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Körperkult(ur)

Die neue Körperlichkeit in unserer Gesellschaft

©2002 Diplomarbeit 149 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Gegenwärtig sind in den unterschiedlichsten Sektoren des gesellschaftlichen Lebens Entwicklungen zu beobachten, die von einer Veränderung des sozialen Status des Körpers zeugen. Von der Pluralisierung der Mode über neue Körperpraktiken im Freizeitbereich bis hin zu schönheitschirurgischen und gentechnischen Eingriffen: der Körper scheint zunehmend zum Gegenstand individueller Gestaltungsprojekte und Optimierungsversuche zu werden. Ziel der Arbeit ist, ausgehend von einer historisch orientierten Sichtung der Veränderung der körperbezogenen Praktiken im Zivilisationsprozess (mit Schwerpunkt auf den neuesten Entwicklungen) generelle soziologisch relevante Schlussfolgerungen über den gegenwärtigen sozialen Status des Körpers als praktisch-sinnvoller Einheit zu gewinnen.
Nach einer in die Thematik einführenden Einleitung wird im zweiten Kapitel der Wandel der Körperkonzepte seit der Antike diskutiert, wobei insbesondere die jeweils epochal leitenden Metaphern für die Konzeptualisierung des Körpers herausgearbeitet und der Wandel des Status des Körpers im Zuge der Ausdifferenzierung der Konzepte von „Natur“ und „Kultur“ in groben Umrissen dargelegt werden. Detailliert wird das dritte Kapitel dem kulturgeschichtlichen Wandel der Körperpraktiken gewidmet. Hier werden zum einen in Anlehnung an Elias Zivilisationstheorie die Prozesse der Disziplinierung und Kontrolle von Körperfunktionen und Nacktheit sowie deren Bezug zur Ausdifferenzierung der Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit erörtert; zum anderen wird die sozial differenzierende Funktion der Mode, die sich mittlerweile von der Kopplung an eine ständische Gesellschaftsordnung abgelöst hat und sich nun weniger normierten Prozessen individueller Distinktionsbedürfnisse ausrichtet, hervorgehoben. Als anthropologisch leitende Konstante wird „die ewige Sehnsucht nach der Schönheit“ lokalisiert, welche sich aber letzten Endes als imaginäre, schwer fassbare und inhärent paradoxe, da sich der Demokratisierung ihrem Wesen nach entziehende Größe zeigt. Das Kapitel vier beinhaltet Studien zur Darstellung des Körpers in der Werbung und geht der Frage nach, wie Körperideale in kommerziellen Zusammenhängen konstruiert werden. Hier wird vor allem das paradoxe Spannungsverhältnis herausgearbeitet, das zwischen der gesellschaftlich typenhaften Normierung von Schönheitsidealen und dem Appell zur gezielten künstlichen Optimierung eines Idealkörpers einerseits und der Konstruktion des […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

In der heutigen Gesellschaft erscheint der Körper in den Mittelpunkt der Interessen avanciert zu sein. Er wird gepierct, tätowiert, gestählt, chirurgisch modelliert, physischen Extremsituationen ausgesetzt etc.. Der Körper ist Gegenstand der Lifestyle Magazine, füllt die Spalten der Feuilletons, erobert die Reservate der Wissenschaft sowie der Talk-Shows. Eine Konjunktur des Körpers ist nicht zu leugnen. Jedoch deutet das Ausmaß seiner Präsenz, seiner Einbindungen in die unterschiedlichsten Bereiche auf mehr hin, darauf dass hier etwas Bedeutsames stattfindet: Die Sicherheit einen Körper einfach zu haben nimmt ab und wird ersetzt durch das Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Relevanz und der Erkenntnis der Eigenverantwortlichkeit des Körpers. Eine Folge dessen ist, dass der Körper dem Selbst immer mehr zum Objekt wird. Er wird zu einer Ware und zu einem Instrument, an dem der Stilisierungsdrang ausgelassen sowie das Selbst inszeniert wird. Der Körper gilt nicht mehr als Schicksal, sondern als Ort der ästhetischen Veränderungen - der generellen Machbarkeit. Über die Tatsache, dass der Mensch sich nicht auf eine mehr oder weniger funktionierende Maschine reduzieren lässt, herrscht weitgehende Einigkeit in der Literatur. Dem Körper kommt viel mehr die Doppelfunktion zu, zwischen "Körpersein" und "Körper haben" einen Bezug des Ichs zur Welt herzustellen.

"Einerseits ist der Mensch sein Körper, ganz wie andere animalische Organismen. Andererseits hat er einen Körper. Das heißt, daß der Mensch sich selbst als Wesen erfährt, das mit seinem Körper nicht identisch ist, sondern dem vielmehr dieser sein Körper zur Verfügung steht. Die menschliche Selbstwahrnehmung schwebt also immer in der Balance zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, einer Balance, die stets von neuem wiederhergestellt werden muß" (Berger/ Luckmann, 2000, 53, in Antoni-Komar, 2001, 11).

Seit geraumer Zeit herrscht innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften die Einsicht: "Nichts oder nahezu nichts am Körper ist einfach da, alles oder fast alles ist auf die ein oder andere Art und Weise gemacht"(von Randow/ Golin, 2001, 10). Das enthält als Kern die Aussage, dass es keine ursprüngliche Physis gibt, die dann erst kulturell überformt wird, sondern dass es den Körper immer nur als soziales Konstrukt gibt.

"Der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der >Person<, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur und doch gibt es an ihm kein einziges bloß >physisches< Mal (...)" (Bourdieu, 19 , 310).

So wie es keinen wahrhaftigen oder ehrlichen Körper geben kann, kann auch kein per se natürliches Verhalten existieren. Demnach ist die Körperwahrnehmung und der Umgang mit dem Körper Resultat der sozialgeschichtlichen Entwicklung. Somit kann ein heute praktizierter Körperkult auch nicht ohne historische Betrachtung verstanden werden.

Durch die rapiden Fortschritte der Biotechnologien haben sich die Debatten um den Körperthemenkomplex verschärft. In Anbetracht dessen, dass der menschliche Bauplan entziffert wurde und nun global um die Wette sequenziert wird, um die komplexen Verbindungen zwischen Gen und menschlichen Eigenschaften zu erforschen, tritt die Einsicht, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist bis die bisher natürliche Evolution durch eine künstliche ersetzt wird oder zumindest verbessert wird, hervor. Damit wird bewusst, so wie der Mensch innerhalb einer fünfhundertjährigen Entwicklung sich die natürlichen Reichtümer der Erde aufgeteilt, privatisiert und in Waren verwandelt hat, nun auch das was bislang als am natürlichsten galt und sich der menschlichen Verfügbarkeit entzog, nun kurz davor steht vollkommen dem Gestaltungswillen des Menschen zu unterliegen. Damit entstehen konkrete ethische Fragen, z.B. bezüglich der Erzeugung des Körpers oder der Verfügungsgewalt über ihn, auf die die Gesellschaft soweit noch keine Antworten hat (von Randow/ Golin, 2001, 10-11).

Innerhalb dieser prägnanten Entwicklungen ist der Körper zu einem entscheidenden gesellschaftlichen Symbolträger geworden. Diese Arbeit wird untersuchen aus welchen gesellschaftlichen und sozialen Kräften heraus die Veränderungen der Körperlichkeit stattgefunden haben. Was ist überhaupt die neue Körperlichkeit, von der gesprochen wird? Wie manifestiert sie sich? Gibt es sie wirklich oder ist sie nur eine Worthülse? Welche Motive liegen ihr zugrunde?

Seit längerem ist eine zunehmende Fixierung der Menschen auf ihren Körper zu beobachten, speziell einhergehend mit einem ausgesprochenen Bedürfnis nach Körperverschönerung. Im besonderen im Bezug auf die ästhetische-plastische Chirurgie hat innerhalb weniger Jahre ein großer Wandel stattgefunden. Als eine statusdifferenzierende Technik der Reichen und Berühmten wurden die Methoden allgemein zunächst innerhalb der Öffentlichkeit noch kritisch diskutiert. Mittlerweile sind dort Patienten aus allen Einkommensschichten und Altersstufen vertreten und die Methoden werden innerhalb der Massenmedien ohne weiteres den anderen Verschönerungstechniken wie z.B. Diät, Fitness und Kosmetik zugeordnet. Beeindruckend erscheint, wie nun die Körperschönheit Macht über das männliche Geschlecht ergreift. Galt Schönheit lange Zeit als weibliche Eigenschaft per se ist nun der männliche "Beau" entdeckt worden, ein Symbol, dass von der Schönheitsindustrie voran getrieben wird. Jedoch ist die Schönheitschirurgie nur eine, der vielfältigen Körperpraktiken, innerhalb der Körper gegenwärtig modelliert und modifiziert wird. Wie zuvor erwähnt findet ein Körperkult auf breiter Ebene mit den unterschiedlichsten Praktiken statt. Anfang der 80er Jahre sprechen der Soziologe Dietmar Kemper und der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf noch eher programmatisch von der "Wiederkehr des Körpers" (1982). Zwischenzeitlich ist die "Körperlichkeit" zu einem transdisziplinären Forschungsgegenstand geworden. Fächerübergreifend wird hier die Körperlichkeit des Menschen als Ausgangspunkt betrachtet.

Ziel meiner Arbeit ist eine Gegenwartsanalyse der Körperlichkeit in unserer Gesellschaft mit den zugrundeliegenden Ursachen und Motiven, wobei ich nicht nur anhand neuerer gesellschaftlicher Veränderungen, sondern auch im Bezug auf den historischen und kulturgeschichtlichen Wandel die gegenwärtigen Entwicklungen und Ausformungen der Körperlichkeit zu verstehen versuche. Hierzu werde ich mich dem Thema aus einer kultursoziologischen Sichtweise nähern. Aus der Historie kommend, um zunächst den Wandel der Körperkonzepte zu verdeutlichen, werde ich im nächsten Schritt dann die innerhalb des kulturgeschichtlichen Wandels sich verändernde Einstellung zum eigenen Körper und dessen Funktionen erläutern und in diesem Kontext die Funktion der Mode sowie das ewige Bedürfnis der Menschheit nach Schönheit erläutern. Im weiteren werden dann die unterschiedlichen prägnanten Ebenen, in denen der Körper auftaucht und sich der Umgang mit ihm wandelt oder gewandelt hat, veranschaulicht. Innerhalb der prägnanten Ebenen, der Kommerzialisierung, der alltäglichen Körperpraktiken und der Industrialisierung des Körpers werde ich dann, um im Rahmen der Möglichkeiten dieser Arbeit zu bleiben, mich jeweils auf einige Beispiele beschränken. Die Beispiele haben zum Ziel, auf die Ausformungen sowie Veränderungen hinzuweisen und ein Bewusstsein für die Mehrdimensionalität der Körperprojekte zu schaffen. Es soll verdeutlicht werden, auf welche Weise und mit welchen Absichten, bzw. welchem Denken der Körper in der heutigen Gesellschaft geformt wird. Innerhalb des Kapitels zur Industrialisierung wird zunächst wieder historisch ausgeholt, um einerseits die Entwicklung zur heutigen Gentechnik nachzuvollziehen und andererseits um die Formen eines früheren Körperkults, im Dritten Reich, zu erläutern. Im weiteren wird dann der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem/ sozialem Wandel und veränderter Konstruktion des menschlichen Körpers untersucht. Innerhalb dieses Kapitels wird das Thema der paradoxen Gleichzeitigkeit von Körperaufwertung und Körperdistanzierung diskutiert. Hier soll geklärt werden, welche Motive die Menschen bewegt in Körperprojekte zu investieren und welche Ursachen das hat.

