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Rhythmuswahrnehmung in der Muttersprache und in einer Fremdsprache

©2000 Diplomarbeit 90 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vorliegende Diplomarbeit ist der Untersuchung von Rhythmuswahrnehmung in der Sprache gewidmet. Sie setzt sich sowohl theoretisch als auch empirisch mit der Frage auseinander, ob die Wahrnehmung von Sprachrhythmen in der Muttersprache und in einer nicht verständlichen Fremdsprache unterschiedlich ausfällt.
Als Versuchsmaterial dienten Zweizeiler aus deutschen und russischen Gedichten. Diese Zweizeiler wurden in Paaren dargeboten und sollten hinsichtlich ihrer rhythmischen Struktur miteinander verglichen werden. Die rhythmische Struktur wurde variiert, indem die beiden Zweizeiler entweder im gleichen oder im unterschiedlichen Versmaß standen. Als Ergebnis kam heraus, daß der Vergleich in einer nicht verständlichen Sprache kaum möglich war. In der Muttersprache waren die Versuchspersonen dazu geneigt, den Rhythmus eher als verschieden anzusehen sogar dann, wenn er in Wirklichkeit gleich war. Dagegen wurde bei den bilingualen Aufgaben der gleiche Rhythmus fast immer erkannt. Der unterschiedlicher Rhythmus zweier verschiedener Sprachen wurde kaum wahrgenommen.
Die Versuchsergebnisse werden am Ende der Arbeit ausführlich besprochen. Zu ihrer Interpretation wurden die Theorie der Bezugssysteme in der Wahrnehmung und das Konzept der rhythmischen Monotonie vorgeschlagen. Abschließend werden einige methodische Kritikpunkte sowie Vorschläge für weitere Untersuchungen diskutiert.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.Kurzzusammenfassung2
2.Einleitung3
3.Rhythmische Vielfalt5
3.1Rhythmus in der lebendigen und nicht lebendigen Natur5
3.2Rhythmus in der Sprache8
3.3Versmaße der Gedichte13
4.Spracherwerb20
4.1Erwerb der Muttersprache21
4.2Erwerb einer Fremdsprache27
5.Zeit, Sprache und Rhythmus33
6.Hinführung zur Fragestellung und Hypothesen40
7.Methoden43
7.1Operationalisierung der Fragestellung43
7.2Zweizeiler-Paare45
7.3Stichprobe49
7.4Versuchsaufbau49
7.5Statistische Auswertung der Daten53
8.Ergebnisse55
9.Interpretation und Diskussion der Ergebnisse71
10.Literaturverzeichnis80
11.Anhang85
12.Erklärung131

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6070
Anna Schor-Tschudnowskaja
Rhythmuswahrnehmung in der
Muttersprache und in einer
Fremdsprache
Diplomarbeit
an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Fachbereich 06 Psychologie
6 Monate Bearbeitungsdauer
September 2000 Abgabe

ID 6070
Schor-Tschudnowskaja, Anna: Rhythmuswahrnehmung in der Muttersprache und in einer
Fremdsprache
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Gießen, Universität, Diplomarbeit, 2000
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

I
NHALTSVERZEICHNIS
1
Inhaltsverzeichnis
1
Kurzzusammenfassung
2
2
Einleitung
3
3 Rhythmische Vielfalt
5
3.1 Rhythmus in der lebendigen und nicht lebendigen Natur
5
3.2 Rhythmus
in
der
Sprache
8
3.3
Versmaße
der
Gedichte 13
4 Spracherwerb
20
4.1 Erwerb
der
Muttersprache
21
4.2 Erwerb
einer
Fremdsprache
27
5 Zeit,
Sprache
und
Rhythmus
33
6 Hinführung zur Fragestellung
und
Hypothesen
40
7
Methoden
43
7.1
Operationalisierung
der
Fragestellung 43
7.2
Zweizeiler-Paare
45
7.3 Stichprobe
49
7.4 Versuchsaufbau
49
7.5 Statistische
Auswertung
der
Daten
53
8 Ergebnisse
55
9 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse
71
10 Literaturverzeichnis
80
11 Anhang
85
12 Erklärung
131

K
URZZUSAMMENFASSUNG
2
1 Kurzzusammenfassung
Die vorliegende Diplomarbeit ist der Untersuchung von Rhythmuswahrnehmung in der
Sprache gewidmet. Sie setzt sich sowohl theoretisch als auch empirisch mit der Frage
auseinander, ob die Wahrnehmung von Sprachrhythmen in der Muttersprache und in einer nicht
verständlichen Fremdsprache unterschiedlich ausfällt
Als Versuchsmaterial dienten Zweizeiler aus deutschen und russischen Gedichten. Diese
Zweizeiler wurden in Paaren dargeboten und sollten hinsichtlich ihrer rhythmischen Struktur
miteinander verglichen werden. Die rhythmische Struktur wurde variiert, indem die beiden
Zweizeiler entweder im gleichen oder im unterschiedlichen Versmaß standen.
Als Ergebnis kam heraus, daß der Vergleich in einer nicht verständlichen Sprache kaum
möglich war. In der Muttersprache waren die Versuchspersonen dazu geneigt, den Rhythmus
eher als verschieden anzusehen sogar dann, wenn er in Wirklichkeit gleich war. Dagegen
wurde bei den bilingualen Aufgaben der gleiche Rhythmus fast immer erkannt. Der
unterschiedlicher Rhythmus zweier verschiedener Sprachen wurde kaum wahrgenommen.
Die Versuchsergebnisse werden am Ende der Arbeit ausführlich besprochen. Zu ihrer
Interpretation wurden die Theorie der Bezugssysteme in der Wahrnehmung und das Konzept
der rhythmischen Monotonie vorgeschlagen. Abschließend werden einige methodische
Kritikpunkte sowie Vorschläge für weitere Untersuchungen diskutiert.

