden. In der interdisziplinären Suizidforschung, die sich als eigener Forschungsstrang, namens "Suizidologie"[10] etabliert hat, läßt sich der Erklärungsgegenstand grob in zwei wissenschaftlichen Interessenrichtungen teilen. Zum einen, stellt sich die Frage für die Soziologie und Philosophie; welche äußeren Einflüsse und Umstände (d.h. Wann, Wo, Wie?) der erlebten Umwelt/Gesellschaft lassen Suizidhandlungen zu, beziehungsweise begünstigen ihn sogar? Zum anderen, gerät das Individuum in den Fokus des Interesses, insbesondere bei den Psychoanalytikern und der Psychopathologie; es wird gefragt aus welchen inneren Antrieben (d.h. Wer der Betroffene ist, Wie er geworden ist, Welche Gründe?) - vor allem psychischer Natur - bildet sich eine suizidale Bedrohung bilden bzw. ausgelöst werden kann, beziehungsweise Möglichkeiten zur nachhaltigen Suizidprophylaxe oder seelsorgerische Hilfsmaßnahmen?[11]

Die vorliegende Arbeit sieht ihren Fokus in den theoretischen Fragestellungen, wie destruktives und suizidales Verhalten erklärt werden kann, und die möglichen Schlußfolgerungen aus dieser Erklärung. Daher ist die Arbeit in fünf Hauptkapiteln (Kap.2. - Kap.6.) aufgeteilt. Zuerst wird im zweiten Kapitel der Inhalt und die Abgrenzung der hier auftretenden Begriffe vorgenommen. Der Suizid, meist in der Alltagssprache als Selbstmord, Selbsttötung oder Freitod benannt und die Destruktivität, die hier die Selbstzerstörung oder Selbstvernichtung der eigenen Körperlichkeit meint, jedoch ohne konkrete suizidale Verhaltensweisen (z.B. "Ich mach jetzt Schluß") aufweisen zu müssen, sondern sich über Drogenkonsum oder anderen Suchtverhalten (Bulimie, Freßsucht) oder sonstigen Zwängen (z.B. durch Angsterkrankungen) äußern, die aber wiederum mit suizidalen Verhalten in Wechselwirkung eng miteinander verbunden sind, werden näher beleuchtet. Sodann folgt im dritten Kapitel die Aufspaltung in den unterschiedlichen Theorieansätzen der Soziologie, Psychoanalyse und der Psychophatologie, mit deren bekanntesten Vertretern. Im vierten Kapitel wird der Suizid in der Statistik betrachtet und versucht Ableitungen daraus zu ziehen. Alsdann versucht das fünfte Kapitel die Ursachen zu beleuchten, weshalb in der Gesellschaft destruktives Verhalten und/oder suizidale Handlungen vorkommen. Dabei werden alters- und geschlechtsspezifische Eigenschaften berücksichtigt. Wer ist besonders gefährdet? Im zweiten Teil des 5. Kapitels werden dann noch mal die wiederkehrenden Hauptmerkmale, die in der Literatur ihren Schwerpunkt haben, darunter der Konflikt, Störung der Kommunikation und die negativen Lösungsstrategien, durch innere oder äußere Aggression und Drogenkonsum, gesondert behandelt. Schließlich fragt das sechste Kapitel ob der Suizid sich überhaupt mit einer monokausalen Erklärung beschreiben lassen kann.

Bevor nun im Folgenden auf die Thematik eingegangen wird, sollte erwähnt werden, daß natürlich nicht alle Bereiche zur Ansprache kommen können. Zu vielfältig sind die einzelnen Aspekte, die insbesondere der Suizid in der wissenschaftlichen Untersuchung einnimmt. So sind die einzelnen Bereiche wie etwa der historische Verlauf oder die Erscheinung von Kollektivsuiziden oder Maßnahmen zur Suizidprophylaxe, wenn überhaupt vorkommend, nur sehr oberflächlich behandelt. Vielmehr richtet sich der Blick zu einer allgemeinen Einsichtsbeleuchtung des Phänomens Suizid und der Destruktivität, also eine Klärung der Fragen, die eingangs bereits formuliert worden sind.

2. Abgrenzung und Inhalt der Begriffe

Bei der Thematik Destruktivität und Suizid ist Begriffsvielfalt gegeben, das liegt einerseits an der Komplexität des Phänomens mit den inne liegenden selbstschädigenden Verhaltensformen und andererseits an die einzelnen Herangehensweisen, mit ihren jeweiligen Abgrenzungen und Akzentuierungen. Die Ausschaltung des Selbsterhaltungstrieb würde zum einen, den "idealtypischen"[12], selbstbestimmten Freitod eines Menschen beinhalten, oder, zum anderen, durch krankhafte Bedingungen oder einer geglaubten ausweglosen Erscheinungen der individuellen Lebensverhältnisse, aus Gründen gesellschaftlicher Deprivation.

