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Therapeutische und beratende Arbeit mit Eltern suizidierter Kinder

©2003 Diplomarbeit 193 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Arbeit verfolgt das Ziel, einen Bereich auszuleuchten, der bislang in der therapeutischen Konzeptbildung und Praxis deutlich vernachlässigt wurde. Zwar ist bislang dem Suizid eines Kindes ausführlich Beachtung geschenkt worden, doch zur Frage, wie die betroffenen Eltern mit der Suizidhandlung ihres Kindes mittel- und langfristig umgehen, liegen so gut wie keine Erkenntnisse vor. So betritt der Autor mit der vorliegenden Arbeit Neuland, was bedeutet, neben der normalen Literaturrecherche auch in andere Informationsgewinnungsfelder vorzudringen, wie Selbsthilfegruppen usw. – eine Pioniertätigkeit im besten Wortsinn.
Gang der Untersuchung:
Dabei umfasst die Arbeit zunächst, neben statistischen Daten, eine genaue Definition der Begriffe Selbstmord, Selbsttötung, Freitod, Parasuizid und Suizid. Es wird diskutiert, warum diverse Begriffe unhaltbar sind und mit dem Begriff „Suizid“ gearbeitet wird. Im Anschluss werden drei praxisnahe Theorien besprochen, die den Weg zum Suizid erklären können. Der Nachteil dieser Theorien liegt in der (nicht immer offenen) Schuldzuweisung. Die Eltern werden durch ihr Verhalten in der Kindheit der Suizidenten zu Schuldigen gestempelt. Eine Erklärung, die so nicht stehen gelassen werden kann.
Im empirischen Teil wird dann großen Wert darauf gelegt, dass Leben der Eltern nach dem Suizid ihres Kindes für außenstehende Menschen möglichst transparent zu machen. Es wird sich des halbstrukturierten Interviews bedient, das mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse auswertet wurde. Dabei sind die eigene Suizidgefährdung der Eltern, ihr Erleben des Alltags und die Länge der Trauer nur einige Punkte die das sonst manchmal sehr fragwürdige Verhalten dieser Eltern erklären sollen. Eine graphische Übersicht mit Originalzitaten aus den Gesprächen soll die Transparenz im Ergebnisteils abrunden.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung6
1.1Statistische Daten7
1.2Suizid und Selbstmordversuch9
1.3Suizidmethoden10
2.Definitionen13
2.1Ein sehr individuelles Phänomen13
2.2Abgrenzung der Begriffe Selbstmord, Selbsttötung, Freitod und Suizid15
2.3Definition des Begriffes Suizid17
2.4Definition des Begriffes Parasuizid20
3.Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeit zur Überwindung der Individualität22
3.1Suche nach unterschiedlichen Motiven: Der Ansatz von Shneidman23
3.1.1Todessuchende24
3.1.2Todesinitiatoren24
3.1.3Todesverächter25
3.1.4Todesherausforderer25
3.2Suche nach Gemeinsamkeiten: […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6982
Hartmann, Raphael: Therapeutische und beratende Arbeit mit Eltern suizidierter Kinder
Hamburg: Diplomica GmbH, 2003
Zugl.: Fachhochschule Südwestfalen, Universität, Diplomarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2003
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
2
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
6
1.1. Statistische
Daten
7
1.2.
Suizid und Selbstmordversuch
9
1.3. Suizidmethoden
10
2. Definitionen
13
2.1.
Ein sehr individuelles Phänomen
13
2.2.
Abgrenzung der Begriffe Selbstmord, Selbsttötung, Freitod und Suizid
15
2.3.
Definition des Begriffes Suizid
17
2.4.
Definition des Begriffes Parasuizid
20
3.
Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeit zur Überwindung der Individualität 22
3.1.
Suche nach unterschiedlichen Motiven: Der Ansatz von Shneidman
23
3.1.1. Todessuchende
24
3.1.2. Todesinitiatoren
24
3.1.3. Todesverächter
25
3.1.4.
Todesherausforderer 25
3.2.
Suche nach Gemeinsamkeiten: Das praesuizidale Syndrom nach Ringel
26
3.2.1. Einengung
27
3.2.1.1. Situative
Einengung
27
3.2.1.2. Dynamische
Einengung
28
3.2.1.3 Einengung der Wertwelt
28
3.2.2.
Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
29
3.2.3.
Selbstmordphantasien 30
3.3.
Blick auf gestörte Persönlichkeitsstrukturen: Henselers Ansatz
31
3.3.1.
Der harmonische Primärzustand
31
3.3.2.
Lust- und Unlusterfahrung
32
3.3.3. Copingstrategien
33
3.3.4.
Narzismus und der Weg zum Suizid
33
4.
Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegung
36
4.1.
Das Prinzip von Ursache und Wirkung
36
4.2.
,,Muster" statt Schuldzuweisung
38
4.3
Ebenen der Kommunikation
40
4.4.
Die Botschaft des Kindes
41
4.5
Die Botschaft der Eltern
42

Inhaltsverzeichnis
3
5.
Entwicklung der Fragestellung
44
5.1.
Die kulturell definierte Trauer
45
5.2.
Die Trauer der Angehörigen suizidierter Menschen
46
5.3.
Die Frage nach dem, was geholfen hat
48
6.
Ziel der Untersuchung: Grundidee
51
6.1.
Auswahl des Erhebungsverfahrens
51
6.2.
Zentrale Merkmale qualitativer Forschung und das Untersuchungsdesign
52
7. Datenerhebung
54
7.1.
Reaktionen und Mißerfolge: Verhalten von psychiatrischen-, beratenden- und
Selbsthilfeeinrichtungen
54
7.2 Das
Interview
56
7.3
Durchführung des Interviews
57
8. Explikation
59
8.1
Die Kategorien und ihre Entstehungen
61
8.1.1.
1. Kategorie: Intrapersonell
61
8.1.2.
2. Kategorie: Beziehung zum Kind
62
8.1.3.
3. Kategorie: Eigeninitiative
63
8.1.4.
4. Kategorie: Hilfe
64
8.1.5.
5. Kategorie: Soziales Umfeld
66
8.1.6.
6. Kategorie: Verlauf
68
8.1.7.
7. Kategorie: Eigene Theorien über das Begehen des Suizids
71
9.
Ergebnisse und Diskussion
73
9.1.
Die Struktur im Überblick
74
9.2.
Ergebnisse im Detail
77
9.2.1.
Ergebnisse der 1. Kategorie: Intrapersonel
78
9.2.2.
Ergebnisse der 2. Kategorie: Beziehung zum Kind
80
9.2.3.
Ergebnisse der 3. Kategorie: Eigeninitiative
82
9.2.4.
Ergebnisse der 4. Kategorie: Hilfe
84
9.2.5.
Ergebnisse der 5. Kategorie: soziales Umfeld
91
9.2.6.
Ergebnisse der 6. Kategorie: Verlauf
95
9.2.7.
Ergebnisse der 7. Kategorie: Eigene Theorien über das Begehen des Suizids
106
10. Gütekriterien
108
10.1.
Die sechs Gütekriterien nach Mayring
110
10.2. Stichprobengröße
111

Inhaltsverzeichnis
4
11.
Schlußbemerkung und Aussichten
113
12. Danksagung
116
13. Literaturverzeichnis
117
14. Anhang
122
14.1.
Anhang A ­ Kodierleitfaden der Transkripte
124
14.2.
Anhang B ­ Erster Schritt der Analyse
127
14.3.
Anhang C ­ Zweiter und dritter Schritt der Analyse
160

5
JEREMY
At home, drawing pictures of mountain tops with him on top
Lemin yellow sun, arms raised in a V
And the dead lay in pools of maroon below
Daddy didn't give attention
Oh, to the fact that mommy didn't care
King Jeremy the wicked...oh, ruled his world...
Jeremy spoke in class today...
Jeremy spoke in class today...
Clearly I remember pickin' on the boy
Seemed a harmless little fuck
Ooh, but we unleashed a lion...
Gnashed his teeth and bit the recess lady's breast...
How can I forget?
And he hit me with a surprise left
My jaw left hurtin'...ooh, dropped wide open
Just like the day...oh, like the day I heard
Daddy didn't give affection, no...
And the boy was something that mommy wouldn't wear
King Jeremy the wicked...oh, ruled his world
Jeremy spoke in class today...
Jeremy spoke in class today...
Try to forget this...try to forget this...
Try to erase this...try to erase this...
From the blackboard...
Jeremy spoke in class today...
Jeremy spoke in, spoke in...
Jeremy spoke in class today...
Pearl Jam: ,,Jeremy" CD: "Ten"
1991 Sony Music Entertainment Inc.

Einleitung
6
Einleitung
Jeremy Wade Delle, 16 Jahre, war ein Junge, der in den Vereinigten Staaten lebte und
der sein Leben, so wie er es kannte, nicht weiterführen wollte und auch nicht konnte.
Vor seiner Klasse in Dallas nahm sich Jeremy während des Unterrichts das Leben.
Der Werdegang Jeremy´s und auch die Methode, die er für seinen Suizid wählte
sprechen für einen ,,klassischen
1
" Verlauf. Einsamkeit und damit das in sich
Zurückziehen kommen in diesem Text sehr gut heraus, wie auch die Tatsache, daß es
einen Entscheidungsprozeß gibt, also eine relativ lang andauernde Phase, in der der
Suizident zunächst Möglichkeiten sucht, Hilfe aus dem sozialen Umfeld zu bekommen.
Dies geschieht häufig durch Provokation, die durch Gedanken und Theorien über den
Tod dem sozialem Umfeld gegeben werden. Reagiert dieses Umfeld zum wiederholten
Male nicht angemessen, steigert sich die Resignation des Suizidenten bis zur Eskalation.
An diesem Punkt angelangt, fehlt nur noch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen
bringt. Der Auslöser zum Suizid. Dieser muß nichts mit den Problemen des Suizidenten
zu tun haben und kann von seinem äußeren Anschein her sehr unbedeutend sein. In
Jeremys Fall war es das Fehlen in den letzten Englisch-Stunden. Er wurde von der
Lehrerin aufgefordert sich von der Verwaltung der Schule eine Bescheinigung über die
nicht besuchten Stunden abzuholen. Nach der Rückkehr stellte sich Jeremy direkt vor
die Klasse und erschoß sich mit einer mitgebrachten Waffe vor 30 Mitschülern. Von
,,P
EARL
J
AM
" wird diese Aktion als ,,Jeremy spoke in class today..." beschrieben und
bezeichnet damit das Unvermögen des Suizidenten, sich seiner Umwelt auf eine
,,richtige" Weise verständlich zu machen.
Auch wird in dem Songtext klar, daß es nicht ein Grund ist, der Jeremy in den Tod
treibt, sondern das sich eine Vielzahl von Gründen bündeln und zu der Entscheidung
führen, so nicht mehr leben zu können. Die wichtigsten Punkte, die Suizidale tragen,
sind im Text angesprochen und beinhalten z.B. die Vereinsamung oder das
Zurückziehen der Person aus dem Freundeskreis, und damit das einhergehende
Unvermögen, vorhandene Probleme mit Freunden oder Eltern besprechen zu können,
um andere Sichtweisen seiner Probleme und damit Lösungen zu bekommen. Dabei ist
1
Klassisch steht hier in Anführungszeichen, da es den klassischen Werdegang im Suizid nicht gibt. Um
aber die Gemeinsamkeiten von Personen zu untermauern, die einen Suizid begangen haben, wurde das
Wort ,,klassisch" gewählt. Welche Vor- und Nachteile durch den Versuch einer Klassifizierung
entstehen und welche Arten der Klassifizierung es gibt, wird im Kapitel 2 ,,Definitionen" und im
Kapitel 3 ,, Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeit zur Überwindung der Individualität" noch genauer
diskutiert.

