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Zur förderdiagnostischen Begutachtung in Sachsen und anderen Bundesländern

Ein Vergleich

©2002 Examensarbeit 81 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vorliegende Arbeit zum Thema „Förderdiagnostische Begutachtung“ fertigte ich im Zeitraum Mai – August 2002 im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Förderschulen an.
Während eines Seminars mit dem Gegenstand der Qualitativen Sozialforschung wurde ich von Herrn Dr. Jogschies daraufhin angesprochen, an einem Projekt mitzuarbeiten, welches sich der Qualität und den Strukturen von Fördergutachten und –plänen in Deutschland widmet. Der wesentliche Teil der Arbeit bestand zunächst darin, mich mit Hilfe des Computerprogramms „ATLAS/ti 4.1“ mit meiner Arbeitsgrundlage zu beschäftigen: Einer Umfrage des Comenius Institutes Radebeul.
ATLAS/ti wurde zunächst innerhalb eines universitären Forschungsprojektes entwickelt und schließlich als Kommerzielle Version auf dem freien Markt verkauft. Es handelt sich dabei um Software zur qualitativen Datenanalyse. Damit war es mir im Vorfeld möglich, das digitalisierte Datenmaterial zu codieren, die textuellen Daten also qualitativ zu analysieren, interpretieren, sortieren und zu verwalten.
All diese Vorarbeit war notwendig, um mich umfassend mit dem eigentlichen Kern beschäftigen zu können.
2001 wurde durch das Comenius Institut Radebeul eine Umfrage an alle Bundesländer gestartet, die eruieren sollte, inwieweit mit Fördergutachten und –plänen in Deutschland gearbeitet wird, welche Prozesse dabei ablaufen, wer beteiligt ist usw.
Diese Arbeit soll nun dazu dienen, diese Umfrage auszuwerten, um daraufhin feststellen zu können, welche Standards, welche Leitlinien in den verschiedenen Bundesländern existieren, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche förderdiagnostisch zu begutachten, eine Entscheidung über ihren weiteren Bildungsweg zu geben.
Dazu erscheint es mir zunächst notwendig, Fachleute zu befragen, welche theoretischen Grundlagen es dafür gibt, ob eventuell bereits fertige Konzepte existieren oder der Förderschullehrer, welcher sich in der Praxis befindet, vielmehr auf sich allein und seinen gesunden Menschenverstand gestellt ist.
Abschließend möchte ich darauf eingehen, inwieweit sich Sachsen in all diese Prozesse eingliedern lässt, wobei vor allem die rechtlichen / gesetzlichen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen sollen. Vorwiegend konnte ich dazu die Sonderschulverordnung zu Rate ziehen, ebenso das Schulgesetz für Sachsen.
Mit dem Kapitel „Ausblick und Zusammenfassung“ möchte ich darüber hinaus versuchen, perspektivisch Aussagen von Lehrern bezüglich […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Einführende Aussagen zum Thema - Allgemeine Bemerkungen

2. Nutzen und Funktion von Diagnostik
2.1 Pädagogisches Handeln in der Praxis
2.2 Gestaltung der diagnostischen Situation
2.3 Das diagnostische Gespräch
2.3.1 Mögliche Fehlerquellen im Diagnostischen Gespräch
2.3.2 Rahmenbedingungen
2.4 Diagnostik als Prozeß
2.4.1 Der Prozeßverlauf
2.4.1.1 Fachliche Kompetenz und Berufsethos des Diagnostikers
2.4.1.2 Algorithmensysteme und Einbindung in den Prozeßverlauf
2.4.2 Beispiel zum Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs - NRW (nach Mand 2002)
2.5 Neue Entwicklungen in der Förderdiagnostik
2.6 Der Einfluß von Gutachtervariablen