Die Definition der Selbsttötung von Durkheim, nimmt keine allgemeingültige Wertung der Handlung vor:

"Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte. Der Selbstmordversuch fällt unter dieselbe Definition, bricht die Handlung aber ab, ehe der Tod eintritt."(Kursiv von E. Durkheim)[13]

Diese Definition ist Wertfrei, mit ihr wird lediglich der Handlungsspielraum des Betroffenen beschrieben[14], dabei fällt hier die Unterscheidung zur Tiersphäre auf, die keine Möglichkeit zur Ausschaltung des Überlebensinstinktes haben. Der Umfang einer suizidalen Handlung umfaßt den Suizidversuch, andere Ausdrücke in der Literatur sind der Parasuizid oder Freitodversuch und deren medizinischen (medikamentöse oder stationäre Behandlung) und/oder therapeutischen Verhinderung, mittels psychologischer Betreuung. Wieweit die langsame Selbstzerstörung durch bewußt ungesundes Leben dazu gehört, obwohl eine aktive Suizidhandlung von dem Menschen gar ausgeschlossen wird, bleibt offen.[15] Es werden jetzt die weiteren vorkommenden Begriffe, die in dieser Arbeit den Schwerpunkt bilden, näher behandelt. Um auch gleichzeitig die Thematik einzugrenzen.

2.1 Destruktivität

Zur Form einer "potentiellen" Suizidhandlung kann die Destruktivität zählen. Der Begriff ist nicht gleichzustellen mit der Aggression oder mit der Suizidhandlung (sie ist die Endstation der eigenkörperlichen Destruktion). Obwohl Destruktivität ebenfalls zwei Seiten besitzt - innere und äußere Gewalt - kommt das persönliche Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung hinzu. Destruktivität zeigt sich in verschiedenen Formen, dazu zählen die verschiedenen Arten von selbstzerstörerischen Verhalten, die bewußt bzw. auch unbewußt und unbeabsichtigt zur Selbstzerstörung und letztlich zum Tode führen. Der „Autodestruktionsprozeß“ erfolgt über drei Formen, einerseits einer potentiellen Gefährdung, andererseits durch Verhalten wo man schon nicht ausschließen kann den Tod zu begegnen und drittens die Form, die unmittelbar das Ableben zur Folge hat.[16] Ob nun der Körper mit Fetten überfüllt wird (und evtl. wieder ausgebrochen wird wie bei der Bulimie) oder mit Nichts versorgt wird (Magersucht) oder das gesellschaftsfähige Rauchen und Alkoholtrinken oder das Konsumieren von anderen drogenartigen Substanzen oder gar die Hypochondrie oder rasante Waghalsigkeit beim Individualverkehr und Sport oder letztlich verschiedene Kombinationen des Genannten auf einmal. Jede Sucht die sich beim Menschen manifestiert, führt über einen längeren Zeitraum unweigerlich, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, vorzeitig zum Tode.[17]

Destruktivität kann man bezeichnen als negative Aggression gegen sich selbst. Die Herausforderungen des Alltages, die Probleme des Lebens und die Lösungsschwierigkeiten eines Konfliktes können so schwerwiegend sein, daß das eigene Leben als Last empfunden wird und insbesondere der eigene Körper wird das Ziel des Angriffes. Gerade über destruktive Strategien von autoaggressiven Konfliktlösungen wird, das vermeintlich schwerwiegende Situations- oder Lebensproblem, gelöst. Dieses selbstdestruktives Verhalten, als vermeintlich beste gedachte Lösung einer scheinbar nicht zu überwindbaren Krise, wird etwa über körperliche Selbstverstümmelungen hergestellt. Z. B. durch mehrfaches leichtes Ritzen der Haut bis zu schweren Schnitten, absichtliches Verbrühen oder Verbrennen der Haut mit Zigarettenglut, Kerzen oder kochendem Wasser, führt kurzzeitig zu einer Befriedigung des "Alltagsschmerzes".[18] Nur, damit werden Zwänge aufgebaut, die negativ auf den Körper wirken. Es scheint, als handle die Thematik im Ganzen, als ein Problem des Empfindens gegenüber der eigenen Körperlichkeit. Raymond Battegay gibt in seiner Schrift "Autodestruktion" einen breiten Einblick, wie sich selbstzerstörerisches Verhalten beim Menschen äußert. Autodestruktivität hat viele Facetten in ihrer Erscheinung. Die Selbstzerstörung kann sich z.B. als freiwilliger Kriegseinsatz oder bei Extremsportarten oder bei körperlicher Unzufriedenheit seinen Körper zu beschädigen, eventuell mit Magersucht, Fettsucht, Operationssucht, Haarausreißen, Hautverletzungen sowie Suchterscheinungen durch Drogenkonsum und in depressiven, schizophrenen und narzißtischen Krankheitsbilder darstellen.[19]

2.2 Selbstmord

Das Wort "Mord", das im Terminus Selbstmord enthalten ist, könnte ein sozialmoralisches bedenkliches Vorgehen suggerieren. Der Mensch verübt einen Selbstmord, ebenso werden andere kriminelle Straftaten "verübt". Daher wird mit diesem Begriff eine Straftat angedeutet:

"Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß das Wort 'Selbstmord' im Einflußbereich der christlichen Kirche entstanden ist und aus diesem Umfeld heraus mit fast ausschließlich negativ moralischen Werturteilen bedacht worden ist. In der Theologie- und Kirchengeschichte sind Selbstmord und Selbstmordversuch ebenfalls überwiegend losgelöst von der menschlichen Biographie und den Lebensbeziehungen der Betroffenen reflektiert worden."[20]