Einleitung
7
es nicht selten, daß ein hohes Selbstbild aufgebaut wird, dessen Ziele so hoch gesteckt
sind, daß sie im realen Leben nicht verwirklicht werden können (Im Songtext heißt es:
,,At home drawing Pictures of mountain tops with him on top"). Das anschließende
Gefühl des Versagens kann zum Suizid beitragen. H
ENSELER
s Theorie beschreibt diesen
Aspekt ausführlicher.
Auch die Eltern spielen eine (naturgemäß) wichtige Rolle im Leben des jugendlichen
Suizidenten. Im ,,Jeremy-Text" wird keine Schuldzuweisung aufgezeigt, sondern das
Gefangensein in Verhaltensweisen, die sich zwischen Kind und Eltern, aber auch
zwischen den Eltern selber eingespielt haben. Auch die Eltern werden in einer
Opferrolle
2
dargestellt (,,Daddy didn`t give attention, to the fact that mommy didn`t
care"). Das Musikvideo unterstützt diesen neuen Ansatz, der aus der systemischen
Sichtweise stammt, indem es die Eltern in einer starren Pose der gegenseitigen
Schuldzuweisung zeigt, aus der sie sich nicht mehr befreien können, und in der Jeremy
keine Möglichkeit hat, sich Gehör zu verschaffen. Auch in R
INGELS
praesuizidalem
Syndrom wird dieser Zustand näher beschrieben.
So kann man sagen, daß die Verarbeitung des Falles ,,Jeremy" durch die Gruppe
,,P
EARL
J
AM
" künstlerisch einen Überblick über das Thema des Suizides gibt ohne den
Leser des Textes oder den Betrachter des Musikvideos mit Bildern in einen schockierten
Zustand zu versetzen. Es wird sehr schonend an das Thema herangeführt, wobei der
Leser erst nach und nach die Tiefe des Themas, seine Individualität und die der
musikalischen Umsetzung erfährt. Daher scheint mir der Text als Einleitung die ideale
Weise zu sein, diese Arbeit zu beginnen.
Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich mich dazu entschlossen, die männliche Form der
Personen zu benutzen. Es ist aber selbstverständlich, daß damit auch weibliche
Personen angesprochen sind. Sollte es geschlechtliche Unterschiede z.B. bei den
statistischen Daten geben, wird gesondert darauf hingewiesen.
Statistische Daten
Zunächst soll über einige Daten referiert werden, die die Stellung des Suizids in der
Gesellschaft darstellen.
2
Über den Zusammenhang Eltern und Suizid, bzw. dem Konstrukt der Kausalität, im Sinne des Ursache-
Wirkung-Prinzips, wird im Kapitel 4 ,,Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen"
ausführlich referiert.

Einleitung
8
J
AMISON
(2000) veröffentlichte eine Tabelle (Tabelle 1) mit den häufigsten
Todesursachen weltweit, getrennt nach Männern und Frauen. Aus ihren Daten geht
hervor, daß bei Frauen der Suizid an zweiter Stelle der Todesursachen steht.
Tab. 1:
Todesursache nach Häufigkeit bei Frauen und Männern (in Prozent aller Sterbefälle;
Zusammenfassung aus J
AMISON
2000)
Frauen
Männer
Todesursache
Prozent
Todesursache
Prozent
Tuberkulose 9,4
Verkehrsunfälle
10,9
Selbstmord 7,1
Tuberkulose
9,0
Krieg
4,4
Tod durch Gewalteinwirkung
8,8
Verbluten bei der Geburt
4,0
Selbstmord
6,6
Verkehrsunfälle 3,7
Krieg
5,0
HIV / AIDS
3,4
Herzdurchblutungsstörungen
3,7
Hirngefäßerkrankungen
2,7
HIV / AIDS
2,9
Herzdurchblutungsstörungen 2,7
Leberzirrhose
2,9
Brandunglück 2,5
Ertrinken 2,8
Infektion der Atemwege
2,4 Hirngefäßerkrankungen
2,8
Bei den Männern ergibt sich ein anderes Bild. Der Tod durch Suizid steht hier an 4.
Stelle. Durch Verkehrsunfälle kamen bei den Männern zwar weltweit mehr Menschen
ums Leben, berücksichtigt man aber die Tatsache, daß Männer den Verkehrsunfall als
eine Suizidmethode benutzen und die Grenze zwischen Unfall und Suizid nicht immer
klar erkennbar ist, sollte das Ergebnis relativiert betrachtet werden.
Nach D
IEKSTRA
(1990) sind in Europa die Staaten Ungarn (45,3
3
), Deutschland (43,1)
und Österreich (28,3) die Länder mit den höchsten Suizidraten (zitiert nach
C
OMER
1995).
Nach H
ENSELER
(1974) nehmen sich in der BRD jedes Jahr 13.000 Menschen das
Leben. Da die Daten noch ohne das Gebiet der neuen Bundesländer gerechnet wurde
liegen die Zahlen heute weitaus höher. Bestätigt werden diese Zahlen von H
ÖMMEN
(1989) und N
ISSEN
(1989), wobei sich auch ihre Zahlen nur auf das Gebiet der alten
Bundesrepublik beziehen. Um die Zahlen etwas zu verdeutlichen, spricht H
ÖMMEN
von
3
Suizide pro 100.000 Einwohner

Einleitung
9
einer Kleinstadt wie Bad Tölz, die jedes Jahr nur durch Suizid von der Landkarte
verschwände. H
ENSELER
weist auch darauf hin, daß die Suizidrate der damaligen BRD
nur um ein Drittel niedriger liegt, als die der Verkehrstoten, deren Höhe er mit 18.000
Menschen pro Jahr angibt. Bei H
ÖMMEN
hat sich das Verhältnis gewendet. Aus ihren
Daten, die in West Berlin erhoben wurden, geht hervor, daß 1989 schon weit mehr als
doppelt so viele Menschen (436) durch Suizid starben als durch Verkehrsunfälle (192).
Welche Einwirkung die brisante politische Lage der Stadt auf die Auswirkung der
Suizidrate haben könnte und ob die Suizidrate im Vergleich zu anderen deutschen
Städten angemessen ist, wurde nicht differenziert. N
ISSEN
kann die Tendenz, die
H
ÖMMEN
für Berlin feststellte, für das gesamte Bundesgebiet bestätigen. Er fand heraus,
daß 1984 10.200 Menschen durch Verkehrsunfälle gestorben sind, aber 12.600
Menschen durch Suizid. N
ISSEN
weist auch darauf hin, daß die Suizidrate bei
Erwachsenen im Zeitraum von 1968-1985 gleich geblieben ist, die Rate Kinder aber
steigt.
Suizid und Selbstmordversuch
Im Gegensatz zu den Suiziden können die Selbstmordversuche (Parasuizide) nicht
genau erfaßt werden, da es keine Meldepflicht gibt. Es ist davon auszugehen, daß eine
große Dunkelziffer besteht
4
. H
ENSELER
referiert über Verhältnisse zwischen Suizid und
Parasuizid von 1:5 bis 1:15 und noch darüber hinaus (H
ENSELER
1974). H
AENEL
(1989)
spricht von einem Verhältnis zwischen 1:50 und 1:100. Diese eindeutigen Verhältnisse
von Suizid und Parasuizid werfen vor allem in der Geschlechterverteilung unter dem
Aspekt Suizid und Parasuizid viele Thesen auf. H
ENSELER
referiert Daten der WHO, die
von fast allen Autoren bestätigt wurden, nach denen Männer die Liste der Suizide
anführen und Frauen bei den Suizidversuchen das dominante Geschlecht sind. Die
wichtigsten Daten besagen, daß:
- Männer eher zu ,,harten" Methoden greifen,
- Frauen eher zu den ,,weichen" Methoden tendieren
- durch die Methode Männer eher Opfer von Suiziden werden und
- Frauen den Suizdversuch öfter überleben als Männer
4
Über den Umgang mit Suizidversuchen und der vorhandenen Scham, dieses Thema an die
Öffentlichkeit zu bringen, wird im Kapitel 5 ,,Entwicklung der Fragestellung" noch näher erläutert.

Einleitung
10
Daraus resultieren folgende Thesen:
- Männer sind sehr viel entschlossener als Frauen sich das Leben zu nehmen.
- Frauen haben einen weniger intensiven Todeswunsch.
Es handelt sich hierbei um eine Stigmatisierung der Personen, die zu einem falschen
Eindruck führt. Es wird zu leicht der Schluß vermittelt, daß Frauen den Apellcharakter
des Suizid`s benutzen, um auf sich und ihre Probleme aufmerksam zu machen, sie aber
eigentlich nicht sterben wollen, und daß generell Menschen, die ,,weiche"
Suizidmethoden wählen, keinen intensiven Wunsch haben zu sterben. Gerade hier
können die Gründe für falsche (therapeutische und beratende) Verhaltensweisen
gegenüber dem Suizidenten liegen.
Suizidmethoden
B
IENER UND
B
URGER
(1976) haben in einer Untersuchung an 438 parasuizidalen
Menschen in Wien zwischen 1960 und 1970 Daten erhoben. Sie fanden heraus, daß
Suizidmethoden, die in Kombination mit Tabletten unternommen wurden, sowohl bei
Frauen als auch bei Männern an erster Stelle stehen, gefolgt von der Einnahme anderer
Giftsubstanzen und dem Öffnen der Adern. Tabelle 2 gibt eine Überblick über die
Rangreihe der ermittelten Methoden.
Auch hier fällt auf, daß, wie oben bereits besprochen, die Frauen bei den Methoden, die
gemeinhin als ,,weiche"
5
Methoden bezeichnet werden, (Tabletteneinnahme,
Suizidmethode in Kombination mit Tabletten, Vergiften durch Gas) zahlenmäßig
dominieren. Die Männer zeigen hingegen eine Dominanz bei den Methoden, die als
,,harte" Methoden klassifiziert wurden (Stich/Schnitt, Ertrinken, Erhängen, Absturz,
Schuß). Geradezu lehrbuchhaft ist die Schnittstelle zwischen ,,harten" und ,,weichen"
Methoden (andere Giftsubstanzen). Hier sind die Zahlen ausgeglichen. Je ,,härter" die
Methoden werden (Schuß), um so dominanter das Zahlenverhältnis der Männer. Je
,,weicher" die Methoden werden, um so dominanter das der Frauen.
5
In der gesamten Literatur sind keine Aspekte zur expliziten Klassifizierung in ,,harte" und ,,weiche"
Methoden gefunden worden. Anhand von Gemeinsamkeiten verschiedener Quellen gehe ich davon aus,
daß der zu erwartende Schmerz ab dem Beginn des suizidalen Aktes bis zum Eintreten des Todes und
die Veränderung der Ästhetik des Körpers die ausschlaggebenden Kriterien zur Klassifizierung sind.

Einleitung
11
Tab. 2: Selbstmordversuche Jugendlicher, Methoden. Zürich 1960-1970, in Prozent (n=438).
(aus B
IENER UND
B
URGER
, 1976)
Methoden des SMV
6
männlich
weiblich
Nur Tabletten
51 63
Kombinierte Methoden mit Tabletten
4,5 5,5
Andere Giftsubstanzen
2,5 2,5
Stich/Schnitt 19
12
Ertrinken 5
4,5
Erhängen 4,5
0,5
Gas
4,5
6
Absturz 4
3,5
Schuß 2,5
0,5
Sonstige Methoden (Sturz aus Zug, Sturz aus Auto,
Brand, kombiniert, unbekannt)
2,5 2
Wenn man die wichtigsten statistischen Daten zur Beschreibung von Suizidenten
heranziehen würde, entstünde der ,,Prototyp" eines Suizidenten, mit unten angeführten
Eigenschaften (M
C
I
NTOSCH
1991 zitiert nach C
OMER
1995):
Der Prototyp des Suizidenten ist demnach
a) über 65
b) eher männlich
c) statistisch gesehen eher von weißer Hautfarbe
d) alleinstehend oder geschieden
R
ESNIK
(1980) bestätigt diese Daten überwiegend. Von ihm werden noch andere Kategorien
hinzugezogen:
e) Katholiken haben geschichtlich gesehen die niedrigste Rate, Protestanten eine
der Höchsten.
f) Verheiratete haben eine Rate von 11 Suizidenten auf 100.000 Einwohner.
g) Die Rate der Ledigen liegen doppelt so hoch.
h) Geschiedene haben eine Rate von 24 auf 100.000
i) Verwitwete haben eine Rate von 40 auf 100.000
6
SMV = Selbstmordversuch

Einleitung
12
j) 70% leiden an einer oder mehreren chronischen Körpererkrankungen.
k) Ärzte und Psychiater haben die höchste Rate im Berufsvergleich.
l) 7% der Klienten besuchten einen Arzt am Tag des Suizides, 27% in den letzten
7-30 Tagen, 50% einen Monat vorher.
Die Darstellung eines Prototypen des Suizidenten dient hier dazu, statistische Daten
transparent erscheinen zu lassen. Die Daten können in einer Therapie als
Gedankenstütze dienen. Bei Klienten, deren Therapieproblematik zunächst nicht auf
Suizid schließen läßt, kann hier die Aufmerksamkeit des Therapeuten veranlassen, den
suizidalen Aspekt zu hinterfragen.