Diese Arbeit hat zwar den Körper zum Gegenstand, doch können bei einem so vielschichtigen

Komplex wie dem Körper innerhalb des Rahmens dieser Arbeit nicht alle die neue Körperlichkeit tangierende Bereiche abgedeckt werden. Es werden innerhalb dieser Arbeit außerdem keine juristischen, ethischen und medizinischen Details diskutiert, nicht mit Umfragedaten oder Statistiken gearbeitet und auch keine konkrete Genderdebatte stattfinden.

2. Körperkonzepte in der Geschichte

Den Körper gibt es immer nur als soziales Konstrukt. Die Körperwahrnehmung sowie das Körpererleben sind Produkte eines sozial- und kulturgeschichtlichen Prozesses, deshalb ist die Art und Weise wie Menschen heute ihren Körper verstehen und inszenieren nicht ohne historische Betrachtung möglich (Handschuh-Heiß, 1996, 169). Dieses Kapitel hat zum Ziel, anhand einer kurzen geschichtlichen Zusammenfassung der Körperkonzepte einen Einstieg in das Körperthema zu geben. Dabei werden in diesem Kapitel im besonderen der Wandel von Körperkonzepten im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, politischen, religiösen, medizinischen und ökonomischen Veränderungen dargestellt. Der Umgang der Menschen mit ihrem Körper sowie dessen Bedeutung und Funktion innerhalb der Gesellschaft in den jeweiligen Epochen werden, je nach Gewichtung in jener Zeit, erläutert. Die Darstellung der Veränderungen des Körper-Seele-Verhältnisses muss dabei notwendigerweise, um den Umfang dieser Arbeit nicht zu sprengen, sehr gerafft und teilweise auch fragmentarisch ausfallen.

Am Rande werden außerdem die entsprechenden Schönheitsideale erwähnt mit ihren Ursachen. Allgemein hat dieses Kapitel zur Aufgabe, einen Hintergrund für das Körperthema zu schaffen, um aktuelle Entwicklungen und Tendenzen verständlicher zu machen.

2.1. Der Wandel der Körperkonzepte von der Antike bis zur Moderne

"Seit der Antike versteht man den Menschen als ein >vernünftiges< Tier, als ein Wesen, das aus einem aufblühenden, jedoch auch alternden Körper besteht sowie aus einer Seele, die über die Natur hinausgeht, sie transzendiert" (Rahn, 1999, 2).

In der bildenden Kunst der griechischen Antike wurden die führenden Krieger fast nackt dargestellt, die unbekleideten Körper nur durch Handschild und Speer geschützt. Im Gymnasium lernten die Jungen das ihr Körper der Polis gehört. Ihr Körper wurde im Gymnasium durch Sport stark gemacht, damit sie gute Krieger werden und ihre Stimme wurde ausgebildet, damit sie als Erwachsene an politischen Debatten teilnehmen können. Außerdem wurden sie darin ausgebildet wie sie ihre Körper zu gebrauchen hatten, damit sie auf ehrenvolle Weise selbst begehren und begehrt werden konnten (Sennett, 1996, 59). So liefen die Männer größtenteils nackt herum, auf den öffentlichen Plätzen und Straßen zeigte die lose Kleidung ihre Körper. Im antiken Griechenland bedeutete der nackt gezeigte Körper die Anwesenheit einer zivilisierten Person, nämlich einer die stark und nicht verletzlich ist. Der zivilisierte Grieche hatte den entblößten Körper zu einem Gegenstand der Bewunderung verwandelt. Die Selbstdarstellung, speziell des Körpers, bestätigte die eigene Würde als Staatsbürger. Die athenische Demokratie legte großen Wert auf die Offenlegung der Gedanken der Bürger, genauso wie die Männer ihre Körper entblößten. Die Akte des Offenlegens sollten den Zusammenhang zwischen den Bürgern festigen. Der Wert, der der Nacktheit beigemessen wurde, leitet sich spezifisch aus der griechischen Denkweise, seit Perikles, über das Innere des menschlichen Körpers ab. In der Körperwärme wurde der Schlüssel zur menschlichen Physiologie gesehen: daher brauchten diejenigen mit dem höchsten Maß an körperlicher Wärme die wenigste Bekleidung. Außerdem reagierte der warme Körper stärker und fiebriger auf andere als der kalte und träge Körper, der der Frau zugeordnet wurde. Die warmen Körper waren stark, denn sie besaßen die Hitze zu agieren und zu reagieren. Diese physiologischen Prinzipien wurden auch auf den Gebrauch der Sprache übertragen. Daher nahm man an, dass bei Menschen, die sprachen oder lasen, auch die Körpertemperatur stieg und somit auch ihr Wunsch zu handeln - diese Annahme bestätigte Perikles These über den Körper, dem die Einheit von Wort und Tat zugrunde lag. Die griechische Auffassung des menschlichen Körpers anhand der unterschiedlichen Wärmegrade legte unterschiedliche Rechte und Unterschiede im städtischen Raum für den Körper fest. In besonderer Weise deckten sich diese Unterschiede mit der Trennung der Geschlechter, da Frauen als kältere Versionen der Männer galten. Im antiken Griechenland wurde die Wissenschaft von der Körperwärme als Regel der Beherrschung und Unterwerfung angewandt (Sennett, 1996, 42-44).

Das ästhetische Körperkonzept in der griechischen Antike entsprach dem ausgewogenen Verhältnis der Proportionen. Die Proportionslehre des Bildhauers Polyklets bleibt bis zur Renaissance der Schlüssel zur körperlichen Schönheit. Er schuf schon im 5. Jahrhundert vor Christus ein Beziehungssystem, das die verschiedenen Partien des Körpers miteinander in einen harmonischen Einklang brachte. Um 1500 war Leonardo Da Vinci, später dann unter anderem auch Albrecht Dürer, von dem Schönheitskanon fasziniert und sie arbeiteten wiederholt an der Darstellung eines ideal proportionierten Körpers (Hersey, 1996, 68). Es vollzieht sich innerhalb der Antike auch ein Wandel insofern, dass das bisherige Schönheitsideal, das unterschiedslos das göttliche und menschliche repräsentierte, indem ideale junge nackte Körper eine menschliche Macht repräsentierten, die die Trennung zwischen Göttern und Menschen in Frage stellte, nun eine eindeutig menschliche Dimension erhält. Die bildhauerische Einsamkeit wird sozusagen überwunden und der gedachte Körper erwacht zum Leben. Der Körper kommuniziert mit sich selber und gewinnt an Menschlichkeit was er an göttlicher Perfektion verliert. Durch dieses Selbstverständnis ändert sich die grundlegende Ganzheit des Seins und die Ästhetik wird zu einer rein persönlichen Auffassung, da sie geradewegs zur Individualisierung des zu erreichenden Ideals führt.

Wie zuvor erwähnt nahmen die Griechen an, "dass die Regeln der Schönheit auf einem subtilen Zusammenspiel von Zahlen und Proportionen beruhen" (Didou-Manent/ Ky/ Robert, 2000, 51). Die Proportionsvorlagen, wie sie der Kunst dienen, werden systematisch mit der Mythologie in Beziehung gesetzt. Bei der männlichen Schönheit orientiert man sich an den Körpern von Zeus, Apollo und Herkules. Aphrodite, Artemis und Hera fungieren als Vorbilder der weiblichen Schönheit. In den Augen der Künstler basiert die geheimnisvolle Ausstrahlung des Körpers auf dem genau berechneten Zusammenspiel von Zahlen, die den Körper zu Fleisch werden lässt.

Den Schönheitsidealen, welche die Statuen darlegen, wird durchaus nachgeeifert. Für die körperliche Fitness, speziell für den Muskelaufbau der Knaben, werden die Kinder schon ab dem zwölften Lebensjahr gründlich in den verschiedensten Sportarten unterrichtet (Sennett, 1996, 52). Außerdem wird mit den sportlichen Tätigkeiten dem Grundsatz gefolgt, dass Kraft und Harmonie den Körper und den Geist zu beherrschen haben, "denn ein Dummkopf ist der, der weder lesen noch schwimmen kann" (a.a.O., 53). Anhand von diesem griechischen Sprichworts verdeutlicht sich das Streben der Griechen, intellektuelle und physische Aktivitäten in einem ausgewogenen Verhältnis zu halten (a.a.O., 56).

Für die knapp tausendjährige Geschichte des auf die Antike folgende Mittelalters (etwa 500-1500) gibt es keine verbindlichen Aussagen über das Bild vom Körper. Vom 11. bis etwa zur Mitte des 13. Jahrhunderts finden tiefgreifende politische, geistige und gesellschaftliche Wandel statt die zugleich nachhaltige Rückwirkungen auf die Vorstellungen vom menschlichen Körper und seiner Wertigkeit verursachen. So wandeln sich z.B. die Ansichten von der Körperlichkeit im mittelalterlichen Rechtsleben. Allgemein kann auf die im Mittelalter eng verbundene körperliche Unversehrtheit bzw. Körperkraft und Recht verwiesen werden, die sich aufeinander bezogen und gegenseitig bedingten. Als Beispiel hierfür ist z.B. der gerichtliche Zweikampf als Beweismittel im Sinne des Gottesurteils zu nennen. Zunächst als Entscheidungsmittel fungierend, hat sich der Zweikampf schon früh als Beweismittel umgebildet. Für die ritterliche Welt, ab dem 12. Jahrhundert, ist festzustellen, dass grundsätzlich der junge Mensch bzw. Körper im Vordergrund steht. Die wesensbestimmenden Merkmale der Helden jener Zeit sind Körperkraft, Geschicklichkeit und Standfestigkeit. Das ganze Leben wird vom körperlichen Einsatz, wie Training, Turniere, Jagd, Krieg und Kampf geprägt. Innerhalb des Ritterstandes herrscht somit ein ausgeprägtes Körperbewusstsein und eine ungewöhnliche Akzentuierung der Körperlichkeit.