Es kommt aber auch auf die Form der Tat und die Methode an, ob es sich eher um einen Selbstmord oder einen wertfreien Suizid handelt. Bei einem Menschen der einen "Amoklauf" verübt und unschuldige Opfer ermordet, schließlich sich danach eigens richtet, handelt eher als Selbstmörder.[21] Nichtsdestotrotz sind die Bezeichnungen Selbstmord und Selbstmordversuch in der Gesellschaft zum Verständnis des Erklärungsgegenstandes semantisch eher in der Alltagssprache eingebettet, als Selbsttötung oder dem nicht werteten Suizid, so das man bei therapeutischen Gesprächen zum Wohle der Verständigung bei den alltagsgebräuchlichen Begriffen verbleiben sollte.[22]

2.3 Freitod

Im Vordergrund dieses Begriffes liegt die eigene Freiheit und Möglichkeit des Menschen sein Leben "in die eigene Hand zu legen" und zwar soweit, daß auch der Tod als Ziel gewählt werden kann, als Handlung einer freien Entscheidung. Es ist aus dieser Perspektive eine weitere Möglichkeit des Menschen, die der Tierwelt weitgehend vorenthalten ist.[23] Jedoch ist der Freitod einer der meist diskutierten Begrifflichkeit und spaltet die wissenschaftlichen Disziplinen (dazu s. Exkurs: Philosophie). Kann die Freiheit des Menschen so groß sein, daß er für sich selbst bestimmt wann seine Lebensfinalität erreicht ist, etwa durch den Willensentschluß oder ist er nur ein idealisierter Akt aus der Welt der Philosophen und Dramatiker.

Der Freitod ist als ein Gegenbegriff des Selbstmordes zu verstehen, schon er beinhaltet eine Krisen- und Zwanglosigkeit des Individuums, als sei der Tod eine Form von (selbst gerichteter) Kontemplation. Die Kritiker, meist aus dem psychiatrisch-medizinischem Sektor verneinen grundsätzlich die Möglichkeit eines Freitodes, da der Suizidant ein Opfer seines kränkelnden Selbst ist:

"Der Begriff (Freitod, F.W.) ist ebenso abzulehnen wie das 'freiwillige aus dem Leben scheiden': Die große Mehrheit aller Selbsttötungen wird in einer subjektiven hoffnungslos erscheinenden Situation unternommen, in welcher der Suizid als einzig möglicher Ausweg gesehen wird. Der oder die Betreffende handelt weder 'frei' noch 'willig'."[24]

Der Psychiater Erwin Ringel verneint hier die Möglichkeit einer freien Entscheidung zum selbstgewählten Freitod. Die Suizidhandlung wird bei ihm als eine Folge von "unglücklichen" Zuständen verstanden, die der Betroffene in seinem Leben aushalten mußte. Zu diesen Merkmalen (negativ erlebter Verhältnisse), weshalb Menschen ihr Selbsterhaltungsinteresse verlieren, werden wir noch in den folgenden Kapiteln (insb. Kap. 3.3.1) anschaulicher betrachten.

2.4 Suizid

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts tauchte das Wort Suizid ('sui caedere' - Zu Fall-Bringen des eigenen Ichs) in Frankreich auf, um von da aus im englischen Sprachgebrauch - aus dem es ursprünglich kam - verwendet zu werden. Da gab es bereits im deutschen Sprachgebrauch den Terminus "Selbstmord". Das Adjektiv "suizidal" (sich selbst töten wollend) und das Hauptwort "Suizidalität" beschreiben und beziehen sich auf selbst verletzende Gedanken, eigens zugefügte Destruktionen, Vorsätze, Handlungen zur Selbsttötung und Selbsttötungsversuchen. Analog zum Begriff Selbstmord sind die Bezeichnungen Suizid, Suizidalität, Suizidhandlung und Selbsttötung mit keiner moralischen Wertung behaftet.[25] Unter Suizid soll inhaltlich eine Handlung verstanden werden, mit der sich ein Mensch absichtlich durch eigenes Tun den Tod gibt und damit eine - in dem Sinne - unwiderrufliche Handlung unternimmt. Dabei ist es nicht entscheidend, ob der Tod nun generell beabsichtigt ist oder als ein Hilfeschrei zu deuten ist.[26] Als einen stummen Hilfeschrei, jedoch für die unmittelbaren Beteiligten ein aufrüttelndes und erschreckendes Kommunikationserlebnis, kann man den Suizid, respektabel Suizidversuch wahrnehmen (s. Kap. 5.2.2).

2.4.1 Suizidversuche

Unter dem Begriff Suizid fällt auch der Suizidversuch. Die Anzahl der versuchten Selbsttötungen liegt wesentlich höher als der Realisierte. Um Licht ins Dunkle zu bringen, für genaue Zahlen über die Höhe von Suizidversuchen kann man nur spekulieren, die Literatur bringt dazu Hinweise. Die Bandbreite der Schätzungen von Suizidversuchen gehen von einem fünf- bis fünfzehnfachen höheren Wert aus[27], als bei den Suizidtoten, d.h. zwischen 60.000 und 180.000 Menschen versuchen jährlich in der BRD aus dem Leben zu scheiden. Unter dieser Marge verbirgt sich die Relation, das Frauen ungefähr dreimal so häufig wie Männer einen Suizidversuch unternehmen. Eine genaue Angabe über die tatsächliche Höhe ist schwer zu ermitteln, da die Versuche aus folgenden Gründen nicht bekannt werden:

- Der Suizidversuch fand in den eigenen vier Wänden oder in einer sehr verlassenen Gegend statt, die (weiche) Methode, beispielsweise Intoxikation war zu schwach bemessen. Der Mensch erwacht aus dem Rausch und unternimmt nichts bzw. spricht mit keinem darüber.
- Der Hausarzt wird von den Familienangehörigen geholt, der es dann intern regelt.
- Aus versicherungsrechtlichen Gründen, um anfallende Kosten zu vermeiden, wird der Versuch vertuscht.[28]

Männer, die einen Suizidversuch überlebt haben, werden zum Teil von der Gesellschaft geschnitten, sie haben dann zusätzliche Probleme auszuhalten. Dazu zählen etwa Verachtung, Lieblosigkeit oder Hänseleien im Kollegen- oder Freundeskreis. Sodann kann sich die Situation zuspitzen, daß "es" beim nächsten Mal auch endgültig klappt:

"Generell ist damit zu rechnen, daß sich unter denjenigen, die einen Suizidversuch überleben, 1-2% pro Jahr sich doch noch umbringen."[29]

Das Verhältnis der Suizidversuche liegt wie bereits erwähnt bei Frauen dreimal so Hoch, als bei den Männern. Weswegen sich auffällig mehr Frauen darunter befinden veranschaulicht Christine Swientek, als möglicher Beweggrund zum Suizidversuch nennt sie:

"Für Selbstmordversuche von Frauen scheinen dagegen andere Maßstäbe zu gelten. Möglicherweise ist es noch immer das 'schwache', weniger lebensfähige Geschlecht, dem man zubilligt, mit den Härten und Versagen des Alltags nicht so recht klarzukommen. Die Frau, die sich umzubringen versucht, entspricht nur allzu sehr dem Bild einer Frau, die Schutz und Hilfe braucht, die betreut und geführt werden muß. Endlich ist sie mal schwach (geworden), endlich zeigt das weibliche Geschlecht, daß es mit Emanzipation und Frauenpower doch nicht so weit her ist. Das Helferherz ist angesprochen und wendet sich umsorgend zu."[30]

Das ist dann die Appellfunktion, die in einem Suizidversuch steckt, so die Feststellung von Erwin Stengel, dabei wird versucht Hilfe von den Mitmenschen zu bekommen, bzw. die gestörten Kommunikationsverhältnisse aufzuwerten.[31] Eine Frage bleibt Offen, was möchten und bewirken Betroffene mit ihrem Suizidversuch?

2.4.2 Suizidmethoden

Bei den Suizidversuchen entfallen cirka Dreiviertel auf "weiche" Methoden für die Umsetzung suizidalen Verhaltens. Darunter fallen die übermäßige Einnahme von Schlafmitteln und andere Intoxikationen (z.B. die Kombination mit Alkohol oder anderen Drogen), Ertränken und das Aufschneiden der Pulsader oder der Halsschlagader. Beim realisierten Suizid entschieden sich 50% für die "harte" Methode, dabei ist Erhängen, der Sturz in die Tiefe, Erschießen und Selbstverbrennungen gemeint. 61% der Frauen haben sich mit "weichen" Suizidmethoden das Leben genommen.[32] Die Bezeichnungen harte oder weiche Suizidmethoden beziehen sich auf die Konsequenz und Stärke der Ausführungsart, d.h. wie hoch bzw. niedrig der persönliche Selbst-Aggressions-Grad ist.

Weiche und harte Methoden zum Suizid trennen sich durch:

a) Vergiftung - Intoxikation, mit der Einnahme von Gift, Gas, toxische Dosis von leicht zugänglichen Substanzen. Es handelt es sich meist um eine Überdosis von Schlafmitteln, die zudem häufig mit weiteren Substanzen, z.B. Alkohol, im Mischkonsum eingenommen werden.
b) Erwürgung - Erhängen und Ertrinken
c) Suizid durch Hilfsmittel - Schnittverletzungen, Erschießen, Sprung in die Tiefe oder durch die Räder eines Verkehrsmittels verursacht.

Dabei ist Punkt a) "Vergiftung" eine weiche Methode, die Wirksamkeit ist allerdings niedrig. Punkt b) und c) erhöhen jeweils die Wirksamkeit der Suizidhandlung, jedoch wird auch der Grad der Autoaggression, der zum Ableben führt, verstärkt und ebenso zeigt es den Stärkegrad des Selbsthasses an.[33]

2.4.3 Suizidhandlung

Der Begriff Suizidhandlung oder suizidale Handlung ist der gemeinsame Oberbegriff für Suizide und Suizidversuche. Der Psychoanalytiker Heinz Henseler benennt eine "suizidale Persönlichkeit" als ein Mensch, der Ernsthaft mit Neigungen und Impulsen über Suizidphantasien eine suizidale Handlung erst vorhat oder bereits einen Versuch unternommen hat.[34]

Die Bezeichnung "suizidal" wird im folgenden auf Menschen angewendet, die sich radikal gegen das eigene Leben verhalten haben, verhalten oder verhalten wollen, also mit ernsthafter Suizidabsicht. Dabei ist es unwesentlich ob diese Absicht explizit geäußert oder gedacht wird oder sich schon ereignete.