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INLEITUNG
3
»...die Sprache als solche hat Rhythmus...«
Heusler
2 Einleitung
Unter Freunden und Bekannten wird nicht selten festgestellt, daß die Vorlieben für
Kunstarten sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Das, was den einen anspricht, bleibt für den
anderen stumm. Bemerkenswert ist, daß es in einem solchen Fall um Sprechen oder Sprache
geht. In Hinblick auf Malerei als auch auf Musik kann behauptet werden, daß sie nicht
ansprechen, daß damit kein Kontakt, kein Dialog hergestellt werden kann. Der berühmte
russische Schriftsteller V. Nabokov verstand keine Musik. Sie spreche nicht mit ihm, hat er
einmal gemeint, sie sei für ihn nur eine zufällige Ansammlung von Lauten und Tönen, wie eine
Fremdsprache eben. Bei einem ist es die Musik, die mit ihm nicht sprechen mag, beim anderen
vielleicht die Poesie, deren Wahrnehmung für ihn ­ genau wie bei einer Fremdsprache ­
anstrengend und nicht angenehm ist. Somit kann alles Sprache sein, zumal ein Mensch auf die
Kommunikation mit seiner Umgebung ausgerichtet und von ihrem Gelingen abhängig ist.
Diese Diplomarbeit ist einem strukturellen Merkmal der Sprache gewidmet, das allerdings
nicht nur der Sprache eigen, sondern universell ist und fast immer mit der zeitlichen Ordnung
oder Struktur zusammen auftritt. Es geht hier um die Wahrnehmung von Rhythmus in der
Sprache. Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen experimentellen Teil. Im
experimentellen Teil wird ein Versuch beschrieben, Rhythmuswahrnehmung in der
Muttersprache und Rhythmuswahrnehmung in einer nicht verständlichen Fremdsprache
miteinander zu vergleichen. Zur Operationalisierung des Sprachrhythmus wurden zwei
unterschiedliche metrische Muster bzw. Versmaße verwendet, die eine besonders deutliche
rhythmische Sprache zur Verfügung stellen. Die Aufgabe des theoretischen Teils ist es, den
Leser mit dem Phänomen »Rhythmus« und vor allem mit dem Rhythmus in der Sprache
vertraut zu machen. Es gibt sehr viele Arten von Rhythmen, in den folgenden Abschnitten (3.1,
3.2 und 3.3) werden einige von ihnen definiert. Die rhythmische Struktur der poetischen
Kunstsprache wird besonders ausführlich dargestellt (Abschnitt 3.3).
Darüber hinaus befasst sich der theoretische Teil der Arbeit mit Fragen des Spracherwerbs
(Abschnitt 4), denn die Tatsache bzw. das Ausmaß der frühen Vertrautheit mit dem
rhythmischen Muster der Muttersprache halte ich für relevant für die experimentelle

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INLEITUNG
4
Fragestellung. Im Abschnitt 4.2 setze ich mich mit dem Problem des Erwerbs einer
Fremdsprache und dem Stellenwert des Sprachrhythmus in diesem Prozess auseinander. Mich
interessiert dabei besonders die sprachliche Koexistenz, d.h. die Existenz einer Fremdsprache
und der Muttersprache nebeneinander, sei es die Tatsache einer mehrsprachigen Biographie
oder nur ein kurzes Zusammentreffen zweier Sprachen, wie z.B. bei einer Übersetzung. In
diesem Zusammenhang interessiert mich weiterhin, inwieweit alle sprachlichen Parameter,
sowohl die syntaktisch-semantischen, als auch die formalen, prosodischen
1
in gleicher Weise
erlernbar und von einer Sprache in die andere oder von der Muttersprache in eine Fremdsprache
transformierbar bzw. übersetzbar sind. Im letzten Abschnitt des theoretischen Teils (6.
Abschnitt) widme ich mich Fragen der Zeit, denn die Art und Weise, wie Menschen mit der
Zeit umgehen, hängt direkt mit ihrer Sprache und mit ihrer Rhythmuswahrnehmung zusammen.
Mein Anliegen in dieser Arbeit ist es also herauszufinden, wie unterschiedlich gut bzw.
schlecht Rhythmen wahrgenommen werden ­ bei einem Vergleich der eigenen Muttersprache
mit einer nicht verständlichen Fremdsprache, deren Rolle in dem hier dargestellten Versuch die
russische Sprache übernimmt. Mich interessieren Mechanismen der Rhythmuswahrnehmung
und des Rhythmusvergleichs, der in diesem Fall auch ein Sprachvergleich ist.
Die oben umschriebene Fragestellung erfordert eine komparative Untersuchung, d.h. einen
Vergleich zwischen Sprachen bezüglich der Güte der Wahrnehmung von Rhythmen bzw.
Versmaßen. Nur in komparativen Studien werden die spezifischen Leistungsmöglichkeiten und
Grenzen einer bestimmten Sprache deutlich (Paul, 1984). Russische und deutsche Gedichte,
die in einer Zufallsreihenfolge abwechselnd präsentiert bzw. sukzessiv dargeboten wurden und
zu vergleichen waren, erlauben es, die Güte der Rhythmuswahrnehmung in jeder der Sprachen
zu ermitteln und sie zwischen den Sprachen zu vergleichen. Die genaue Operationalisierung
der Fragestellung sowie die Hypothesen und der statistische Auswertungsplan werden in dem
methodischen Teil der Arbeit dargestellt (Abschnitt 8). Daraufhin folgt Interpretation und
Diskussion der Ergebnisse (Abschnitt 9).
Die gewonnenen Erkenntnisse könnten sowohl in der Theorie des Fremdspracherwerbs
berücksichtigt werden als auch zum allgemeinen Verständnis der Phänomene Sprache, Zeit
und
1
Unter den sogenannten prosodischen oder ektosemantischen (Gundermann, 1981) Elementen des Sprechens
werden im allgemeinen Tonhöhe, Tonqualität, Lautheit, Rhythmus sowie Präzision der Artikulation verstanden.