Innerhalb der neuen Religiosität, die ab dem ausgehenden 11. Jahrhundert einsetzt, wird vor allem eine gewandelte Einstellung zum menschlichen Körper sichtbar. Eine entgegengesetzte Auffassung, eine körperfeindliche Einstellung, setzt durch die neue religiöse, asketische Bewegung ein. Diese Bewegung wirft den Mönchorden zunehmende Verweltlichung und Verweichlichung vor. Hierdurch werden körperrelevante Themen, wie die Art und Umfang der Klosterkost, Bekleidung, Erdulden von Kälte, Schlafdauer, Verhaltensweise im Krankheitsfall, Körperpflege sowie -hygiene, die die Einstellung zum Körper bedingten, zentraler Gegenstand der Diskussionen um das wahre Mönchtum und bedingen mit die Kirchenreform. Gerade anhand der Heftigkeit der Auseinandersetzungen um diese Fragen, wird deutlich, wie gesellschaftliche und geistige Umbrüche in jener Zeit auch das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper verändern (Imhof, 1983, 58). Präzise verdeutlicht sich, wie mit der veränderten Religiosität eine gewandelte Einstellung zum Körper einhergeht. Innerhalb dieser neuen sehr asketischen Religiosität wird auch eine radikale Ausprägung von Dualismus gelehrt. Diese geht von zwei sich feindlich gegenüberstehenden Prinzipien aus, dem Guten, das der Geist symbolisiert und dem Bösen, den die Materie verkörpert. Damit wird besonders im Körper das Prinzip des Bösen sichtbar. Daraus ergab sich eine ausgeprägt körperfeindliche Einstellung, die sich in zahlreichen theologisch-moralische Grundsätzen sowie praktischen Verhaltensweisen widerspiegelte - z.B. in der Enthaltung von jeglichen Geschlechtsverkehr oder der rein vegetarischen Ernährung (Imhof, 1983, 60). Außerdem wandelte sich der fremde Körper Christi in einen Körper, dessen Leiden normale Menschen verstehen, mit dem sie sich identifizieren konnten, es entstand eine Vereinigung von göttlichen und menschlichen Leiden, die auf der Imitatio Christi beruhte.

"Diese Bewegungen erneuerten die christliche Erfahrung des Mitleids für den Nächsten und beruhten darauf, dass der Christ die Leiden anderer als die eigenen Empfand" (Sennett, 1996, 200).

Die Welt der Handwerker und Händler ist im Mittelalter im Gegensatz dazu noch durch eine gewisse Behaglichkeit und körperlicher Annehmlichkeit gekennzeichnet. Das verdeutlicht sich spezifisch in den Bürgerhäusern und seinen Einrichtungen, in Festen und Spielen, in Eß- und Trinkgewohnheiten sowie Körperpflege und -hygiene jener Zeit. Speziell das lockere Badewesen im Spätmittelalter, an dem Frauen und Männer auch zusammen teilnahmen, weist auf einen unkomplizierten, natürlichen Umgang mit der körperlichen Nacktheit hin. Mit dem Mittelalter ging dann auch dieses Badewesen zu Ende und im bürgerlichen Bereich breitete sich eine große Sittenstrenge und Prüderie aus. Als Gründe für diese Entwicklung sind hauptsächlich zwei zu nennen, zum einen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und zum anderen die Reformation mit ihrer strengen Morallehre (Imhof, 1983, 63).

Der Schönheitskanon vollzieht im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance einen extremen Wandel. Während im Mittelalter noch den zierlichen Frauen gehuldigt wird, bevorzugt die Renaissance die üppigen Frauen. Die Mediziner jener Zeit erklären, dass das Schmale, Schlanke und Zerbrechliche nichts in der weiblichen Anatomie zu suchen hat und dass Körper, Geschlecht und Geist sich nur durch üppige Nahrung entfalten können. Die Frau der Renaissance soll durch ihre fließende Weiblichkeit immer ganz als Frau wirken und keinerlei Ähnlichkeit mit der kräftigen und festen Männlichkeit an ihrer Seite aufweisen (Didou-Manent/ Ky/ Robert, 2000, 142- 143).

Die Imitatio Christi führte, wie zuvor erwähnt, im Mittelalter zu einer neuen Religiosität, diese hatte auch entscheidenden Einfluss auf das Körperideal. Durch das Dogma der Inkarnation Christi fand eine Idolisierung des Geistes statt, die aber stark mit einer Idolisierung des Kör-pers verbunden war (Hersey,1996, 38). Im Dogma heißt es:

"(...) dass Gott Mensch geworden ist in Jesus Christus, einem absolut göttlichen und zugleich absolut menschlichen Wesen, das alles des menschlichen Lebens auf sich nimmt und durch seine Inkarnation zum Retter der Menschheit wird, (...)"(Hersey, 1996, 38)

- wobei Inkarnation Fleischwerdung heißt. Diese Inkarnation Gottes manifestiert sich auch in den Vorstellungen menschlicher Körperlichkeit: Der Gläubige, der während der Messe die heilige Kommunion empfängt, isst vom Leib Christi, trinkt dessen Blut und nimmt damit den fleischlichen Körper Christi in sich auf. Der tieferen Bedeutung nach, verwandelt sich der Körper des Gläubigen damit zumindest zu einem Teil in den Körper Christi. Nach Meinung Herseys führten die Heiligen und Helden der christlichen Gläubigen noch stärker zu einem Ausleseverfahren als es in der Antike Aphrodite und Apollo erreichten. Denn sie wirkten nicht nur physisch attraktiv und faszinierend auf die Gläubigen, "sondern versetzten sie geradezu in Verzückung" (a.a.O., 38). Heilige und religiöse Gestalten wurden in der bildenden Kunst, besonders der Renaissance und des Barocks, als muskulöse Schönheiten dargestellt. Künstler der Renaissance haben wie die vieler anderer Epochen sich selbst oder Verwandte als Modelle für die Darstellung christlicher Idole gewählt. Daran lässt sich aufzeigen, wie die Kunst göttliche Vorbilder vermenschlicht hat und hierdurch die Gläubigen dazu drängte den Heiligen nachzueifern, sich nicht nur so zu verhalten, sondern - entsprechend den Kunstwerken - auch so auszusehen, wobei das höchstens mit starken Einschränkungen möglich war, da es innerhalb der ständischen Gesellschaft eine starre Kleider- und Haartrachtordnung gab. Die Heiligenbilder waren oft Abbild existierender Menschen, die dem Künstler Modell standen. Dadurch waren bestimmte Menschen und Frauen heilig, weil sie den bereits existierenden Gemälden der Heiligen glichen. Dabei stellten die Gemälde ihrerseits den jeweiligen Auslesekanon einer Gesellschaft dar.

Das Untersuchen des Menschenkörpers war durch ein kirchliches Gebot bis zum 14. Jahrhundert verboten. Ab diesem Zeitpunkt werden menschliche Körper exakt vermessen, seziert und die Ergebnisse visuell dargestellt. Durch das erscheinen von Andreas Vesalius Anatomiewerk 1543 wird die Anatomie als wissenschaftliche Disziplin verankert. Ab diesem Zeitpunkt ist der Blick in den menschlichen Körper erlaubt und anerkannt (Vogel, 1993, 9-10).

Durch den Blick in den Körper vollzieht sich in der Medizin ein Wandel. Mehr als zweitausend Jahre hat die Medizin das antike Prinzip der Körperwärme akzeptiert. Es erklärte die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Mensch und Tier anhand der angeborenen Unterschiede der Körperwärme. Diese Gewissheit verringerte sich mit dem Erscheinen von William Harveys "De motu cordis" im Jahre 1628. Die Entdeckung des Blutkreislaufs löste eine wissenschaftliche Revolution über die Auffassung hinsichtlich des Körpers aus. Es entwickelte sich ein neues Leitbild des Körpers, seine Struktur, sein Gesundheitszustand und seine Beziehung zur Seele änderte sich. Die neuen Auffassungen des Körpers fielen mit der Geburt des modernen Kapitalismus zusammen und waren Mitverursacher der großen sozialen Transformation, die zum Individualismus führte. Harvey entdeckte die mechanische Begründung des Blutkreislaufs und schilderte den menschlichen Körper als eine große Maschine, eine Lebenspumpe (Sennett, 1996, 322). Anhand von Tierexperimenten stellten Willis Nachfolger im späten 17. Jahrhundert fest, dass in Begriffen des Nervensystems der Körper zur sinnlichen Wahrnehmung keine Seele brauchte.

"Da alle Nervenganglien auf dieselbe Weise zu funktionieren schienen, mochte die Seele überall herumschweben, existierte aber nicht an einem bestimmten Ort" (a.a.O., 124).

Durch die Annahme der mechanischen Bewegung im Körper - sei es die des Blutes oder der Nerven - entstand ein säkulareres Verständnis des Körpers, das sich von der antiken Vorstellung, dass die Seele die Quelle der Lebensenergie sei verabschiedete. Allgemein erfuhr das menschliche Denken im 17. Jahrhundert einen Umsturz. Die leitenden Köpfe des Aufklärungszeitalter - Bacon, Kepler, Galilei, Newton, Descartes - beschränkten sich darauf, die Natur in mathematischen und mechanistischen Begriffen zu erfassen. Ihrer Meinung nach funktionierte die Natur wie ein Apparat- wobei sie meisten an einen ihnen wohlbekannten Apparat dachten, nämlich an eine Uhr (Kimbrell, 1994, 203). Diese Sichtweise der Natur wurde nicht nur auf unbelebte Dinge übertragen, sondern auch auf alle Lebewesen, einschließlich des Menschen und seines Körpers. Rene Descartes war der Denker, der innerhalb der neuen Wissenschaft konsequent lebende Körper in eine mechanistische Analyse umgesetzt hat. Er vertrat die Ansicht, dass man fast alle Vorgänge des Körpers als maschinelle Vorgänge begreifen könnte. Mensch und Tier sah er als Maschinen mit dem Unterschied aber, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier eine unsterbliche Seele hat.

Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts verlor dann die bisher gesellschaftsweit gültige Wertung und Ideologie des Körper-Seele-Verhältnisses seine Bedeutung. An dessen Stelle traten unterschiedliche Sichtweisen, die nebeneinander existierten. Im weiteren sollen einige derselben genannt werden.

Mit der Entstehung der Industriegesellschaft im späten 19. Jahrhundert durchschritt die mechanische Doktrin eine entscheidende Veränderung. Die Natur wurde nicht mehr als Uhrwerk gesehen, sondern als ein großer kosmischer Motor bezeichnet, der unendliche Mengen von Wärme und Energie produziert. Als Metapher für den Körper stand nun die Dampfmaschine oder das Kraftwerk. Der menschliche Körper wurde ebenso wie die industrielle Maschine als ein Motor betrachtet, der Energie in mechanische Arbeit umsetzen kann (Rabinach, in Kimbrell, 1994, 209). Die Vorstellung, die Harvey in seinem Modell des Blutkreislaufs postulierte, wird in die Vorstellungen des kapitalistischen Wirtschaftskreislauf, indem sich ein kontinuierlicher Umlauf von Waren und Geld vollzieht, integriert. Innerhalb der neuen ökonomischen Strukturen bildet sich die Vorstellung eines Körpers, "der ein ökonomisches Gut darstellt, er wurde zum Wertobjekt und zum ökonomischen Faktor" (Stolz, 1992, 219, in Rahn, 144). Unter der Herrschaft der mechanischen Doktrin wurden Mensch und Motor körperlich und geistig miteinander verbunden, um konstant steigernd immer mehr Güter und Wohlstand zu produzieren.