Ohne eigentliche Suizidabsicht, jedoch in enger Wechselwirkung miteinander verflochten, sind tödlich endende Verhaltensformen wie Selbstzerstörung durch übermäßigen Drogenkonsum (Analog zum Genuß) oder Selbstverstümmelungen sollten und werden mit gedacht, da destruktive Autoaggression der Wahrscheinlichkeit nach schneller zum Tode führt. Suizidale Menschen sind demnach Individuen die sich ernsthaft mit Suizidgedanken auseinandersetzen bzw. schon suizidale Handlungen hinter sich haben.[35] Im folgenden werden als Oberbegriff die Ausdrücke "Suizidalität" und "Suizidhandlung" gewählt. Beide Termini geben dem Geschehen einen weiten Ausdrucksumfang, Einmal den vollendeten Suizid und den Suizidversuch und zudem beinhalten die Begriffe Suizidgedanken und -ankündigungen:

"Es ist nicht endgültig zu unterscheiden, ob auch sog. Suizidäquvalente (versteckte Suizide), wie z.B. ungeklärte Unfälle, Verweigerung von Nahrung, Mißachtung ärztlicher Anordnungen, Verhaltensweisen also, unter den Oberbegriff der Suizidalität fallen."[36]

Gegen moralisch negative Wertvorstellungen, die im Begriff Selbstmord mitschwingen, obwohl im deutschen Sprachraum überwiegend vom Selbstmord, seltener Selbsttötung, die Rede ist, sind die wertneutralen Begriffe Suizid und Suizidhandlung gesetzt.[37]

Es sollte noch erwähnt werden, daß alle aufgeführten Verhaltensmerkmale nicht konsequenterweise destruktives und/oder suizidales Verhalten auslöst, d.h. ihr Auftreten führt nicht unweigerlich zu suizidalen oder selbstdestruktiven Handlungen aber die Wahrscheinlichkeit, das die Möglichkeit einer gewalttätigen und selbstzerstörerischen Lösung in Betracht gezogen wird, erhöht sich. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den einzelwissenschaftlichen Theorien, die aus den Bereichen der Soziologie, Psychologie und der Psychopathologie entstammen und zum Verständnis gegenüber destruktiven und suizidalen Verhaltens beitragen sollen.

3. Drei Erklärungsperspektiven von destruktiven und suizidalen Handlungen

3.1 Soziologische Theorien

3.1.1 Durkheim und "Der Selbstmord"

Zu den ersten empirischen Forschern, die den Suizid mit Hypothesen sozialwissenschaftlich beschrieben haben, zählt zweifellos Emil Durkheim (1858-1917) zu den bekanntesten Vertretern. Durkheim publizierte sein soziologisches immer noch relevantes, Buch bereits 1897 unter den Titel "Le Suicide". Er untersuchte und beschrieb als erster, daß auch äußere Umstände, wie etwa der Grad sozialer Bindungen - der Integrationsgehalt und die Kontrollfähigkeit der Familie, Konfessionsgruppe oder politischen Gruppe etc. - die Suizidgefährdung begünstigen bzw. verringern können:

"Der Selbstmord variiert im umgekehrten Verhältnis zum Grad der Integration der sozialen Gruppen, denen der einzelne angehört."[38]

Der Zusammenhalt einer Gruppe, Kollektivs, Gemeinschaft oder Gesellschaft ist mit dem Begriff der Integration (lat. von integer, ganz oder unverletzt) gemeint. Im engsten Kreis der Ausprägung von Integration sind es die nahen Bindungen und Beziehungen zur Familie, peer-group oder anderen Bezugsgruppen, im weiteren Umfang die Solidarität "füreinander und miteinander" da zu sein.[39] Der Integrationsgehalt der Gemeinschaft ist höher, wenn dieselben Wert- und Normvorstellungen akzeptiert werden. Primär ist es die Familie (oder nahe Bezugspersonen) die am direktesten mit dem destruktiv handelnden und/oder neigenden Suizidanten zusammen leben.

Mit seiner Arbeit deutete Durkheim den Aspekt eines Zusammenhanges gesellschaftlicher Einbindung - der Kontrollmöglichkeit - und suizidalen Handlungen an, und das besagt, daß der Suizid nicht nur aus dem inneren - der Psyche - des Menschen entspringt, sondern als Folge gesellschaftlicher Ursachen, die praktisch, wie Durkheim es bezeichnete, als Krankheit das Individuum befällt und als Symptom der Krankheit äußert sich der Suizid. Die Diagnose stellt seine wissenschaftliche Disziplin:

"Wenn man (d.h. der Soziologie, F.W.) erst einmal das Vorhandensein der Krankheit festgestellt hat, wenn man weiß, worin sie besteht und was sie bedingt, und wenn man dann erkennt, wie das Heilmittel im allgemeinen beschaffen sein muß und an welchen Punkte es anzusetzen ist, dann ist das Wesentliche, daß man nicht erst einen Plan abwartet, der jede Einzelheit berücksichtigt, sondern daß man sich mit Entschlossenheit an die Arbeit macht."[40]

Das Vorhandensein und Anwachsen der Suizide ist für Durkheim ein Beweis, daß die zivilisierte Gesellschaft an einer Krankheit leidet, suizidale Handlungen der Gesellschaftsmitglieder ist ein erkennbares Symptom. D.h. Familien oder Netzwerke, die für eine psychische Stabilität des Betroffenen sorgen (könnten), geben keinen Rückhalt mehr.