3. Fragenkatalog zur Gestaltung des förderdiagnostischen Prozesses
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Teil I – Zum Verfahrensweg
3.2.1 Vorbemerkungen
3.2.2 Meldung und Durchführung
3.2.3 Meldung der Schüler
3.2.4 Der förderdiagnostische Prozeß
3.2.5 Zur Entscheidung von Bildungsgang und Förderort
3.3 Teil II – Zur Datenerhebung
3.3.1 Vorbemerkungen
3.3.2 Methoden und Verfahren
3.3.2.1 Lernen und geistige Entwicklung
3.3.2.2 Verhalten
3.3.2.3 Sprache
3.3.2.4 Motorische Entwicklung
3.3.2.5 Sehen und hören
3.3.3 Formen der Diagnostik
3.3.4 Dauer
3.4 Teil III – Zu Gutachten und Förderplan
3.4.1 Vorbemerkungen
3.4.1.1 Gutachten- und Förderplan -erstellung
3.4.1.2 Förderung
3.4.1.3 Hypothesenbildung
3.4.1.4 Auswertung
3.4.1.5 Qualität der Gutachten

4. Einordnung Sachsens
4.1 Vorbemerkungen
4.2 Aufnahmeverfahren
4.3 Gutachtenerstellung
4.4 Gutachtenaufbau und Förderplan
4.5 Beispiel für einen Leitfaden

5. Ausblick und Zusammenfassung

6. Schlußwort

7. Literaturliste

8. Rechtliche Erklärung

0. Einleitung

Die vorliegende Arbeit zum Thema „Förderdiagnostische Begutachtung“ fertigte ich im Zeitraum Mai – August 2002 im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Förderschulen an.

Während eines Seminars mit dem Gegenstand der Qualitativen Sozialforschung wurde ich von Herrn Dr. Jogschies daraufhin angesprochen, an einem Projekt mitzuarbeiten, welches sich der Qualität und den Strukturen von Fördergutachten und –plänen in Deutschland widmet. Der wesentliche Teil der Arbeit bestand zunächst darin, mich mit Hilfe des Computerprogramms „ATLAS/ti 4.1“ mit meiner Arbeitsgrundlage zu beschäftigen: Einer Umfrage des Comenius Institutes Radebeul.

ATLAS/ti wurde zunächst innerhalb eines universitären Forschungsprojektes entwickelt und schließlich als Kommerzielle Version auf dem freien Markt verkauft. Es handelt sich dabei um Software zur qualitativen Datenanalyse. Damit war es mir im Vorfeld möglich, das digitalisierte Datenmaterial zu codieren, die textuellen Daten also qualitativ zu analysieren, interpretieren, sortieren und zu verwalten.

All diese Vorarbeit war notwendig, um mich umfassend mit dem eigentlichen Kern beschäftigen zu können.

2001 wurde durch das Comenius Institut Radebeul eine Umfrage an alle Bundesländer gestartet, die eruieren sollte, inwieweit mit Fördergutachten und –plänen in Deutschland gearbeitet wird, welche Prozesse dabei ablaufen, wer beteiligt ist usw.

Diese Arbeit soll nun dazu dienen, diese Umfrage auszuwerten, um daraufhin feststellen zu können, welche Standards, welche Leitlinien in den verschiedenen Bundesländern existieren, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche förderdiagnostisch zu begutachten, eine Entscheidung über ihren weiteren Bildungsweg zu geben.

Dazu erscheint es mir zunächst notwendig, Fachleute zu befragen, welche theoretischen Grundlagen es dafür gibt, ob eventuell bereits fertige Konzepte existieren oder der Förderschullehrer, welcher sich in der Praxis befindet, vielmehr auf sich allein und seinen gesunden Menschenverstand gestellt ist.

Abschließend möchte ich darauf eingehen, inwieweit sich Sachsen in all diese Prozesse eingliedern lässt, wobei vor allem die rechtlichen / gesetzlichen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen sollen. Vorwiegend konnte ich dazu die Sonderschulverordnung zu Rate ziehen, ebenso das Schulgesetz für Sachsen.

Mit dem Kapitel „Ausblick und Zusammenfassung“ möchte ich darüber hinaus versuchen, perspektivisch Aussagen von Lehrern bezüglich der Verbesserungsfähigkeit des Systems „Förderschule“ einzuordnen und zu betrachten, wie gute Vorschläge aus der Praxis in das Konstrukt einfließen können.

