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Werbung zwischen Kunst und Manipulation

Denkanstöße zur persönlichen Auseinandersetzung mit dem polarisierenden Wesen der Werbung

©2002 Diplomarbeit 157 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Diskussion um Werbung und Kunst ist so alt wie die Werbung selbst und angesichts der scheinbar zunehmenden Verschmelzung beider Bereiche heute brisanter denn je. Dabei glauben wir auf den ersten Blick genau zu wissen, was unter Werbung und was dagegen unter Kunst zu verstehen ist.
Die Frage nach Werbung, ruft bei vielen zunächst die Erinnerung an den letzten Fernsehabend wach oder erinnert an den Promotionstand in der Fußgängerzone gestern Mittag.
Denken wir dagegen an Kunst, beschleicht uns das klamme Gefühl von hohen, fensterlosen Räumen in alten Museumsgebäuden, so still, dass man kaum zu atmen wagt. Die vielfältigen anderen Bereiche der bildenden Kunst, wie Architektur, Plastik, Objekt- und Projektkunst aber auch Videokunst werden dabei oftmals vergessen.
Der Kunstbegriff lässt sich heute jedoch fast unendlich ausdehnen. Nicht selten stehen wir kopfschüttelnd vor dem, was uns als Kunst feilgeboten wird. Auch beschäftigen sich immer mehr Museen mit Werbung, präsentieren Sonderausstellungen und Bildbände mit liebevoll recherchierten Ausführungen zum „Produktdesign der 80er“ oder den „schönsten Emailschilder der ersten Markenartikler“.
Umgekehrt finden wir Motive, die wir als Ausdrucksformen der Kunst zu kennen glaubten, im Auftrag des Produktdesigns plötzlich auf Geschirr, Schreibutensilien, T-Shirts, Uhren, Aschenbecher, als Kalender, Poster und Postkarten wieder.
Liegt damit nicht die Vermutung nahe, dass zischen Werbung und Kunst doch eine Verbindung besteht? Und dennoch ist Werbung nicht einfach mit Kunst gleichzusetzen. Werbung polarisiert. Für die einen ist sie Kunst, für die anderen die wahrscheinlich geschickteste Manipulation der Welt.
Im unserem Bewusstsein sind die Begriffe Kunst und Werbung nicht klar definiert. Die vereinfachende Formel, die Kunst ins Museum verbannt und als Werbung all das verteufelt, was sich uns Tag täglich bunt und laut entgegendrängt, ist längst überholt. Die fortschreitende Entwicklung der Märkte und die sich dadurch ständig wandelnden Anforderungen an Kommunikation und Werbung sowie die Unzahl neuer Tendenzen in der Kunst, auch bedingt durch die rasante Entwicklung neuer Medien, erschweren eine klare, allgemeingültige Begriffsdefinition.
Ziel dieser Arbeit ist es daher, ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung des schöpferisch tätigen Menschen, neue Denkanstöße zu geben, um, neben den durch die Gesellschaft geprägten Ansichten, eine Art persönlich-philosophische […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 6029
Hartmann, Tanja: Werbung zwischen Kunst und Manipulation - Denkanstöße zur
persönlichen Auseinandersetzung mit dem polarisierenden Wesen der Werbung
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Stuttgart, Fachhochschule, Diplomarbeit, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

Vorwort der Autorin
Das tiefe Interesse an der Diskussion um Werbung, Kunst und Manipulation liegt
unter anderem in verschiedenen eigenen Erfahrungen begründet. Die Wahl der
Schwerpunkte dieser Arbeit sowie die dargestellten Zusammenhänge und
Rückschlüsse werden daher vor allem durch eigene, persönliche Ansichten zu
diesen und weiteren ergänzenden Themen bestimmt. Die Überzeugung, dass jede
wissenschaftliche These mehreren Betrachtungswinkeln unterliegt, und
unterschiedliche Interpretationsansätze zu unterschiedlichen Erkenntnissen führen,
stützt diese Vorgehensweise
1
. Eine eigene Stellungnahme ist daher zulässig, ja
sogar erforderlich. Der Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und
Nachprüfbarkeit bezieht sich unter diesen Voraussetzungen in erster Linie auf eine
systematische Vorgehensweise sowie eine schlüssige Argumentation. Ich versichere
daher, dass ich diese Arbeit alleine und ohne fremde Hilfe erstellt habe. Es wurden
keine Quellen neben denen des Quellnachweises hinzugezogen.
Tanja Hartmann
1
Vgl. Heller, Eva (1988) Wie Werbung wirkt: Theorien und Tatsachen, 2. Auflage, Frankfurt am Main,
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH (im folgenden zitiert als ,,Wie Werbung wirkt") S. 114.
Eva Heller kommt, unter Berufung auf Karl Popper, zu dem Schluss, dass geschlossene
Wissenschaftssysteme nicht einmal mehr in den Naturwissenschaften existieren, in den Geistes- und
Sozialwissenschaften habe es sie ohnehin nie gegeben. Für Popper (Vgl. Karl Popper, The Open
Society and Its Enemies; 1945) gelten nur die Psychoanalyse, der Marxismus und die Astrologie als in
sich geschlossene Theorien, da Zweifel an einem der Dogmen, auf denen diese Theorien basieren,
den Zusammenbruch des ganzen Systems bedeuteten. Popper setzt damit geschlossene
Wissenschaftssysteme Glaubensbekenntnissen gleich, die nur eine ,,Wahrheit" zulassen.

Inhalt
Vorwort ( mit eidesstattlicher Erklärung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.
Themeneinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2.
Begriffliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
TEIL
I
3.
Geschichtliche Intensionsbetrachtung von Kunst und Werbung . . 9
3.1
Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
3.1.1
Frühe Formbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
3.1.2
Situative Farbempfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3.1.3
Das Geheimnis des Duktus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
3.1.4
Geometrie der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3.1.5
Klassische Konditionierung in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.1.6
Kulturelle Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.1.7
Philosophische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
3.2 Kunsthandwerk
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.2.1
Die Kinderstube der Kunst ­ Malerei als Wegbereiter der Schrift . . . . . 19
3.2.2
Cycladenidole ­ Unvermögen oder bewusstes Formempfinden? . . . . . . 28
3.2.3
Frühes Produktdesign ­ Die Hochkultur Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3.2.4
Historischer Ausblick - Die Antike Griechenlands und die
Machtdemonstration des mittelalterlichen Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.2.5
Zusammenfassung - Kunstwollen und Stellung der frühen Künstler . . . 39
3.3
Die Kunst wagt erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.3.1
Renaissance ­ Die Entdeckung des Menschen und der Natur . . . . . . . . 41
3.3.2
Manierismus ­ Die geistige Geburt der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.3.3
Barock ­ Strömungen und Gegenströmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.3.4
Aufklärung ­ Edle Einfalt und stille Größe des Klassizismus . . . . . . . . . 52
3.3.5
Der kritische Blick des Künstlers ­ Naturalismus und Realismus . . . . . . 54
3.3.6
Weltschmerz und Sehnsucht ­ Das identifikatorische
Element der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3.3.7
Zusammenfassung ­ Neues Selbstbewusstsein, neue Abhängigkeit . . . 56

3.4 Wendepunkt
Industrialisierung ­ Werbung entwickelt
Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.4.1
Impressionismus ­ Aufbruch in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
3.4.2
Plakatkunst ­ Einheit von Motiv und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.4.3
Historischer Ausblick ­ Erneute Divergenz von
Kunst und Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.4.4
Kunst und Werbung im Angesicht des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . 69
ZWISCHENANALYSE
4.
Fazit aus den Ereignissen der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
4.1
Die Ableitung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen . . . . . . . . . . 79
4.1.1
Merkmal 1 ­ ,,Das Selbstverständnis der Künstler" . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.1.2
Merkmal 2 ­ ,,Anforderung an den Betrachter" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
4.1.3
Merkmal 3 ­ ,,Motivwahl in Abhängigkeit der Zielgruppe" . . . . . . . . . . . . 81
4.1.4
Merkmal 4 ­ ,,Darstellungsweise" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
4.2
Erste Ansatzpunkte einer Kunstdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
TEIL
II
5.
Kunst und Werbung in einer postmodernen Gesellschaft . . . . . . . . 85
5.1
Moderne Wirtschaftswerbung und ihre Intension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5.1.1
Der Begriff des Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5.1.2
Der Begriff der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.2
Eindrücke einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
5.2.1
Gesellschaftliches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
5.2.2
Umriss eines Gesellschaftstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.3
Über die Schwierigkeit zu Provozieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
5.3.1
Folgen postmoderner Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5.3.2
Aufmerksamkeit für Kunst und Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
5.3.3
Merkmalsvergleich I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.4
Über die Schwierigkeit innovativ zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
5.4.1
Gefangenschaft im Vokabular eines Weltbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.4.2
Abhängigkeit von technischen Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.4.3
Innovationen in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