"Im Industriezeitalter versuchte man, die Leistung von Arbeitern und Maschinen mit wissenschaftlichen Methoden zu steigern, und die Gesellschaft war vom Kriterium der Effizienz geradezu besessen" (Kimbrell, 1994, 210).

Die Bemühungen darum, den menschlichen Körper zu einer möglichst effizienten Produktionsmaschine zu machen, fanden ihren Höhepunkt in den Forschungen des amerikanischen Ingenieurs Frederick Winslow Taylor. Noch vor dem ersten Weltkrieg führte er in den USA und Europa ein System ein, das einen möglichst effizienten Einsatz der Arbeitskraft garantieren sollte. Taylor unternahm Zeit und Bewegungsstudien an Fabrikarbeitern und empfahl entsprechende Veränderungen, um ihre Arbeitsabläufe und Bewegungen möglichst effizient zu nutzen. Sein Einfluss auf das moderne Denken war enorm, er ließ das Ideal der Effizienz für die arbeitende Bevölkerung Wirklichkeit werden.

Als Metapher für die zunehmende Technisierung, Maschinisierung und Ökonomisierung des Menschen kann der gläserne Mensch fungieren. Der gläserne Mensch, der 1930 in Dresden bei der zweiten internationalen Hygiene-Ausstellung präsentiert wurde ist nicht nur als Symbol für eine sich immer weiter technisierende Welt zu sehen oder der Anspielung "der Mensch als Ware", sondern änderte aufgrund seiner Durchschaubarkeit vor allem auch den Blick auf den Menschen, denn jetzt richtet sich das Interesse nicht mehr auf ihn als Person mit einer einzigartigen Geschichte, sondern auf den Menschen als Funktionszusammenhang.

Die Idee des gläsernen Menschen entstand im Umfeld einer neuen Art von Museen und Ausstellungen.

"Sozial- und Hygiene- Ausstellungen wurden als modernes Medium gebraucht, das im Sinne sozialer und hygienischer Aufklärung und im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung die Arbeitskraft des Menschen erhalten sollte" (Vogel, 1993, 14).

Diese Tätigkeit gipfelte in publikumswirksamen Großausstellungen. Die Initiatoren der Ausstellungen sahen einen prägnanten Zusammenhang zwischen einer Arbeitsteiligkeit der Körperfunktionen und der Arbeitsteiligkeit in der modernen Fabrikation. Dieses maschinelle Gedankengut wurde spezifisch auch im Dritten Reich übernommen (Roth, 1990, 54).

Das Aufklärungsdenken brachte aber nicht nur große medizinische und ökonomische Veränderungen bezüglich des Körperkonzeptes mit sich, sondern auch gesellschaftlich veränderte sich die Funktion des Körpers. Der Körper um 1700 war immer noch ein Körper der vorrangig gesellschaftliche Werte darstellte. Er war Mittel äußerlicher Differenzierung, z.B. durch Kleidung. In erster Linie demonstrierten äußerliche Differenzierungsmittel Status und Beruf. Die Aufmachung der Körper hatte die Aufgabe den gesellschaftlichen Platz innerhalb der Gesellschaft zu dokumentieren und darzustellen (Sennett 1998, S.93, in Rahn, 1999, 133). Damit war der einzelne für die Allgemeinheit einzuordnen. Daher war das Tragen der falschen Kleidung ein Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung. Der Körper hatte die Funktion als Ausdrucksfeld "wahrer" und richtiger Informationen über die betreffende Person zu fungieren. Daher gab es keinerlei Unklarheiten über den Status einer Person. Bezogen auf die gesellschaftlichen Klassen gab es klare Richtlinien in Sachen Schmuck-, Kleider-, und Be-nimmregeln.

Mit dem Eintritt in die Moderne trat das Leben als eine wissenschaftliche Kategorie in den Vordergrund (Foucault, 1971, 287, in Rahn, 1999, 138). Ab diesem Zeitpunkt wurden die verschiedenen Bereiche des alltäglichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens im Namen der Natur verstanden - z.B. politische Veränderungen, medizinische Vorstellungen, ökonomische Strukturen. Diese Natur wird aber mit bestimmten Vorstellungen verbunden, denn sie ist passiv, unterwerfbar, unbelebt und gehorsam, sobald ihre physikalischen Gesetze erforscht sind. Im Zuge dieses Prozesses treten Natur und Kultur zunehmend in einen Gegensatz. Der Kultur bzw. dem Geist kommt dabei die Lenkung des Körpers und der Natur zu. Außerhalb der menschlichen Bearbeitung wird die Natur als unzivilisiert und unkultiviert gesehen. Der Gegensatz von Natur und Kultur schlägt sich auch in anderen Verhältnissen nie-der, Mann/ Frau, Körper/ Geist, sowie zivilisierte und "primitive" Gesellschaften.

Der Mensch, der aus der Natur gekommen ist, erhält die Aufgabe, sich um sie zu kümmern und darauf zu achten, dass sie sich nicht wieder in ein Chaos verwandelt.

Die Vorstellung von einem natürlichen Körper bildete eine neue Differenzierungskategorie, die sich durch ihr Verhältnis zu der Natur legitimierte. Demnach war der Mann zwar aus der Natur hervorgegangen, aber dadurch, dass er nach dem Vernunftprinzip handelte, war er der Natur entkommen. Andere Lebensformen wie die Frau oder der Primitive standen den natürlichen Gesetzen schon aufgrund ihrer physiologischen Anatomie näher (Rahn, 1999, 139). Der weibliche Körper im 18. Jahrhundert wurde durch Kriterien der Schwäche und Sensibilität definiert, dadurch wurden der Frau die Eigenschaften des neuen Menschenbildes, was gerade das Denken ausmachte, erschwert und unerreichbar gemacht (Honegger, 1991, 112). Um Denken zu können ist die sinnliche Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung. Demnach ist das Denken in bestimmender Weise von der Aufnahmefähigkeit der Außenwelt abhängig und beeinflusst. Daher müssen die Sinne geschärft und es muss für einen funktionsfähigen, tatkräftigen und fitten Körper gesorgt werden, denn bei einem kranken Körper stumpfen die Sinne ab. Die kranken Körper können sich nicht über die Natur erheben, das aber ist das Ziel des neuen Menschenbildes. Hieran lässt sich die Kehrseite des Humanismus ableiten, die beinhaltet, dass bestimmte Menschentypen geschaffen werden, die dem Ideal des weißen Mannes entsprechen und die anderen Lebensformen wie die Frau oder der Primitive dem nicht gerecht werden können (Rahn, 1999, 140). Aus der Wildheit und Unkontrollierbarkeit des Körpers, soll ein disziplinierter und geordneter Körper werden. Die voranschreitende Disziplinierung des Körpers entspricht der zunehmenden Naturbeherrschung durch den Menschen. Beide Bereiche griffen ineinander und hatten als Ziel eine stärkere Reglementierung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten und einer Etablierung sozialer Ordnung (Makropoulos, 1996, 197). Im weiteren tritt durch politische und gesellschaftliche Umwälzungen an die Stelle der Unterscheidung der Körper nach ihrer sozialen Schichtung eine Gleichstellung aller Körper. Die Gleichstellung der Körper führt zu einer neuen Verbindung zwischen Körper und Geist, wonach der Körper, der zuvor selbst die soziale Schicht verkörperte, eine neue Aufgabe erhält, um die herrschenden Unterscheidungskriterien dennoch darzustellen: er symbolisiert. Der moderne Körper ist nicht mehr naturhaft so wie er ist, sondern historisch veränderbar. Demnach impliziert das moderne Körperverhältnis nicht nur die Vorstellung, dass die körperlichen Fähigkeiten (Kraft, Intelligenz etc.) gesteigert werden können, sondern auch dass der Körper zu verschönern, pflegen und zu schmücken ist. Aus dieser neuen Vorstellung von Körperlichkeit entstehen fundamentale Umwälzungen traditioneller Körperpraktiken und Umgangsweisen.

"Durch die Gleichstellung aller Körper können die Unterschiede nur noch an der Oberfläche der Körper liegen. Diese Oberfläche wird individuell durch Mode, Accessoires, Schminke etc. verändert. Der moderne Körper wird zum Austragungsort der eigenen Subjektivität sowie zum Kern der eigenen Identität" (Rahn, 1999, 146).

Somit lässt sich ableiten, dass in der Moderne keine Vorstellung einer systematischen Trennung zwischen Geist und Körper existiert. Dennoch gilt der Leib-Seele-Dualismus noch heute. Im Verhältnis zum Körper zeigt sich das ambivalente Verhältnis zu Körperlichkeit und Natürlichkeit in der Moderne. Diese Aspekte spiegeln sich in der bürgerlichen Aufteilung in privat und öffentlich wieder. Während der kontrollierte Körper in der Öffentlichkeit verlangt wird, darf der Körper in der Intimsphäre Gegenstand der Selbstverwirklichung werden. Damit findet sozusagen eine moderne Trennung zwischen Geist und Körper statt. Dies impliziert, dass jeder Körperkult sich mit diesem tiefliegenden Dualismus in gewisser Weise auseinander zusetzen hat bzw. hier vielleicht auch Ursachen finden kann.

Als eine wichtige Strömung, die das neue Körperkonzept verdeutlicht und im Bezug zu aktueller Körperlichkeit nicht unerheblich zu sein scheint, ist die Freikörperkultur zu nennen, die innerhalb der ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beginnt, sich langsam zu etablieren. Sie ermöglicht die völlige Befreiung des Körpers von Textilien, aufgrund ihrer sittsamen Ideologie leistet sie aber trotzdem keinen Beitrag zur Befreiung der Lust von der Fortpflanzung. Die nackte Haut des Naturisten bildet vielmehr ein entsexualisiertes Gewand, das in Licht und Luft gebadet wird und in besonderer Weise der sportlichen Betätigung, der Entfaltung von körperlicher Dynamik, dient.

"Der nackte Körper erlaubt zudem ein intensiveres Erleben der Natur und führt zu einer Steigerung sinnlicher Eindrücke; neue authentische Erfahrungen in einer zusehends urbanen, technisierten und zweckrationalen Welt werden möglich" (Penz, 2001, 65).

Die Anhänger der Freikörperkultur favorisieren einen Lebensstil, der Sinn und Freiheit in der Steigerung des eigenen Erlebens zu finden hofft. Die Bewegung trägt allgemein zur Verbindung der Selbsterfahrung mit einem dynamischen Körpergefühl und damit zu einer neuen Form des körperlichen Wohlbefindens bei. Auch den heutigen Körperprojekten liegen ähnliche Bedürfnisse zugrunde, die sich in dieser Arbeit noch präziser zeigen werden. Es sollte aber im Gedächtnis bleiben, dass somit schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge der zweiten großen Industrialisierung die Menschen sich auf ihre körperliche Nahwelt zurückgezogen haben. Aus dieser zunächst subkulturellen Strömung, mit eskapistischen und selbstbezüglichen Tendenzen, wird in den zwanziger Jahren eine Massenbewegung.