1. Einführende Aussagen zum Thema - Allgemeine Bemerkungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 (aus Duden Psychologie, 1996, S. 60: „Chancengleicheit“)

Um gerecht selektieren zu können, lautet die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, für alle gleich. Wer kennt das nicht – meine eigenen Erfahrungen in Förderschulen für Lernbehinderte sprechen diese Sprache. Obwohl natürlich für jeden offensichtlich ist, daß jedes Kind, jeder Mensch andere Stärken und Schwächen hat; obwohl sich jeder auf einem anderen Gebiet gut auskennt, vertiefendes Wissen besitzt oder aber sich gar nicht dafür interessiert, bekommen in der Regel alle Schüler[1] die gleiche Aufgabe gestellt, welche sie unterschiedlich gut in der Lage sind auszuführen.

Seit mittlerweile 25 Jahren wird im heilpädagogischen Denken der Begriff „Förderdiagnostik“ verwandt. Er verbindet die Diagnostik mit der Idee von der Förderung eines Kindes, das heißt das Ziel der Diagnostik ist (bestmögliche) Förderung. „Gefordert und entwickelt als eine neue Form der Diagnostik, die einer neuen Art des Denkens in der Pädagogik der Behinderten entsprechen sollte“ (Jetter, 1996). Kritik gab es jedoch von vielen Seiten, vor allem aus der Praxis, eigene Spontaneität, Einfühlungsvermögen und Empathie seien schließlich treffsicherer als standardisierte Testverfahren.

Konkrete Vorschläge, wie die „förderdiagnostische Praxis“ denn aber zu bewältigen sei, finden sich in der Literatur nur höchst selten. Veraltete Verfahren, das Verwenden traditioneller Instrumentarien sind die Folge, obwohl diese „neue Form des Diagnostizierens“ gar nicht mehr so neu zu sein scheint.

Bereits 1983 sprechen Jetter, Schmidt und Schönberger von einer sogenannten „bildungszielorientierten Diagnostik". Förderung – hier im umfassenderen Sinne von Erziehung, Bildung und Therapie – soll einem Menschen helfen, vorgegebene Ziele zu erreichen.

Aber: Welches Ziel ist dem Kind überhaupt zuzutrauen? Zuzumuten? Zugänglich? Wer entscheidet dies? Immerhin soll eben das doch den Anhaltspunkt dafür bilden, welche Inhalte und damit Methodik, Didaktik oder auch Sozialformen am sinnvollsten wären. Wäre jedoch das Resultat der Diagnostik das für das jeweilige Kind erreichbare Ziel selbst, so bedeutete dies nichts anderes, als einen Rückfall in die „Zuweisungsdiagnostik“.

Und doch: Das ist das Dilemma. Entweder wir kategorisieren, bringen die Kinder also in vorgegebene Schubladen, oder aber wir versuchen individuelle Charakteristika herauszufinden, ohne uns aber gleichzeitig eine Unmenge von Einzelheiten so zu offenbaren, daß eine konkrete Entscheidung über den einzuschlagenden Weg unmöglich wird.

2. Nutzen und Funktion von Diagnostik

2.1 Pädagogisches Handeln in der Praxis

Ziel pädagogischen Handelns ist es, das Verhalten anderer möglichst dauerhaft positiv zu beeinflussen; das Erziehen und Lehren der Kinder besteht vorwiegend aus dem „intentionalen Herbeiführen systematischer Veränderungen an Personenmerkmalen durch Lernen“ (Langfeldt / Tent 1999, S. 13). Bestimmte gegebene – individuell verschiedene – Ist - Werte sollen in vorher bestimmte Soll - Werte umgewandelt werden.

Wichtig dabei ist – Maria Montessori: „Das Kind da abholen, wo es steht!“ – die Lernvoraussetzungen möglichst umfassend genau zu kennen. Eine individuelle Diagnostik ist also vonnöten; um abwägen zu können, welche der verschiedenen zur Verfügung stehenden Alternativen des Umgangs mit dem Schüler die beste ist, die „Soll – Werte“ zu erreichen, eine Prognose also zu erstellen, wie der weitere Entwicklungsverlauf aussehen kann, aussehen soll. Der Erfolg des pädagogischen Handelns muß dann mittels Lernerfolgskontrollen – Veränderungsmessung – festgestellt oder neu überdacht werden. Das Ergebnis der jeweiligen Messung entspricht dem darauf folgenden weiteren pädagogischen Handeln, es beeinflußt dieses in erheblichem Maße.