5.4.4
Innovation in Wirtschaft und Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5.4.5
Merkmalsvergleich II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
5.5
Das Wesen der Manipulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.5.1
Allgemeiner Sprachgebrauch und Definition von Manipulation . . . . . . . . 109
5.5.2
Psychologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
5.5.3
Kommunikationspsychologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.5.4
Philosophische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
5.5.5
Manipulationsvorwürfe gegenüber der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
SCHLUSSTEIL
6.
Abschließende Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.1
Rückblickende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.2
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.3
Abschließendes Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.3.1
Persönliche Eingrenzung des allgemeinen Begriffs der Kunst . . . . . . . . 125
6.3.2
Persönliche Bewertung des allgemeinen Begriffs der Werbung . . . . . . . 127
6.3.3
Anerkennung von Ausnahmen im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.4
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
7.
Persönliches Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
ANHANG
Übersicht der Merkmalsentwicklungen 1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Übersicht der Merkmalsprofile von Kunst und Werbung . . . . . . . . . . . . . 134
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Indirekt zitierte Originalliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Artikel und Webpages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Abbildungsverzeichnis der Textabbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Abbildungsverzeichnis der Umschlagabbildungen (1-19) . . . . . . . . . . . vorne
Abbildungsverzeichnis der Umschlagabbildungen (20-40) . . . . . . . . . . . hinten

6
1. Themeneinführung
Die Diskussion um Werbung und Kunst ist so alt wie die Werbung selbst und
angesichts der scheinbar zunehmenden Verschmelzung beider Bereiche
heute brisanter denn je. Dabei glauben wir auf den ersten Blick genau zu
wissen, was unter Werbung und was dagegen unter Kunst zu verstehen ist.
Die Frage nach Werbung, ruft bei vielen zunächst die Erinnerung an den
letzten Fernsehabend wach. Der plötzliche Schock als die romantische
Filmszene jäh durch einen Werbeblock unterbrochen wurde, sitzt noch immer
tief in den Knochen. Nach längerer Bedenkzeit fallen einem dann auch der
täglich überquellende Briefkasten und die vielen bunten Plakate in den
Fußgängerzonen ein. An die Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften denkt
kaum jemand im ersten Moment; ebenso wenig wie an Kinowerbung.
Besonders harte Stimmen führen den Vorwurf der Belästigung und
Volksverdummung ins Feld.
Denken wir dagegen an Kunst, beschleicht uns das klamme Gefühl von
hohen, fensterlosen Räumen, so still, dass man kaum zu atmen wagt. Außer
dem eigenen Pulsschlag ist nur das Kratzen der Hygrometernadel zu
vernehmen. Der starre, durchdringende Blick der Aufsichtsperson fixiert jede
noch so kleine Bewegung. Von der Wand klotzen Gemälde schwer und
selbstmitleidig ins Leere. Sie fristen ihr Dasein in Reih und Glied, nach
Epochen geordnet. Diese Art des Kunsterlebnisses haben wir in erster Linie in
Verbindung mit der Malerei, besonders in Bezug auf die traditionellen Werke
der ,,Alter Meister". Die vielfältigen anderen Bereiche der bildenden Kunst, wie
Architektur, Plastik, Objekt- und Projektkunst aber auch Videokunst werden
dabei oftmals vergessen.
Der Kunstbegriff lässt sich heute jedoch fast unendlich ausdehnen. Nicht
selten stehen wir kopfschüttelnd vor dem, was uns als Kunst feilgeboten wird.
Auch beschäftigen sich immer mehr Museen mit Werbung, präsentieren
Sonderausstellungen und Bildbände mit liebevoll recherchierten Ausführungen
zum ,,Produktdesign der 80er" oder den ,,schönsten Emailschilder der ersten
Markenartikler". Grafikdesign studiert die Jugend an Kunsthochschulen,
Mediengestalter werden an Kunstgewerbeschulen ausgebildet.

7
Umgekehrt finden wir Motive, die wir als Ausdrucksformen der Kunst zu
kennen glaubten, im Auftrag des Produktdesigns plötzlich auf Geschirr,
Schreibutensilien, T-Shirts, Uhren, Aschenbecher, als Kalender, Poster und
Postkarten wieder.
Liegt damit nicht die Vermutung nahe, dass zischen Werbung und Kunst doch
eine Verbindung besteht? Und dennoch ist Werbung nicht einfach mit Kunst
gleichzusetzen. Werbung polarisiert. Für die einen ist sie Kunst, für die
anderen die wahrscheinlich geschickteste Manipulation der Welt.
Im unserem Bewusstsein sind die Begriffe Kunst und Werbung nicht klar
definiert. Die vereinfachende Formel, die Kunst ins Museum verbannt und als
Werbung all das verteufelt, was sich uns Tag täglich bunt und laut
entgegendrängt, ist längst überholt. Die fortschreitende Entwicklung der
Märkte und die sich dadurch ständig wandelnden Anforderungen an
Kommunikation und Werbung sowie die Unzahl neuer Tendenzen in der
Kunst, auch bedingt durch die rasante Entwicklung neuer Medien, erschweren
eine klare, allgemeingültige Begriffsdefinition.
Ziel dieser Arbeit ist es daher, ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung
des schöpferisch tätigen Menschen, neue Denkanstöße zu geben, um, neben
den durch die Gesellschaft geprägten Ansichten, eine Art persönlich-
philosophische
1
Auffassung der beiden sich phasenweise überschneidenden
Lebensbereiche Kunst und Werbung zu erlangen. Am Ende steht eine Frage,
die, wie ich meine, jeder für sich selbst beantworten muss: Ist Werbung Kunst
oder doch nur listige Manipulation auf Kosten der Verbraucher?
1
Vgl. Mittelstraß, Jürgen (2001) Philosophie unter den Wolken, in: vhs info 2/2001, S. 3-10.
,,Philosophische Lösungsbemühungen [sind, T.H.] immer an sogenannte philosophische Standpunkte
oder Überzeugungen gebunden. [Bei der Entwicklung von Standpunkten und Überzeugungen, T.H.]
begreift sich die Philosophie [jedoch, T.H.] in einem bestimmten Sinne als voraussetzungslos. Diese
Voraussetzungslosigkeit beruht in der seit Platon (...) formulierten und methodisch eingelösten
Absicht, auch dort noch nach Gründen zu fragen bzw. auf Begründungen zu drängen, wo sich das
alltägliche Bewusstsein, aber auch das wissenschaftliche Bewusstsein, mit faktisch akzeptierten
Überzeugungen zufrieden gibt. [Es, T.H.] gilt der Grundsatz, dass nichts für theoretische oder
praktische Orientierungsbemühungen Relevantes einem begründungsorientierten und in diesem
Sinne philosophischen Diskurs entzogen werden kann und soll."