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Rhythmus sowie zum Verständnis ihrer Wechselwirkungen und Zusammenhänge beitragen.
Schließlich können den aus dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen ein neuer Zugang zu den
Gedichten bzw. zur poetischen Sprache entnommen werden sowie ein Beitrag zum Problem der
Grenzen der eigenen sprachlichen Erkenntnismöglichkeiten.
3 Rhythmische Vielfalt
»Rhythmus ist überall, alles ist rhythmisch. Rhythmus ist das Gesetz der >maßgebenden
Kraft, das geheime Prinzip der Schöpfung, alles strukturierend und wandelnd. Rhythmus ist
Wechsel und Wiederkehr, Fortbewegung und Innehalten, Spannung und Entspannung,
Zusammensetzung und Spaltung, Freude und Schmerz, Leben und Tod, Klang und Stille,
Geduld und blitzschnelles Handeln... « (Giger, 1993, S. 4). Aus dieser wirklich fast
allumfassenden Darstellung dessen, was Rhythmus sein kann, die jedoch ein bewußt gewähltes
und ein fast extremes Beispiel einer Rhythmusdefinition ist, geht hervor, wie schwierig es ist,
theoretisch bzw. wissenschaftlich das Phänomen »Rhythmus« zu definieren. Wenn ich im
folgenden versuche, den Rhythmus zu definieren, ihn umzuschreiben und alle seiner
Ursprünge, Zusammenhänge und Funktionen zu nennen, nichts dabei zu vergessen und mich
aber trotzdem der experimentellen Fragestellung meines Versuchs zu widmen, so bewege ich
mich vom Allgemeinen zum Spezifischen: ich fange bei der nicht lebendigen Natur an, bei der
technischen und physikalischen Wirklichkeit, gehe dann zur lebendigen Natur über,
konzentriere mich auf das Bewußtsein und danach auf die Sprache und gelange schließlich zu
Gedichten, die möglicherweise eine der ältesten und aus dem Grund auch eine der
>menschlichsten sprachlichen Wirklichkeiten darstellen (vgl. Paul, 1984; Pöppel, 1997).
3.1 Rhythmus in der lebendigen und nicht lebendigen Natur
Die astronomische Zeit bezeichnet Kontinuität, Gleichmaß der Geschwindigkeit und
regelmäßige Wiederkehr der Bewegungen von Himmelskörpern, z.B. die Rotation der Erde um
ihre eigene Achse, die Drehung der Erde um die Sonne oder die des Mondes um die Erde. Die
Ei-

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genart dieser Zeitabschnitte besteht darin, daß sie dem menschlichen Einfluß völlig entzogen
sind. Der Mensch kann sie nur beobachten und registrieren, was er auch während seiner
ganzen Geschichte getan hat. Es gibt theoretische Vermutungen, daß die Beobachtung der
Himmelsereignisse durch zahllose Generationen hindurch unsere Vorfahren darauf verfallen
ließ, ihrem Zeitmodell das Schwingungsprinzip zugrunde zu legen. Die Himmelsrhythmen sind
periodischer Natur und erlauben sich keinen Mangel an Gesetzmäßigkeiten.
Die Geschichte der Zeit oder die Geschichte der Vorstellungen davon ist ein Prozess der
zunehmenden Differenzierung. Zunächst gab es nur sehr grobe Zeiteinteilungen; die älteste der
uns heute bekannten stellt die Jahresrechnung im alten Ägypten dar. Als Orientierungsmarke
diente die Überschwemmung des Nil, die sich regelmäßig und vorausberechenbar wiederholte.
Dazwischen vergingen etwa 365 Tage. Da diese Überschwemmungen mit bestimmten
Gefahren verbunden waren, benutzten die Ägypter gerade ihre Regelmäßigkeit und ihre
Vorausberechenbarkeit, um sich zu schützen. Der Regelmäßigkeit der Naturphänomene wurde
eine bestimmte Funktion zugeteilt und den natürlichen Verläufen eine gewisse Struktur. Und
das ist der Anfang der Zeit; sie ist keine objektive Erscheinung, sondern eine bewußte und
subjektive Konstruktion.
Eine sehr umständliche Definition von Rhythmus könnte folgendermaßen lauten: »Rhythmus
ist die periodische Wiederkehr gleicher und in gleicher Ordnung abgestufter, durch eine
dynamische Gipfelbildung zur Einheit gebundener Vorgänge. Es ist nicht notwendig, daß die
mit der gleichen Ereignisfolge erfüllten Zeitabschnitte gleich sind; die Perioden können lang
und kurz, die >Agogik kann lebhaft sein; der Begriff Rhythmus bezieht sich allein auf den Bau,
nicht auf die Dauer der Periode« (Essens, zit. nach Fährmann, 1982, S. 148). In den meisten
Definitionen wird Rhythmus wie hier als Beschreibung der Struktur, als ein strukturelles
Merkmal konzipiert. Dabei geht es jedoch nicht um eine räumliche, sondern um eine zeitliche
Struktur bzw. Ordnung einer Bewegung, eines Ablaufs oder einer Veränderung. Das
griechische Wort rhythmos bedeutet gleichmäßig fließende Bewegung (Knörrich, 1992). Der
Begriff »Rhythmus« wird nun nicht mehr so eng wie früher verstanden; heute würden wir
sagen, daß beinahe jede Bewegung, auch die mit einer bestimmten ­ positiven oder negativen ­
Beschleunigung rhythmisch sein kann. Man kann also sagen, daß Rhythmus ein Teil einer
Bewegung und/oder einer Veränderung ist. Indem er die Gesetzmäßigkeiten einer Veränderung
beschreibt, macht er sie begreiflicher und läßt Vorhersagen über ihren weiteren Verlauf zu.
Rhythmus dient als zeitliche Information oder als Zeitplan jeder beobachteten oder einer
erlebten Erscheinung. Genauso kann ein bereits bekannter Zeitplan wiedergegeben oder ein