Ziel der Diagnostik ist es in jedem Falle offenbar, bestimmte Personen – Schüler – zu verschiedenen Gruppen zuordnen, sie also klassifizieren zu können. Unterschiedliche Meßergebnisse sollen zudem nicht in der Subjektivität des Testenden zu begründen sein, sondern allein auf Irregularitäten in der jeweiligen Merkmalsausprägung des Probanden zurückgehen (vgl. Langfeldt / Tent 1999 S. 13, f).

Da die Klassifikation natürlich nicht beliebig geschehen kann (Stichwort „Intuition von Lehrern“; „gesunder Menschenverstand“), müssen die Verfahrensweisen objektiv nachvollziehbar, reliabel[2] und valide[3] sein.

2.2 Gestaltung der diagnostischen Situation

Während des direkten Zusammenarbeitens von Diagnostiker und Kind hängt sehr viel von der Person des Diagnostizierenden selbst ab. Langfeldt und Tent geben Anhaltspunkte für verschiedene Grundsätze, die der Diagnostiker einhalten sollte, welche ich im Folgenden in Anlehnung kurz vorstellen möchte:

- Er tritt sachlich, sicher und bestimmt auf.
- Er verhält sich freundlich, hält Blickkontakt und vermeidet jede Art von Hektik.
- Sein Sprachverhalten sollte stets sozial angepaßt sein, ist ruhig, aber nicht monoton. Er benutzt kurze, verständliche Sätze auf einem angepaßten Abstraktionsniveau.
- Er vermeidet Suggestivfragen, wenn möglich auch durchgehend Entscheidungsfragen (ja / nein).
- Auch in der Sprache sollte sich zeigen, daß er sich mit lokalen und alterstypischen Besonderheiten – wie der Umgangssprache – auskennt, sich so um einen ungezwungenen Umgang bemüht, dabei aber nie distanzlos wird.
- Nicht nur Erwachsenen (Eltern) sondern auch den Kindern und Jugendlichen gegenüber ist er höflich und taktvoll.
- Er gibt Rückmeldungen über seine Tätigkeit . (vgl. dazu Langfeldt, Tent 1999, S. 30)

2.3 Das diagnostische Gespräch

Das Gespräch zwischen Pädagogen und Schüler, welches dazu dient,

1. die diagnostische Situation zu klären, (vor allem, die Untersuchbarkeit des Probanden),
2. zur Sachinformation beizutragen (biographische Daten, etc.),
3. diagnostische Hypothesen zu generieren und geeignete Verfahren auszuwählen, sowie
4. Beiträge zur Persönlichkeitsdiagnose zu leisten, wo objektive Verfahren nicht anwendbar sind, sollte in jedem Falle zielgerichtet sein.

Dabei wird erstens unterschieden zwischen der Anamnese, in welcher es vorwiegend um die Entwicklungsgeschichte des Kindes geht, und der Exploration, welche das Problem an sich näher beleuchten soll, also einer Sachanalyse der Situation gleichkommt. Wichtige Prozesse des diagnostischen Gesprächs sprechen auch Schmidt und Keßler, in ihrem 1976 erschienen Buch „Anamnese“ an. In Anlehnung an deren Ausführungen sollen folgende Prozesse, die im diagnostischen Gespräch stattfinden, aufgezeigt werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 wichtige Prozesse im diagnostischen Prozeß, nach Schmidt / Keßler 1976

Die Frage steht also im Raum: Nimmt der Diagnostiker wirklich das wahr, was der Schüler an Informationen preisgibt? Oder besteht eine (evtl. nicht unerhebliche) Differenz zwischen dem wahrgenommenen und dem tatsächlichen Sachverhalt?