8
2. Begriffliche
Abgrenzung
Um dem Wesen der Werbung zwischen Kunst und Manipulation näher zu
kommen, betrachtet diese Arbeit zwei Aspekte der Bereiche Kunst und
Werbung. Dies sind der formale Aspekt der Gestaltung sowie in einem
jeweils zweiten Schritt der Aspekt der Intension oder Zweckorientierung.
Um sinnvoll vergleichen zu können, verlangen die Begriffe Kunst und
Werbung somit eine klare Abgrenzung innerhalb ihrer selbst. Die Analyse der
formalen Gestaltungsebene soll sich im folgenden ausschließlich innerhalb
der Zweidimensionalität bewegen. Für den Bereich der Kunst bedeutet dies
die vorrangige Konzentration auf die Malerei und die Vernachlässigung der
Bereiche Plastik und Architektur. Auch außerhalb der klassischen Bildenden
Künste kann die Berücksichtigung der Fotografie, des Films, der Musik, der
Literatur, des Theaters und anderer kultureller Bereiche nur am Rande
erfolgen. Die so unter Vorbehalt ausgeschlossenen Bereiche werden
lediglich ab und an zur besseren Beleuchtung der Intensionsebene in
Erscheinung treten.
Parallel dazu steht auf Seiten der Werbung das zweidimensionale Plakat
beziehungsweise die Anzeige im Vordergrund der Betrachtungen. Auch hier
dienen die Kommunikationsbereiche außerhalb der klassischen
Mediawerbung, wie Public Relations, Verkaufsförderung, Sponsoring und
Eventmarketing, ebenso wie die Bereiche der TV- und Kinospots sowie der
Rundfunkwerbung
1
, lediglich zur Unterstützung der Intensionsbetrachtung.
1
Vgl. Meffert, Heribert (1998) Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung: Konzepte ­
Instrumente ­ Praxisbeispiele, 8. Auflage, Wiesbaden, Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler
GmbH, S. 692ff. (im folgenden zitiert als ,,Marktorientierte Unternehmensführung").
Meffert zählt Anzeigen in Insertionsmedien (Zeitungen, Fach-, Special-Interest- und
Publikumszeitschriften), Spots in elektronischen Medien (TV, Kino und Rundfunk) sowie
Außenwerbung zur klassischer Mediawerbung. Alle weiteren kommunikativen Maßnahmen, wie
Verkaufsförderung, Public Relations, Sponsoring, Event-Marketing, Messen und Ausstellung,
Direktkommunikation und Multimedia-Kommunikation bilden den Bereich der Below-The-Line-
Aktivitäten.

TEIL I
_____________________________________________________________

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
9
3.
Geschichtliche Entwicklung und Intensionsbetrachtung von
Kunst und Werbung
Das polarisierende Wesen der Werbung zwischen dem Vorwurf der
Manipulation und der Verehrung als Kunst lässt sich am besten
nachvollziehen, ist man sich der historischen Entwicklungen von Kunst und
Kommunikation bewusst. Das Folgende Kapitel beschäftigt sich daher mit
historischen Aspekten der Gestaltung und fragt nach Intension und Zweck
auch vor dem Hintergrund der jeweils gesellschaftlichen und kulturellen
Verhältnisse.
3.1.
Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
Unzählige historische Beispiele für den Umgang mit Farbe und Form des
frühen Menschen wie auch die Erkenntnisse der modernen Psychologie über
Farb- und Formwirkung
1
lassen vermuten, dass, unabhängig vom Wissen um
die kunstwissenschaftlichen Gestaltungslehren, eine Art intuitives
Grundempfinden für Gestalt jedem von uns innewohnt. Dies würde bedeuten,
dass wir, selbst wenn wir Kunst nicht verstehen, sie dennoch bis zu einem
gewissen Grad empfinden können.
3.1.1. Frühe Material- und Formbegegnung
Falls es ein solches intuitives Gestaltempfinden gibt, so eignen wir uns die
Voraussetzungen hierfür bereits in frühester Kindheit an. Kinder nehmen ihre
Umwelt in den ersten Monaten primär über orale und haptische
Empfindungen wahr. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung, um optische
Informationen später richtig interpretieren zu können. Wir lernen in diesem
frühen Lebensabschnitt, dass verschiedene Materialien und Formen
verschiedene Empfindungen hervorrufen. Sie fühlen sich weich oder hart,
kalt oder warm an. Glatte Oberflächen werden als angenehm empfunden,
wohingegen die Berührung mit rauhen Gegenständen unangenehm oder
zumindest im ersten Moment irritierend wirken kann. Runde Formen zeigen
1
Vgl. Rosenstiel von, Lutz und Neumann, Peter (1991) Einführung in die Markt- und
Werbepsychologie, 2. unveränderte Auflage, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 57ff.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
10
sich in ihrer Geschmeidigkeit meist harmlos, ja sogar überaus freundlich
wohingegen scharfe Kanten oder Spitzen besser gemieden werden sollten.
Gleichzeitig lernen wir auch, diesen Materialien optische Wesenszüge
zuzuordnen, wodurch wir später in der Lage sind, Objekte unter Ausschluss
der unmittelbaren haptischen Erfahrung rein optisch zu erfassen und ihre
spezifischen Eigenschaften zu erkennen. Naum Gabo schrieb 1937 über die
Bedeutung des Materials für die Plastik:
,,Das Material bildet die emotionale Grundlage einer Plastik, es gibt ihr den
Grundakzent und bestimmt die Grenzen ihrer ästhetischen Wirkung. Die
Quelle dieser Tatsache liegt tief in der menschlichen Psyche verborgen. Ihre
Natur ist nützlich und ästhetisch. Unsere Bindung an die Materialien beruht
auf unserer organischen Ähnlichkeit mit ihnen. (...) Ohne diese enge
Verbindung mit den Materialien, ohne dieses Interesse an ihrer Existenz
wäre der Aufstieg [T.H., aller] Kultur und [T.H., aller] Zivilisation unmöglich
gewesen
1
."
Der Lernmechanismus der Kombination mehrer verschiedener
Sinneswahrnehmungen zu einer ganzheitlichen Vorstellung eines Objekts
bezieht sich des weiteren auch auf olfaktorische und akustische
Komponenten.
3.1.2. Situative
Farbempfindung
Treten bestimmte Objekte in Verbindung mit weiteren Sinneswahr-
nehmungen und den damit verbundenen Empfindungen gehäuft in gleicher
oder ähnlicher Kombination auf, so kommt es zum Erlernen bestimmter
Situationen. Eine zentrale situative Sinneswahrnehmung hierbei ist die der
Farbe. So entsteht neben einem Grundempfinden für Form auch ein
Empfindungsschlüssel für Tonnuancen und Farbgebung. Anders als bei der
Erlernung von Formempfinden, bei dem die erfahrene Empfindung in direkter
Beziehung zur Formeigenschaft steht, werden Farbempfindungen meist
indirekt über Empfindungen in bestimmten Situationen erlernt.
1
Gabo, Naum (1937) o.O. zitiert aus: Keyenburg, Hermann-Josef (1986) Von der Plastik zur
Objektkunst: Skulptur im 20. Jahrhundert, Hannover, Schroedel Schulbuchverlag GmbH, S. 14.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
11
Farben umgeben uns immer und überall. Am einprägsamsten jedoch erleben
wir Farbe in der Natur:
,,Gegen die Reize der Farben, welche über die ganze sichtbare Natur
ausgebreitet sind, werden nur wenig Menschen unempfindlich bleiben. Auch
ohne Bezug auf Gestalt sind diese Erscheinungen dem Auge gefällig und
machen an und für sich einen vergnügenden Eindruck. Wir sehen das Grün
einer frischgemähten Wiese mit Zufriedenheit, ob es gleich nur eine
unbedeutende Fläche ist, und ein Wald tut in einiger Entfernung schon als
große einförmige Masse unserem Auge wohl
1
."
Obgleich wir meist nicht in der Lage sind unsere Empfindungen so präzise zu
formulieren, so spüren wir doch die Wirkung der Farben und verbinden diese
mit Empfindungen, die eigentlich in erster Linie der jeweiligen Situation eigen
sind. Um beim Beispiel der Wiese und der Farbe Grün zu bleiben, so
übertragen wir die situative Empfindung des Lagerns, Ruhens und Träumens
auf der Wiese aber auch die Erfahrung vegetabiler Lebensenergie auf die
Farbe Grün. Ebenso entwickeln Kinder aus dem Gefühl der Angst während
eines Gewitters oder auch dem Unbehagen bei Dunkelheit eine bedrückende
Empfindung gegenüber der Farbe Schwarz
2
.
3.1.3. Das Geheimnis des Duktus
Noch bevor wir schreiben und sprechen lernen beginnen wir erstmals mit
Stift, Kreide, Pinsel oder auch mit den Fingern zu experimentieren, um Farbe
selbst Gestalt zu geben. Wie bereits in den Anfängen der
Menschheitsgeschichte so nutzen auch heranwachsende Kinder die ersten
Kritzeleien als Vorübung zur Schrift
3
. Außerdem erwerben wir in diesem
1
Goethe von, Johann Wolfgang (1791) Beiträge zur Optik, erstes Stück, Weimar, Verlag des
Industrie-Comptoirs, § 1 der Einleitung, zitiert aus: Matthaei, Rupprecht (1971) Goethes Farbenlehre,
Ravensburg, Buchverlag Otto Maier GmbH, S. 14.
2
Riedel, Ingrid (1987) Farben: In Religion, Gesellschaft, Kunst und Psychotherapie, 6. Auflage,
Stuttgart, Kreuz Verlag, S. 14ff (im folgenden zitiert als ,,Farben").
3
So auch Kirchberger, TH. (1907) Anfänge der Kunst und der Schrift, in: Popp, H. (Hrsg.) Führer zur
Kunst, Band 10, Esslingen, Paul Neff Verlag (Max Schreiber), S. 33 (im folgenden zitiert als ,,Anfänge
der Kunst und Schrift"), und Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur,
ungekürzte Sonderausgabe, I. Bd., München, C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, S. 2 (im