Im weiteren entstand schon am Anfang des Jahrhunderts mit sich verändernder Ernährungsweise gemeinsam mit dem Sport und der Bewegung in der freien Natur ein neues körperliches Erscheinungsbild, das zum Bild schlanker Schönheit beiträgt.

Das Ideal des jugendlichen Körpers entwickelt sich innerhalb der zwanziger Jahre immer mehr zum Vorbild, zusammen mit der sonnengebräunten Haut und dem trainierten Körper setzt es sich gegen das wilhelminisch-viktorianische Ideal unsportlicher, nobler Blässe durch. Zentral für die Ausbreitung des neuen Schönheitsideals war insbesondere die Entstehung der Massenmedien, über die es sehr gut kommuniziert werden konnte. Das schlanke Schönheitsideal blieb innerhalb des Jahrhunderts relativ konstant, bis auf die fünfziger Jahre, in denen die üppige Weiblichkeit eine kurze Hochkonjunktur zu verzeichnen hatte (Penz, 2001, 162).

2.2. Zusammenfassung

Dieses Kapitel hat verdeutlicht, wie sich im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen sowie politischen Entwicklungen und medizinischen Entdeckungen das ehemalige "heilige" Körperkonzept zu einem mechanischen, technischen Bild geändert hat. Abgesehen von der Antike bestimmt bis zur Aufklärung allein die Kirche die Wertigkeit des Körpers. Ab dem 14. Jahrhundert wird die menschliche Sezierung erlaubt und kurze Zeit später wird die Anatomie zu einer wissenschaftlichen Disziplin. Entsprechend der Aufdeckung der Geheimnisse, die sich unter der Haut des menschlichen Körpers abspielen, wird der menschliche Körper immer mehr dem Geist unterworfen. Die zunehmende Beherrschung der Natur, die ihren Gipfel in der Industrialisierung erreicht, führt analog zur wachsenden Kontrolle des Geistes über den Körper. Der Körper wird zum Symbol der fortschreitenden Entwicklung innerhalb der mechanischen Denkweise, die ab dem Aufklärungszeitalter einsetzt. Kurze Zeit nach der Entdeckung des Blutkreislaufs wird der Körper mit seinen innerlichen Vorgängen mit einem Uhrwerk gleichgesetzt, im Zuge der Industrialisierung dann mit einer Dampfmaschine und einem Kraftwerk. Der menschliche Körper wird zu einer Produktionsmaschine und innerhalb der Entwicklung der ökonomischen Strukturen zu einem Wertobjekt und einem ökonomischen Faktor. Die Moderne bringt das Leben als eine wissenschaftliche Kategorie in den Vorder-grund. Zentral ist, dass ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr von einer gesellschaft-lich gültigen Wertung und Ideologie des bisherigen, seit der Antike herrschenden Körper-Geist-Verhältnisses ausgegangen wird, sondern dass viele Sichtweisen nebeneinander beste-hen.

Durchgehend zeigt sich in der Geschichte die Orientierung des Menschen an körperlichen Idealen. Diese entsprechen die längste Zeit Gottheiten, die vermenschlicht wurden und durch die Kunst auf die Gläubigen wirken konnten sowie sie zum Nacheifern aufforderten.

Die einzelnen Epochen unterscheiden sich in den Auf- und Abwertungen des menschlichen Körpers. Dies gilt auch für die Zeiträume innerhalb der Epochen.

3. Der Körper im kulturgeschichtlichen Wandel

Nachdem vorausgehend aufgezeigt wurde welcher Wandel von Körperkonzepten geschichtlich stattgefunden hat, soll nun erläutert werden, aus welchen kulturellen Prozessen heraus dies geschah. Hierbei wird der Reihe nach aufbauend zunächst der Prozess der körperlichen Normierung veranschaulicht. Danach wird in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung und Funktion der Nacktheit im historischen Kontext und im Bezug zur Bekleidung eingegangen, um dann anhand einer kurzen Analyse der Mode die Funktionalität der Mode zu verdeutlichen. Daran anschließend wird die, schon immer vorhandene Sehnsucht des Menschen nach (körperlicher) Schönheit, die heute eine ganz besondere Relevanz zu besitzen scheint, erläutert und diskutiert.

3.1. Die sozialen Normierungen

Die zentralste Entwicklung für das Körperkonzept innerhalb des kulturgeschichtlichen Wandels ist der Zivilisationsprozess mit seinen sozialen Normierungen der ab dem ausgehenden Mittelalter einsetzt. Norbert Elias hat in seiner 1936 veröffentlichten Analyse "Über den Prozess der Zivilisation" die europäische Kulturentwicklung im Zuge der fortschreitenden Funktionalisierung und Differenzierung der Gesellschaft aufgezeigt. Den Prozess hat er als einen langfristigen Vorgang der Selbstdomestikation, Unterdrückung der spontanen Regungen und Triebaffekte sowie der Eindämmung des Unwillkürlichen beschrieben. Für ihn geht der Prozess mit einer wachsenden inneren wie äußeren Selbstbeherrschung einher, die alle Bereiche des Körpers und der Seele umfasst. Das beginnt mit der Kontrolle der körperlichen Regungen: Schnupfen, Niesen, Schwitzen, Urinieren usw. bis schließlich die gesamte Leiblichkeit der Kontrolle des Willens unterworfen wird. Der Leib darf ab nun kein Eigenleben mehr führen (Hahn, 1986, 223). Abgesehen vom Körper werden auch die seelischen Empfindungen, wie Aufwallungen des Hasses oder der Begierde, der Freude oder des Zorns, vollkommen zurückgedrängt.

Es entsteht demnach im Zuge des Zivilisationsprozesses eine Trieb- und Affektkontrolle sowie eine Umkehrung der Fremdkontrolle in eine Selbstkontrolle. Durch die fortschreitende Funktionsteilung wird die abendländische Gesellschaft langsam aber stetig völlig umgeformt. Im Namen des Prozesses der Zivilisation muss sich das bisherige Verhalten des einzelnen den neuen Bedingungen anpassen. Die Gefahr droht nun nicht mehr vom anderen, sondern vom eigenen Inneren her.

"Der Selbstzwang, den sich der hier der Einzelne auferlegt, der Kampf gegen das eigene Fleisch, ist nicht weniger radikal und leidenschaftsdurchtränkt als sein Gegenstück, der Kampf gegen Andere oder das Auskosten von Genüssen" (Elias, 1980, 327).

Jedoch sowie sich der Mensch nun weniger als Gefangener seiner Leidenschaften erlebt, so ist er nun in seinem Verhalten, in seiner Chance der unmittelbaren Befriedigung seiner Neigungen und Triebe viel beschränkter als zuvor. Sowie das Leben gefahrloser wird, so wird es auch affekt- und lustloser, zumindest was der unmittelbaren Äußerung des Lustverlangens angeht. So beginnt der Adel sich das was im Alltag fehlt im Traum, in Büchern und Bildern zu ersetzen. Der Adel auf dem Weg zur Verhöflichung beginnt Ritterromane zu lesen und der Bürger schaut sich Gewalt und Leidenschaft im Film an. Schon hier, so kann daraus gefolgert werden, deuten sich aufgrund der Körperverdrängung demnach Prozesse der Trieb- und Affektkontrolle an, die sich bis zum heutigen Tage durch die Geschichte hinweg manifestieren.

Die körperlichen Auseinandersetzungen wie Kriege verringern sich drastisch und selbst das Zerlegen toter Tiere und der Gebrauch des Messers bei Tisch wird zurückverdrängt oder zumindest einer genauen, gesellschaftlichen Regelung unterworfen. Somit verdeutlicht sich, dass der Kriegsschauplatz nicht vollkommen verschwunden ist, sondern sich nur von außen nach innen verlegt hat. Elias erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die neue Gesellschaftsapparatur, in der sich die Zwänge der Menschen aufeinander in Selbstzwänge umsetzen, die sich durch die Interdependenz voneinander größerer Menschengruppen und der Aussonderung physischer Gewalttat herstellen, auch zu Spannungen und Störungen im Verhalten und Triebleben des Individuums führen können. Hierzu erläutert er, dass sie unter Umständen zu einer beständigen Unruhe und Unbefriedigtheit führen können, da ein Teil der Neigungen und Triebe des Menschen nur noch in verwandelter Form, z.B. in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören und in Träumen Befriedigung finden.

Hier hat Elias heutige Praktiken schon vorweggenommen, die speziell z.B. in der Rezeption von Massenmedien ihre Ausprägung finden.

Gleichzeitig wird die Kontrolle nicht nur internalisiert, sondern sie wird auch in Form von Kontrolle vom Individuum auf die Gemeinschaft projiziert. Demnach beginnen die Individuen sich untereinander zu beobachten und dadurch ihr Verhalten zu kontrollieren. Es werden nun Verhaltensweisen interpretiert, die zuvor nicht beachtet wurden, diese werden als zunehmend bedeutungsvoll gewertet. Weiterhin, erwähnt er, dass auf dem Weg zum "zivilisierten Wesen" durch die Trieb- und Affektkanalisierung Zwangshandlungen und andere Störungserscheinungen entstehen können. Elias erklärt dann auch den gesellschaftlichen Modellierungsprozess im Sinne der abendländischen Zivilisation als besonders schwierig.

"Der Widerstand gegen die Einpassung in den vorgegebenen Zivilisationsstandard, die Anspannung, die diese Einpassung, diese tiefgreifende Transformation des ganzen, psychischen Apparates, den Einzelnen kostet, ist immer sehr beträchtlich" (Elias, 1980, 336).

Zum Ziel hat die Körpermodellierung und -kontrolle, dass der Körper in allen sozialen Situationen adäquat funktioniert. Das impliziert, dass er tüchtig gemacht wird für das Ausdrucksverhalten in Interaktionen und genauso für eine entsprechende und dauerhafte Einsatzfähigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen. Er wird zu einer präzise und zuverlässigen Maschine. Hierdurch

"(...) wird der Körper dem Individuum zum Objekt, das mit Hilfe der psychischen Fähigkeiten des Menschen wahrgenommen und begriffen werden kann" (Elias, 1980, 336).

Der äußeren Distanzierung vom Körper entspricht eine innere. Das was von außen nun mit Messer, Gabel und Maschinen passiert, geschieht im Inneren mit der Seele. Somit war am Anfang der Moderne die Differenz, nämlich die Scheidung zwischen Körper und Psyche, Körper und Selbst (Handschuh-Heiß, 1998, 169).