2.3.1 Mögliche Fehlerquellen im Diagnostischen Gespräch

Kubinger (1995, S. 130), der in Anlehnung an gebräuchliche Beratungsgrundsätze – u. a. zu finden bei Deegener, 1995, a. a. O. – diverse „Laster“ katalogisiert hat, sieht vor allem Probleme im Berater / Diagnostiker selbst. Fisseni hingegen (1997, S. 232) formuliert diese Kritikpunkte positiv.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 positive und negative Eigenschaften eines

Diagnostikers nach Kubinger 1995 und Fisseni 1997

2.3.2 Rahmenbedingungen

Während der Untersuchungssituation sollte der Diagnostiker auch (und nicht zuletzt) auf die äußeren Rahmenbedingungen Acht geben. So ist es beispielsweise wichtig, daß die Diagnostik in einem geschlossenen Raum stattfindet, der angemessenen ausgestattet, gut beleuchtet und vor allem ruhig, also vor Publikumsverkehr geschützt ist.

Die Untersuchungszeit sollte sich an den tagesrhythmusabhängigen Leistungsschwankungen eines Schülers orientieren, das Alter spielt keine unwesentliche Rolle dabei; allgemein läßt sich wohl sagen, daß, je älter das Kind ist, die Untersuchungszeit entsprechend länger sein kann; eventuelle, bereits zu einem früheren Zeitpunkt angefertigte psychologische Gutachten, die Aussagen treffen zur Konzentrationsfähigkeit bzw. Beobachtungen von Lehrern des Schülers sollten in die Überlegungen einbezogen werden.

Etwa sollte man Pausen einplanen, die Dauer und Intensität vorangegangener Tätigkeiten müssen Berücksichtigung finden, eventuell ob und wie lange der Schüler vorher bereits in Unterricht gesessen hat.

Als selbstverständlich gilt, daß der Untersuchende die Verfahren, die er einsetzen möchte, ausgezeichnet beherrscht, so daß Fehlerquellen, die in der Durchführung der angewandten Verfahren liegen, von vornherein ausgeschlossen werden können. Instruktionen müssen – vorher geübt – korrekt wiedergegeben werden können, die Bearbeitungszeit sowie eventuelle Hilfen, die der Schüler in Anspruch nehmen darf, bekannt sein.

Es sollte jedoch unbedingt darauf geachtet werden, daß kein steriles, schematisch abzuarbeitendes Verhältnis zwischen Schüler und Diagnostiker entsteht, etwa durch Benutzen einer Stoppuhr, die einen Wettbewerbscharakter erkennen ließe, wo eine simple Armbanduhr oder ein Wecker ausreichen würden. Vielmehr sollte der Untersuchende flexibel reagieren können, auf neue, nicht vorhersehbare Situationen anpassungsfähig und beweglich eingehen.

2.4 Diagnostik als Prozeß

Bedenkt man, welche Auswirkungen die pädagogische und psychologische Diagnostik in der Praxis nach sich ziehen, erscheint es um so wichtiger, höchste Anforderungen an methodische wie sprachliche Genauigkeit der Gutachten zu stellen. In jedem Stadium der Erstellung des Gutachtens werden vom Diagnostiker Sorgfalt und Umsicht des Vorgehens verlangt, Sachgerechtheit und Kompetenz auch bei der Mitteilung der durch die Arbeit gewonnenen Befunde.

„Prozeß“ ist ein recht weitläufiger Begriff, bedeutet soviel wie Verlauf, Entwicklung, Fortgang, Abfolge, Vorgang, etc. (vgl. Mackensen, 1990). Psychologisch wird er meist in Zusammenhang mit sogenannten „kognitiven Prozessen“ verwandt: Wahrnehmung, Denken, Lernen.

Jäger (1986, S. 11) beschreibt den Prozeß in der Diagnostik als einen zeitlich vorherbestimmten Ablauf von Handlungen, die dazu dienen, eine durch einen sogenannten „Auftraggeber“ gegebene Fragestellung so zu beantworten, daß eine Entscheidung getroffen werden kann. Nach Jäger beschreibt dieser Prozeß also einen Kommunikationsvorgang i. S. einer sozialen Interaktion, da der Diagnostiker in jedem Falle angehalten ist, zwischen allgemeiner Umgangssprache und fachlich korrekter Redeweise zu translieren.