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neuer Zeitplan kreiert werden. Daher können wir sagen, daß wir zwischen dem erfahrenen
bzw. wahrgenommenen Rhythmus und dem produzierten Rhythmus unterscheiden können;
diese Prozesse werden entsprechend Rhythmusperzeption und Rhythmusproduktion genannt.
Rhythmus stellt ein zentrales Merkmal des Lebens dar. Viele wichtige und grundlegende
Funktionen eines Organismus, z.B. die Körperfunktionen des Menschen sind rhythmisch
geprägt und gesteuert. Vom intakten rhythmischen System des Körpers hängt die Gesundheit
des Menschen ab. Das anschaulichste Beispiel eines rhythmischen Körperorgans bleibt das
Herz mit seinem symbolträchtigen Rhythmus. An seinem Beispiel wird ersichtlich, daß
Rhythmus lebensnotwendig ist. Ein anderes Beispiel: Die kleinste Veränderung unseres
Vorstellungsvermögens, auch Zeitangst und Zeitnot, Traum, Unruhe, gestiegene
Aufmerksamkeit oder Entspannung im Schlaf finden ihren Niederschlag in einer Veränderung
der Rhythmen im Gehirn. Da das Gehirn sich wiederum auf unzählige andere Regelsysteme
unseres Körpers auswirkt, versucht man z.B. durch den gezielten Einsatz von Musik andere
Körperfunktionen positiv zu beeinflussen, sie zu harmonisieren. Musiktherapeuten wissen, wie
wichtig für die therapeutische und präventive Wirkung der Musik ihre lebensgeschichtliche
Bedeutung ist, die sie für einen Menschen gewonnen hat, insbesondere in der Phase der
Pubertät (13. bis 17. Lebensjahr). Vor allem in dieser Phase entstehen assoziative
Verknüpfungen zwischen bestimmten Musikstücken und intensiv erlebten Ereignissen. Um sie
zu ermitteln, bedarf es einer gründlichen musikalischen Anamnese (Rauhe, 1999).
Musikalische Rhythmen stellen ein Beispiel der nicht-sprachlichen Rhythmen dar.
Verallgemeinert kann man sagen, daß Musik aus Rhythmus und Klang entsteht. Organisierte
Zeit in Musik, aber ebenfalls in Sprache ­ das ist der Rhythmus.
Blümel (1930) vertritt die Auffassung, daß keine Art von Rhythmus älter ist als die andere
und daß alle gleich alt sind. »Schon deshalb ist die Ansicht falsch, der Rhythmus sei erst durch
die Arbeit veranlaßt worden und zuerst als Arbeitsrhythmus oder als Tanzrhythmus im weiteren
Sinne entstanden... Auch der Herzschlag hat nicht den Anlaß zur Schöpfung des Rhythmus
gegeben. Die Arbeit allein ... entspricht nicht den Anforderungen des Gesangs- oder
Sprechrhythmus, sie ist in diesem Sinne durchaus unrhythmisch. Unrhythmisch ist auch der
Herzschlag. Er wird ferner erst dann bemerkt, wenn er unangenehm stark ist, als Herzklopfen;
das Herzklopfen ruft aber keine rhythmische Schöpfung hervor, es stört oder verhindert sie« (S.
4). Nur die Sprache, so Blümel, sei der eigentliche Ursprung des Rhythmus. Diese
Behauptung

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könnte nur unter Voraussetzung gelten, daß Rhythmus ein bewußtes bzw. ein kognitives
Phänomen ist, das somit eng mit den höheren kognitiven Ebenen des menschlichen
Bewußtseins, darunter auch mit der Sprache verbunden ist. Nach Blümel gibt es nur zwei
Hauptarten von Rhythmus: Gesangsrhythmus und Sprachrhythmus; der letzte umfasst den
Prosa- und den Dichtungsrhythmus. »Die Dichtung ist so alt wie die Prosa, beide sind so alt
wie das Menschengeschlecht. Jede Art von Rhythmus gehört mit ihrem ganzen Formenbestand
zum Wesen des Menschen, wie die Sprache, die ja immer rhythmisch ist... Jede Art von
Rhythmus hat ihre besondere Schönheit, keine ist der anderen vorzuziehen« (S. 4).
3.2 Rhythmus in der Sprache
Sprache ist das hauptsächliche Kommunikationsmittel. Wir können davon ausgehen, daß
alle ihrer Elemente dem Kommunikationszweck, d.h. der Vermittlung und dem Empfang von
Information dienen. Da sprachliche Ereignisse ebenfalls sowohl einen Zeitverlauf als auch sich
wiederholende Ordnungsstrukturen aufweisen, sind auch sie rhythmisch organisiert. Nach
Kürsten Schöler (1991) manifestiert sich diese zeitliche Struktur der Sprache hauptsächlich
in zwei Organisationsformen: (a) figural (in bedeutungsvollen Gruppen oder Figuren) und (b)
metrisch (als reguläres oder invariantes Muster von Schlägen). Wir können also einen
inhaltlichen Rhythmus und einen formalen, klanglichen Rhythmus der Sprache unterscheiden.
Der inhaltliche Rhythmus beschreibt, in welcher Reihenfolge bestimmte Informationen ­
Inhalte ­ angesprochen werden. Sinntragende Elemente der Sprache können, je nach dem in
welcher Reihenfolge sie zusammen auftreten, den endgültigen Sinn der Aussage modulieren.
Man könnte diesen Rhythmus auch als ein stilistischer bezeichnen. Der klangliche
Sprachrhythmus beschreibt formal-akustische Aspekte der Sprache, dazu gehören z.B.
Akzentgebung und Tonhöhenverlauf einzelner Sprachelemente. Beide rhythmischen
Strukturen unterliegen einer hierarchischen Planung, wobei allen akustischen Ereignissen im
voraus ihr Platz in der Sequenz und ihre relative Dauer zugewiesen werden (Kürsten Schöler,
1991). Wiederholt sei allerdings, daß beide Rhythmusarten an der Vermittlung von
Informationen teilnehmen. Metrische Sprachstrukturen erfüllen laut Lübkoll (1999) immer
auch »eine inhaltliche Indikatorfunktion« (S. 115).