Definitionen
13
Definitionen
,,Weil das Wort Selbstmord in der Unterhaltung immer wiederkehrt, könnte man
annehmen, seine Bedeutung sei allgemein und eine weitere Definition erübrige sich. In
Wirklichkeit jedoch sind die Wörter der Umgangssprache immer mehrdeutig, ebenso
die Vorstellung, die sie ausdrücken. Würde ein Wissenschaftler sie ohne eingehende
Prüfung anwenden, wie er sie vorfindet, so setzt er sich sehr ernsten Mißverständnissen
aus"
D
URKHEIM
(1987, S.23).
Noch denkwürdiger als die von D
URKHEIM
aufgezeigte Problematik einer Definition des
Begriffes Suizid, ist ihr vollständiges Fehlen. Ebenso ist auch die Nomenklatur im
Bereich der Suizidologie noch sehr verschwommen. Dabei ist es zunächst wichtig,
Klarheit über die Begriffe zu geben, mit denen gearbeitet werden soll. Aus den
zahlreichen Begriffen der Suizidologie, werden in dieser Arbeit die wichtigsten unter
zwei Aspekten diskutiert. Zum einen soll eine klare Abgrenzung zu anderen Begriffen
gefunden werden, wobei damit zusätzlich der Inhalt der Begriffe definiert wird. Zum
anderen ist die Frage nach dem Sinn und Unsinn des Gebrauchs dieser Begriffe zu
klären. Dabei liegt der Fokus in der therapeutischen oder beratenden Arbeit mit
Suizidenten. Durch den Gebrauch diverser Begriffe kann der Therapeut oder Berater in
seinem Urteil, das er gegenüber dem Suizidenten aufbaut, und die Intensität der
Suizidabsicht, die Motive, die zu dem Wunsch des Sterbens führen, falsch deuten oder
übersehen. Die Folgen einer solchen Fehldeutung beschreibt u.a. B
RONISCH
(1999): Ein
Arzt unterschätzt die Intensität der Suizidabsicht des Suizidenten durch eine falsche
Interpretation des ersten Suizidversuchs. Er stuft den Suizidversuch als nicht ernst
gemeint ein und hält eine weitere Beobachtung während der Nacht nicht für nötig. In
dieser Nacht aber stürzt sich der Suizident vom 5. Stock des Krankenhauses in den Tod.
Aus diesem Grund sollte die Einstufung in ernstgemeinten und nicht ernstgemeinten
Suizid oder eine Klassifizierung der Intensität des Todeswunsches möglichst kein
Gewicht beigemessen werden.
Ein sehr individuelles Phänomen
Bevor es darum geht, Begriffe für die Untersuchung genauer zu bestimmen, sollte die
Frage gestellt werden, ob es überhaupt Sinn macht, den Begriff Suizid und das
dazugehörige Vokabular zu definieren. Zunächst sollte die Frage gestellt werden, ob es

Definitionen
14
möglich ist, eine Verhaltensweise, die, wie später noch zu zeigen sein wird, sehr
individuell betrachtet werden muß, in das Korsett der wissenschaftlichen Definition zu
zwängen. Kein Suizid läßt sich mit dem Anderen vergleichen. Das wird durch eine
mannigfache Zahl an Fallbeispielen in der Literatur immer wieder bestätigt. Nahezu
jede Abhandlung über den Suizid wird mit persönlichen Erlebnissen und meist
therapeutischen Erfahrungen der Autoren zum besseren Verständnis der
Psychopathologie, Psychodynamik oder der theoretischen Beweisführung unterlegt.
Jeder dieser Beispiele zeigt den einzigartigen Werdegang und besondere
Verhaltensweisen des Suizidenten. Damit sind diese Fallbeispiele auch gleichzeitig
Zeugen der Unzulänglichkeit einer Einordnung in bestehende Schemata, die von der
Forschung bereitgestellt werden.
A
DLER
stellte schon 1928 die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Statistiken
über den Selbstmord und den Motiven eines Suizidenten. Er erklärt eindeutig, daß die
Statistiken keinerlei Informationen über die Motivation eines Suizidenten geben
können. Der Suizid folgt genau wie andere Erscheinungen nur dem ,,Gesetz der großen
Zahl". Aus diesem Grund kann der Selbstmord nur individuell begriffen werden, der
soziale Voraussetzungen braucht und soziale Folgen nach sich zieht (A
DLER
1929).
J
AMISON
(2000) stellt die Frage nach der Möglichkeit, den Suizid thematisch zu
erfassen, und erklärt, daß ,,der Tod durch die eigene Hand" eben nicht mit den
wissenschaftlich scharf definierten Methoden erfaßt werden kann. Das Problem des
Suizids ist ein zu persönliches, das letztlich aus ,,einem Bündel unbekannter Motive,
komplexer psychologischer Gegebenheiten und ungewissen Umständen" resultiert
(J
AMISON
2000). Weder die Linguisten noch eine psychologische Definition oder die
Philosophen sind in der Lage das Konstrukt des Suizides ,,angemessen zu beschreiben".
Auch A
MÈRY
, ein Befürworter des Freitodes, stellt fest, daß das Sammeln von Daten
und Fakten nicht zum addierten Wissen über den Suizid führt, sondern, ganz im
Gegenteil, daß sich durch das Anhäufen von Wissen und Fakten der Mensch vom
Freitod entferne. ,,Wo immer der Suizid als ein objektives Faktum betrachtet wird, als
gehe es um Galaxien oder Elementarpartikel, entfernt der Betrachter, je mehr Daten
und Fakten er sammelt, desto weiter sich vom Freitod" (A
MÈRY
1976, S.12).
Viele Autoren scheuen die Frage nach dem Sinn einer Definition oder die
Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand überhaupt. Selbst bei dem
Verfassen ganzer Bücher, die den Suizid zum Inhalt haben, wird weder die Frage nach

Definitionen
15
einem Sinn der Definition angesprochen, noch eine solche diskutiert, geschweige denn
gegeben.
Auf der anderen Seite kann es nicht der Rahmen einer Untersuchung sein, mit unklaren
Begriffen zu arbeiten. Klare Aussagen über den Untersuchungsgegenstand sind
unumgänglich, führen aber zum Verlust von Details. Ein in der psychologischen
Forschung an sich ,,täglich" vorkommendes Ereignis, das in der Suizidologie aber
schwerer wiegt, da der Verlauf ein sehr individueller ist und die Folgen verheerender
sind, womit auch die Fallbeispiele in den Publikationen eine Rechtfertigung finden. Um
Klarheit über den Untersuchungsgegenstand zu bekommen und ihn im größeren
Rahmen vergleichbar zu machen, bedarf es einer Definition seiner Terminologie.
Dynamiken und Kausalitäten derer sich in der Literatur bedient wird, dürfen nicht als
Dogma sondern müssen als Wegweiser zum Verständnis des Phänomens Suizid
verstanden werden. Das Thema der linearen Kausalität und damit des Ursache-
Wirkungsprinzips wird im Kapitel 5 ausführlich diskutiert.
Abgrenzung der Begriffe Selbstmord, Selbsttötung, Freitod und Suizid
Wie im obigen Zitat von D
URKHEIM
schon erwähnt, sind Alltagsbegriffe immer
mehrdeutig. Dies trifft auch für den Begriff ,,Selbstmord" zu. D
URKHEIM
(1897) sagt
über den Begriff, daß er ein angemessener sei und es keinen Grund gäbe, einen anderen
zu wählen. Auch F
REUD
und A
DLER
bedienten sich in ihren Werken des Begriffes
,,Selbstmord". Aus der heutigen Sicht beherbergt der Begriff Selbst-Mord aber die
Konnotation einer Strafhandlung, die zwar gegen sich selber gerichtet ist, trotzdem aber
den Beigeschmack einer illegalen Handlung trägt. Im juristischen Sinn würden dem
Selbst-Mörder Motive unterstellt, ,,seine Handlung aus Mordlust, zur Befriedigung des
Geschlechtstriebs, aus Habgier, aus sonst niederen Beweggründen, heimtückisch oder
grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln, um eine andere Straftat zu ermöglichen oder
zu verdecken vorzunehmen" (S
CHÖNFELDER
2002). Es werden dem Suizidenten mit dem
Begriff ,,Mörder" Motive unterstellt, die nicht im entferntesten etwas mit den
eigentlichen Motiven einer suizidalen Handlung zu tun haben. Die Selbsttötung, wie sie
im Strafgesetzbuch beschrieben ist, ist im Gegensatz zum Mord aber straflos (T
RÖNDLE
1997).
Neben der Diskussion um wissenschaftlich exakte Begrifflichkeit können sich die
Angehörigen auch missverstanden fühlen. So schreibt S
ALZBRENNER
(2002):

Definitionen
16
,,Warum empfinde ich den Begriff ,,Selbstmord" als so schlimm? Weil er eine Wertung
und Verurteilung einschließt." Und weiter unten: ,,Mit der gängigen, einst von der
Kirche geprägten Bezeichnung verhält man sich nicht nur unkorrekt, sondern man
kränkt unsere Lieben und uns, die Hinterbliebenen. Man stempelt uns ungerechtfertigt
zu Angehörigen von Mördern ab in einer Gesellschaft, die mit vielem, was kirchliche
Tradition und Wertung anbelangt, längst gebrochen hat."
Um die Straffreiheit in der Konnotation der Begriffe deutlich zu machen und eine
Unterstellung falscher Motive zur Handlung zu vermeiden, sollte der Begriff
,,Selbstmord" durch den aus dem Latein stammenden Begriff ,,Suizid" ersetzt werden.
Sui caedere bedeutet soviel wie ,,sich töten" (B
RONISCH
, 1999) und erfaßt den
alltagssprachlich selben Sachverhalt, wie ihn auch der Begriff ,,Selbstmord" umspannt.
Ein Vorteil der ,,Suizid"- Konnotation liegt in seiner Wertfreiheit und damit in einer
Vermeidung der (unbewußten) Zuschreibung von delinquentem Verhalten.
Auch ,,Selbsttötung" scheint aus den Gründen, die ebenfalls den Begriff ,,Selbstmord"
ungeeignet erscheinen lassen, für einen wissenschaftlichen Gebrauch nicht in Frage zu
kommen.
Der Begriff ,,Freitod" suggeriert den Tatbestand eines freiwilligen Aktes, mit dem Ziel
das Leben zu beenden. Die betreffende Person scheint einen Überblick über seine Lage
in der Gesellschaft zu haben und kann sein Leben und die Existenz reflektieren und auf
dieser Basis eine realitätsnahe Einschätzung seiner Probleme und deren
Lösungsmöglichkeiten vornehmen. Aufgrund der Reflexion erwarten diese Personen
vom Leben nur noch Demütigung und Schmerz. Auf der Basis dieser Bilanz soll der
Freitod der einzige Ausweg sein, sich der Hoffnungslosigkeit des Lebens und den zu
erwartenden Demütigungen und Schmerzen zu entziehen. In der Literatur fand der
Begriff Freitod auch unter dem Namen Bilanzsuizid Aufmerksamkeit.
Einer der eindrucksvollsten Vertreter ist J
EAN
A
MÈRY
, mit seinem Essay ,,Hand an sich
legen. Ein Diskurs über den Freitod" (A
MERY
, 1976). A
MÈRY
bezeichnet darin den Akt
der Selbsttötung als ein ,,Privileg des Humanen" (S.43). Ein Mensch, der sich das
Leben nehmen will muß weder dem Wahnsinn verfallen sein, noch handelt es sich um
eine gestörte Person. Es ist ein Mensch, der sich selber gehört und, wenn die Tat
vollbracht wurde, auch sich selber gehorcht hat. Wobei der Entschluß zum Freitod von
zwei Seiten angegangen wird: zum einen erfolgt aus dem Scheitern in der Welt nur ein
würdeloser Weg zurück ins Leben, dem der Freitod vorgezogen werden muß. Zum
anderen weist A
MÈRY
auf die Absurdität des Lebens hin. Die Existenz als solche ist

Definitionen
17
absurd. Die Zeit macht alles vergessen und bescheinigt der Existenz somit ,,nur den
Unsinn unseres Daseins" (B
ONDY
, F
RENZEL
, K
AISER
, K
OPELEW
, & S
PIEL
1989).
Es wird klar, daß auch der Begriff des Freitodes, wie ihn A
MERY
versteht nicht als
Bezeichnung für den Sachverhalt des Suizidenten in Frage kommt, da es sich beim
Freitod um eine freie Entscheidung handelt, das eigene Leben zu beenden. Diese
Voraussetzungen hat der Suizident nicht. Im Gegenteil, er ist in den meisten Fällen
durch psychische Störungen oder Krankheiten in seiner Wahrnehmung und damit auch
in seiner Entscheidungsmöglichkeit stark eingeschränkt. Er kann in seiner Verfassung
keine Bilanz über sein noch zu erwartendes Leben ziehen, da er aufgrund von
traumatischen Erziehungsmethoden (R
INGEL
1989) oder Lebensereignissen eine
Realitätsverzerrung erlitten hat, die ihm seine Position in der Gesellschaft nicht
realistisch wiedergibt. Deshalb kommt Ringel zu dem Schluß, daß das Wort ,,Freitod"
falsch sei und zitiert den österreichischen Journalisten Maiwald mit den Worten: ,,Der
Freitod ist eine Verharmlosung von Zwängen" (R
INGEL
1978, S.50).
Es bleibt festzuhalten, daß aus den vielen Begriffen, der Alltagssprache der des Suizids
7
den zu untersuchenden Sachverhalt am besten umschreibt.
Definitionen des Begriffes Suizid
Eine Definition des Suizid-Begriffes sollte den Facettenreichtum der Handlung, seine
Multikausaltität, die Motive und den Werdegang (Suizidkarriere) wiedergeben und
damit alle wichtigen Aspekte berücksichtigen, die zu einem Suizid führen oder ihn
auslösen können. Es ist eine große Herausforderung, den Facettenreichtum einer
Suizidkarriere in einer Definition zu erfassen, da sich dieser nicht nur aus objektiven
Verhaltensweisen zusammensetzt sondern auch aus subjektiven Faktoren (die
Motivation z.B. ist nur schwer zu erfassen). Persönlichkeitsstrukturen spielen eine
Rolle, die in ihrer Entstehung und Verhaltensmodifikation so komplex sind, daß ihre
Zusammenhänge nicht in wenigen Sätzen erfaßt werden kann.
Eine Definition, die die gesamte Bandbreite der Motivationen einschließt, scheint unter
der Berücksichtigung dieser Motive ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein.
Die andere Möglichkeit eine Definition des Suizides zu geben ist die Beschreibung des
Objektiven und damit leichter erfassbaren Verhaltens des Suizidenten. Aus der
7
Ab hier wird, um Mißverständnisse zu vermeiden, nur noch der Begriff Suizid verwendet. Die Begriffe
,,Selbstmord", ,,Selbsttötung" und ,,Freitod" werden im folgenden Text nur noch durch Zitate
einfließen.