2.4.1 Der Prozeßverlauf

Obwohl es eine sehr große Vielfalt an diagnostischen Fragestellungen gibt (siehe 1. auf S. 3), ist zu vermuten, daß dabei zumeist ein gewisses Grundmuster im Ablauf eingehalten wird, die Bausteine jedoch im Einzelfall entsprechend variieren: Situation, Zeitaufwand und Konsequenzen der Diagnostik. In jedem Falle jedoch muß eine exakte Planung und Organisation der Untersuchung vorausgehen. Die Verfahren müssen einen hohen Grad an Intersubjekivität besitzen, welcher durch eine sachgerechte Durchführung und Auswertung erreicht wird (genaue Angaben dazu finden sich beispielsweise in den Testmanualen) Zudem müssen Ergebnisse unabhängig kontrolliert, beurteilt und anderen zur Verfügung gestellt werden.

Prozeßmodelle, wie sie Jäger bereits 1986 beschreibt, sind zumeist sehr einfach gehalten, die Grundstruktur ließe sich wie folgt abbilden (nach Westmeyer, 1982):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 Prozeßmodell, modifiziert nach Westmeyer, 1982

Ausgehend von einer verfügbaren Wissensgrundlage gelangt man durch ein sogenanntes „Algorithmensystem“ auf Grund der Ausgangsfrage (Liegt ein sonderpädagogischer Förderbedarf vor oder nicht?) zur Antwort, in diesem Falle der Diagnose.

Die Wissensgrundlage dabei ist der zu Beginn des Prozesses verfügbare Bestand an wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen (zum Beispiel zu Entstehung von Verhalten und dessen Modifikation, Merkmalsanalysen, Erstellung von Anforderungs- und Eignungsprofilen, etc. ).

2.4.1.1 Fachliche Kompetenz und Berufsethos des Diagnostikers

Abgesehen von der zur Verfügung stehenden Wissensgrundlage (siehe 2.4.1) ist die fachliche Kompetenz des Diagnostizierenden von entscheidender Bedeutung für die Qualität des Gutachtens.

Angelehnt an die sogenannte „Berufsordnung für Psychologen“ des Berufsverbandes deutscher Psychologen von 1986, in welcher fachliche und ethische Maßstäbe für die pädagogisch – psychologische Diagnostik festgehalten werden, gibt es neben einer eher ideellen Instanz wie der des Berufsethos‘ eine rechtliche Bewertung durch den Gesetzgeber, Verwaltungen und Gerichte:

„Soweit sie von Lehrern (...) vorgenommen wird, gehört die diagnostische Beurteilung des Verhaltens und der Leistungen von Schülern zu den Dienstpflichten und ist damit Teil des staatlichen Verwaltungshandelns, das durch arbeits-, dienst- und beamtenrechtliche Vorschriften weitgehend geregelt ist“ (Tent / Stelzl 1993)

Berufsethische Bestimmungen sind vor allem untergesetzliche Normen, die den Berufstätigen verpflichten, festgelegte Gütestandards einzuhalten und nach bestimmten Regeln, wie beim Umgang mit Menschen, Dingen und Informationen (Datenschutzbestimmungen) zu handeln.

In Deutschland gibt es derzeit noch keine solch verbindlichen Regeln, wie sie in der bereits oben genannten „Berufsordnung für Psychologen“ aufgeführt werden, bzw. wie sie der „Eid des Hippokrates“ für Ärzte beschreibt.

Menschen in edukativen Berufen – mithin Lehrer – haben vor allem dem Wohle des Einzelnen und damit auch der Gesellschaft zu dienen, sie haben damit einen gesellschaftlichen Auftrag per se und sehen sich darüber hinaus auch und gerade in der Verantwortung vor der nachwachsenden, jüngeren Generation (vgl. Tent / Stelzl 1993).