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Bisherige Ansätze zur Beschreibung dieser Strukturen sind jedoch laut Kürsten Schöler
(1991) unbefriedigend. Es gibt allerdings unter anderen auch solche linguistische Ansätze, die
unter Rhythmus ausschliesslich die rein klanglichen zeitlichen Charakteristika der Sprache
verstehen. So schreiben Mahl Schulze (1982), daß in der Klassifikation extralinguistischer
stimmlicher Dimensionen zwischen Sprachstil, Differenziertheit bzw. Verwendung des
Vokabulars, Aussprache bzw. Dialekt und der Dynamik der Stimme unterschieden wird. Unter
dem letztgenannten Punkt, so die Autoren, wird unter anderem Rhythmus aufgeführt. Eine
ähnliche Auffassung von Rhythmus vertritt Fährmann (1982), wenn er Rhythmus definiert als
»die Art des sprecherischen Bewegungsablaufes, dessen Gliederung durch Pausen (Zäsuren) im
Zusammenhang mit dynamischer Akzentuierung und Melodieführung zustande kommt und als
>Ähnliches unter Ähnlichem immer wiederkehrt.
[...] Rhythmus ist etwas immer wieder aus
sich selbst heraus Erneuerndes, ein mächtiger innerer Bewegungsfluß, Takt dagegen ist ein
unlebendiges, starres, schemahaftes Metrum, ohne fließende Übergänge, ohne Fülle, ohne
>Lebensgehalt« (S. 149). Demnach versucht zwar Fährmann, dem Rhythmus eine
Sonderstellung unter den akustischen Eigenschaften der Sprache zu verleihen, reduziert
allerdings sein Vorkommen auf formal - akustische Parameter. Dennoch spricht er weiter von
verschiedenen Aspekten des rhythmischen Ablaufs und listet einige von ihnen auf: Gleichmaß,
Fluß, >Welle und Spannungsgrad.
Wenn im allgemeinen sämtliche Rhythmen einer subkortikalen Steuerung unterliegen, also
außerhalb des Einflusses von Bewußtsein und Willen des Menschen stehen, bildet das
Gleichmaß, so Fährmann, insofern eine Ausnahme, als ihre Ablaufmodi primär vom Verstand
her ­ genauer gesagt vom Denkablauf ­ ihren Ausgang nehmen. Treten bspw. Denkpausen ein,
so stockt damit auch zwangsläufig der Sprechfluß, d.h. das Gleichmaß des Sprechablaufs wird
dadurch mehr oder minder beeinträchtigt. Fährmann versucht somit die bewußte Steuerung der
Sprache mitzudenken und neben dem formal-akustischen Sprachrhythmus auch seine
sinngeleitete und sinnstiftende Komponente nicht zu vergessen.
Eine andere und relativ verbreitete Möglichkeit, den Rhythmus in der Sprache zu definieren,
wäre die, ihn ausschließlich mit der Akzentgebung gleichzusetzen. Dabei kann man sowohl
den inhaltlichen als auch den formalen sprachmelodischen Akzent in Betracht ziehen. Die
meisten Autoren betrachten allerdings lediglich den formalen Akzent, den man auch als
Wortbetonung kennt. Laut Fährmann (1982) steht die Akzentgebung mit dem rhythmischen
Ablauf in engster Beziehung. Beide sind miteinander verwandt und gehören sowohl bei der
theoretischen Einführung als auch in der diagnostischen Praxis stets zusammen. »Während wir

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es beim rhythmischen Geschehen mit letztlich physiologischen, vitalen Sachverhalten zu tun
haben, fragen wir bei der Akzentgebung nach den stimmlichen Ausdrucksmitteln, mit denen die
rhythmischen Abläufe verquickt sind. Diese Fragestellung setzt keineswegs so tiefschichtig an,
sondern bewegt sich zum Teil sogar in psychologischen Bereichen, die dem verstandesmäßigen
Abstrahieren zugänglich sind« (Fährmann, 1982, S. 152).
Frequenz, Dauer und Intensität sind die Hauptdeterminanten der Betonung. Sie beziehen
sich auf Silben. Unter Silbe versteht man phonologisch eine Phonemkombination mit einem
Vokalzentrum, das von Konsonanten oder Konsonantenkombinationen umgeben ist. Betonung
entsteht, indem man den Vokal einer Silbe lauter ausspricht, höher intoniert oder verlängert. Es
handelt sich also um eine Eigenschaft des Vokalzentrums einer Silbe. Die
Betonungswahrnehmung ist wiederum kontextabhängig ( Kürsten Schöler, 1991). Auch
Müller Humpert (1994) bezeichnen Rhythmus als die zeitliche Organisation einer
Reihenfolge von fortlaufenden Klangereignissen. Laut dieser Autoren wird Rhythmus immer
dann wahrgenommen, wenn in einer Reihe von Tonereignissen ein Ton gegenüber den anderen
erstens länger oder lauter ist, und zweitens sich in der Tonhöhe oder in der Klangfarbe von den
anderen unterscheidet. Trotzdem weisen diese Autoren auf die Vielfalt der Faktoren hin, die
den Rhythmus empfinden lassen. Es kann sogar »eine subjektive Rhythmisierung erfolgen,
ohne daß die objektiven Faktoren vorliegen« (S. 6).
Als Betonung wird das Hervorheben bestimmter Abschnitte beim Sprechen bezeichnet. Die
Aufeinanderfolge von markierten und unmarkierten Abschnitten nennt man Betonungsmuster.
Sprachrhythmen beziehen sich laut Kürsten Schöler (1991) lediglich auf die Wahrnehmung
der Abfolge solcher stärker und weniger stark betonten Elemente. Allerdings erkennen diese
Autoren an, daß dabei sowohl Segmente oder Vokale als auch Satzteile und ganze Sätze als
Einheiten angesehen werden können, in denen sich ein rhythmisches Muster entfalten kann.
Der wahrgenommene Sprachrhythmus ist eine Funktion der Betonungszuweisung auf mehreren
Ebenen (Silbe, Wort, Satzteil usw.). Die einzelnen Ebenen interagieren wiederum miteinander.
Der Rhythmus der Sprache beinhaltet also viele einzelne Rhythmen, viele mehr oder weniger
unterschiedlich in der Zeit organisierte Sprachstrukturen, die zusammen, d.h. interaktiv wirken
und zusammengenommen als bestimmter Rhythmus der Sprache wahrgenommen werden. Laut
Giger (1993) könnte man sogar folgende Behauptung wagen: Sprache ist Rhythmus. Und jeder
ihrer Rhythmen erfüllt eine bedeutungsvermittelnde Funktion. Am Beispiel des
Vietnamesischen demonstriert Kelz (1984), welche Bedeutung das Setzen von Pausen, durch
das die Beziehungen zwischen einzelnen Satzelementen zum Ausdruck gebracht werden