Das Symptom könnte durch eine heilende Re-Integration des Gefährdeten gelindert werden, daher fragt Durkheim schreibend:

"Welche Gruppen sind (...) am ehesten in der Lage, den Menschen immer wieder zu diesem heilsamen Gefühl der Solidarität zurückzurufen?"[41]

Das Gefühl der Solidarität entwickelt sich im Bereich des Sozialen. Primär ist die Familie der Rückhalt für Konflikte, sekundär sind Netzwerke aus Freunden, Vereinen, politischen oder religiösen Gruppen und Organisationen, die gleichzeitig Identitätsstiftend wirken und so sich gegenseitig helfen.[42] Durkheim erkannte schon damals die heute herrschende Doppelbedeutung des Menschen, zum "physischen" kommt der "soziale Mensch" hinzu:

"Dieses Leben jenseits der Physis ist nicht durch die Erfordernisse der kosmischen Umwelt entstanden und entwickelt worden, sondern im sozialen Milieu."[43]

Auch der kosmische Einfluß mit dem Wetter, ist im Laufe der Suizidforschung mit großem Interesse in Betracht gezogen worden, jedoch mit keinem erkennbaren Zusammenhang. Die Ergebnisse der empirischen Studien über den Zusammenhang von Suizidhandlung und Klima- und Wetterauswirkungen kann man folgendermaßen zusammenfassen:

"Die Relevanz der Wetter- und Klimabedingungen für eine Erklärung und Prognose des Suizidgeschehens ist nach Ausweis der Zusammenhangsmaße infinitesimal und jedenfalls praktisch gleich Null. Die wenigen numerisch signifikanten Werte kann man als Artefakte betrachten."[44]

Im 17-18. Jahrhundert galt der Korrelation noch höheres Augenmerk, hinsichtlich einer Anfälligkeit von suizidalem Verhalten durch Wetter- und Klimaverhältnisse. So seien klimatische und meteorologische Bedingungen demnach schuld gewesen, daß der menschliche Körper und letztlich sein Geist, durch einen "Defekt des Säftehaushalts" sich selbst zerstört.[45]

Wenn das Wetter keine Auswirkungen auf die suizidalen Handlungen haben, sind kollektive Ereignisse wesentlich stärker am Individuum beteiligt, denn;

"(...)wenn Gesellschaft und Gruppe sich auflösen, lösen sich auch die sozialen Individuen auf, weil sie sich 'der objektiven Grundlage beraubt finden', ihre 'moralische Substanz' 'sich verflüchtigt'. Im Gegensatz zu Kind und Tier kann der 'soziale', 'zivilisierte'(...), eigentliche Mensch sozusagen nicht ohne Sinn-Energie leben, die ihm die Gesellschaft in Form kollektiver Ziele einspritzt. Zuvor - im Schoß der Gesellschaft aufgehoben, in die Gruppe integriert - hatten 'wir Zugang zu einer erhabenen Welt, nun zerfließt diese in Nichts und läßt uns einsam zurück', und 'es folgt daraus, das der Sinn des Daseins und fehlt'. Alles, auch das Überleben selbst, wird sinnlos."[46]

Jeder individuelle Lebenssinn kommt für Durkheim aus dem gemeinsamen Ziel der "bestimmenden" Gesellschaft, welche die materiellen und immaterielle Normen (Regeln) und Werte (Status, Prestige, Moden) bei der Bevölkerung bestimmen. Wenn die Gesellschaft aber an der überzivilisierten "Krankheit", daß sie bindungslocker und sinndefizitär wirkt oder entgegengesetzt, bei starkem Druck gesellschaftlicher Strömungen, hinsichtlich Moden und etwaige Verhaltenszüge der Lebensart einer "young-life" Ideologie leidet, mit ihren Attributen: Jung, Schön, Dynamisch - dann ist die Gefahr wahrscheinlicher, daß das Individuum dazu neigt destruktive und/oder suizidale Handlungsformen anzunehmen:

"Die Gesellschaft allein vermag, ein Gesamturteil darüber zu fällen, was das menschliche Leben wert ist, ein Urteil, für das der einzelne nicht kompetent ist (...). Denn die Individuen sind viel zu sehr in die Gesellschaft verstrickt, als daß diese krank und sie gesund sein könnten. Das Leiden der Gesellschaft wird notwendigerweise zum Leiden aller.(...) Weil sie der Endzweck ist, auf den unser besseres Ich ausgerichtet ist, muß sie auch dessen gewahr werden, daß unser Handeln sein Ziel verliert, wenn wir uns ihr entfremden."[47]

Die Gesellschaft bekommt bei Durkheims metaphorischen Sätzen einen lebendigen Charakter, das Wesen Gesellschaft ist erkrankt - sie kann ihre Mitglieder nicht vor der selbstgewählten Zerstörung aufhalten - und als Symptom der "Sinnentleerungskrankheit" äußert sich der Suizid.[48] In den verschiedenen Epochen und Zeiterlebnissen werden "Strömungen" in der "Verkörperung" Gesellschaft erzeugt und von dem Einzelnen wahrgenommen. Positive und negative Strömungen, wie Wohlstand, Vertrauen und Freude oder Depression, Traurigkeit und Enttäuschung, sind vom jeweiligen Verhältnis der Zeit und dem subjektiven Empfinden abhängig.[49] Diese Ströme übertragen sich von Außen, also von der gesellschaftlichen Gruppe, auf die Individuen. Solche negativen kollektiven Tendenzen, Vorstellungen oder Strömungen können Neigungen fördern und Ausbrüche von suizidalen Handlungen bestimmen:

"So formen sich Strömungen von Depression und Enttäuschung (...) Und da diese Strömungen kollektiv sind, haben sie auf Grund ihres Herkommens eine Autorität, der sich das Individuum schlecht entziehen kann."[50]

[...]