Zwei verschiedene Seiten, die auf die gleiche, psychische Transformation vom 16.Jahrhundert an hinweisen ist zum einen der starke Schub der Rationalisierung, damit ist der Übergang vom traditionellen-magischen Denken zur rationalen Denkform gemeint, sowie das extreme Vorrücken des "Scham- und Peinlichkeitsempfindens". Im Bezug zu dem körperlichen Aspekt erscheint es wichtig diese zweite Entwicklung genauer zu beleuchten. Die Scham ist ein mit Angstempfindungen und Selbstwertzweifeln verbundenes Gefühl, dass sich beim Individuum durch die Verletzung bestimmter sozialer Normen und Moralvorstellungen einstellt. Gleichzeitig beinhaltet die Scham die Angst davor, Achtung, Wertschätzung sowie die Liebe von Mitmenschen zu verlieren, als auch Missbilligung und negative Beurteilung hervorzurufen und eventuell sozial degradiert zu werden (Hillmann, 1994, 755). Nach Elias hat sich diese Angst der Scham verstärkt, je mehr sich die Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandelten. Durch den Prozess der Zivilisation ist das Scham- und Peinlichkeitsempfinden weit vorgerückt. Die Rationalisierung, wie auch das Vorrücken der Schamgrenze, stehen beide für die Verringerung der direkten Ängste vor der Bedrohung oder Überwältigung durch andere Menschen und sind ein Ausdruck für eine Verstärkung der automatischen, inneren Ängste, sowie Zwänge, die der Mensch nun, im Zuge des Zivilisationsprozesses, auch auf sich selbst ausübt. Innerhalb des immer enger aneinander Gebundenseins, im Zuge der beschleunigten Verhöflichung der Oberschicht, wächst mit dem Zwang zur Selbstkontrolle, also der bedingten wechselseitigen Abhängigkeit auch die wechselseitige Beobachtung der Menschen. Die Sensibilität und somit auch Verbote werden differenzierter, vielfältiger und gemäß der geänderten Art des Zusammenlebens auch die Gründe weshalb man sich schämen muss, bzw. was man an anderen als peinlich erachtet.

3.1.1. Nacktheit und Scham

Im folgenden wird nun erläutert wie sich die Bedeutung und der Umgang mit dem nackten Körper innerhalb des Zivilisationsprozesses änderte. Unter Nacktheit wird generell der Zustand des unverhüllten menschlichen Körpers verstanden. Im allgemeinen wird die Nacktheit dem Intimbereich des Menschen, mit seinem spezifischen Schutz durch die Scham, zugeordnet. In den meisten Kulturen, in der Bekleidung die Norm ist, gliedert diese den Menschen in die Gesellschaftsordnung ein, die Nacktheit wiederum macht den Menschen sozial heimatlos. Die bildende Kunst setzt die Nacktheit meist als Ausdrucksfeld abstrakt-allgemeingültiger Ideen und Ausdrucksformen ein (dtv-Lexikon, Band 12, 1995, 286). Bevor die Nacktheit präziser diskutiert werden kann, sollte in einem kurzen Exkurs die Bedeutung der Haut mit einbezogen werden, da die Grenze des Körpers zu seiner Umwelt sich über die Haut vollzieht. Demnach spielt die Haut beim Austausch mit der Welt eine zentrale Rolle. Die Haut ist das Medium zentraler Sinneseindrücke und ist der präziseste Ausdruck von biologischer Identität durch seine Grenzziehung zwischen innen und außen. "Die nackte Haut wird zum Symbol der Distanzierungsleistung, die jedem menschlichen Leben zugrunde liegt" (O. König, 1990, 27). Diese Überlegung hat sich geschichtlich nie verändert und bezieht sich auf die zentrale Erfahrung jeden Kleinkinds im Prozess des "Menschwerdens", nämlich durch die Differenzierung zwischen dem Körper-Ich und der Umwelt. Die Kultur kann man hier im weitesten Sinne als Resultat dieser Distanzierungsleistung verstehen, die den Menschen von seiner natürlichen Umwelt, von der seiner "Natur" trennt und ihn erst dadurch spezifisch Mensch werden lässt. Zum Symbol dieser Distanzierung wird die Haut als körperlicher Teil seiner biologischen Natur, "die im Laufe der Zeit >Kultur< aus sich heraus entwickelt, die zweite Natur des Menschen, seine eigentliche Natur" (a.a.O., 27). König erklärt, dass die Distanz eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz ist und erst durch die Relativierung oder zeitweilige Aufhebung dieser Distanz ein Aufeinandertreffen von Menschen möglich ist. Erst hierdurch können soziale Bindungen als Ausdruck von Kultur entstehen und die Vorstellung von einer eigenen Identität im Unterschied zu anderen. Die Haut, als das sensibelste Sinnesorgan des Menschen, ist somit gleichermaßen Symbol für diese beschriebene Distanz wie auch für deren Überwindung wie es durch die Berührung geschieht und sie ist gleichzeitig Medium von Angst sowie von Lustgefühlen.

Die Gestaltung sowie die Bewertung dieser beiden Gegensätzlichkeiten innerhalb des sozialen Lebens kann als ein grundlegendes Charakteristikum innerhalb einer Gesellschaftsform angesehen werden. Im speziellen, weil sich hieran der Umgang mit einer Vielzahl von körperlichen Funktionen aufzeigt - wie z.B. Darmentleerung, Sauberkeitsverhalten oder Geschlechtsakt - alles Formen des Austauschs mit der Umwelt und mit anderen Menschen. Die Weise wie eine Gesellschaft diese Funktionen behandelt verrät demnach einiges über die Einstellung und Bewertung des Körpers innerhalb dieser.

Der nackte Körper obliegt, mit der zunehmenden Verdrängung jeglicher Körperlichkeit sowie dessen Funktionen, nun in besonderem Maße der Scham. Die Scham an der Nacktheit hat sich aber wohl nicht erst im Zuge des Zivilisationsprozesses entwickelt, sondern scheint biblischen Ursprungs zu sein. Jedoch zeigt sich, dass erst innerhalb dieses Prozesses, mit der zunehmenden Affektkontrolle und repressiven Sexualmoral der nackte Körper an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurde und schließlich mit der fortschreitenden Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Privatleben aus der öffentlichen Gesellschaft fast ganz verschwindet, weil er der erotische und somit der zu verhüllende Körper ist (Ungewitter, in Kuntz, 1985, 16). Die Erotisierung der Nacktheit äußert sich prägnant indem Körperteile nicht mehr direkt benannt werden dürfen, sondern umständlich beschrieben werden müssen. Alle vom Körper ausgehenden Handlungen, wie der Stuhlgang oder der Geschlechtsverkehr werden nur noch in medizinischen Veröffentlichungen und dann auch nur in lateinischer Sprache genannt.

Der Begriff Nacktheit wird generell gleichgesetzt mit Scham und Erotik, wobei dieser Zusammenhang ad absurdum führt (Kuntz, 1985, 16). Die Scham an der Nacktheit ist vielmehr sozial vermittelt. Eine Dame, die in einem hochgeschlossenen Kleid auf einem Ball auftaucht, würde sich besonders für ihre fehlende Dekolletierung schämen, das heißt für ihr abweichendes soziales Verhalten. Die Problematik, auf die Kuntz verweist, ist die, dass Nacktheit und Erotik zwar zusammen gehören, dass jedoch eine Definition ihres Zusammenhangs unmöglich erscheint, da entweder versucht wird die Unschuld natürlicher Nacktheit hervorzuheben oder weil im Gegensatz die Scham an der Nacktheit nur sexuell interpretiert wird.

Auf eine Dialektik der Nacktheit macht Elias aufmerksam, indem er berichtet, dass die Entblößung vor einem im Rang Höherstehenden als Unterwerfungsgeste interpretiert wird, jedoch die Entblößung des Höherstehenden in Gegenwart von sozial Niedrigstehenden ein Zeichen des Wohlwollens ist. Hier tritt der von Elias definierte Schambegriff, der Angst vor der sozialen Degradierung hervor. Ursprünglich entspringt die Dialektik dem Tatbestand, dass sich die Scham vor allem auf den eigenen, egalisierenden Nacktheitswunsch bezieht, nämlich dem Empfinden dafür, dass das Hinsehen anständigerweise mit der eigenen Nacktheit gekoppelt sein müsste. Dass die Nacktheit einen permanenten Konnex zur Scham besitzt erscheint insofern verständlich, da doch alles Erotische seine Vitalität aus der Wahrnehmung der Differenz bezieht (Kuntz, 1985, 17). Nacktheit hat nach Elias immer mehr als eine Bedeutung und aufgrund dieser Bedeutungsvielfalt werde alles eventuell Peinlichkeit erregende Verhalten ausgeschlossen. So verlangte das Mittelalter von den die Badestuben Besuchenden sich nackt zu zeigen und wer das nicht tat stand im Verdacht eine Geschlechtskrankheit verstecken zu wollen.

Heutzutage wirkt es aggressionsauslösend, wenn jemand innerhalb eines FKK-Bereichs angezogen herumläuft, denn er macht sich somit des Voyeurismus verdächtig. Demnach gibt es also eine sozial vorgeschriebene Nacktheit und wer sich nicht an sie hält muss mit Sanktionen rechnen.

Die Dialektik der Nacktheit die Elias anspricht interpretiert die Scham als Mittel der sozialen Unterscheidung, als Mode der Abgrenzung gegenüber sozial niedriger angesiedelten Personenkreisen. Eine weitere interessante dialektische Entwicklung ist das mit der zunehmenden Privatisierung der körperlichen Entäußerungen und Verrichtungen, etwa bei der Trennung der Geschlechter und der Aufrichtung von Trennwänden bei Aborten mit Beginn des 20. Jahrhunderts Nacktheit zunehmend veröffentlicht wird. Jedoch findet diese Veröffentlichung nur innerhalb quasi der Familie "des FKK-Vereins" statt und ist mit einem starken Regelwerk für das Verhalten besetzt. Man kann sagen, dass die Nacktheit wie eine bestimmte Sorte von Freizeitbekleidung angezogen wird. Der Akt diese Uniformierung anzulegen vollzieht sich intim in einer Einzelkabine. Es würde negatives Aufsehen erregen, wenn ein Nudist seine Kleider im Beisein anderer ablegen würde.

"Die sozial aufgeprägte Furcht, Widerwillen zu erregen ist die Wurzel des Schamgefühls, die schon lange vor Norbert Elias von Iwan Bloch beschrieben wurde" (Kuntz, 1985, 22).

Jedoch wird innerhalb des FKK-Bereichs und im Badewesen die Nacktheit von der quasi konventionellen Interpretation der Assoziation zwischen Nacktheit und Erotik befreit. Hier wird der Körper einer rein gesundheitlichen Betrachtungsweise unterzogen, die einer Vorstellung von lustspendend keinen Raum lässt (O. König, 1989, 56).