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können und das ein bestimmtes rhythmisches Sprachmuster entstehen läßt, für die
Sinnvermittlung haben kann. Bereits einfache Umstellungen können schon eine Sinnänderung
ergeben (Kelz, 1984). Diese Regel gilt nicht nur für das Vietnamesische.
Auch in der Gedächtnisforschung setzt sich man mit dem Ansatz der rhythmischen
Sprachstrukturierung auseinander und hofft dabei, den Verarbeitungsprozessen im
auditorischen Gedächtnis näher zu kommen. Aus Experimenten wird ersichtlich, daß es, falls
eine rhythmische Strukturierung nicht stattfindet oder behindert wird, zu Beeinträchtigungen
der Behaltensleistung kommt. So fällt es z.B. schwer, ein bekanntes Wort (spontan) rückwärts
auszusprechen, weil diese Aufgabe u.a. die Umordnung des rhythmischen Musters erfordert.
Man kann sich daher leicht vorstellen, daß eine Störung, die die rhythmischen Muster der
Sprache betrifft, entscheidende Folgen für das Erfassen und für die Produktion der Sprache hat.
Rhythmische Fähigkeiten scheinen für den Spracherwerb notwendig, jedoch nicht hinreichend
zu sein (Kürsten Schöler, 1991).
Wie bereits erwähnt wurde wird Rhythmus in der heutigen Sprach- und Musikwissenschaft
sehr breit konzipiert. Unter Rhythmus wird ein zeitliches Muster verstanden, das weder
periodisch sein, also zeitlich immer wiederkehren, noch einer strengen zeitlichen
Regelmäßigkeit, wie etwa in der Musik, entsprechen muß. Zusammenfassend könnte man
sagen, daß Dauer und Reihenfolge sprachlicher Ereignisse das besondere zeitliche
Sprachmuster ­ den Rhythmus ­ ausmachen. Rhythmus wird als die Wahrnehmung einer
hierarchisch organisierten, metrischen Struktur in der Sprache (und der Musik) definiert
(Kürsten Schöler, 1991). Wichtig ist dabei, daß solche Parameter wie Sprechtempo,
rhythmischer Ablauf, Akzentuierung und Artikulation zu den individuellen Verlaufsqualitäten
(oder zu der individuellen Sprechweise) gehören. Jeder hat seinen persönlichen Rhythmus
beim Sprechen und auch jede Sprache hat ihren eigenen Rhythmus (Giger, 1993).
Im Zusammenhang mit Sprachrhythmus stellt sich immer wieder die Frage nach der
Spezifität des Rhythmus einer bestimmten Sprache, zumal so viele Sprachen existieren und
gerade zur Zeit nach kultur- und sprachverbindenden Elementen intensiv gesucht wird. Ist eine
nicht verständliche (Fremd-)Sprache zwangsläufig mit einem ebenfalls fremden, nicht
verständlichen Rhythmus ausgestattet? Viele sowohl Musik- als auch Sprachwissenschaftler
haben versucht, die Frage nach der interkulturellen oder möglicherweise kulturspezifischen
Bedeutung der rhythmischen Muster in Musik und Sprache zu klären. In seiner sehr
umfassenden Monographie über Rhythmus schreibt Blümel (1930), daß in jedem Rhythmus
nach der Stärke die Hebung stark, die Senkung schwach, und/oder nach der Dauer die Hebung

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lang, die Senkung kurz ist. Das gilt nicht nur für Gesang und Musik, sondern auch für jeden
Sprechrhythmus, für Dichtung und Prosa. Dabei macht Blümel gleich die Anmerkung, daß der
germanische, auch der deutsche Sprechrhythmus Hebung und Senkung nicht als stark oder
schwach, sondern auch als lang oder kurz unterscheidet. »Der griechische und der römische
Sprechrhythmus unterscheidet Hebung und Senkung nicht bloß als lang und kurz, sondern auch
als stark und schwach. Auch der französische Sprechrhythmus hat diesen doppelten
Unterschied von Hebung und Senkung« (S.12 ­ 13). Blümel spricht von bestimmten
Gemeinsamkeiten, aber auch von bestimmten Unterschieden in Rhythmus einzelner Sprachen.
Giger (1993) hat versucht, die Ursachen für den weltweiten Erfolg der Rockmusik
herauszufinden. Sowohl der motorisch-pulsierender Grundschlag als auch der anapästische
Rhythmus sind laut Giger wichtige Grundlagen der Rockmusik. Diese Rhythmen haben
interkulturelle Bedeutung, im Gegensatz zu den meisten melodischen und harmonischen
Strukturen, und sorgen für die weltweite Akzeptanz und Beliebtheit der Rockmusik. Giger's
Untersuchung hat nur dem ersten Anschein nach keine Relevanz für das Thema
»Sprachrhythmus«. Denn immer noch steht nicht fest, inwieweit sich das sogenannte
Rhythmusgefühl im Rahmen des Spracherwerbs entwickelt und inwieweit es auch außer der
sprachlichen Wahrnehmung >tätig sein kann. Der Begriff »Sprache« wird übrigens von den
meisten der mit diesem Problem befaßten Autoren im Sinne von »Alltagssprache« verstanden.
Demgegenüber haften bereits an der Kunstsprache (Gedichte, Novellen, Romane usw.), so z.B.
Klemm (1987), sowohl Eigenschaften der Musik als auch der Alltagssprache. Kunstsprache
scheint sich demnach an der Grenze zwischen Sprache im engeren Sinne und Musik zu
positionieren.
Es stellte sich also heraus, daß es sowohl interkulturelle als auch kulturspezifische
rhythmische Wahrnehmungspräferenzen gibt. Interessant wäre in diesem Zusammenhang
herauszufinden, welche Rhythmen kulturspezifisch sind und warum sie es sind. Ob und
inwieweit diese rhythmische Spezifität mit dem Erlernen der Muttersprache zusammenhängt
und ob und inwieweit sie von einer Kultur bzw. Sprache zu anderen übertragbar wäre.
Zum Schluß dieses Abschnittes sollte nochmals die Antizipationsfähigkeit in der
Rhythmuswahrnehmung erwähnt werden. »Durch die Wahrnehmung einer Ordnung im
zeitlichen Verlauf ist der Zuhörer in der Lage, kommende akustische Ereignisse zu antizipieren,
so daß die Koordination für Tanz, Gesang und Instrumentenspiel gelingt; bei Rhythmen erzeugt
die Wahrnehmung früherer Ereignisse Erwartungen bezüglich späterer Ereignisse« (Müller
Humpert,