[1] Z.B. sind bei Shakespeares 14 Suizide in acht Tragödien vollzogen worden oder bei Puccinis "Madame Butterfly" und "Tosca" kommen Selbsttötungen vor, aufgrund von verletzten Gefühlen oder normativer Ungerechtigkeit. "Die Leiden des jungen Werther" von Goethe endeten im literarischen Selbstmord, statt seiner eigenen "Besessenheit" nachzugehen. Die Sublimation in Kunst, als Schutzschild der eigenen Integrität, reicht mitunter nicht aus, besonders wenn Tendenzen zum Drogenkonsum bestehen. Berühmte Persönlichkeiten sind u.a. Ernest Hemingway, Klaus Mann, Heinrich von Kleist, Cesare Pavese und Vincent van Gogh. Vgl. Holyst, Brunon (1986): Selbstmord - Selbsttötung. Kriminologische und kriminalistische Erkenntnisse über Ich und Gesellschaft. München, S.25-29. Bohle-Rühlmann, Christiane (2000): Künstler und Krankheit - Suizidalität und Drogenabhängigkeit im Leben und im Werke Klaus Manns. Marburg.

[2] Diese Größenordnung kommt zustande, wenn auf 100.000 Einwohner etwa zehn Menschen durch Suizid sterben. In: Holyst, Brunon (1986): Ebenda, S.6.

[3] "Jedenfalls steht fest, daß es zu allen Zeiten bei den europäischen Völkern je nach den Zeitläufen mehr oder weniger intensive selbstmordfördernde Strömungen gegeben hat; seit dem vergangenen Jahrhundert finden wir dafür die Beweise in der Statistik, und für die früherliegenden Zeiten im überlieferten Rechtsschatz. Der Selbstmord bildet also ein Element ihrer normalen Verfassung und wahrscheinlich sogar jeder sozialen Verfassung." Durkheim, Emile (1999): Der Selbstmord. Frankfurt am Main, S.429.

[4] Dabei spielt in dieser Arbeit es keine Rolle, ob sich destruktives Verhalten bewußt oder unbewußt auslebt, mit anderen Worten, latent oder manifest in Erscheinung tritt.

[5] Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main.

[6] Schmidtchen, Gerhard (1989): Schritte ins Nichts. Selbstschädigungstendenzen unter Jugendlichen. Opladen, S.10f.

[7] Vgl. Schmidtchen, Gerhard (1989): Ebenda, S.15f.

[8] Der Suizid wird in der meisten Literatur, zumindest in der Einleitung, als ein "Tabuthema" der Gesellschaft beschrieben.

[9] Alfred, Alvarez (1999): Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord. Hamburg, S.64f. Alvarez gibt Beispiele von historisch-gesellschaftlichen Umgangsformen zu Suizidanten. Schändungen des Leichnams waren die Regel.

[10] Der Begriff "Suizidologie" wurde zum ersten Mal eingeführt von dem holländischen Kriminologen W. A. Bonger im Jahre 1929. Der amerikanische Gelehrte E.S. Shneidman popularisierte diesen Begriff im Jahre 1964. 1969 begann in den USA ein Bullentin of Suicidology zu erscheinen; im Jahre 1968 organisierte man die erste Konferenz: American Association of Suicidology. In, Holyst, Brunnon (1986): Selbstmord - Selbsttötung. Kriminologische und kriminalistische Erkenntnisse über Probleme von Ich und Gesellschaft. München, Fußnote 5, S.3.

[11] So gefragt von Henseler, Heinz (1974): Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmordes. Hamburg, S.12.

[12] Das müßte ein Mensch sein, der aus Anreiz der Neugierde seinen Freitod wählt oder aus Bewunderung das Andere so gehandelt haben, und nicht durch "Motive" dazu verleitet wird.

[13] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.27.

[14] Die heutige Definition entspricht einer juristischen Richtung: "Als Suizid werden Todesfälle bezeichnet/behandelt bei denen Todesverursacher und Verstorbener identisch sind, der Tod auf eine 'nicht natürliche' Ursache zurückgeführt wird, und ein 'aktives Moment', dem von außen eine Absicht zugesprochen - nicht bewiesen - wird, aufweist." Jakob, Otmar: Die Zuverlässigkeitsproblematik der Todesursachenstatistik, insbesondere der Rubrik in der Vergangenheit und die Auswirkungen auf die Praxis. In: Haesler, Walter T. und Schuh, Jörg (Hrsg.)(1986): Der Selbstmord/Le Suicide. Grüsch, S.90.

[15] Beispielsweise das Zigarettenrauchen. Auf der Verpackung ist inzwischen vermerkt, daß Rauchen schwere Gesundheitsprobleme und den Tod zur Folge haben kann.

[16] Vgl. Holyst, Brunon (1986): Ebenda, S.18.

[17] Swientek, Christine (1991): Wenn Frauen nicht mehr leben wollen. Hamburg, S.22f.

[18] Christ Friedrich, Anna (1998): Ebenda. Zudem, Hirsch Mathias (Hrsg.)(1989): Der eigene Körper als Objekt: Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens, Berlin u.a..

[19] Battegay, Raymond (1988): Autodestruktion. Bern et al..