2.4.1.2 Algorithmensysteme und Einbindung in den Prozeßverlauf

Die in Abbildung 4 unter Punkt 2.4.1 genannten Algorithmen lassen sich (vgl. auch Westmeyer, 1982) in drei zentrale Destinationen des Diagnostikers aufschlüsseln:

- Algorithmen innerhalb des Prozesses, die dessen Ablauf steuern,
- Algorithmen zur Auswahl, die die wichtigsten Teile der Wissensgrundlage und geeignete diagnostische Verfahren in den Prozeß einbringen, sowie
- Algorithmen zur Prüfung, die systematische Aspekte der Prüfung der diagnostischen Hypothesen regeln.

Innerhalb des Prozeßverlaufs sollte vor allem auch darauf Acht gegeben werden, daß die anfallenden Daten wenn möglich sofort und in korrekter Art und Weise gespeichert werden können. Die Reproduktion aus dem Gedächtnis im Anschluß an stattgefundene Interaktionen (Tests, Gespräche, etc.) scheint durch die natürliche Selektion des Gehirns von „Datenmaterial“ willkürlich und gefährlich, beginnt die Auswahl und Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges ja bereits während der Aufnahme.

Eventuell anzufertigende Bild- oder Tondokumente sind selbstverständlich unter dem Aspekt des Datenschutzes und ausschließlich mit Zustimmung des Probanden zu erstellen.

Der Prozeßverlauf, in welchen die Algorithmen eingegliedert werden sollen, läßt sich vereinfacht wie folgt beschreiben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5 Prozeßverlauf

(in Anlehnung an Langfeldt / Tent 1999, S. 37, f. )

2.4.2 Beispiel zum Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs - NRW (nach Mand 2002)

Um einen ersten Eindruck darüber zu vermitteln, wie ein solches sonderpädagogisches Gutachtenverfahren aussehen könnte, möchte im Folgenden ein Beispiel dazu aus Nordrhein – Westfalen anführen.

Mand beschreibt in seinem Aufsatz von 2002 die Regelungen zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in NRW als liberal, Eltern werden mehr Rechte als früher, der allgemeinen Schule mehr Einfluß gegenüber der Sonderschule eingeräumt. Es ist also von großer Bedeutung, Konsens in den Auffassungen der Regelschullehrer einerseits und den Förderpädagogen andererseits herzustellen. Die Meinung der Eltern darf jedoch in diesem Zusammenhang nicht verloren gehen, sondern sollte „zumindest erhoben und dokumentiert werden“ (Mand 2002, S. 9).

Das Gutachten wird also in Zusammenarbeit eines Regel- und Förderschullehrers erstellt und geschrieben. Spezielle Testverfahren müssen nicht verwendet werden, Wünsche der Eltern und das individuelle Lebensumfeld des Kindes müssen jedoch Berücksichtigung finden.

Das Verfahren an sich stellt sich wie folgt dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6 Förderpädagogisches Feststellungsverfahren

[...]


[1] Innerhalb der gesamten Arbeit werde ich auf den Gebrauch von sog. „Binnen-I“ oder zweifach – Angaben verzichten; mit jeder Aussage zu männlichen Vertretern sei – wenn nicht anders angegeben – stets auch die weibliche Person gemeint.

[2] à ein Hauptgütekriterium von Testverfahren; die Zuverlässigkeit von Messungen, gibt an, wie genau ein Test ein bestimmtes Merkmal mißt, ungeachtet dessen, was das Meßinstrument zu messen beansprucht ((Duden, Psychologie, 19962)

[3] à weiteres Hauptgütekriterium von Testverfahren; „Gültigkeit“ – gibt den Grad der Genauigkeit an, mit dem ein Meßverfahren das mißt, was es zu messen vorgibt (Duden, Psychologie, 19962)

[4] siehe Kubinger 1995 S. 130

[5] in Anlehnung an Loretto, nach Fisseni 1997, S. 232

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832463304
ISBN (Paperback)
9783838663302
DOI
10.3239/9783832463304
Dateigröße
1012 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig – unbekannt
Erscheinungsdatum
2003 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
förderdiagnostik gutachtenerstellung auswertung fördergutachten einordnung sachsen
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