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HYTHMUS IN DER
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PRACHE
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1994, S. 6). Möglicherweise basiert die starke intrakulturelle Bedeutung des Rhythmus gerade
auf der während der kindlichen Reifung und Erziehung erworbenen Antizipationsfähigkeit in
der Rhythmuswahrnehmung.
Über den Zusammenhang zwischen Zeit im engeren Sinne und Sprache wird ausführlich im
Abschnitt 5 die Rede sein.
3.3 Versmaße der Gedichte
Knörrich (1992) schreibt dem Rhythmus eine anthropologische Bedeutung zu als einem
allgemeinen psychophysiologischen Gestaltphänomen und hebt in diesem Zusammenhang
hervor, daß Rhythmus aus dieser Perspektive auch poetologisch bedeutsam ist, weil er sich
auch im Vers nicht in seiner sprachlich-ästhetischen Funktion erschöpft. »Sein besonderer
Stellenwert in der Dichtung, vor allem in der Lyrik, besteht wesentlich darin, daß er die
individuelle Eigenart eines Sprachkunstwerks, seine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit
entscheidend mitbestimmt.., indem er mit dessen Schallform das darin mitschwingende geistige
Fluidum prägt« (Knörrich, 1992, S. 186). Somit könnte man behaupten, daß, dieser Definition
nach, Dichtung durch einen besonderen Sachverhalt gekennzeichnet ist: dem Sprachrhythmus,
der hier weitgehend als formal-akustischer Rhythmus verstanden wird, wird eine besondere
sinnstiftende bzw. sinnbestimmende Funktion zugeteilt.
Vielfältig sind die Versuche, den Unterschied zwischen dem Prosa- und dem Versrhythmus
zu formulieren. Nach Knörrich (1992) dient der Prosarhythmus lediglich der logischen
Strukturierung und der emotionalen Tönung der Rede. »Der Versrhythmus entsteht dagegen
durch die künstlerische Verfremdung des >natürlichen Sprachrhythmus mittels der
Verwendung zusätzlicher rhythmisch relevanter Stilisierungselemente. Das wichtigste Mittel
solcher rhythmischen Stilisierung der Versrede ist das Metrum. Seit den russischen
Formalisten gilt deshalb der Versrhythmus als Produkt der Verschmelzung von Metrum und
>natürlichem Sprachfluß« (S. 187). Damit stellt sich heraus, daß Rhythmus im Vers entgegen
der Sprache lebt, entgegen ihrem formalen und inhaltlichen Ablauf, daß er im Vers
eigenständig ist, wo er in der alltäglichen Sprache und in Prosa lediglich eine Begleitfunktion
hat (jedoch eine sehr wichtige).

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Auch in der Poetik fällt es sehr schwer, Rhythmus eindeutig und einheitlich zu definieren.
Dem widerspricht auch Knörrich (1992) nicht, wenn er darum bedauert, daß Rhythmus als
Inbegriff der spezifischen Zeit-, Gliederungs- und Betonungsverhältnisse im Vers kaum
einheitlich festzulegen ist und daß sogar die Versuche einer Typisierung wenig
erfolgversprechend sind.
Sowohl in Prosa und Alltagssprache als auch in der Dichtung haben wir es mit
Akzentgebung und mit einem bestimmten Betonungsmuster zu tun. Der hauptsächliche
Unterschied zur nichtpoetischen Sprache besteht darin, daß der Vers die von ihm beinhalteten
Wörter nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit nach betonten und unbetonten Silben gliedert.
Diese Gliederung bzw. diese Gesetzmäßigkeit nennt man Versmaß. Die betonten Silben
werden gehoben gesprochen, die unbetonten gesenkt. Dieser spezifische Wechsel von Hebung
«) und Senkung (»«) macht den sogenannten Takt aus.
Die beiden Begriffe »Hebung« und »Senkung« bezogen sich ursprünglich, d.h. in der antiken
Metrik, auf die Längen und Kürzen im metrisch gebundenen Vers. Im akzentuierenden
deutschen Vers werden gemäß dem hier geltenden akzentuierenden Versprinzip Hebungen und
Senkungen mittels der Tonstärke unterschieden, d.h. die Hebungen werden durch druckstarke,
die Senkungen durch druckschwache Silben gefüllt, und demgemäß entsprechen den Hebungen
betonte, den Senkungen unbetonte Silben. Die Tonhöhe spielt dabei trotz der Bezeichnungen
»Hebung« und »Senkung« keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Knörrich (1992) besteht
darauf, daß zwischen der metrischen Einheit »Hebung« und der sprachlichen Größe »Akzent«
unbedingt zu unterscheiden ist.
Nicht die Senkungen, sondern die Hebungen sind die eigentlich strukturierenden Elemente
im Vers, an denen sich die Wahrnehmung des Rezipienten bei der Konkretisierung der
Lautgestalt orientiert. Diesem Sachverhalt trägt das sogenannte Hebigkeitsprinzip des
deutschen (aber nicht nur) Verses (Knörrich, 1992) Rechnung, nach dem dessen metrische
Struktur nicht nach der Zahl der Takte, sondern allein nach der Zahl der Hebungen bestimmt
wird. Da die betonten Silben diejenigen Lautereignisse sind, auf die die Erwartung des Hörers
gerichtet ist, wird ihr Ausbleiben (bei der Realisation einer Hebung durch eine unbetonte Silbe)
als Abweichung von der metrischen Norm empfunden.
Der einzelne Takt kann aus einer unterschiedlichen Zahl von Silben bestehen, jedoch wird
die Zeitdauer der Takte als ungefähr gleich lang angenommen. Man spricht in diesem
Zusammenhang von der Tendenz zur Isochronie (Knörrich, 1992). Takte gliedern den Vers in
Einschnitte, aber keineswegs in der Weise, daß Taktende und Wortende zusammenfallen. Man