Definitionen
18
Komplexität des Konstruktes Suizid heraus sind in der Literatur Definitionen
gebräuchlich, die einen Teilaspekt besonders fokussieren, wobei andere Aspekte in den
Hintergrund treten.
So beschreibt S
HNEIDMAN
die Ambivalenz des Suizidenten, der zwar nicht leben kann
aber auch nicht sterben will (S
HNEIDMAN
zitiert nach C
OMER
1995).
F
REUD
fragt im ,,Schlußwort der Selbstmord-Diskussion" (F
REUD
, 1909), wie es
möglich sein kann, den ,,außerordentlich starken Lebenstrieb zu überwinden". Er stellt
damit die Quelle einer lebensbejahenden Einstellung, einer Lebensenergie (Libido) der
einer lebensauslöschenden Energie gegenüber. Die lebensauslöschende Energie wird
von F
REUD
noch nicht Todestrieb genannt, sondern stellt eine Energieform dar, die aus
zwei möglichen Dynamiken des Topologischen Modells resultieren kann. Zum einen ist
es eine enttäuschte Libido, ein Nachlassen der Lebensenergie, die die Kraft der
auslöschenden Energie Oberhand gewinnen läßt. Zum anderen könnte der Verzicht des
Ichs auf vermittelnde Motive, die dem Ich als Vermittler zwischen gesellschaftlichen
Normen und den Ich-fremden-Lustbedürfnissen (H
ELFERICH
, 1998) erscheinen lassen,
ein Grund für die lebensauslöschenden Energie sein. Mit dem zweiten Modell würden
die beiden grundsätzlichsten Instanzen des Modells ohne Vermittler aufeinander treffen.
Das Krisenpotential einer solchen Kollusion würde langfristig zum Suizid führen.
A
DLER
(1928) sieht in der Entwicklung zum Entschluß für den Suizid, eine Parallele zu
der Entwicklung einer nervösen Erkrankung. Die ,,neurotische Dynamik" speist sich
aus zwei Punkten: Zum einen die Ambivalenz einer Doppelrolle, die jeder Mensch in
der Kindheit zu erfüllen hat und in dem der Wunsch des kleinen und schwachen Wesens
nach Wärme, Zärtlichkeit und Anlehnung nur dann erfüllt wird, wenn es gegenüber
seiner sozialen Umwelt Gehorsamkeit und Unterwerfung zeigt. Diese Doppelrolle wird
vom Kind nicht mit dem Bewußtsein wahrgenommen, wohl aber mit dem Gefühl. Zum
anderen setzen sich die Züge des Eigenwillens mehr und mehr durch. Selbständigkeit
und damit einhergehend Trotz und Großmannssucht verursachen einen inneren
Konflikt, eben zwischen Unterwerfung und Triebbefriedigung. Dieser Konflikt führt zu
einer Selektion der Verhaltensweisen des Kindes, die ihm die nötige Aufmerksamkeit
aus der Umwelt sichern. Das Kind lernt mit der Zeit, welches Verhalten ihm
Aufmerksamkeit aus der Umwelt verschafft. Pathologisiert sich die Selektion der
Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung, richtet der Erwachsene sein Verhalten so
aus, daß er sich der Aufmerksamkeit seiner Umgebung durch Ängstlichkeit,
Ungeschicktheit und Kränklichkeit sicher sein kann. Ist eine Krankheit als Mittel zur

Definitionen
19
Zielerreichung erst akzeptiert, kann auch der Suizid in weiterer Übersteigerung diesem
Ziel dienlich werden (A
DLER
1928).
L
EENARS UND
D
IEKSTRA
(1997) sehen im Suizid ein multidimensionales Unwohlsein,
welches sie auf drei Aspekte beschränken: Zum einen ist es ein intrapsychischer Aspekt,
der es dem Suizidenten nicht erlaubt, auf den Lebensschmerz oder ein wichtiges
Ereignis mit einer Copingstrategie zu reagieren. Der Suizid ist aber auch ein
interpersonelles Phänomen, das sich in der Beziehungen zu anderen (oder dem Fehlen
dieser Beziehungen) entwickelt. Metaphorisch kann man den Suizid als ein
intrapsychisches Drama auf einer interpersonellen Bühne sehen (L
EENARS UND
D
IEKSTRA
1997).
D
URKHEIM
(1897) sieht den Schlüsselpunkt einer suizidalen Handlung in der
Selbständigkeit der Handlung eines Suizidenten. Dabei ist es unwichtig, ob es dabei um
eine aktive Handlung geht, also einer Tätigkeit deren Folge der Tod ist oder ob es um
eine passive Handlung geht, bei der das Unterlassen einer Tätigkeit den Tod zur Folge
hat. Wichtig ist bei Durkheim, daß die Handlungen vom Suizidenten selber ausgeführt
werden müssen, damit sie als Suizid gelten können. Damit ergibt sich eine klare
Abgrenzung zu der Sterbebegleitung mit Patientenanweisungen, wie sie u.a. in
Hospitzen vorkommen.
H
ENSELER
(1974) stellt fest, daß die Begriffe Selbstmord, Selbsttötung und Suizid
schon eine Interpretation als Autoaggression beherbergen. Auf eine nähere Eingrenzung
der Begriffe läßt er sich nicht ein, kommt aber zum Schluß, daß sich diese Einstellung
klinisch bewährt hat.
Die WHO beschreibt den Suizid als einen Handlung mit tödlichem Ausgang, die der
Verstorbene mit Wissen und in Erwartung des tödlichen Ausganges geplant und
durchgeführt hat (WHO zitiert nach K
ELLEHER
, K
EELEY
, C
HAMBERS
, & C
ORCORAN
2000a). Dabei wird angenommen, daß der Suizident einen Änderungswunsch hatte, den
er mit dem Akt des Suizides umsetzen wollte
H
ÖMMEN
(1996) schreibt:
,,Die Selbsttötung ist eine gegen das eigene Leben gerichtete Handlung mit tödlichem
Ausgang. Es ist nicht entscheidend, ob der Tod beabsichtigt wurde oder nicht" (S.18).
Abgesehen von der Konnotation, die, wie oben bereits besprochen, kritisch zu bewerten
ist, orientiert sich diese Definition an den objektiven Gegebenheiten der Suizidenten.
Die Selbstbestimmtheit der Tat wird nicht eingegrenzt und läßt damit Spielraum für
psychisch gesunde oder erkrankte Menschen. Auch die Freiwilligkeit der Tat, im

Definitionen
20
durchaus umstrittenen Sinne A
MÈRY
`s wird nicht näher beleuchtet und damit Platz für
beide Positionen gelassen. Der Suizid kann nach der Definition H
ÖMMEN
`s sowohl aktiv
als auch passiv vollzogen werden, d.h., es muß nicht die eigene Hand sein, die an sich
gelegt wird. Es genügt hier der Wunsch oder die Äußerung des Suizidenten, der als
Basis zum Suizid verstanden werden kann, deren Handlung der Suizident alleine aber
nicht durchführen kann.
Aus den oben angeführten Gründen scheint die Definition H
ÖMMEN
`s am geeignetsten,
um sie als Basis dieser Arbeit zu nutzen.
Definition des Begriffs Parasuizid
Parasuizid steht für eine bewußt vorgenommene Handlung, deren logische Konsequenz
der Tod wäre. Eine Unterbrechung des Ablaufs verhindert aber den Eintritt des Todes.
Die Meinungen darüber, ob Suizid dasselbe wie Parasuizid nur ohne tödlichen Ausgang
ist oder ob hier völlig andere Aspekte eine Rolle spielen und der Tod von vornherein als
Ausgang der Tat ausgeschlossen wurde (reiner Apellcharakter), wird in der Literatur
diskutiert. So beschreibt C
OMER
(1995) den Parasuizid als ,,erfolglose
Selbsttötungsversuche" (C
OMER
1995, S.358).
Auch
S
TENGEL
(1952) weist zunächst auf die Überschneidungen hin, die zwischen
Menschen bestehen die einen Suizid und denen die einen Parasuizid begangen haben so,
daß in beiden Gruppen eine tatsächliche Suizidabsicht bestanden hat (S
TENGEL
1952
zitiert nach K
ELLEHER
, K
EELEY
, L
AWLER
, C
HAMBERS
, M
C
A
ULIFE
& C
ORCORAN
2000).
Als Basis der Terminologie schlägt K
ELLEHER ET AL
. die von der WHO verfaßte
Definition des Parasuizides vor:
,,Eine Handlung mit einem nicht tödlichen Ausgang, bei der ein Mensch absichtlich ein
ungewohntes Verhalten zeigt, bei dem er sich ohne das Eingreifen anderer eine
Selbstschädigung zufügt oder vorsätzlich eine Substanz in einer höheren als die
vorgeschriebene Menge oder der allgemein als therapeutisch angesehenen Dosierung
zu sich nimmt. Ziel dabei ist, die vom Ausführenden gewünschte Änderung zu bewirken
mit Hilfe der tatsächlichen oder erwarteten physischen Konsequenz." (WHO 1992
zitiert nach K
ELLEHER
et al. 2000).
Voraussetzung für den Parasuizid ist nach dieser Definition, eine gewünschte Änderung
des Bestehenden. Dieser Teil der Definition impliziert durch den Wunsch nach
Veränderung, der mit dem Akt des Parasuizides erreicht werden soll, einen geringen
Todeswunsch und einen hohen Apellcharakter. Der Parasuizid wird von vornherein als

Definitionen
21
Mittel zum Zweck gesehen und verfehlt damit seine therapeutische Neutralität
gegenüber dem parasuizidalen Menschen (siehe Fallbeispiel am Anfang dieses
Kapitels).
Ich sehe den Begriff des ,,selbstschädigenden Verhaltens" als Oberkategorie zur
Beschreibung von Handlungsweisen, die dem eigenen Organismus Verletzungen (und
damit auch Intoxikationen) zufügen. In der Suizidologie haben diese Verletzungen
tödlichen Charakter, d.h., sie müssen in ihren Auswirkungen für den Menschen nicht
tödlich sein, der Verursacher nimmt aber in letzter Konsequenz den Tod in Kauf. Damit
beinhaltet die Selbstschädigung eine in der Definition der WHO zusätzlich beschriebene
Intoxikation. Mein Vorschlag für eine Definition des Parasuizides lautet:
,,Parasuizid ist eine Handlung mit einem nicht tödlichen Ausgang, bei der ein Mensch
absichtlich ein ungewohntes Verhalten zeigt, dessen Folge Selbstschädigung mit
tödlichem Charakter ist."

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
22
Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der
Individualität
,,Wenn also ein Grund vorläge anzunehmen, daß jeder Freitod eine Entscheidungsform
von Irresein darstellte, dann wäre unser Problem bereits gelöst; Selbstmord wäre dann
lediglich die Folge eines in der Person begründeten Leidens."
D
URKHEIM
(1987, S.41)
So einfach stellt sich das Problem Suizid aber nicht dar, denn es gibt nicht den einen
Grund, der einen Menschen Hand an sich legen läßt. Wie im Definitionskapitel
besprochen, ist jeder Suizid eine so individuelle Angelegenheit, daß eine Definition sehr
schwer zu finden ist, die die wichtigsten Punkte beinhaltet ohne den Fokus zu sehr auf
die zu untersuchenden Aspekte legt und damit andere vernachlässigt. Zu oft wurde
schon die Erfahrung gemacht, daß vorgenommene Klassifizierungen der Ernsthaftigkeit
zu einer Unterschätzung des akuten Selbstmordrisikos führten, die dann mit dem Tod
des Suizidenten endeten (D
ICKHAUT
1995). Zu oft wurden in Falldarstellungen in der
Öffentlichkeit zu glatte und einfache Begründungen für den Suizid akzeptiert (J
AMISON
2000). Der Weg zum Suizid ist ein multikausaler, der vom sozialen Umfeld, der
Persönlichkeitsdisposition, (bedingt) genetischen Einflüssen, und der Erreichbarkeit
bestimmter Methoden und Mittel für den Suizidenten abhängig ist. Daraus ergeben sich
wiederum unendlich viele verschiedene Teilaspekte, deren Zusammentreffen einen
Suizid hervorrufen kann. Oder wie J
AMISON
(2000) es ausdrückte:
,,Es gibt über den Selbstmord weder einfache Theorien, noch unveränderliche
Gesetzmäßigkeiten mit denen er sich vorhersagen ließe; kein Weg wurde bisher
gefunden um Herz und Gemüt derjenigen zu heilen und zu beruhigen, die auf so
furchtbare Weise zurückgelassen werden." (J
AMISON
2000)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch A
DLER
(1928), wenn er sagt, daß aus einer
deskriptiven Zusammenfassung aller Daten über den Suizid nicht die Motivlage des
Suizidenten erkannt werden kann, daß aber der Suizid, wie jede andere Erscheinung
,,dem Gesetz der großen Zahl folgt".
Nach A
DLERS
Auffassung scheint demnach auch ein Phänomen, das noch so individuell
wie der Suizid ist, eine gewisse Gesetzmäßigkeit an den Tag zu legen. Es scheint
Gemeinsamkeiten zu geben, die sehr viele Suizidenten haben, eine Entwicklung, die sie
durchlaufen, mit Symptomen, die bei vielen von ihnen in bestimmten Abschnitten
dieser Entwicklung wiederzufinden sind.