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
12
Stadium wichtige weitere grundlegende Gestaltungserfahrungen neben
Farbe und Form. Das Erlebnis selbst einen Pinsel zu führen gibt Einblicke in
die Beziehung zwischen Pinselbewegung und Pinselduktus. Wir lernen so,
vom später betrachteten Duktus den Rückschluss auf dessen
Entstehungssituation zu schließen. Die großzügige Bewegung, in der ein
impulsiver Künstler mit viel Farbe und rauhem Pinsel der Leinwand zuleibe
rückt, empfinden wir intuitiv ebenso stark, wie die kauernde Haltung dessen,
der dicht über das Papier gebeugt, zeichnerische Präzisionsarbeit geleistet.
Auch gegenüber dem ungeübten Betrachter kann der Duktus die Umstände
seiner Entstehung daher selten leugnen.
3.1.4. Geometrie der Natur
Wachstum und Formgebung in der Natur folgen bestimmten mathematischen
Verhältnissen, die der Mensch längst erkannt und sich über abstrakte
Formeln zugänglich gemacht hat.
Wenn wir jedoch über Komposition in der Gestaltung sprechen, über das
Empfinden von Verhältnissen und Missverhältnissen, von Größen und
Längen, so spielt das naturgegebene Regelwerk der harmonischen
Verhältnisse nicht nur eine einmalig lehrende sondern eine ständig
trainierende Rolle. Die Gestaltverhältnisse der Natur haben wir Tag für Tag
von klein auf vor Augen. Bestes Beispiel hierfür ist unser eigener Körper. Er
demonstriert festgelegte Proportionen und Größenrelationen, die wir als
harmonisch empfinden. Auch Äste, Blattfasern und Gefäße folgen einem
genetisch festgelegten Programm, das Längen- und Größenwachstum in
harmonischem Gleichgewicht hält, ebenso wie sie dem Gesetz der
gleichmäßigen Verjüngung folgen.
Diese Erfahrungen prägen und schulen unsere Sehgewohnheiten. Wir
erwarten unbewusst überall diese gewohnten Verhältnisse vorzufinden.
Verhalten sich Flächen, Größen, Längen aufgrund von menschlichen
Eingriffen oder Anomalien anders, empfinden wir es, auch ohne Kenntnis von
folgenden zitiert als ,,Sozialgeschichte der Kunst und Literatur") ­ Über die Vergleichbarkeit der
Menschheitsgeschichte im Ganzen mit den Entwicklungsstadien von Kindern.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
13
Kompositionsregeln, als seltsam, als nicht stimmig, ohne sagen zu können
woran genau es liegen mag.
So setzt Henry Moore bei der Komposition seiner ,,Liegenden" auf die
Fähigkeit des Betrachtes, Harmonie und Spannung zweier im Raum
zueinander in Beziehung stehender Objekte nachzuempfinden und diese
intuitiv als Einheit wahrzunehmen. Er teilt seine Figuren in zwei
eigenständige Plastiken von höchstem Ausdruck und gestalterischer Qualität.
Doch erst um die jeweils andere im richtigen Verhältnis von Raum und
Objekt ergänzt, entwickelt die Plastik ihre vollkommene Harmonie. Moore
selbst begründet dies so:
,,Wenn eine einzelne Figur aufgeteilt wird, ist der Raum zwischen ihren
Bestandteilen kein Leerraum, sondern ein fehlender Teil, der in der
Phantasie ausgefüllt werden muss
1
."
Würde man also den durch Proportionen und Größenverhältnisse genau
festgelegten Abstand zwischen den beiden Einzelobjekten auch nur minimal
variieren, so würde er für den Betrachter zum Leerraum, da das intuitive
Gastaltempfinden es nicht mehr zuließe,
ihn als Teil der Gesamtfigur
wahrzunehmen.
3.1.5. Klassische Konditionierung in der Werbung
Neben der Kunst setzt heute auch die Werbung auf das intuitive
Gestaltempfinden der Rezipienten, um deren Aufmerksamkeit zu erlangen.
Das Grundempfinden für die Entstehung des Duktus zum Beispiel, nutzen
moderne Grafikdesigner, um über expressive Wischer und Störer Dynamik
1
Moore, Henry (1977) Complete Sculpture, Bd. 4, o.O., S. 9, zitiert aus: Allemand-Cosneau, Claude
(Hrsg.) u.a. (1996) Henry Moore: Ursprung und Vollendung: Gipsplastiken, Skulpturen in Holz und
Stein, München, Prestel-Verlag, S. 165.
Abb.1: Two Piece Reclining Figure: Armless (1975) Gips mit
Oberflächentönung, 61 cm lang, The Henry Moore
Foundation, Geschenk des Künstlers 1977.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
14
und Kraft zu vermitteln. Die Berücksichtigung kompositorischer Regeln
dagegen scheint nicht nur nutzbringend sonder geradezu unverzichtbar in
der Werbegestaltung, um den Blick des flüchtigen Betrachters zu halten.
Über Farbe und Form wiederum sollen Situationen und damit Empfindungen
assoziiert werden. Die wenigsten Rezipienten sind sich dabei dieser
Vorgänge bewusst. Man hofft außerdem, dass die Sinneswahrnehmung der
Produktdarbietung vom Rezipienten langfristig in den Kanon der bereits
erlernten Einzelkomponenten der dargestellten Situation aufgenommen wird
und sich somit die situationsspezifischen Empfindungen auch auf das
Produkt übertragen
1
. Die Psychologie weiß schon lange, dass sich der
Lernmechanismus der Kombination von Sinneswahrnehmung und
nachfolgender Empfindung lenken lässt. Sie beschreibt dies unter dem
Stichwort der Konditionierung.
Bei der klassischen Konditionierung handelt es sich um eine experimentelle
Prozedur, bei der wiederholt vor einem sogenannten unkonditionierten Reiz,
der eine unkonditionierte Reaktion auslöst, ein neutraler Reiz dargeboten
wird, der nachweisbar vor dem Experiment keine derartige Reaktion auslöst.
Nach wiederholter Darbietung des neutralen Reizes kurz vor dem
unkonditionierten Reiz kommt es bei einer alleinigen Darbietung des
neutralen Reizes plötzlich zu einer der unkonditionierten Reaktion ähnlichen
Verhaltensweise. Der ehemals neutrale Reiz ist nun zu einem konditionierten
Reiz geworden, der eine konditionierte Reaktion auslöst. Verständlich wird
dieser Vorgang am Versuchsbeispiel von Watson und Rayner (1920) mit
dem 9 Monate alten Albert
2
.
Bei Babys sind plötzliche laute Geräusche ein unkonditionierter Reiz für
Furchtreaktionen. Albert wurde nun mehrmals vor dem Ertönen eines lauten
Geräusches eine weiße Ratte gezeigt, mit der er zuvor, in Abwesenheit des
1
Vgl. auch Kapitel 5.5, Das Wesen der Manipulation, S. 118ff. ­ Zur Diskussion über Konditionierung
und Emotionalisierung in der Werbung. Laut Eva Heller ist die blinde Konditionierung des
Konsumenten, wie sie Kroeber-Riel zu beweisen glaubte, nicht möglich (Vgl. Heller, Eva (1988) Wie
Werbung wirkt, S. 55ff.).
2
Vgl. Bredenkamp, Jürgen und Wippich, Werner (1997) Lern- und Gedächtnispsychologie, Band 1,
Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer, S. 9 und 10.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
15
Geräusches, ohne Angstreaktion gespielt hatte. Nach mehrmaliger
Konfrontation mit dem Tier in Gegenwart des angsteinflößenden Geräusches
hatte die Ratte die Funktion eines konditionierten Reizes übernommen. Nun
genügte es, Albert nur die Ratte zu zeigen und er reagierte mit Abwendung,
Wimmern und Schreien. Albert hatte Angst vor einem Tier erworben, mit dem
er nie eine direkte negative Erfahrung gemacht hatte.
Übertragen auf die Konditionierung von Rezipienten durch die Werbung
bedeutet dies, die dargestellte oder durch Farbe und Form assoziierte
Situation entspricht dem unkonditionierten Reiz, die damit verbundenen
meist positiven Empfindungen der unkonditionierten Reaktion. Wird nun
immer und immer wieder in Zusammenhang mit der als angenehm
empfundenen Situation ein bestimmtes Produkt dargestellt, so kann nach
ausreichend häufiger Wahrnehmung durch den Rezipienten plötzlich die
alleinige Präsenz des entsprechenden Produktes die selben positiven
Empfindungen hervorrufen wie zuvor die assoziierte Situation. Die
Produktdarbietung ist so zum konditionierten Reiz geworden.
3.1.6. Kulturelle
Abhängigkeiten
Die oben angedachten Zusammenhänge zwischen kindlichem Lernen und
intuitivem Gestaltempfinden verlangen jedoch nach der Klärung zweier
weiterer Fragen: In wie weit ist das so erworbene Grundempfinden
kulturunabhängig und gibt es neben den als Kind erworbenen Erfahrungen
eine Art evolutionär gewachsenes, kollektives Gattungsgedächtnis, das die
menschlichen Erfahrungen bezüglich Form, Farbe und Gestalt seit
Jahrtausenden verinnerlicht und das jedem Individuum von Geburt an
innewohnt?
Die Frage nach der kulturellen Unabhängigkeit von Farb- und
Formempfindungen lässt sich recht einfach klären. Die kindlichen
Grunderfahrungen wie der Schmerz einer Verletzung durch eine spitze Form
oder das ungute Gefühl während eines nächtlichen Unwetters dürften in allen
Kulturen ähnlich sein. Weitreichendere Interpretationen von Farbe und Form,