Innerhalb der Bürgergesellschaft wird der Körper diszipliniert und uniformiert damit er keinen Widerwillen erregt und Scham vermieden wird. Es werden pädagogische Leibesübungen eingesetzt, wie Diätetik, Abhärtungsübungen, Gymnastik, Übungen der Sinne, Anstandser-ziehung und Handarbeiten. Der Bürger wird durch Disziplinierung des Körpers gesittet und gebildet. Bildung zu besitzen bedeutet, "sich in der Gewalt zu haben, geduldig zu sein, nicht geradeheraus zu sprechen, sich nicht zu zeigen, wie man wirklich ist" (Ussel, 1977, 77, in Kuntz, 1985, 23). Kuntz folgert daraus, dass die Angst sich schämen zu müssen, sich als Wurzel der Wut auf die Nacktheit ableiten lässt.

Ein Interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass die "Starlets" heute fast nackt über den roten Teppich laufen können oder die Models über den Laufsteg ohne das Anstoß genommen wird. Die Nacktheit erscheint hier wie eine Kleidung. Die Voraussetzung dafür ist den richtigen, den gesellschaftlich propagierten, Körper haben.

Oliver König erwähnt, dass Elias Zivilisationstheorie nicht ohne Diskurse blieb. So bezieht König sich auf Hans Peter Duerr, der in seinem Buch "Nacktheit und Scham" (1988) einen Generalangriff auf Elias Zivilisationstheorie gestartet hat. Duerr weist in seinem Buch die Vorstellung eines fortschreitenden Prozesses der Zivilisation als Mythos zurück, der den Europäischen Staaten zur Rationalisierung eines gewalttätigen Kolonialisierungsprozesses ge-holfen habe (O. König, 2002, 34). Duerr zielt hierbei besonders auf die Annahme, dass im Verlauf des Zivilisationsprozesses alle körperlichen Verrichtungen und das Zeigen des nackten Körpers zunehmend aus dem öffentlichen in den privaten Raum verlagert wurden und dies mit einer allgemeinen Domestikation des Triebhaushaltes zusammenhing. Duerr erklärt, dass Nacktheit und Scham vielmehr auch gerade in primitiven Gesellschaften, aber auch in den europäischen Gesellschaften der Vergangenheit so eng miteinander verflochten sind, dass die Verflechtung als wesentlich angenommen werden müsste. Sein hauptsächlicher Kritikpunkt ist der, dass während Elias auch in dem 20 Jahrhundert noch keine Abnahme des Zivilisationsprozesses sichtet oder eine Mäßigung des gesellschaftlich erforderten Triebverzichts verorten kann, behauptet Duerr, dass innerhalb der westlichen Gesellschaften eine Senkung der Triebkontrollen zu beobachten ist. Er sieht die Ursache für diese Entwicklung in der zunehmenden Anonymität der modernen Massengesellschaft, als auch in der Tatsache, dass in einer auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft auch auf die Befriedigung so wichtiger Bedürfnisse wie etwa der Sexualität nicht verzichtet werden kann (a.a.O., 34). Hierdurch wird der Kern des Konflikts genannt: Ist die gegenwärtige Überflutung von vor allem erotisch besetzten nackten Körpern in den Medien ein Resultat, dass mit einer allgemeinen Senkung der von Elias beschriebenen Triebkontrolle zusammenhängt oder ist diese neue Freizügigkeit vielmehr als ein Zeichen für eine durchgesetzte Triebkontrolle zu bewerten. O. König erklärt hierzu, dass ein großer Teil dieses Diskurses, speziell in Kombination mit der Sexualität zu einem Diskurs über den moralischen Zustand der Gesellschaft erhoben wird. Die Klagen die dabei immer wieder zu vernehmen sind, sprechen von einer Verrohung, Proletarisierung und Vermassung der Gesellschaft.

"Mit dem Ende der Verbotspolitik und der zunehmenden Freisetzung der Nacktheit wird diese quasi demokratisiert, und die Auseinandersetzungen über sie gehen erst richtig los, dies nun allerdings nicht mehr in der Sprache des Verbotes, sondern in Form differenzierterer Grenzziehungen als Teil der Kulturindustrie in ihren legitimen und illegitimen Varianten" (a.a.O., 40).

Er erklärt, dass die Nacktheit darüber ihre utopische Qualität als Symbol für das andere verliert, sie wird sozusagen profan.

3.1.2. Nacktheit und Bekleidung

Der Begriff der Nacktheit macht eigentlich nur Sinn im Zusammenhang mit Bekleidung, da die beiden Begriffe zueinander im Kontrast stehen und dieser Kontrast in jeder Hinsicht sozial gestaltet ist. Kennzeichnend für die Theorien, die es über die Entstehung der Bekleidung gibt sind die, dass durchgehend der bekleidete Körper als der gesellschaftlich "natürliche" angesehen wird. Das legt die Vermutung nahe, dass die allgemeine, gesellschaftliche Annahme ist, dass erst durch die Bekleidung der Mensch zum "Kulturwesen" wird und das die Bekleidung zum Grundbedürfnis menschlicher Existenz gehört. Rene König verweist in seiner Analyse über die Mode darauf, dass der Mensch erst über seine Kleidung sozial identifizierbar wird, nämlich seiner Umwelt die Möglichkeit bietet, ihn einer bestimmten sozialen Klasse, einem Land oder einer Zeit zuzuweisen. Jedoch kann der vorangegangene Verweis auf die Schutzfunktion (Klima/ physischer Verletzung) von Kleidung nicht als grundlegend angenommen werden, da noch heute manche primitive Völker bei harten klimatischen Bedingungen mit einem Minimum von Kleidung auskommen (O. König, 1990, 29). Die ethnologische Forschung im 19. und 20. Jahrhundert machte deutlich, dass die dekorative und symbolische Funktion der Bekleidung viel zentraler ist als die Schutzfunktion. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Kulturen das gleiche Verständnis von Nacktheit haben wie die westlichen Kulturen, für die Bekleidung die Regel darstellt. So tragen viele primitive Völker nur eine minimale Hüftschnur, die als dekorative Funktion sichtbar wird, die aber keinen Kontrast zwischen Bekleidung und Nacktheit entstehen lässt, da sie vielmehr eine Gesamterscheinung ausmachen. So bezieht sich die Hervorhebung von Geschlechtsmerkmalen symbolisch auf deren "Göttlichkeit" oder soll als Schutz vor bösen Mächten fungieren.

In der großen Mehrheit der Kulturen ist aber Bekleidung die Regel und somit verwandelt sich die Hervorhebung und Bedeckung in das Verhältnis von Zurschaustellung und Schamhaftigkeit. Die Nacktheit entspricht somit dem Gegenbild, eine wie zuvor erwähnte Randposition sozusagen. Das entsteht dadurch, dass dem objektiven Kontrast zwischen der Bekleidung und der Nacktheit ein innerer Sinn für diesen Kontrast entspricht, "der die Nacktheit als das >Andere< wahrnimmt" (O. König, 1990, 29). Weiterhin erklärt König, dass die Ursache für die Randposition der Nacktheit damit zusammenhängt, dass Bekleidung eine größere Vielfalt für die symbolische Darstellung sozialer Verhältnisse erlaubt, somit eine feinere Differenzierung zwischen Besitz-, Alters-, und Geschlechtsklassen bietet.

Naheliegend ist die Vermutung, dass eine komplexe Gesellschaft wie unsere gar nicht die komplexe Differenzierung bieten könnte, die sie gebraucht, ohne die Dimensionen welche die Bekleidung bietet. König widerspricht den Behauptungen, die durch die Ausschließlichkeit der Bekleidung abgeleitet werden, nämlich dass Nacktheit in den Bereich des "Unzivilisierten" und "Wilden" verweist. Die Realität sei vielmehr, dass die Nacktheit trotz ihrer Randposition den gleichen sozialen Differenzierungen unterworfen wird wie die Bekleidung.

"Zwar steht also der >tugendhaften< und >schamhaften< Bekleidung die >lasterhafte< und >schamlose< Nacktheit gegenüber, doch ebenso wie es eine >schamhafte< und eine >schamlose< Kleidung gibt, so gibt es eine >schamhafte< und >schamlose< Nacktheit, je nach der sozialen Position, die sie einnimmt bzw. die ihr zugewie-sen wird" (O. König, 1990, 30).

König erläutert, dass die Randposition daher nicht bedeutet, dass sich die Nacktheit außerhalb des sozialen Systems mit eigenen Regeln befindet. Vielmehr trifft die Randposition nur auf der ersten Ebene der Differenzierung zu und mit jeder weiteren Differenzierung wird sie angenommen und verwendet und zwar unter den gleichen Kategorien aufgrund derer sie ursprünglich als Randposition ausgewiesen wurde.

Wie bereits angeführt gibt es drei Funktionen der Bekleidung, eine dekorative Funktion, eine Scham- und eine Schutzfunktion. Ästhetik, Moral und die Kriterien der Zweckmäßigkeit bauen als drei verschiedene Differenzierungskategorien auf diesen drei Funktionen auf. Für die Kategorie der Ästhetik und der Moral ist der Kontrast zwischen Nacktheit und Bekleidung besonders grundlegend, so sind sie auch für beide Seiten des Kontrasts von Bedeutung. Es ist festzustellen, dass in Gesellschaften, welche die Kleidung zur Regel erhoben haben, die Schutzfunktion der Kleidung nur noch eine primäre Rolle spielen kann, wenn die als Herrschaftsmittel eingesetzt und radikal entzogen wird. König vertritt die These, dass sich die Schutzfunktion entweder auf moralische oder ästhetische Aspekte zurückverfolgen lässt, oder dass sich diese Zweckmäßigkeit der Nacktheit auf ihre Funktion als Bekleidung bezieht. So erläutert er, dass der nackte Oberkörper des Arbeiters eine funktionale Bekleidung ist, die aber nur statthaft ist, wenn es die moralischen Anschauungen erlauben oder sogar ästhetisieren. Er betont, dass es eine "Funktionalität der Nacktheit nur im Rahmen der herrschenden und ästhetischen Kategorien gibt" (a.a.O., 31). Jedoch wird der Funktionalitätsaspekt in moralisch-ästhetischen Auseinandersetzungen gerne eingesetzt um etwas außerhalb der sozialen Ordnung Liegende in einer funktionalen Ordnung zu verzahnen. Wie erwähnt bedient sich die symbolisch-dekorative Funktion von Bekleidung, d.h. die ästhetische, der Mechanismen von Hervorhebung und Bedeckung. Doch erst die Schamfunktion der Bekleidung lässt sie durch ihre Abgrenzung von der Nacktheit zur Randposition werden. Ästhetische und moralische Kategorien sind in ihrer Beurteilung von Nacktheit eng verzahnt und von zentraler Bedeutung. Sie stellen zwei für die Nacktheit zentrale Felder der symbolischen Auseinandersetzung dar, durch die zum einen deren Randposition begründet wird und zum anderen ihre interne Differenzierung betrieben wird. Aufgrund des untrennbar Aufeinanderbezogenseins von ästhetischer und moralischer Kategorie wird ein vermeintlicher Widerspruch deutlich. Es ist das besondere Phänomen der "schamhaften" Bedeckung, dass sie zum einen ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Körperteile lenkt, die verborgen werden sollen. Das impliziert, dass sie sich damit selbst zur Ursache hat bzw. ihr Auftreten selbst schafft und damit die sexuell-erotische Bedeutung von Nacktheit erst erschafft. Dieser Sachverhalt wiederum resultiert daraus, dass die ästhetischen und moralischen Kategorien miteinander in Konflikt geraten können in dem Moment, in der sich die Bekleidung als Regel und die Nacktheit als Randposition etabliert hat. Die moralische Funktion des Bedeckens steht nun konträr zu der ästhetischen Funktion des Hervorhebens.