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nennt diese Takte auch Versfüße, die Addition verschiedener Versfüße zu einer Gedichtzeile
ergibt den eigentlichen Vers. Ein Vers ist eine Zeile, in der ein Wechsel von betonten und
unbetonten Silben erwartet werden kann, weil er regelmäßig ist. Das Versmaß gibt also der
einzelnen Zeile wie dem ganzen Gedicht ein bestimmtes metrisches Schema aus der Folge von
Hebungen (betonten Silben) und Senkungen (unbetonten Silben) und organisiert damit das
Ganze in einer rhythmischen Struktur. Das Versmaß ist die kleinste rhythmische Einheit des
Gedichts.
Die folgenden Versfüße sind die wichtigsten, wobei das Zeichen »
« für Hebung und das
Zeichen »
« für Senkung steht:
Jambus
Trochäus
Anapäst
Daktylus
.
Im jambischen Versmaß folgt auf eine unbetonte Silbe eine betonte, im trochäischen auf eine
betonte Silbe eine unbetonte, während der Daktylus an eine betonte zwei unbetonte Silben
schließt und der Anapäst umgekehrt so gestaltet ist, daß auf zwei unbetonte Silben eine betonte
folgt ­ eine Möglichkeit übrigens, die im deutschen Vers laut Pfeiffer (1960) nur selten rein
ausgeprägt ist. Der Daktylus ist der wichtigste dreisilbige antike Versfuß und eignet sich nach
Knörrich (1992) besonders zum Ausdruck einer feierlichen Hochstimmung. Jambus dagegen
drückt am besten eine steigende Bewegung und Gerichtetheit aus und ist, so Knörrich, der in
der deutschen Dichtung am häufigsten verwendete Versfuß.
Alle Autoren sind sich darüber einig, daß Metrum oder Versfuß dem eigentlichen Leben des
Verses gegenüber immer nur Annäherungswerte darstellt: »...der metrische Rahmen ist
mannigfachwechselnder Erfüllung fähig...« (Pfeiffer, 1960, S. 32). Fährmann (1982) warnt vor
dem Irrtum, den Rhythmustyp jeweils allein vom Metrum abhängig zu machen (S. 108).
Wagner (o.J.) erkennt, daß Metrum und Rhythmus zwar zwei verschiedene Strukturelemente
des Gedichts sind, meint aber, daß sie insofern zusammen gehören, als das metrische Schema
dem Rhythmus zugrunde liege. Hier deckt sich das Problem des Widerstreites zwischen
Metrum und dem tatsächlichen Rhythmus eines Gedichts auf: Metrum ist lediglich das
übertragbare Schema, die vorgebende Regel, ein feststehender Rahmen eines Gedichts.
Rhythmus dagegen ist das eigentlich Lebende und Faszinierende, das immer sich erneuernde

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Schwingen und Schweben eines Gedichts. Rhythmus bedeutet zwar auch die gleichmäßige
Bewegung, ihre Gleichmäßigkeit wird allerdings gerade in der Sprache eines Gedichts immer
wieder gestört und die Sprache dadurch bereichert. Der Strom der poetischen Sprache ist nach
ähnlich wiederkehrenden Wellen gegliedert. Seine Beziehung auf das metrische Schema ist
zwar immer gegeben, wird allerdings nie ­ und das ist fast eine Regel für sich ­ streng
eingehalten. Sonst wäre es, so z.B. Pfeiffer (1960), viel zu grob, zu starr, zu weitmaschig,
abgesehen davon, daß die rhythmische Gliederung ja doch auch mitgeprägt ist von der
sinnbestimmten Akzentuierung.
Nach Knörrich (1992) ist das Metrum als ideale Norm und nur als ein theoretisches
Konstrukt zu verstehen, dessen sprachliche Realisierung erst den Rhythmus des Verses erzeugt.
Und die bereits angesprochene Opposition zwischen Metrum und Rhythmus ergibt sich daraus,
daß »zwischen metrischem Schema und seiner Realisierung nicht notwendig eine eindeutige
Beziehung besteht« (Knörrich, 1992, S. 147).
Somit kann zunächst festgehalten werden, daß Metrum, Versfuß, Versmaß und Takt etwa das
Gleiche meinende Begriffe sind und daß sie in einem Gedicht nicht mehr (aber auch nicht
weniger) als eine rhythmische Grundlage herstellen. Rhythmische Gliederung des
Wortmaterials des Gedichts entsteht erstens durch den spezifischen Bau des Versfußes mit
seiner genauen Regelung der Abfolge betonter und unbetonter Silben und zweitens durch die
Anzahl der Versfüße pro Zeile, die das Metrum, d.h. das erkennbare metrische Schema, das
dem Vers einen bestimmten rhythmischen Charakter gibt, ergeben.
Es ist allerdings nicht leicht zu bestimmen, was nun unter »Rhythmus eines Gedichts« zu
verstehen ist. Sicherlich hat er mit der Tatsache der Wiederkehr von Betonungen an
bestimmten Stellen und somit mit der Erwartung der Wiederkehr gleicher rhythmischer
Einheiten (Versmaße) zu tun. Wenn die Beachtung des Rhythmus aber ein Gegenmittel zum
Klappern und Leiern sein soll, worauf gerade mehrere Autoren ausdrücklich bestehen, dann ist
klar, daß dieser Rhythmus eher etwas Subjektives ist. Das metrische Schema eines Gedichts
kann sehr unterschiedlich interpretiert werden. Dabei kommt es sehr darauf an, wie der
Interpret des Gedichts die Betonungen sehen will. Es gibt zwar Grenzen, aber in der Regel
bleibt eine Reihe von Möglichkeiten übrig, für die man sich entscheiden kann (Bremerich-
Voss, 1989). Die eigentliche rhythmische Qualität entsteht nicht im sturen Einhalten des
Metrums, sondern dadurch, daß Sinngehalt und Rhythmus einander bedingen. Das Metrum ist
nur das äußere Maß und die Gliederungsbasis, während die rhythmische Wirkung durch die
lebendige Rede, mitbewirkt durch gedanklichen Gehalt, Thema, Stimmung, Tempo usw.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2000
ISBN (eBook)
9783832460709
ISBN (Paperback)
9783838660707
DOI
10.3239/9783832460709
Dateigröße
816 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen – 06 Psychologie
Erscheinungsdatum
2002 (November)
Note
1,3
Schlagworte
sprachentwicklung sprachwahrnehmung kognitive interferenz bezugstheorien didaktik frempsprachen
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Titel: Rhythmuswahrnehmung in der Muttersprache und in einer Fremdsprache
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