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
16
die in religiöse Symbolik und rituelle Bezüge hineinreichen sind dagegen
stark durch Kultur und Erziehung geprägt
1
.
3.1.7. Philosophische
Betrachtung
Die Frage nach einem verbindenden Gattungsgedächtnisses ist eher
philosophischer Natur und fußt auf dem Gedankenexperiment, einem jungen
Menschen die oben beschriebenen Gestalterfahrungen zu verweigern.
Würde dieser trotzdem die Sprache von Form, Farbe und
Harmonieverhältnissen verstehen können? In der Frühgeschichte der
Menschheit war es unverzichtbar, Farben und Formen, vor allem auch in
Form von Gebärden, richtig zu interpretieren, um überleben zu können. Ist
dieses Wissen evolutionär überliefert zum Beispiel in Form von Instinkten?
Diese Frage wird niemals naturwissenschaftlich fundiert zu klären sein und
dennoch denke ich, dass es sich lohnt, über die Existenz einer Platon'schen
Uridee von Gestaltinterpretation nachzudenken.
Platon teilt die Welt in das Reich der Wahrnehmung und das Reich der
Ideen. Das Reich der Wahrnehmung kann auch Sinnenwelt genannt werden.
Über diese Welt können keine allgemeingültigen Aussagen gemacht werden,
da sie von uns mit unseren fünf Sinnen wahrgenommen wird. Diese
Aussagen können auch nicht allgemeingültig sein, da die Dinge, die
beschrieben werden, sich ständig verändern. Platon nannte diesen Prozess
fließen. Alles, was in der Sinnenwelt existiert, besteht aus einem
vergänglichen Material, welches sich mit der Zeit auflöst. Im Gegensatz dazu
ist alles nach dem Muster einer Form gebildet, das zeitlos ist. Alle Pferde
können von uns als Pferde erkannt werden. Irgendwann wird das Pferd alt
und lahm, aber es ist trotzdem noch als Pferd erkennbar. Dann stirbt es, aber
die Pferdeform ist unvergänglich.
Diese Urform ist also ein abstraktes, geistiges Musterbild, das, laut Platon, in
einer Wirklichkeit hinter der Sinnenwelt besteht. Diese Wirklichkeit nannte
Platon das Reich der Ideen. Da man das Reich der Wahrnehmung mit Hilfe
der Sinne erreichen kann, kann man dort nur zu wahren Meinungen über
1
Riedel, Ingrid (1987) Farben, S. 14ff.

Gestalt ­ Grundempfindung des Menschen?
17
etwas gelangen. Über das Reich der Ideen kann man sicheres Wissen
erlangen, allerdings nur, wenn man die Vernunft benutzt. Die Ideenwelt lässt
sich also nur mit dem Verstand, nicht aber mit den Sinnen erkennen. Die
Ideen sind ewig, unteilbar und unveränderlich und existieren unabhängig von
wahrnehmbaren Dingen. Also wird die Urform des Pferdes auch dann
bestehen, wenn das Pferd tot ist. Die Ideen entstehen also weder, noch
vergehen sie, und deshalb kommt ihnen Wahrheit zu. Also existieren laut
Platon auch allgemeingültige Aussagen, zum Beispiel mathematische
Aussagen. So wird die Winkelsumme im Dreieck immer 180 Grad betragen.
Die wahrnehmbaren, vergänglichen Dinge können uns allerdings an die
Ideen, dessen Abbilder sie sind, erinnern. So legt Platon dar, dass man
durch relativ gleiche Dinge an die Idee der Gleichheit erinnert wird.
Vollständige Gleichheit ist in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren nicht
vorhanden. Ebenso ist das Gerechte, das Gute in der Welt der
Wahrnehmung nicht vorhanden. Es stellt aber ein Ideal dar, nach dem man
seine Handlungen ausrichten sollte. Es gibt immer gültige, objektive, ethische
Werte, die der Maßstab für die Beurteilung einzelner Handlungen ist. Die
Kenntnis der Idee des Guten ist nach Platon eine notwendige Bedingung für
moralisches Handeln. Mit Hilfe der Ideen können auch Eigenschaften der
sinnlich wahrnehmbaren Dinge erklärt werden. So wird etwas schön genannt,
wenn es an der Idee des Schönen teilhat, die selbst schön ist
1
.
In Bezug auf Gestaltinterpretation würde dies bedeuten, wir erkennen und
interpretieren sinnlich wahrgenommene Gestalt intuitiv richtig, da sie uns
unbewusst an die Idee der Urgestalt aus dem Reich der Ideen erinnert.
1
So auch Leuschner, Nora (2001) Über Platos Ideenlehre, Münster, in: Forum www.subfrequenz.net.
Allerdings zieht Platon aus seiner Ideenlehre vernichtende Schlüsse die Kunst betreffend. So ist zum
Beispiel eine schöne Blume eine Kopie oder Nachbildung der universellen Ideen ,,Blume" und
,,Schönheit". Die physische Blume liegt demnach bereits eine Stufe unter der Wirklichkeit der Idee.
Das künstlerische Abbild einer Blume liegt erneut eine Stufen tiefer, was bedeutet, dass der Künstler
tatsächlich zwei Stufen von der Erkenntnis entfernt ist. Aufgrund dieser Überzeugung kritisiert Platon,
die Künstler besäßen keine wahre Erkenntnis bezüglich ihrer Tätigkeit und bemerkt, das künstlerische
Schaffen sei offenbar in einer Art wahnhafter Eingebung verwurzelt (Vgl. Fritzsche, H.-J (2001) Platon
und die Kunst: Eine Art wahnhafte Eingebung, o.O., in: Forum www.subfrequenz.net).