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
23
O
MER UND
E
LIZUR
(1999) schreiben dazu: ,,Trotzky (1932) hat bemerkt, daß Leute
unterschiedlich reagieren, wenn sie von einem Federn gekitzelt, aber ähnlich wenn sie
von einem glühenden Eisen berührt werden. Das Gleiche gilt für seelische Schmerzen.
Trotz aller Unterschiede führt die suizidale Qual zu einer beeindruckenden Ähnlichkeit
unter Selbstmördern" (O
MER UND
E
LIZUR
1999, S. 2).
Im Folgenden sollen drei Theorien besprochen werden, die verschiedene,
wiederkehrende Aspekte als Grundlage nutzen, um die Individualität ein Stück weit zu
überwinden und eine gewisse Regelmäßigkeit des Suizids hervorheben, die für das
Arbeiten mit Suizidenten eine wesentliche Erleichterung bringt, da sich Therapeuten
und Betroffene daran orientieren können. Diese Orientierung bezieht sich auf die
Entwicklung, die jeder Suizident im Sinne R
INGELS
oder H
ENSELERS
, schrittweise
durchläuft und an derem Ende der Suizid steht. Die Orientierung beschreibt damit die
Entfernung des Suizidenten zum Endpunkt, also dem Suizid. Die Orientierungshilfe für
den Therapeuten und Berater geht aber durch Reduktion der Realität auf Kosten der
Komplexität individueller Suizidkarrieren. Die Entstehungsweisen werden sehr
verallgemeinert und damit oft wichtige Details vernachlässigt.
Auch die drei Theorien, die hier vorgestellt werden, können nur eine kleine Auswahl
darstellen. So bleibt der soziologische Aspekt, z.B. die Anomietheorie nach P
OWELL
,
M
ERTON
, G
INSBERG
& P
ARSONS
gänzlich unberücksichtigt, da sie den Rahmen dieser
Arbeit sprengen würden (S
AATHOFF
1998).
Hier wurden vielmehr drei psychologischen Theorien ausgewählt, die das Phänomenen
Suizid auf grundlegend andere Weise strukturieren um damit der multikausalen
Bedingungsstruktur einer Suizidkariere Rechnung zu tragen. Dabei wurde darauf
geachtet, daß mit der Reihenfolge der Theorien ihre Komplexität zunimmt. Zunächst
werden die motivationalen Auslöser S
HNEIDMANS
vorgestellt. Anschließend wird die
Karriere des Suizids mit seinen Entwicklungsstufen, wie sie R
INGEL
(1973) untersuchte,
beschrieben und im Anschluß daran anhand der Theorie H
ENSELERS
die
psychodynamischen Aspekte des Suizides berücksichtigt.
Die Suche nach unterschiedlichen Motiven: Der Ansatz von Shneidman
In der Literatur finden sich einige Klassifizierungen, wodurch versucht wird, die
Menschen, die einen Suizid begehen, aufgrund verschiedener Aspekte einzuordnen.
S
HNEIDMAN
(zitiert nach C
OMER
1995) klassifiziert Suizidenten aufgrund ihrer
Motivlage, die zum Suizid führen. Dabei fand er vier Gruppen, die aus verschiedenen
Motiven heraus den Tod ,,suchen":

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
24
Todessuchende
Todessuchende haben zum Zeitpunkt der Tat den festen Entschluß zu sterben, wobei
dieser Entschluß innerhalb von Stunden wieder bereut werden kann. Die Stimmung
schlägt zwischen dem Verlangen sich zu suizidieren und am Leben zu bleiben hin und
her. H
ENSELER
(1973) und J
AMISON
(2000) sprechen in diesem Zusammenhang auch
von Impulsivität, die das Verhalten des Suizidenten so unberechenbar macht.
Über einen Zusammenhang von Suizidmethoden bei Todessuchenden wird in der
Literatur diskutiert. Theoretiker gehen davon aus, daß Menschen mit eindeutiger
Todesabsicht Suizidmethoden wählen, die eher tödlich sind, wie z.B. Feuerwaffen,
Menschen mit weniger festen Absichten zu sterben tendieren eher zu weniger tödlichen
Methoden, wie z.B. Überdosis von Medikamenten. S
HNEIDMAN
weist jedoch darauf hin,
daß viele Menschen, die eine klare Absicht zu sterben haben, sehr oft zu Methoden
greifen, die als weniger tödlich gelten. Eine Lösung dieses Paradoxons könnte die von
J
AMISON
(2000) referierte Studie über die Einschätzung der Tödlichkeit verschiedener
Suizidmethoden geben. Dort wurde u.a. eine Einschätzung über die 28 tödlichsten
Methoden von ,,nicht Fachleuten" erhoben. Das Ergebnis zeigte, daß die Tödlichkeit
von Überdosen verschreibungspflichtiger Medikamente und Schnittwunden an den
Pulsadern in ihrer Wirkung überschätzt, die Tödlichkeit von Schußwaffen hingegen
unterschätzt wurde. Verglichen wurden diese Angaben mit den Einschätzungen von
forensischen Pathologen, die das Erschießen, nehmen von Zyankali und benutzen von
Sprengstoff an erster Stelle der Tödlichkeitsskala setzten. Diese Einstufung wurde von
allen Experten im wesentlichen geteilt.
Todesinitiatoren
Todesinitiatoren handeln aus dem Glauben heraus, daß ihr Todesprozeß schon
begonnen hat und sie diesen nur abkürzen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch die
Todesinitiatoren den festen Wunsch haben zu sterben, dieser aber nicht der Impulsivität
unterliegt. Im Glauben daran einen Kontrollverlust zu verhindern oder Qualen zu
vermeiden, die sonst unumgänglich sind, nehmen sich diese Menschen das Leben. Es
ergibt sich hier eine Überschneidung mit der Sterbehilfe (Euthanasie). Patienten mit
unheilbaren Krankheiten gehören ebenso zur Gruppe der Todesinitiatoren wie
Menschen ohne physisch erkennbare Defizite, die das Leben als Qual ansehen.

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
25
Todesverächter
Menschen, die sich das Leben nehmen, weil sie an eine bessere Existenz nach dem Tod
glauben, nennt S
HNEIDMAN
Todesverächter. Dabei geht es nicht um das Vermeiden von
Schmerzen, die nach dem Tod nicht mehr sind, sondern um den Glauben, in eine Welt
zu gelangen, die besser ist als die, in der sie jetzt leben. Das wieder Zusammensein mit
einer geliebten aber verlorenen Person ist sehr oft die Basis des Suizids von
Todesverächtern. Es kann sich z.B. um Kinder handeln, die einen Elternteil verloren
haben und sich nach Wiedervereinigung sehnen oder um einen verwitweten Ehepartner,
der an eine Wiedervereinigung nach dem Tode glaubt. Gerade im Fall des Verlustes
eines Ehepartners geht es um die Unterscheidung des Todesgrundes durch Sehnsucht
nach dem Partner oder zur Überwindung der Einsamkeit, wobei nur der erste Fall dem
Todesverächter zuzuordnen ist.
Todesherausforderer
Bei den Todesherausforderen ist die Ambivalenz zwischen leben wollen und sterben
wollen am größten. Dies zeigt sich auch in der Methode die sie anwenden. Der Wunsch
zu sterben ist in dem Augenblick des Aktes zwar vorhanden, doch ist durch die Wahl
der Methode der Tod keinesfalls garantiert. Nach S
HNEIDMAN
sind Menschen, die
russisches Roulette spielen oder auf der Brüstung hoher Gebäude balancieren
Todesherausforderer. D
ICKHAUT
(1995) bedient sich zwar nicht der Kategorisierung
,,Todesherausforderer" doch fällt in seinen Augen jede Risikosportart unter die
Kategorie ,,Spiel mit dem Tod": Bungeejumping, Rafting, S-Bahn surfen, ja sogar
Höhlentauchen und Tiefseetauchen sind in seinen Augen Ausdruck eines Bedürfnisses,
den Alltagsthrill zu erhöhen. Es gibt bei diesen Personen zwar nicht den expliziten
Wunsch zu sterben, doch stellt sich die Frage, warum ein Mensch sein Leben auf diese
Weise einem erhöhten Verletzungsrisiko und damit auch einem erhöhten Todesrisiko
aussetzt. Das Besondere dieser Gruppe sieht S
HNEIDMAN
in dem Bedürfnis, ein
gesteigertes Interesse an Aufmerksamkeit zu bekommen. Dies trifft unweigerlich für
Risikosportarten zu.
Es gibt aber noch andere Aspekte den Suizid zu klassifizieren. Während S
HNEIDMAN
,
wie oben beschrieben, Unterscheidungen in der Motivation gefunden hat, verweist
R
INGEL
auf die Gemeinsamkeiten die ein Mensch in seiner Karriere als Suizident
durchläuft. Bei R
INGEL
geht es nicht um objektiv zu hinterfragende Motivationen,

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
26
sondern um Gesetzmäßigkeiten in der Psychodynamik, die ein Suizident im Laufe
seiner Karriere zeigt.
Suche nach Gemeinsamkeiten: Das praesuizidale Syndrom nach Ringel
R
INGEL
(1978) untersuchte 478 parasuizidale Menschen und erkannte
Gesetzmäßigkeiten bei fast allen von ihnen. Verhaltensweisen, die jeder Mensch in
ähnlicher Form zeigt, der im Laufe seiner Entwicklung zur Entscheidung gelangt sein
Leben zu beenden. R
INGEL
prägte den Begriff des ,,praesuizidalen Syndroms", das die
von ihm gefundenen Gesetzmäßigkeiten in drei Kategorien aufteilt: (1) Einengung, (2)
Aggressionsumkehr und (3) Suizidphantasien (R
INGEL
1978, 1989). Zunächst
beschreibt R
INGEL
aber die Basis des praesuizidalen Syndroms als eine Neurotisierung
in der Kindheit und beschreibt damit die Entstehung einer Ich-Verunsicherung. In den
ersten sechs Lebensjahren, die für das Kind in jederlei Hinsicht wichtig für die
Entwicklung und der späteren Lebenseinstellung sind, werden die Weichen für eine
lebensbejahende oder einer lebensverneinende Einstellung getroffen. Welche
Einstellung das Kind entwickelt, hängt maßgeblich von der Zuwendung der Eltern ab.
Erfährt das Kind zu wenig Liebe in Form der Vernachlässigung bei z.B. ungewollten
Kindern, benutzen die Eltern das Kind als ,,Schlachtfeld", auf dem ihre
Unstimmigkeiten ausgetragen werden oder wird es mit einer possessiven Liebe bedacht,
kann dies ,,die Lebensfreude bereits in der Kindheit abwürgen". Aus diesen
Erziehungsstilen ergeben sich die für die Traumatisierung des Kindes ,,wichtigen"
Erfahrungen: Enttäuschung, Kränkung und Mißerfolg. Natürlich erlebt jedes Kind im
Laufe seiner Kindheit jede einzelne dieser Erfahrungen, und dabei ist es auch
unbestritten, daß diese Erfahrungen, wenn sie in Maßen gemacht werden, dazu
beitragen die Persönlichkeit des Kindes reifen zu lassen (K
UHL
2001). Der Unterschied,
der zu einer traumatisierten Kindheit führt ist die Vielzahl der Erfahrungen. R
INGEL
spricht von ,,Tag für Tag, Jahr für Jahr" die das Kind zur Einsicht bringen, daß das
Leben aus Enttäuschungen, Kränkungen und Mißerfolgen besteht. Es ist nur eine
logische Konsequenz, daß bei reichlicher Erfahrung dieser Art ein verunsichertes
Selbstbild aufgebaut wird. Im Laufe des weiteren Lebens führt diese Ich-Schwäche zu
Entwicklungschwierigkeiten. ,,Das Ich des Kindes bleibt geschwächt, zerrissen, fast
willenlos, zwischen Auflehnung und Abhängigkeit hin und her taumelnd" (R
INGEL
1978,
S.20). R
INGEL
begründet das Taumeln zwischen Abhängigkeit und Auflehnung durch
die in dem Kind ausgelöste Aggression, die als Reaktion auf das Verhalten der Eltern.
Die Aggression gegenüber den Eltern führt wiederum zu Schuldgefühlen. Aus dieser