Die Randposition der Nacktheit drückt sich innerhalb ihrer Positionierung in den sozialen Schichten aus. Jeweils das untere Ende wird mit Nacktheit assoziiert, das Kind, die Frau, die Unterschichten und die "primitiven" Völker. So war bis zum Verschwinden der Stände- und bürgerlichen Klassengesellschaft anhand der Kleidung erkennbar, welcher Schicht jemand zugehörig war. Die Kleidung hatte so lange Zeit auch die Funktion der Distinktion, denn nur die Wohlhabenden konnten sich die Mode leisten. Erst mit Aufkommen der gesellschaftlichen Vereinheitlichung durch die Massengesellschaft verschwimmen diese Grenzen, durch die Demokratisierung der Mode. Im besonderen durch die sich entwickelnde Großstadtkultur fand eine Verwischung aller Ränge statt (R. König, 1999).

Die Nacktheit von Kindern wird bis zu einem bestimmten Alter geduldet und als unschuldig angesehen. Obwohl die Verdeckung der Nacktheit in unserer Kultur bis zur Pubertät hinausgezögert wird, setzt etwa ab dem sechsten Lebensjahr an eine Trennung nach Geschlechtern ein.

3.2. Die Analyse der Mode

Zunächst die Definition der Mode: Unter Mode ist generell der Zeitgeschmack zu verstehen, insbesondere der von soziokulturellen Verhältnissen und Wandlungen durch ästhetische und moralische Wertorientierungen beeinflusste Komplex von Geschmacksvorstellungen und Normen hinsichtlich des individuellen Verhaltens, der Wohnweise, der Konsum- und Freizeitgestaltung, vor allem aber des Sichkleidens und auch des politischen Urteilens. Die Mode ist sowohl Ausdruck als auch Mittel zur Entfaltung von kreativ-innovativen Potentialen. Sie fungiert als Mittel der sozialen Anpassung und Normierung ebenso wie der individuellen Selbstdarstellung, Abhebung und Exklusivität. Die Mode beinhaltet Normkonformität als auch Normabweichung und ist eng mit sozialen und kulturellen Veränderungen verbunden (Hillmann, 1994, 566). Der Begriff der Mode wie er hier diskutiert wird begrenzt sich, von der Bedeutung, hauptsächlich auf die Bekleidung.

Aufbauend auf dem Prozess der Zivilisation wird im folgenden die Entwicklung der Mode skizziert und deren Funktion für das Individuum wie für die Gesellschaft verdeutlicht. Der Schwerpunkt liegt hierbei speziell auf dem Zusammenhang von Körper und Kleidung.

Dass die Mode ein "soziales Totalphänomen" (Marcel Mauss) ist, setzt Rene König in seiner umfangreichen Analyse der Mode voraus, ob Kleidung, Wohnungseinrichtung, Nahrungsgewohnheiten, ob Beruf oder Freizeit, ob Politik, Kunst oder Wissenschaft, ob Meinungsbildung im Kleinen oder Weltanschauung im Großen, überall bilden sich Moden von unterschiedlicher Vergänglichkeit. Die Mode ist eine Körpersprache und daher wird sie von den verschiedensten Wissenschaften durchdrungen. Außerdem legt er nahe, dass die immer wieder auftauchende Behauptung, dass die Mode ein Produkt des Kapitalismus sei, schlicht falsch ist. Sicherlich ist das Wirtschaftssystem in vielerlei Hinsicht ein Verstärker für die Mode, aber diese selbst hat ihre Auslöser in viel urtümlicheren Schichten, die bis in die frühe Steinzeit der Menschheit zurückreichen.

"Ihre einzigartige Funktion übt sie aber in dem schönen Schein der Lebenswelt, also in der Ästhetik des Alltags, in der bildlichen Darstellung des Menschen, der im wesentlichen ein Augentier ist" (R. König, 1999, 9).

Die Menschheit in ihren verschiedensten Ausgestaltungen und Gruppierungen trägt die Mode nach außen. Die Mode fordert immerfort gesehen zu werden.

"Die Mode will zur Welt in einem umfassenden, unabgerissenen und immer von neuem anhebenden Kommunikationsprozess der seinen Ursprung in der Körpersprache hat" (a.a.O., 10).

Es ist ein Vorurteil, dass die Mode einzig auf die Erfassung der äußeren Hülle des Menschen in Kleidung, Schmuck und Ornament beschränkt ist. Da sie eine allgemeine soziale Institution ist, erfasst sie den ganzen Menschen. Die Mode ist daher ein universelles, kulturelles Gestaltungsprinzip, das nicht nur den Körper des Menschen im ganzen, sondern auch seine sämtlichen Äußerungserscheinungen zu ergreifen und umzugestalten vermag. Der menschliche Körper wird von der Mode in Haltung, Gang, Ausdruck und Bewegung restlos geformt (a.a.O., 11). Die Widersprüche der Mode von Wandel und Beharrung gründen sich aus einer Tiefen- und Oberflächenschicht der menschlichen Natur heraus. In zugespitzter Form kann man sagen, dass im Menschen ein tiefverwurzelter Drang liegt, oberflächlich und kapriziös zu sein (a.a.O., 75). Auf eine prägnante Bedeutung der Mode, nämlich dass körperliche Strukturen oder angeborene Bewegungsweisen als Auslöser von bestimmten Reaktionen beim Betrachter fungieren, haben Verhaltensforscher und Tierpsychologen hingewiesen. Konrad Lorenz erklärt die Mode zu einer überoptimalen Attrappe:

"(...) indem sie gewisse Indikatoren der hormonalen Geschlechtsfunktionen und überhaupt der geschlechtlichen Vollwertigkeit unterstreicht, etwa durch übertrieben aufgetragenes Make-up" (a.a.O., 79).

Der Gesamteindruck der Mode entspricht demnach dem eines Reizsummenphänomens, indem zahllose Merkmale, die jedes für sich eine bestimmte Wirkung ausüben und in ihrer Vereinigung einen starken Eindruck sowie eine entsprechende Orientierung des Verhaltens jener Menschen erreicht, für die diese Signale bestimmt sind. Letztendlich tritt damit die Funktion des modischen Verhaltens im Zusammenhang mit der Erhaltung der Art hervor. Somit wirkt das Streben nach modischer Verwandlung mit der gleichen elementaren Kraft wie alles, was der Arterhaltung dienlich ist (a.a.O., 79).

Ein anderer Ansatz zu der Begründung von Wandel und Beharrung liefert die Psychoanalyse. Unter dem Einfluss der Kulturentwicklung mussten, wie zuvor erwähnt, die Triebe und Affekte kontrolliert werden, in kanalisierter und sublimierter Form tauchen sie in der Mode wieder auf im Trieb des Sich-Beschauen-Lassen, der für sie von entscheidender Bedeutung ist. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erklärt dazu, dass der Schautrieb sich ursprünglich auf den eigenen Körper bezieht, demnach autoerotisch ist. Erst danach wird der Schautrieb im Zuge des Vergleichens auf einen anderen Körper übertragen. Im weiteren wird dann das Objekt aufgegeben und der Schautrieb bezieht sich auf den eigenen Körper, womit sich gleichzeitig das aktive Schauen in Passivität verwandelt und sich das Ziel durchsetzt, selber gesehen zu werden. Freud bezeichnet diesen Prozess als ambivalent, da auf der einen Seite die Tendenz zum aktiven Schauen besteht, die vom eigenen Körper auf den fremden geht. Demnach wird das Objekt des Sehens im anderen Körper erblickt, gleichzeitig entsteht auf der anderen Seite, aus der gleichen erotischen Wurzel, der Wunsch gesehen zu werden. In diesem Zusammenhang spielt außer der Neugier und der Erotik das menschliche Auge eine zentrale Rolle. Der Mensch ist ein Augentier, aber nicht nur hinsichtlich

"(...) auf die Eröffnung der bildlichen Dimension der Welt, sondern gerade und mit besonderer Intensität im Hinblick auf seine sozialen Verhältnisse insgesamt, speziell natürlich auch in bezug auf die Geschlechtspartner" (a.a.O., 86).

So wie der Geruchssinn nicht nur zur Identifizierung von Menschen, Tieren und Vorgängen aller Art dient, sondern darüber entscheidet, ob man jemanden sympathisch findet oder nicht, eröffnet das Auge viele Dimensionen, die im Schauen und Sich-Beschauen-Lassen nicht nur Bilder vermittelt, sondern soziale Verhältnisse manifestiert.

Demnach gibt es eine statusschaffende Funktion von Kleidung, Farbe oder Präsentation bestimmter Wertgegenstände (Schmuck). Die komplexen Symbolfunktionen in der Tierwelt sind da besonders prägnant. Bestimmte Farben bei Tieren beeindrucken andere Exemplare der eigenen Gattung, wirken anziehend oder verursachen bei anderen Gattungen Suchreaktionen. Verhaltensforscher sprechen hier von Auslösern, denen besonders bei der sexuellen Werbung und Annährung eine spezifische, arterhaltende Funktion zukommt. Wie komplex diese Symbolfunktionen verlaufen zeigt das Beispiel zweier Fische die in prächtig leuchtenden Farben um die weibliche Gunst, ins Kämpfen geraten und der Unterlegene innerhalb weniger Sekunden sein Farbkleid verliert. Das Strahlen des Farbkleids steht als Symbol für die überlegene Macht und der Unterlegene dokumentiert gewissermaßen seinen Standesverlust indem er farblos wird.

Die Verhaltensforschung und die Psychoanalyse stellen demnach zwei unterschiedliche Ansatzpunkte dar. Die Verhaltensforschung geht davon aus, dass das Streben nach modischer Verwandlung seine Ursache in der Arterhaltung hat, also in der Natur des Menschen liegt. Die Psychoanalyse sieht im Gegensatz die Entwicklungen der Mode als eine Folge der im Zivilisationsprozess einsetzenden Trieb- und Affektkontrolle. In der Mode kehren die Triebe in sublimierter und kanalisierter Form wieder. Man will gesehen werden und gleichzeitig auch beobachten und sehen. Somit hat die Mode eine psychologische Funktion.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832469801
ISBN (Paperback)
9783838669809
Dateigröße
1018 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main – Gesellschaftswissenschaften
Note
1,7
Schlagworte
trends nacktheit normierung körperpraktiken schönheitschirurgie
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Titel: Körperkult(ur)
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