Kunsthandwerk
18
3.2. Kunsthandwerk
Die frühe Kunst des Menschen, seine Wandmalereien, seine Schmuckkultur,
die Fetische und Idole der Naturvölker sowie auch später die in Perfektion
ausgeführten Verzierungen an Alltagsgegenständen der frühen Hochkulturen
Ägyptens und Griechenlands basieren in erster Linie auf dem
handwerklichen Können ihrer Meister. Kunst war zu Beginn im eigentlichen
Sinne Kunsthandwerk und Künstler bzw. Kunstschaffende zählten bis ins
Mittelalter zum Stand der Handwerker. Auch heute steht außer Frage, dass,
nicht nur in den klassischen Bereichen der Bildenden Kunst, ein gewisses
handwerkliches Können und die Beherrschung gestalterischer Mittel
unabdingbar sind.
1
Die 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründete Werkschule ,,Bauhaus"
setzte sich, knapp 650 Jahre nachdem die ersten Künstler der Renaissance
gewagt hatten, ihren Bildern in schöpferischer Freiheit einen Selbstzweck zu
verleihen und somit die Loslösung der Kunst von der rein handwerklichen
Auftragsarbeit einleiteten
2
, die (Wieder-)Zusammenführung von Kunst und
Handwerk zum Ziel.
Begründet lag diese Forderung in den zuvor gescheiterten Versuchen der
Expressionisten mittels emotionsgeladener, subjektiver Kunst den ,,neuen
Menschen" zu schaffen
3
. Gropius schrieb damals im Manifest und Programm
des staatlichen Bauhauses Weimar:
"Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau. (...) Architekten,
Bildhauer, Maler, wir müssen zum Handwerk zurück. (...) Es gibt keinen
1
Ausnahme hierbei bildet die in den siebziger Jahren in Abgrenzung zur schrillen Pop Art
aufkeimende Ausdrucksform der Konzeptkunst, bei der dem Publikum lediglich in schriftlicher Form
die Idee für ein Kunstwerk bereitgestellt wurde. Das Werk selbst wurde vom Künstler oftmals gar nicht
mehr ausgeführt (So auch Krauße, Anna-Carola (1995) Geschichte der Malerei: Von der Renaissance
bis heute, Köln, Könemann Verlagsgesellschaft mbH, S. 117 (im folgenden zitiert als ,,Geschichte der
Malerei")).
2
Vgl. auch Kapitel 3.3.1, Renaissance ­ Die Entdeckung des Menschen, S. 39 ­ Über das neue
Selbstbewusstsein der Künstler.
3
Vgl. auch Kapitel 3.4.3, Historischer Ausblick ­ Erneute Divergenz zwischen Kunst und Werbung,
S. 57 ­ Über die Vision der Expressionisten.

Kunsthandwerk
19
Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker, der
Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. (...) Die Grundlage des
Werkmäßigen ist aber unerlässlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des
schöpferischen Gestaltens
1
."
Dem entsprechend beschäftigte sich auch der Unterrichtsplan am Bauhaus
mit den elementaren Bereichen der Gestaltungs- und Formenlehre zu denen
neben Raum-, Farb- und Kompositionsmittel auch Naturstudium,
Konstruktions-, Material- und Werkzeuglehre zählten. Die ersten Erfahrungen
des Menschen mit Handwerk und Kunsthandwerk reichen jedoch bis ins
Zeitalter des Paläolithikums (ältere Steinzeit) zurück
2
.
Sie waren wegweisend
für die Entwicklung erster Kulturen.
3.2.1. Die Kinderstube der Kunst ­ Malerei als Wegbereiter der Schrift
Eine der wohl ältesten, kulturell ausgereiften Schriften ist das System
ägyptischer Hieroglyphen, dessen Ursprung sich bis 3000 vor Christus in die
Zeit der ersten Dynastie zurückverfolgen lässt
3
. Unzählige Inschriften auf
Tafeln und Särgen, Obelisken und Statuetten befinden sich heute in unseren
Museen als Zeugnis der Hochkultur Ägyptens. Sie machten den
Bildcharakter der Hieroglyphen der ganzen Welt bekannt. Hier wird
offensichtlich, dass das Bild Ursprung dieser und aller anderen uns heute
bekannten Alphabete oder allgemein der Schrift gewesen sein muss. Aber
was veranlasste den frühen Menschen die Verwendung von Farbe zu
perfektionieren und seine handwerklichen Fertigkeiten dahin zu trainieren,
dass er Höhlenwände bemalte und Zeichen in Stein meißelte? Was also war
die Intension der ersten Malereien und des ersten Kunsthandwerks?
Wagen wir den Schritt zurück in die Zeit, in der Evolutionstheoretiker und
Archäologen den Ursprung des ersten menschlichen Entwicklungszweiges
1
Gropius, Walter (1919) Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses Weimar, Weimar, zitiert
bei: Itten, Johannes (1975) Gestaltungs- und Formenlehre: Mein Vorkurs am Bauhaus und später,
neubearbeitete Auflage von Anneliese Itten, Ravensburg, Otto Maier Verlag, S. 6.
2
Vgl. Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 1ff.
3
So auch Andrews, Carol (1985) Der Stein von Rosette, 7. Abdruck, London, Verlag British Museum
Press, S.12.

Kunsthandwerk
20
vermuten; ca. 4,5 Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung. Über den
lokalen Ursprung des Menschen in dieser Zeit und dessen Verbreitung über
die Kontinente gibt es unzählige verschiedene Theorien. Die wohl populärste
Ansicht erkennt Afrika als Wiege der Menschheit an
1
. Von dort aus sollen die
Nachfahren des ,,Australopithecus africanus" nach und nach die ganze Welt
bevölkert haben bevor schließlich, sehr viel später ab 200 000 vor Christus,
Parallelentwicklungen verschiedener Stämme und Kulturen des ,,Homo
sapiens" einsetzten
2
. Demnach hätten alle Völker dieser Erde gemeinsame
Vorfahren. Den Gegenpol hierzu bildet eine zweite viel diskutierte Theorie,
die die Annahme einer autarken Stammesentwicklung auf den einzelnen
Kontinenten, zwar unter ähnlichen Bedingungen jedoch in Abstammung von
jeweils eigenen unabhängigen Vorfahren, vertritt. Indizien gegen diese
Ansicht häufen sich jedoch zunehmend und erhärten die Vermutungen eines
gemeinsamen Ursprungs aller Völker.
Gehen wir also davon aus, dass der Mensch seinen aufrechten Gang
tatsächlich in der Steppe Afrikas erlernt hat, so scheint es relativ leicht die
Beweggründe für den ersten Umgang mit Farbe aus den dort herrschenden
Naturbegebenheiten abzuleiten. Kirchberger formulierte dies bereits im Jahre
1907 ebenso simpel wie einleuchtend:
"Es ist nicht so schwer sich vorzustellen, wie der Wilde dazu kommt, sich
den Körper zu bemalen. Beinahe alle Tiere in seiner Umgebung sind zwei-
oder mehrfarbig. Er allein ist einfarbig. Warum soll er nicht auch versuchen
durch aufgemalte Farben den Weibern zu gefallen
3
?"
Der Mensch kopiert also die Kommunikationsmethoden der Natur. Farben
sollen das Werben um ein Weibchen zum Erfolg führen. Somit kommt den
Farben und dem damit verbundenen, bereits im Kapitel 3.1.2 angeführten
1
So auch Darwin, Charles (1871) The Descent of Man, o.O., zitiert aus: Simon & Schuster u.a. (2002)
www.brainchannels.com/evolution/overview.html.
"In 1871, Charles Darwin presented the first theory of human evolution in his book, The Descent of
Man. He suggested that humans and African apes were descended from a common ancestor."
2
So auch Simon & Schuster u.a. (2002) www.brainchannels.com/evolution/mapaustralopithe.html.
3
Kirchberger, TH. (1907) Anfänge der Kunst und der Schrift, S. 2.