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
27
Ambivalenz der Gefühle heraus zieht sich das Kind zurück, entfremdet sich von den
Eltern, die wiederum mit Enttäuschung auf das In-sich-gekehrt-sein des Kindes
reagieren. Distanzierung der Eltern ist die Antwort auf den Rückzug des Kindes. Der
Teufelskreis schließt sich und die Generationen leben sich, mit wachsendem
Aggressionspotential des Kindes, auseinander.
Einengung
Durch die in der frühen Kindheit erfahrene Traumatisierung kommt es nach R
INGEL
zur
Einengung, die noch unterteilt wird in situative und dynamische Einengung sowie die
Einengung der Wertwelt.
Situative Einengung
Die situative Einengung beschreibt das Fehlen alternativer Möglichkeiten im Alltag des
Suizidenten mit bestimmten Situationen umzugehen. Wer zunehmend die Erfahrung
gemacht hat, nichts wert zu sein oder sich nicht eigenständig entwickeln zu können,
verliert auch bald das Interesse, an bekannte Situationen mit neuen Verhaltensweisen
heran zu gehen und somit Alternativen zu entdecken. Das Explorationsverhalten wird
unterdrückt. Die Folge ist das Fehlen der Entwicklungen einer größeren Zahl an
alternativen Verhaltensweisen. Nicht nur auf Problemsituationen angewandt, zeichnet
sich die situative Einengung durch das Fehlen der Entfaltungsmöglichkeiten aus. Auf
der Basis der traumatisierten Kindheit ist der Praesuizidale nicht in der Lage andere
Verhaltensweisen zu erkennen oder zu nutzen. In Streßsituationen bedeutet dies einen
sehr schnellen Verlust der Handlungsmöglichkeiten, das Fehlen von Lösungswegen, die
nicht erkannt werden oder aufgrund der weniger reichhaltigen Lebenserfahrung nicht
vorhanden sind. R
INGEL
spricht auch von der Einengung der persönlichen
Möglichkeiten. Dies gilt z.B. für den Aufbau von Freundeskreisen, die
Problemsituationen mit tragen können oder durch Meinungsaustausch eine große
Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten eröffnet. K
REITMANN
fand schon 1970 eine
Korrelation zwischen der Anzahl von Suizidversuchen und der Anzahl positiver
Bekanntschaften heraus. Dabei waren die Menschen mit der größeren Anzahl postiver
Kontakte weniger gefährdet, als Menschen deren Kontakte zu Mitmenschen wesentlich
geringer waren. Es spielte dabei keine Rolle, ob die Kontakte mit genetisch Verwandten
stattfanden oder mit dem (nicht genetisch verwandten) Freundeskreis (K
REITMANN
1970).

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
28
Dynamische Einengung
Die zweite Art der Einengung bezeichnet R
INGEL
als dynamische Einengung oder auch
Einengung der Gefühlswelt. Er benutzt das Bild der schwarzen Brille, mit der die
betreffende Person seine Umwelt wahrnimmt. Alles wird verzerrt und pessimistisch
betrachtet. Die Umwelt gibt dem Menschen immer neue Beweise für die Richtigkeit
dieser Einstellung. Die Sichtweise wird von zwei wesentlichen Faktoren gespeist. Zum
einen erlebt der Suizident die Zeit und das Leben als immer währende Wiederholung.
,,Die Tage werden als Kette erlebt, die Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit erzeugt"
(R
INGEL
1978, S.53) Auf der anderen Seite erlebt der Suizident einen Verlust des
Zeiterlebens, so daß der Eindruck entsteht, keine neuen Erfahrungen machen zu können.
Oberflächlich betrachtet kann der Außenstehende die so berichtete Sichtweise des
Suizidalen nachempfinden. In intensiveren Gesprächen hält das aber nicht stand und es
wird deutlich, daß eine sehr verzerrte Sichtweise der Realität vom Suizidenten ausgeht.
Aus seiner Einstellung erwächst im Laufe der Zeit eine Depression sowie Angst und
Panik. Die dynamische Einengung bewirkt in ihrem Höhepunkt die Überwindung des
Erhaltungstriebes und mündet schlußendlich im Suizid. R
INGEL
stellt gerade bei der
Überwindung des Lebenstriebes fest, daß dieser nicht durch rationale Überlegungen
allein, sondern durch die gefühlsmäßige Einengung überwunden werden kann.
Es reicht demnach nicht aus, ,,nur" die situative Einengung zu sehen. Diese Einstellung
würde ohne motivationale Einflüsse niemals zum Suizid führen. Die motivationalen
Einflüsse werden von der dynamischen Einengung geliefert.
Einengung der Wertwelt
Die letzte von R
INGEL
aufgeführte Einengung betrifft die Einengung der Wertwelt.
Gemeint ist damit der Verlust der Beziehungen zu Werten. Liebhabereien werden für
den Betroffenen bedeutungslos. Beziehungen zu vormals wertvollen Gegenständen
bauen sich ab. Die Interessenlosigkeit und Gleichgültigkeit ist die Folge dieser
Entwicklung.
Aus diesem Verlust an Werten, die vormals das Leben des Menschen bestimmten, folgt
der Mangel, sich für bestimmte Werte einzusetzen, Kraft aufzuwenden um bestimmte
Ziele zu erreichen, die dem Selbstwertgefühl einen Aufschwung geben könnten. Ein
Zusammenspiel wird deutlich: Das ohnehin schon reduzierte Selbstwertgefühl könnte in
der Verwirklichung diverser Ziele neue Energie schöpfen, die es stärken würden. Die
situative Einengung sorgt dafür, daß die persönliche Vielfalt der Zielgenerierung stark
eingeschränkt ist. Potentiell zu erreichende Ziele werden von vornherein stark

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
29
eingeschränkt oder gar nicht erkannt. Dabei erzeugt die dynamische Einengung den
Verlust der Motivation, was dazu führt, daß die noch vorhandenen Ziele als nicht
lohnenswert oder für zu schwer zu erreichen abgetan werden. In dieser Dynamik
entwickelt der Suizident nach R
INGEL
eine Wertvorstellung, die außerhalb dessen liegt,
was die Gesellschaft, in der er sich bewegt, als Durchschnitt erachtet. R
INGEL
geht nicht
näher auf die Entwicklung von übergroßen Wertvorstellungen im praesuizidalen
Syndrom ein, obwohl das Zusammenspiel von traumatisierter Kindheit und
übersteigerter Wertvorstellung nicht ohne Relevanz zu sein scheint.
Der Suizident wird in dieser Gemeinschaft zum Außenseiter aufgrund seiner
übersteigerten Wertvorstellung. Nach R
INGEL
bestraft die Gesellschaft schon von je her
Menschen mit besonderen Vorstellungen als Außenseiter. Die daraus resultierende
Isolation des Suizidenten von der Gesellschaft, gibt ihm einen enormen Anschub auf
dem Weg zum Suizid.
Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
Aggression ist ein wesentlicher Faktor, ohne den der Suizid nicht zustandekommen
kann. Es ist nach R
INGEL
anzunehmen, daß die seit längerem angestaute Aggression
zwar die Person des Suizidenten trifft, der Akt allerdings die Gesellschaft oder ganz
bestimmte Personen aus der Gesellschaft treffen, also bestrafen soll. Das Gewissen hält
die Person davon ab, andere zu schädigen, damit richtet er den Aggressionsstau gegen
die eigene Person. Es müssen nach R
INGEL
zwei Bedingungen miteinander verknüpft
werden, um die Aggression gegen die eigene Person zu richten. Zum einen ist das ein
ungewöhnlich starkes Aggressionspotential, deren Entstehung sich bei R
INGEL
durch
die Kindheitserfahrungen erklären lassen. Zum anderen muß die Abfuhr dieser
Aggression nach außen verhindert sein. Eine Verhinderung der Abfuhr von Aggression
nach außen ist auf die Hemmung der eigenen Person zurückzuführen oder auf äußere
Umstände, wobei R
INGEL
damit die zunehmende Zivilisation und damit den fehlenden
adäquaten Umgang mit Aggression und seiner Abfuhr anspricht. Untermauert wird
diese These von Daten, die einen Rückgang der Selbstmordrate zu Kriegszeiten
bescheinigt und eine Zunahme in Friedenszeiten (B
RONISCH
1999). Interpretieren lassen
sich diese Ergebnisse in der Form, daß in Kriegszeiten die angestaute Aggression eine
,,sozial verträgliche" Abfuhr erfahren kann und somit nicht mehr gegen das eigene
Leben gerichtet werden muß.

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
30
Selbstmordphantasien
Grundsätzlich unterscheidet R
INGEL
zwei Arten von Phantasien. Zunächst die Art der
Todesphantasie, die sehr viele Menschen in ihrem Leben schon mal erlebt haben und
die in ihrem Auftreten nicht als pathologisch einzustufen ist. Zum anderen gibt es
Phantasien, aus denen der betreffende Mensch zunächst Kraft schöpfen kann, da sie in
einer schweren Situation, die zumeist fremd bestimmt erscheint, den letzten Rest an
Entscheidungsautonomie bewahrt. ,,Wenn nichts gelingt, kann ich mir immer noch das
Leben nehmen." Auch diese Art der Suizidphantasien sind in ihrer Form noch nicht
pathologisch oder gefährdend, im Gegenteil kann der Mensch hier Kraft aus den
Gedanken schöpfen, seine Autonomie nicht gänzlich verloren zu haben.
Pathologische Züge gewinnt diese Art Phantasie zu dem Zeitpunkt, in dem sie nicht
mehr aktiv generiert werden, sondern als passive Phantasien sich dem Menschen
aufdrängen. R
INGEL
betont deutlich, daß dieser Umschwung vom aktiven Generieren
der Phantasien zum passiven Erleben nicht in jedem Fall von statten gehen muß, die
Gefahr einer Verselbständigung ist in jedem Fall aber vorhanden. Auch können die
Inhalte der Phantasien sehr viel Aufschluß über den Grad der Entwicklung bzw. die
Distanz zum Suizid geben. Wichtig ist dabei die Konkretheit der Phantasie über die
Durchführung des Suizids, seine Methode und den Zeitpunkt. R
INGEL
unterscheidet hier
drei Stufen:
(1) Die Vorstellung tot zu sein: In dieser ersten Phase wird zunächst nur das
Resultat des Aktes ausgekostet. Vorstellungen, wie sich bestimmte Menschen
schuldig an dem Tod des Suizidenten fühlen, daß sie ihn vermissen werden
usw. bestimmen das sonst sehr unkonkrete Bild vom Suizid. Der eigentliche
Akt des Sterbens ist noch nicht in der Phantasie enthalten, der Tod selber
besitzt noch keine Substanz, im Gegenteil, er kann immer noch
zurückgenommen werden.
(2) In der zweiten Phase geht es um die Vorstellung Hand an sich zu legen, ohne
jedoch auf eine genaue Suizidart festgelegt zu sein. Der Focus richtet sich im
Gegensatz zur ersten Stufe mehr auf den Akt und seine Durchführung als auf
die Reaktionen der Angehörigen.
(3) In der dritten Phase hat die Suizidmethode genaue Formen angenommen. Der
Suizident kann sich eine Planung seines Suizids bis ins Detail zurechtgelegt

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
31
haben. Dabei kann die Detailverliebtheit die Durchführung des Suizids
erheblich fördern. R
INGEL
vergleicht sie mit einem Sog, der an Intensität
zunimmt, je detaillierter der Suizid in seiner Phantasie ausgemalt ist.
Blick auf gestörte Persönlichkeitsstrukturen: Henselers Ansatz
Die dritte Theorie der Literatur, die hier näher erörtert werden soll, betrifft die
Strukturstörung, die auf H
ENSELER
(1974) zurückgeht. H
ENSELER
betrachtet den Suizid
aus der Perspektive der narzistischen Störung und geht in der psychoanalytischen
Theorie von einer Entwicklung aus, die jeder Person widerfährt, sich bei Narzisten aber
zu einer Pathologie entwickelt. In ihren Ausläufern baut die Person einen Selbstschutz
auf, deren letzte Konsequenz der Suizid ist. H
ENSELER
selber betont, daß seine Theorie
eben nur aus der Sicht narzistischer Störungen gesehen werden kann, und daß sie nicht
als die einzig richtige Theorie der Psychodynamik des Suizids zu verstehen sei. Es
werden z.B. andere Determinanten nicht berücksichtigt, die durchaus eine Rolle in
vielen Suizidfällen spielen. ,,Sie stellen also nicht die differentia specifica für den
Suicidanten im Vergleich zu allen anderen Formen der psychopathologischen Erlebens
und Verhaltens dar, haben aber größere erklärende Kräfte für bestimmte
Besonderheiten der zum Suizid neigenden Persönlichkeiten und der Durchführung der
Suizidhandlung" (H
ENSELER
1974, S.85).
Der harmonische Primärzustand
Die Basis der Strukturstörung ist die intrauterine Einheit, also die praenatale Einigung
von Mutter und Kind. Hier befindet sich der Fetus in einem Zustand von Harmonie,
,,Freiheit" und Spannungslosigkeit, wie sie nur noch nach der Geburt im harmonischen
Primärzustand vom Kind erlebt wird. Da dieses Erleben nur in der frühsten Kindheit
möglich ist, zu einer Zeit in der der Säugling noch nicht zwischen dem Selbst und der
Umwelt unterscheiden kann, ist damit impliziert, daß diese Gefühle, dieser Zustand
nicht erinnert werden kann. Das Wissen über diesen Zustand wird daher durch
Rückschlüsse interpretiert. Anzeichen für die Existenz des harmonischen
Primärzustandes sind:
- das Verhalten des Säuglings
- Sehnsüchte, die in jedem Menschen stecken und die das Ziel haben, diesen
Zustand wieder zu erreichen
- die dunklen ,,Erinnerungen" der Menschen