[20] Christ Friedrich, Anna (1998): Ebenda, S.25.

[21] Das Phänomen Amoklauf wird meist als Abrechnungstat verstanden, die Kompensation des Problems wird zur Rache, entweder werden die Opfer wahllos ausgemacht oder es sind Bekannte.

[22] Vgl. Christ Friedrich, Anna (1998): Der verzweifelte Versuch zu verändern : Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge. Göttingen, S.26f.

[23] Das bei manchen Tierarten (beispielsweise das Stranden von Walfamilien oder das Ertrinken von isolierten Delphine) auftretende selbstzerstörerisches Verhalten kann man nicht mit dem menschlichen Suizid vergleichen, da die Reflexionsfähigkeit zur Vorstellung des Todes bei Tieren nicht ausreicht.

[24] Vgl. Haenel, T. (1989): Suizidhandlung - Neue Aspekte der Suizidologie. Berlin, S.4.

[25] Christ Friedrich, Anna (1998): Ebenda, S.30.

[26] Christ Friedrich, Anna (1998): Ebenda, S.31.

[27] Henseler, Heinz (1974): Ebenda, S.23.

[28] Swientek, Christine (1990): Wenn Frauen nicht mehr leben wollen. Hamburg, S.14.

[29] Lewinsky-Aurbach, Bluma (1980): Suizidale Jugendliche. Grenzen und Möglichkeiten psychologischen Verstehens. Stuttgart, S.20.

[30] Swientek, Christine (1990): Ebenda, S.16.

[31] Stengel, Erwin (1969): Selbstmord und Selbstmordversuch. Fischer, Frankfurt am Main.

[32] Henseler, Heinz (1974): Ebenda, S.24.

[33] Holyst, Brunon (1986): Ebenda, S.161ff.

[34] Henseler, Heinz (1974): Ebenda, S.15.

[35] Dabei handelt es sich nicht um eine unerhebliche Mitgliederzahl in der Bevölkerung. Eine Schätzung ist schwierig, liegt aber sicher im Millionenfachen. Schmidtchen gibt die Anzahl zwischen 1.5-1.8 Millionen betroffener Menschen an (Zahlen ohne Ostdeutschland). In: Schmidtchen, Gerhard (1988): Ebenda, S.12.

[36] Erlemeier, Norbert (1992): Suizidalität im Alter - Bericht über den aktuellen Forschungsstand, Stuttgart u.a., S.6.

[37] So ja auch die deutsche Übersetzung von Durkheims Werk: "Le suicide" - "Der Selbstmord".

[38] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.232.

[39] Dabei kann es sich zwischen einer negativen oder positiven Integration handeln. Positive Integration erzeugt in der Gemeinschaft Stabilität und die Sicherheit der Dazugehörigen, negative Integration käme zustande wenn die Gemeinschaft unter Zwang oder starker Kontrolle ihren Zusammenschluß findet. Dem gegenüber steht die positive oder negative Desintegration. Positive Desintegration erzeugt Wandel, Abweichung und Asymmetrien in der Verbindung, die etwas neues entstehen lassen. Desintegration im negativen Sinn bedeutet geradezu den Zerfall einer Gemeinschaft, dort finden sich Formen, wie Kriminalität oder Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Nichtanerkennung. Vgl. dazu: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.)(1997): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt am Main, S.27.

[40] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.467.

[41] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.443.

[42] So ist bis heute der Einfluß von der Religionszugehörigkeit zum Suizid unerklärlich. Festgestellt wird in statistischen Erhebungen, daß die Katholiken die geringste Suizidrate aufweisen, die Protestanten sich weit häufiger selbst töten und die Juden die höchste Ziffernrate haben, also immer noch die gleiche Konstellation wie bei Durkheims Studie. Mergen, Armand: Ebenda, in: Walter T. Haesler und Jörg Schuh(Hrsg.)(1986): Ebenda, S.59.

[43] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.235.

[44] Hard, Gerhard (1988): Selbstmord und Wetter - Selbstmord und Gesellschaft, Wiesbaden, S.62.

[45] Hard, Gerhard (1988): Ebenda, S.181. Montesquieu und Jean-Baptist Dubos sind die bekanntesten Vertreter dieser Geozonen und Klimatheorie zur Suizidneigung.

[46] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.237. Zitiert nach: Hard, Gerhard (1988): Ebenda, S.127f.

[47] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.238.

[48] Hier stellt sich die Frage ob die Gesellschaft nun den Menschen in seinem Erkennen und seiner Interessiertheit (Verhalten) determiniert wie Durkheims soziale Tatsachen als Strömungen annimmt oder sie nur stiftende Eigenschaften aufweist, im Sinne eines eigenständigen Menschen von Descartes "ich denke, also bin ich" Konstitution, so daß die Soziabilität erst bedeutungsvoll wird durch die Tätigkeit des Menschen.

[49] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.238,347. Hard, Gerhard (1988): Ebenda, S.128.

[50] Durkheim, Emile (1999): Ebenda, S.238f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832464080
ISBN (Paperback)
9783838664088
DOI
10.3239/9783832464080
Dateigröße
649 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (ehem. Hochschule für Wirtschaft und Politik) – unbekannt
Erscheinungsdatum
2003 (Februar)
Note
1,5
Schlagworte
konflikt frustration suizidhandlung depression
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Titel: Destruktivität und Suizid
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