Kunsthandwerk
21
situativen Farbempfinden des Menschen
1
, eine große Bedeutung als
Kommunikationsmittel zu. Für den frühen Menschen ist es unerlässlich,
neben dem eigenen Balzverhalten, auch die Signale seiner Umgebung richtig
zu deuten. Besonders bunte, grell gefärbte Tiere verleihen der von ihnen
ausgehenden Gefahr Ausdruck, Pflanzen und Früchte mit appetitlichen,
saftigen Lockfarben dagegen bedeuten Nahrung und damit Überleben. Die
Vermutung liegt also nahe, dass die Nachahmung der Natur tatsächlich den
ersten Schritt zur Farbverwendung einleitete und sich so nach und nach
Riten und Kulte rund um die Bedeutung der Farben entwickeln konnten. In
wie weit rein ästhetische Motive dabei eine Rolle spielten, lässt sich nur
schwer sagen. Als sicher gilt jedoch die mythische, soziale und sexuelle
Bedeutung der frühen Körperbemalung
2
.
Die im weiteren Verlauf angeführten Betrachtungen werden sich nun auch
vermehrt auf Zeugnisse vergangener und die Lebensweise und Riten heute
noch existierender, sich autark entwickelnder Naturvölker stützen, um daraus
Rückschlüsse auf Motivation und Intension des frühen Menschen bezüglich
seiner ersten handwerklichen und kunsthandwerklichen Aktivitäten zu
ziehen. Diese Vorgehensweise beruft sich auf die Hypothese, jede Kultur
durchlaufe während ihrer Entwicklung gleiche oder ähnliche Stadien. Somit
ließen sich Erkenntnisse über Bräuche und Sitten der bis heute in ihrer
Entwicklung unbeeinflussten Naturvölker bis zu einem gewissen Grad auf die
Entwicklung früherer Kulturen und die Anfänge der Menschheit übertragen
3
.
Eine Weiterentwicklung der Bemalung als Körperschmuck ist das Totem.
Hierbei tritt zur Bedeutung der Farbe die Dimension der figurativen Form
hinzu. Die Haidaindianer der Nordwestküste Nordamerikas schmücken sich
noch heute mit tätowierten Totemmotiven, die durch gekonnte Stilisierung
und ein bereits abstraktes Formvokabular bestechen. Diese Menschen
glauben an die fabelhafte Abstammung von einem bestimmten Tier, das sie
als ihren Schutzgott verehren, und dessen Abbild sie als Totem oder
1
Vgl. auch Kapitel 3.1.2, Situative Farbempfindung, S. 10 und 11.
2
Vgl. Kirchberger, TH. (1907) Anfänge der Kunst und der Schrift, S. 4.
3
So auch ebd. S. 5, und Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 2.

Kunsthandwerk
22
Familienwappen auf der Brust tragen. Außerdem schnitzen die sesshaften
Haidaindianer Totempfosten, die in Symbolen und Tierdarstellungen die
Familienchronik wiedergeben. Kommt also ein wandernder Indianer in ein
fremdes Dorf, so kann er bereits am Totempfosten erkennen, ob er hier
Familienangehörige besitzt, mit deren Gastfreundschaft er rechnen kann
1
.
Die Darstellung des Totem erfüllt also ebenfalls eine wichtige kommunikative
Aufgabe. Die Wurzel des Totemismus liegt in der in Kapitel 3.1.1
beschriebenen kindlichen Logik der Kombination verschiedener
Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen mit einem Objekt, hier dem Tier,
begründet
2
. So kommt zum Beispiel in der Mythologie der Haidaindianer der
Tabak aus der Gegend des Wickelbären, also muss er von diesem stammen.
Die Tiere gelten als die ursprünglichen Herren und Besitzer aller irdischen
Güter von denen der Mensch profitiert und abhängt
3
. Auf diese Weise
entstehen tierähnliche Gottheiten und entsprechende Kulte, die, ebenso wie
die gekonnt stilisierte Formsprache, bestätigen, dass dieses Naturvolk,
gegenüber den Jagdvölkern, bereits auf einer höher entwickelten Stufe steht.
Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft steht, anders als man eventuell
zunächst vermuten würde, in der Entwicklungshierarchie die vereinfachte,
stilisierte Darstellungsform über dem naturalistischen Abbild
4
. Sie ist somit
nicht Resultat handwerklichen Unvermögens, sondern eine große ,,geistige"
Leistung, die einen ausgeprägten Sinn für das Wesentliche voraussetzt. Erst
in der jüngeren Kunsthistorie, zu Zeiten der Renaissance
5
, sollte die
Fertigkeit naturalistischer Darstellung erneut als erstrebenswert gelten.
Evolutionstheoretisch schreibt man das Bestreben nach möglichst
naturgetreuen Darstellungen den jagenden Völkern zu, die gegenüber den
sesshaften Stämmen auf einer untergeordneten Entwicklungsstufe stehen.
Man hat neben dem Schmuck des eigenen Körpers unzählige bildliche
1
Vgl. ebd. S. 4 und 5.
2
Vgl. auch Kapitel 3.1.1, Frühe Material- und Formbegegnung, S. 5.
3
Vgl. Kirchberger, TH. (1907) Anfänge der Kunst und der Schrift, S. 6.
4
So auch Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 1ff.
5
Vgl. auch Kapitel 3.3.1, Renaissance ­ Die Entdeckung des Menschen und der Natur, S. 41ff.

Kunsthandwerk
23
Zeichnungen und Schnitzereien in Baumrinden, in Höhlen und Behausungen
jagender Naturvölker gefunden. Ganze Landschaften, Wasser, Tiere,
Menschen, Bäume sind deutlich zu erkennen. Die hierzu notwendigen
handwerklichen Fertigkeiten führt man auf die spezifischen
Überlebensbedingungen der Jäger und Sammler zurück. Ein scharfer Blick
und eine ruhige, sichere Hand im Umgang mit Werkzeugen und Waffen
waren unverzichtbar und wurden Tag für Tag trainiert.
Die Intension dieses Naturalismus wird im
Zusammenspiel von Zeckhandlung und Magie im
Alltag des frühen Menschen vermutet. So weisen
Funde von Höhlenmalereien aus der älteren
Steinzeit, deren Schöpfer nachweislich auf einer
noch vorgeschichtlichen kulturellen
Entwicklungsstufe standen, einen überraschend
naturalistischen und detailgetreuen Charakter auf.
Die Menschen dieser paläolithischen Epoche
fristeten ein unorganisiertes, primitiv-
individualistisches Hordendasein als Jäger, deren
Wohlergehen Tag für Tag erneut vom eigenen Jagderfolg abhing. Dennoch
brachten sie das Glück oder Unglück, das ihnen wiederfuhr, noch nicht mit
einer hinter den Geschehnissen stehenden, Glück oder Unglück
austeilenden Gewalt in Verbindung. Sie glaubten an keine Götter, kein
Jenseits und kein Dasein nach dem Tode. Alle ihre Zeichen waren Mittel
einer magischen Praxis, die nichts mit dem zu tun hatte, was wir heute unter
Religion verstehen, sondern ganz und gar auf unmittelbare wirtschaftliche
Ziele der Lebensfürsorge gerichtet war.
So glaubte der paläolithische Jäger durch das Bild Gewalt über das
Abgebildete zu gewinnen. Die Darstellung der Tötung eines Tieres war somit
keine symbolische Ersatzfunktion, sondern eine tatsächliche Zweckhandlung,
die, um zum Erfolg zu führen, möglichst exakt der natürlichen Erscheinung
entsprechen musste. Das gewünschte Ereignis, der Jagderfolg selbst, würde
sich dann anschließend automatisch einstellen.
Erst mit dem Übergang der älteren zur jüngeren Steinzeit vollzog sich eine
entscheidende Wendung in der Entwicklung der Menschheit, die die
Abb. 2: Australische
Rindenzeichnung