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
32
- die tief regressiven Zustände, wie man sie vor allem aus der Psychopathologie
kennt
- Rückschlüsse aus den Anstrengungen, die unternommen werden diesen
Zustand wieder zu erreichen oder sich ihm im Laufe der Entwicklung
anzunähern
Lust- und Unlusterfahrungen
Geht man vom harmonischen Primärzustand aus, ergibt sich bei einem ersten Schritt der
Entwicklung des Menschen die Problematik der Erkenntnis, daß es einen Unterschied
zwischen dem Ich und einer Außenwelt gibt. Mit zunehmender Entwicklung des
Menschen ergeben sich daraus zwei konträre Punkte: Zum einen wird mit wachsender
Bewußtwerdung eine Unterscheidung zwischen dem Selbst und der Umwelt getroffen.
Hier entstehen langsam die ersten Bilder des Ichs eines Kindes (Selbstrepräsentation)
aber auch Bilder über die Objekte, die außerhalb des Ichs liegen (Objektrepräsentation).
Zum anderen entsteht eine große Enttäuschung über das Unlustgefühl, welches sich in
Folge der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ergeben hat. Es ist dem Kind
nicht möglich dieses Unlustgefühl durch Strategien unschädlich zu machen und ist
ihnen daher ausgeliefert. Es ist dem Kind auch nicht möglich diese Unlusterfahrung in
Grenzen zu halten. Sie führen immer wieder an die Grenzen des Reizschutzes und mit
dem Übertreten dieser Grenzen zu Angstgefühlen, ja sogar zu traumatischen
Erfahrungen. Diese gehen einher mit Erschöpfung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Da
diese Erfahrung das Gegenteil des Urvertrauens ist spricht H
ENSELER
auch von der Ur-
Verunsicherung.
Eines der bedeutendsten Streben ist es für den Menschen sich diesem harmonischen
Primärzustand wieder anzunähern oder wenigstens den Zustand der Urverunsicherung
zu vermeiden. Dazu hat der Mensch nach H
ENSELER
vier Kompensationsmechanismen
zur Verfügung:
1) Regression auf einen Primärzustand
2) Verleugnung und Idealisierung
3) Angleichung an die Realität
4) Verinnerlichung

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
33
Copingstrategien
Gebraucht werden diese Strategien, um als Puffer gegen eine drohende Verunsicherung
des Selbst zu wirken. Dabei werden die oben genannten Mechanismen in der
Reihenfolge angewandt, die der Entwicklung des Individuums entspricht. Auf der
niedrigsten Entwicklungsstufe wird dabei die gerade gewonnene Selbständigkeit wieder
aufgegeben, eben zugunsten der Verschmelzung mit einer geliebten Person. Auf der
nächsten Entwicklungsstufe kann das bedrohende Objekt
8
verleugnet, ja sogar ins
Gegenteil umgedreht werden, so daß aus der vermeidlichen Schwäche die subjektiv
empfundene Stärke wird. Erst in der Adoleszenz kann der dritte Schritt aktiv werden,
wenn die erlebte Glorifizierung der eigenen Person und der Eltern, die das Kind häufig
in der Erziehung erfährt, der Realität angeglichen wird. Wenn die in der Kindheit
ständig erfahrenen Äußerungen von den Eltern etwas Besonderes zu sein und sich von
anderen ohne besondere Begründungen zu unterscheiden, als nicht so stark erlebt
werden. Hier ist die Realitätsannäherung ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der
Persönlichkeit des Menschen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, daß die Entwicklung
von Kopingstrategien in der Erziehung auf jeden Fall vermieden werden müssen. Im
Gegenteil, der Mensch kann ganz ohne Copingstrategie nicht leben und behält sich
einen ,,kleinen Privatwahn" (H
ENSELER
1974, S.77) vor. Dieser erlaubt es ihm, Verluste
nicht ganz hinnehmen zu müssen, indem die vorteilhaften Aspekte eines verlorenen
Objekts internalisiert werden und so zu einem ,,Idealselbst" beitragen, welches jeder
Mensch in sich trägt und in bedrohten Situationen die situativen Aspekte der Bedrohung
betont, um damit den Rest des Selbst vor der Bedrohung zu schützen. Es entstehen
Einstellungen, die besagen: ,,Diese Aktion ist mir zwar mißlungen, im Grunde bin ich
aber ein erfolgreicher Mensch."
Narzismus und der Weg zum Suizid
Wie gut diese Copingstrategien funktionieren oder wie pathologisch ihre
Übersteigerung ist, kann man am besten im Fall von Kränkung erfahren. Narzismus
basiert immer auf einem labilen Selbstwertgefühl. Bei einer Kränkung, also der akuten
Bedrohung für das Selbst, werden diese Menschen schneller mit
Kompensationsmechanismen reagieren als Menschen ohne Ich-Schwäche. H
ENSELER
nimmt weiterhin an, daß als Kompensationsstrategien die schon bekannten
8
Objekt meint hier sowohl Gegenstände als auch Erinnerungen, Gefühle, Gedanken und in diesem Fall
vor allen Handlungen und Ziele derer sich erinnert werden kann.

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
34
Mechanismen umgesetzt werden und zwar wie sie oben besprochen wurden, in
umgekehrter Reihenfolge. Daraus ergibt sich dann
1) zunächst eine Realitätsprüfung und ggf. eine Angleichung, sollte das nicht
ausreichen beginnt der
2) Rückzug auf verinnerlichte Idealbilder, dann die
3) Verleugnung und Idealisierung und zum Schluß ergeben sich
4) Verschmelzungsphantasien und deren Agieren
Nun stehen dem gesunden Menschen verschiedene Möglichkeiten offen, auf eine
Kränkung zu reagieren. Im Sinne obiger Reihenfolge wird zunächst die Realität
überprüft, mit der man konfrontiert wurde, um ggf. einen Angleich vorzunehmen. Dabei
wird z.B. überprüft, ob der Vorwurf so gemeint war, wie er gesagt wurde, ob man sich
verhört hat oder ob der Vorwurf zutrifft. Sollte der Vorwurf als realistisch eingestuft
werden, ist der Stellenwert entscheidend den er einnimmt. Ein Fehler wird (an-)
erkannt, wenn die Belastung des Ichs verkraftet werden kann. Eine Flucht ins Ideal-
Selbst könnte ebenfalls eine adäquate Reaktion sein. Dabei können die situativen
Aspekte hervorgehoben werden, die es erlauben, das Selbst mit einem Fehler zu
konfrontieren, diesen aber situationsbedingt zu attribuieren und keinesfalls als
permanente Ich-Schwäche aufzufassen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der
Korrektur der Ansprüche an das Selbst, wenn im Nachhinein ein gesetztes Ziel als zu
anspruchsvoll erklärt und damit für nicht erreichbar definiert wird. Schließlich kann der
Vorwurf auch als falsch erkannt werden und zu einer Abwehrreaktion, mit dem
Ergebnis der Richtigstellung des Sachverhaltes führen.
Diese Abwehrreaktionen hat der Narzist aufgrund seiner schwachen Ich-Struktur nicht
in dieser Qualität zur Verfügung. Auch ,,greifen" die oben beschriebenen
Abwehrreaktionen nur bis zu einem gewissen Grad der Bedrohung oder des Vorwurfes.
Wird das Ich zu stark belastet, bricht das System zusammen. Dies ist bei narzistischen
Persönlichkeiten eher der Fall, als bei einer Person mit starker Ich-Struktur. Hinzu
kommt, daß beim Narzisten die Sensibilität für Bedrohungen wesentlich stärker
ausgeprägt ist. Bedrohungen und Angriffe auf das Selbst werden wesentlich schneller
wahrgenommen, so daß die Kompensationsmechanismen schneller überfordert sind.
Nach H
ENSELER
besteht zusätzlich bei den Narzisten eine Tendenz, sich auf
Verleugnung und Idealisierung zu versteifen. Vorwürfe werden demnach gerade durch
das Gegenteil im Selbstbild ersetzt. Im Laufe der Verleugnung und anschließenden

Drei Theorien über die Gesetzmäßigkeiten zur Überwindung der Individualität
35
Idealisierung wird nicht nur das Selbst und seine Ziele in ein unrealistisches Verhältnis
zur Realität gesetzt, es werden auch Fehler, die nicht zu leugnen sind in einer
unrealistisch großen Dimension zur Realität gesehen. Das hat die Konsequenz, daß
Fehler, die bei durchschnittlichen Personen Bagatellcharakter haben, bei der
,,aufgebauschten" Persönlichkeit des Narzisten geradezu einen Skandal darstellen. Die
entstehende Diskrepanz zwischen idealisiertem Selbst und das erneute Erleben der
Bedrohung für das Selbst durch das nicht Erreichen der gesetzten Ziele führt langfristig
zu einem übersteigerten Minderwertigkeitsgefühl.
Es ist eine Frage der Zeit, wann das sich immer weiter aufschaukelnde System
zusammenbricht. Um dieser Katastrophe zu entkommen, gibt es für die narzistische
Persönlichkeit nur die Möglichkeit die Flucht nach vorne und das narzistische
Gleichgewicht dadurch zu retten "daß man ihr aktiv zuvor kommt, indem man sein
Selbstgefühl rettet, auf seine Identität als Individuum aber verzichtet, was
gleichbedeutend ist mit einer Regression auf den harmonische Primärzustand"
(H
ENSELER
1974, S.84). Dort glaubt der Narzist Verschmelzung, Wärme, Geborgenheit,
Triumph, Seligkeit u.a. zu finden. Die Flucht aus dem Jetzt kann nur die Flucht in eine
andere Wirklichkeit sein. Eine Beendigung der jetzigen Existenz scheint dafür das Tor
zu sein.

Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
36
Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
Therapeut:
Und in welchem Verhalten Ihrer Mutter sieht er
[
der Bruder
]
ein
schuldhaftes Verhalten?
Tochter:
Also, daß er andauernd übermuttert wurde. Daß sie ihn fragt: ,,Willst
Du noch ein Brot?" Und wenn er dann ,,Nein" sagt und sie ihm
trotzdem noch eins bringt!
Therapeut:
Und wie sieht er den Zusammenhang zwischen geschmierten Broten
und
[
seiner
]
Drogenabhängigkeit?
Simon & Simon (2001, S. 115)
Die im letzten Kapitel vorgestellten Theorien über das Verhalten suizidaler Menschen
haben sich im therapeutischen und beratenden Alltag als nützlich erwiesen, das
,,Stadium" einer Suizidkarriere zu bestimmen, die Intensität des Todeswunsches zu
hinterfragen und mit diesen Informationen die passenden therapeutischen oder
beratenden Schritte einzuleiten. Sie helfen die Stärke der Motivation eines Kindes, das
den Wunsch hat, sich nach dem Tod der Eltern zu suizidieren (S
HNEIDMAN
:
Todesverächter), einzuschätzen. Sie können bei Schülern, die ,,in der letzten Zeit sehr
still" geworden sind, im Gespräch den Konkretheitsgrad der Selbstmordphantasie
eruieren und damit auf der Skala der Intensität eine Einstufung des Schülers auf dem
Weg zum Suizid vornehmen (R
INGEL
). Oder sie können bei sich
herauskristallisierender, niedriger Frustgrenze eine Theorie über den Selbstwert der
Persönlichkeit liefern und damit auf eine Suizidgefährdung hinweisen (H
ENSELER
).
Das Prinzip von Ursache und Wirkung
Verfolgt man die besprochenen und auch andere Theorien des Suizids aber unter dem
Gesichtspunkt der Prävention/Intervention, stellt sich sehr schnell heraus, daß das
Erleben des Kindes in der frühen Kindheit ein ausschlaggebender Punkt für die Weiche
zum Suizid ist. Nach R
INGEL
ist, wie oben schon erwähnt, die Zuwendung der Eltern
zum Kind der ausschlaggebende Punkt. Zuviel Liebe kann, genauso wie zu wenig die
Weichen für eine lebensverneinende Einstellung liefern.
H
ENSELER
sieht eine Gefahr darin, dem Kind zu suggerieren, es sei einzigartig und
etwas Besonderes, was in den Augen der Eltern auch durchaus zutreffen mag, in
Relation zum Gesamtkontext vom Kind später aber anders erlebt werden kann.
Probleme entwickeln sich dann, wenn das Selbstbild durch zunehmendes

Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
37
Autonomieverhalten in der Adoleszenz nicht mit dem erlebten Verhalten beider Eltern
in der Kindheit übereinstimmt. Noch enger kann die Schuldzuweisung gezogen werden,
wenn man sich vor Augen hält, wer im Regelfall den größten Erziehungsanteil in der
Ehe oder Partnerschaft hat. P
ATTERSON
(zitiert nach O
MER UND VON
S
CHLIPPE
2002)
kommt zu dem Schluß, daß der Vater zwar eine wichtige Rolle im Aufwachsen der
Kinder spielt, diese Rolle aber durchaus aufgrund seiner niedrigen Kontaktfrequenz mit
den Kindern auch mit ,,Gast" bezeichnet werden kann. Nach P
ATTERSON
ist die Mutter
in 71% aller Fälle die Adressatin von Abhängigkeitskommunikationen (Jammern und
um Hilfe bitten) und 56% aller Fälle Adressatin aller aggressiven Akte der Kinder. Es
wird in fast allen Theorien eine Kausalität zwischen dem Verhalten der Eltern, speziell
der Mutter und dem suizidalen Verhalten des Kindes hergestellt.
Solch eine lineare Kausalität entspricht aber weder der Realität im
systemtherapeutischen Sinne noch ist sie hilfreich für den Therapeuten oder Berater im
Umgang mit den Eltern suizidaler Kindern. Die referierten Theorien implizieren durch
ihre Linearität Schuldzuweisungen, die von den Autoren mal mehr mal weniger auch so
verstanden werden sollen. In Form kausaler Zusammenhänge (kausale Linearität) wird
das Defizit in der Erziehung zum suizidalen Verhalten des Kindes führen. Plump
ausgedrückt könnte man sagen, was die Eltern nicht geschafft oder schlimmer noch
verursacht haben, führt früher oder später zum Suizid des Kindes.
Die systemische Sichtweise nimmt Abstand von den zwei Konstrukten, die einer
solchen Schuldzuweisung inhärent sind:
1) die implizite und explizite Schuldzuweisung durch eine Theorie und damit
2) der Glaube an eine linearen Kausalität
V
ON
S
CHLIPPE UND
S
CHWEIZER
(1996) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin,
daß ,,die Konzeptualisierung von Kausalität als geradliniges Wirkungsprinzip nicht
zulässig ist, wenn man soziale Zusammenhänge als System konzeptualisiert" (
VON
S
CHLIPPE
& S
CHWEIZER
1996, S.90). Sie beschreiben das Konzept der Kausalität als
Versuch der Komplexitätsreduktion des Beobachters. O
MER UND VON
S
CHLIPPE
(2002)
weisen auf den schottischen Philosophen D
AVID
H
UME
(1739) hin, der sagte, daß
Kausalität in der Natur nicht vorhanden ist und somit nur ein Bedürfnis der Seele sei.
Es wird deutlich, daß der Ansatz der systemischen Therapie, wie sie
VON
S
CHLIPPE
,
S
CHWEITZER
und
O
MER
vertreten wird, das Konstrukt der kausalen Linearität verwirft,

Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
38
da dieses mögliche Alternativerklärungen von vornherein ausklammert und somit die
Vielfalt der Einflüsse, die zu einem bestimmten Verhalten führen, als auch die
Bandbreite der Kommunikation untereinander und die Möglichkeiten der Erklärungen
vorhandener Phänomene sehr begrenzt. Nach O
MER
&
VON
S
CHLIPPE
sind gerade die
fokussierten Verhaltensweisen der Personen im System und die damit immer stärker auf
das Problem reduzierte Kommunikation ein Indikator für das Festfahren bestimmter
Verhaltensweisen der Systemmitglieder. Wobei als ,,System" eine Gruppe von
Menschen bezeichnet wird, die sich durch enge Beziehungen untereinander von der
Umwelt unterscheiden. Ein solches System kann sich zum Problemsystem (
VON
S
CHLIPPE
& S
CHWEITZER
1996) entwickeln, d.h. die Interaktionen im System kreisen
immer mehr um das Problem und vernachlässigen andere Aspekte der Beziehung.
Damit beginnt sich das Problemsystem, durch die Eingrenzung der Verhaltensweisen
seiner Mitglieder selber zu tragen.
,,Muster" statt Schuldzuweisung
Auf die Frage hin, was das suizidale Verhalten denn auslöst, bietet S
CHLEIFFER
(1979)
einen ,,interaktionistischen Zugang" an. Die Frage, ob das suizidale Verhalten
Vererbungssache, das Resultat eines Identifikationsvorganges oder das Ergebnis des
Modellernens sei, stellt er heraus, daß die wichtigsten Protagonisten auf dem Weg zum
Suizid zunächst die Personen, die Situation und die Kommunikation der Personen
untereinander sind. Somit ergibt sich zwischen diesen Protagonisten ein System, in dem
jeder einen Teil der Dynamik auf dem Weg zu Suizid beisteuert. Anders als bei den
meisten Theorien ist hier zunächst der Gedanke impliziert, daß ein Problemsystem
erschaffen wurde indem alle Beteiligten als Opfer angesehen werden und gleichzeitig
durch Ihre Opferrolle nicht in der Lage sind, den Kreislauf zu unterbrechen, um eine
Eskalation zu verhindern. Keinem der Beteiligten kann ein dominanter Part zugeordnet
werden, so daß die Eskalation nur durch das ,,Zusammenspiel" aller Beteiligten
zustande kommt.
Norbert Wiener (zitiert nach
VON
S
CHLIPPE UND
S
CHWEITZER
1996) spricht von einer
zirkulären Kausalität. Zirkuläre Kausalität bezeichnet die Handlung einer Person, die
auf die Mitglieder eines Systems Auswirkungen hat. Das System reagiert auf die
Handlung der Person und wirkt damit auf den Handelnden zurück. Problematisch wird
hier die Konnotation ,,Kausalität", da der Begriff nur als ein anderer Kausalitätsbegriff
verstanden werden könnte, wie er oben bereits abgelehnt wurde und von Wiener auch

Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
39
nicht verstanden werden will. Schlußendlich wurde die Idee präsentiert, den Begriff der
Kausalität völlig fallen zu lassen und an seiner Stelle von ,,Muster" zu sprechen. Der
Vorteil, besonders für das Arbeiten mit Parasuizidalen und deren Angehörigen, besteht
bei der Konnotation ,,Muster" darin, nicht mehr der Suche nach Ursachen nachzugehen
sondern an deren Stelle die Beschreibung von Verhaltens-Mustern zu setzen, innerhalb
derer keine Größe eine determinierende Stellung zugeordnet wird. Es kann demnach
nicht den Kausalzusammenhang zwischen Ursache und Wirkung geben. Vielmehr
handelt es sich um ein Muster von Interaktionen, das innerhalb der Kommunikation zu
aufschaukelnden Prozessen führt. Im Bereich des Suizids geht es dann nicht mehr um
(implizite) Schuldzuweisungen, sondern um Muster, die zwischen den Personen im
entsprechenden System entstehen, sich verfestigen, die Menschen im Griff haben und
somit auf lange Sicht zur Eskalation führen.
O
MER
&
VON
S
CHLIPPE
(2002) fanden in ihrem Konzept der elterlichen Präsenz bei
Familien mit verhaltensauffälligen Kindern die Basis der Eskalation u.a. im Verlust der
Präsenz der Eltern gegenüber dem Kind. Der Verlust der Präsenz kann mit dem Verlust
der ,,Stimme" einhergehen, die für das Kind immer leiser oder unwirklicher wird. Die
Eltern verlieren für das Kind an Bedeutung. O
MER
und
VON
S
CHLIPPE
weisen darauf hin,
daß innerhalb der verfestigten Muster auch ein sehr unterschiedliches Erleben der
eigenen Rolle in Bezug auf die andere Person vorhanden sein kann, so daß das Kind
z.B. die Präsenz der Eltern als eigenständige Individuen, die für ihn Verantwortung
tragen, nicht mehr wahrnimmt. Die Eltern hingegen haben ihr eigenes Leben auf die
Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten. Sie glauben nur noch für ihr Kind zu leben. Es
ist bei dem Mustern schwierig zu sagen, wer Schuld hat oder wann es begann. Die
Klärung dieser Fragen würde den Beteiligten auch nicht helfen das Muster zu
unterbrechen, im Gegenteil, es würde (in der Bewußtwerdung) den Konflikt nur neu
entfachen oder verstärken.
S
IMON UND
S
IMON
(2001) Zeigen in ihrem Buch einen weiteren Aspekt der
Schuldzuweisung auf, wie er im Zitat zu Beginn des Kapitels herausgestellt wird. Dabei
geht es um die Merkwürdigkeit wie Kausalitäten konstruiert werden und das sie bei
genauer Betrachtung gehörige logische Lücken aufweisen. Demnach werden
Schlagworte wie ,,Überfürsorglich" und ,,vernachlässigt" ohne weitere Überprüfung als
Erklärung verwendet.
O
MER
&
VON
S
CHLIPPE
(2002) sehen den Vorteil des Begriffes Muster ebenfalls in der
Unterlassung einer Schuldzuweisung. Zusätzlich beschreiben sie, daß bei der

Suizid als Kommunikation: Systemische Überlegungen
40
Konnotation Muster über ein Verhalten gesprochen werden kann, das sich zwischen den
Personen im System entwickelt hat und das an einem bestimmten Punkt
verhaltenssteuernde Qualität übernimmt. Damit werden die Interaktionen innerhalb des
Systems, speziell die Quantität des Verhaltens untereinander schnell an seine Grenze
geführt. Das System bekommt durch die Fokussierung des Verhaltens auf die Probleme
einen immer engeren Spielraum, der es nicht ermöglicht, alternative Möglichkeiten der
Handlungen oder alternative Wahrheiten zu erkennen. ,,Alle Beteiligten am Konflikt
erleben sich festgefahren und sind in gewisser Weise ,,Opfer" des Musters, das sie
selbst zu erzeugen halfen" (O
MER
&
VON
S
CHLIPPE
2002, S.86).
Ebenen der Kommunikation
Suizid ist immer auch ein Kommunikationsproblem. Nach R
INGEL
(1998) und O
RBACH
(1997) ist der Rückzug des Suizidanten und damit das Verarmen der Gespräche
untereinander eines der Symptome, das die akute Beschäftigung des Menschen mit dem
Suizid anzeigt.
Mit dem Konstrukt Kommunikation ist u.a. der Name S
CHULZ VON
T
HUN
unweigerlich
verbunden. Will man Kommunikationsstörungen oder ungewöhnliche Verhaltensweisen
aufdecken, ist das ,,Quadrat der Nachricht" (S
CHULZ VON
T
HUN
1989) ein fast
unumgängliches Instrument der Analyse und Erklärung geworden. Das Quadrat der
Nachricht fokussiert aber den verbalen Teil einer Kommunikation mit all seinen
Facetten und Mißverständnissen. Wenn das Wort aber nicht mehr reicht um auf
Verhaltensweisen aufmerksam zu machen, um auf Mißstände oder Probleme
hinzuweisen, gibt es noch die Möglichkeit auf die Ebene des Verhaltens zu wechseln,
um sich mitzuteilen. Bei den Suizidenten findet wie oben schon erwähnt eine solche
Verlagerung innerhalb der Kommunikationsebenen statt. Zeichnet sich der Suizidant
zunächst durch Neugier gegenüber dem Tod aus. Fragen, was nach dem Tod passiert, ob
es ein Leben nach dem Tod gibt und wer alles zu seiner Beerdigung kommen würde,
zeichnet die Verhaltensweise vorrangig beim Kind aus. Das Interesse am Tod und der
Sinn des Lebens, der hier hinterfragt wird, wird von den Eltern allzu häufig als
philosophisches Interesse des Kindes gedeutet und der frühen Reife des Kindes
zugeschoben (O
RBACH
1997). Das sich hinter diesen Fragen eine sich langsam
entwickelnde pathologische Beschäftigung mit dem Tod verbergen kann wird den
betroffenen Eltern meist erst sehr spät klar. R
INGEL
(1998) beschreibt, wie oben schon
angeführt, in seinem praesuizidalen Syndrom den Verlauf dieser Suizidphantasien, die,

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832469825
ISBN (Paperback)
9783838669823
DOI
10.3239/9783832469825
Dateigröße
2.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Osnabrück – Humanwissenschaften
Erscheinungsdatum
2003 (Juli)
Note
2,0
Schlagworte
suizid trauer suizidtheorien qualitative inhaltsanalyse systemische therapie
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Titel: Therapeutische und beratende Arbeit mit Eltern suizidierter Kinder
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