Kunsthandwerk
24
Loslösung vom paläolithischen Naturalismus und die Entstehung einer
neolithischen Stilisierung der Form bis hin zur ersten Ausbildung von Schrift
erforderte. Der ausschlaggebende revolutionäre Schritt bestand darin, dass
der Mensch, statt an den Gaben der Natur parasitisch zu zehren und seine
Lebensmittel zu sammeln oder zu erbeuten, diese nunmehr selbst erzeugte.
Es begann dadurch die Zeit einer organisierten Lebensfürsorge. Man lernte
zu wirtschaften, legte Vorräte an und bildete die Urform des Kapitals aus. Die
erste Differenzierung der Gesellschaft in Schichten und Klassen, in
Bevorrechtete und Minderberechtete setzte ein. Die Organisation der Arbeit
und die Teilung der Funktionen leiteten den Siegeszug des Menschen über
den Zufall ein. Gleichzeitig war man jedoch, zum Beispiel in Bezug auf den
Ackerbau, von den Launen der Natur weiterhin und in zunehmendem Maße
abhängig. Dadurch entstand die Vorstellung von allerlei wohlwollenden und
bösartigen Dämonen, die die vorreligiösen magischen Praktiken der
Jagdvölker ablösten. Die Kulturstufe des sogenannten Animismus, der
Geisterverehrung, des Seelenglaubens und des Totenkults war erreicht
1
.
Von nun an teilte sich die Welt in die Wirklichkeit der sichtbaren
Erscheinungswelt und in die Überwirklichkeit einer unsichtbaren Geisterwelt.
Hierin liegt die geistige Geburt der Stilisierung und Abstraktion. Eine
Abbildung, die laut Mythologie ihren Ursprung in der Überwirklichkeit hat oder
aber auf diese andere Welt Einfluss nehmen soll, kann nicht auf
naturalistischen Erscheinungen beruhen, sondern muss in ihrer Wirkung
durch die Reduzierung auf wesentliche Wesenszüge verstärkt werden. Ziel
war also nicht eine möglichst naturalistische, individuelle Darstellung zu
schaffen, sondern durch Verkürzung und Reduzierung der Form auf
charakteristische Merkmale ein allgemeingültiges Gedankenbild zu
erzeugen
2
.
Die so entstandenen Anfänge der Stilisierung und die zunehmende
Komplexität der sesshaften Lebensführung wurden schließlich zum
Grundstein der Schriftentstehung. Das planmäßige, vorausschauende,
verschiedene Eventualitäten einkalkulierende Wirtschaften, das an die Stelle
1
Vgl. Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 12.
2
Vgl. auch Kapitel 3.2.3, Frühes Produktdesign ­ Die Hochkultur Ägyptens, S. 34 ­ Zur Bedeutung
der Abstraktion für den Glauben der Ägypter an ein jenseitiges Leben.

Kunsthandwerk
25
der planlosen Raubwirtschaft getreten war
1
, verlangte mehr und mehr nach
einer schnellen, präzisen, von der gleichzeitigen Anwesenheit der
Dialogpartner unabhängigen Kommunikationsform. Die vereinfachte bildliche
Darstellung des Gegenstandes, über den etwas ausgesagt werden sollte,
wurde so zum Grundstein der Schriftentwicklung.
Auch heute noch erfahren wir die Vorteile dieses prähistorischen
Kommunikationsprinzips auf vielfältige Art und Weise. Nicht umsonst
verwenden Hotels und Gaststätten bildliche Kurzdarstellungen, sogenannte
Icons, um ihre Serviceleistungen zu kommunizieren und Chemiefabrikanten
signalisieren mit Hilfe stilisierter Totenschädel die Gefahr, die von ihren
Produkten ausgeht. An jedem Flughafen oder Bahnhof weisen uns
international verständliche Kurzzeichen den Weg zur Gepäckaufbewahrung,
zum nächsten Geldautomaten oder zum nahegelegenen Busbahnhof. Das
Bild ist somit die bisher einzige gemeinsame Sprache der Menschheit.
Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Kommunikation ist und war
jedoch die Eindeutigkeit der Form oder des Symbols.
In der modernen Marktkommunikation findet sich der Grundsatz der
Eindeutigkeit der Form in Firmen- und Markenlogos und deren Anspruch auf
Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, wieder. Eines der jüngsten
werblichen Beispiele, die Kampagne der Käsemarke ,,Saint-Albray", geht
sogar noch weiter und unterwirft selbst die Produktform den stilistisch
strengen Gestaltregeln eines Icons. Das Käserad besitzt eine
charakteristische, blumenähnliche Umrissform, die dessen Einzigartigkeit in
Qualität und Geschmack unterstreichen soll (Abb. 37). Des weiteren hilft der
dazugehörige, sehr anschaulich formulierte Claim, ,,Der mit den runden
Ecken", die Produktform in der Erinnerung des Rezipienten zum Symbol für
die Produkteigenschaften werden zu lassen.
Bezogen auf die Weiterentwicklung der Schrift führt die Steigerung der
Verkürzung und Stilisierung über Generationen hinweg schließlich zu einer
neuen Gattung von Zeichen, deren Bedeutung sich nun statt auf ein ganzes
Wort bzw. einen Gegenstand (Ideogramm), nur noch auf eine Silbe bezieht,
1
Vgl. Hauser, Arnold (1990) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 11.

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die auch in anderen Worten Verwendung finden kann (Phonogramm). Nun ist
es möglich neben realen Objekten auch immaterielle Begriffe wie zum
Beispiel Namen darzustellen. Ein interessantes Beispiel für diesen Übergang
vom Ideogramm zum Phonogramm findet sich in der mexikanischen
Bilderschrift.
Der Name des vierten Herrschers von Mexiko war Itz-coatl, was auf deutsch
so viel wie Messer-Schlange bedeutet. In einem frühen Codex wird dieser
Name durch das einfache Piktogramm einer mit spitzen Messern besetzten
Schlange beschrieben. In einem späteren Codex aber ist der Name
desselben Königs teilweise phonografisch dargestellt. Dabei entspricht die
Silbe ,,itz" wieder, wie zuvor, der Darstellung des Messers, der zweite Teil
jedoch beschreibt nicht mehr die Schlange, sondern ein kombiniertes
Zeichen, das einen ähnlich lautenden Namen trägt. Der Topf, mexikanisch
,,co", mit der Darstellung des Wassers, mexikanisch ,,atl" bilden so den Laut
für Schlange
1
.
Durch die Übernahme, Kombination und Weiterentwicklung der frühen
phonografischen Schriftsysteme in unterschiedlichen Kulturen entstanden
schließlich die heute verwendeten Alphabete. Die zum Schreiben
verwendeten Materialien hatten dabei großen Einfluss auf die formale
Entwicklung der Buchstaben. Durch den
Übergang von Stein zu Papyrus als
Schreibmaterial wurde das Schreiben
einfacher, die Buchstaben dadurch
runder und die Schrift somit fließender.
1
Vgl. Kirchberger, TH. (1907) Anfänge der Kunst und der Schrift, S. 16.
Abb. 3: Verschiedene mexikanische
Schreibweisen des Namens Itz-coatl,
wörtlich Messerschlange.
Abb. 4: Die Entwicklung des
Bildes der Eule (Mulak) zum
Silbenzeichen.

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Sie verlor ihren ornamentalen, dekorativen Charakter und ihren Status als
aufwendiges Handwerk für besondere Anlässe. Statt dessen wuchs mit der
größeren Leichtigkeit des Schreibens auch das Bedürfnis schriftlicher
Äußerungen. Nach und nach ließ man aus, was nicht zur Charakterisierung
des Buchstabens absolut nötig war, so dass sich schließlich leicht
einprägsame und flüssig zu schreibende Buchstaben etablierten
1
.
Obwohl das Bild nun, nach der Abspaltung der Schriftentwicklung, seine
Aufgabe als Wurzel der schriftlichen Kommunikation erfüllt hatte, und man
nun in der Lage war, sich detailliert auszudrücken, starb die bildliche
Darstellung jedoch nicht aus, sondern entwickelte sich parallel zur Schrift
weiter. Es muss also neben rein kommunikativen Belangen doch eine
weitere Motivation gegeben haben, die dem Abbild der Form, eine
Daseinsberechtigung schuf.
Ein erster erklärender Hinweis darauf wurde bereits in einem der vorigen
Abschnitte gegeben
2
. Dort war die Rede von der Universalbedeutung des
Bildes unabhängig von Sprache und Schrift. Diese garantiert Verständnis
unabhängig von Bildung und über die Grenzen des eigenen Volkes, des
eigenen Kulturkreises hinaus. Das Bild eignete sich somit sehr viel besser als
Wort und Schrift, um übergeordnete, weitreichende und bedeutende Inhalte,
wie Machtdemonstration oder Religiosität, auszudrücken. Mit fortschreitender
kultureller Entwicklung und zunehmender Komplexität der religiösen Lehren
entstanden so Fetische und Idole, Götterbilder und -statuen, Kostüme und
Masken in vielfältigsten Formen, ausdrucksvoll und formal so gekonnt
stilisiert, dass sie für uns geradezu modern wirken, und die großen Meister
des Kubismus und der modernen Plastik, wie Pablo Picasso und Henry
Moore, sie als vollkommen verehrten und sich ihrer als Vorbilder bedienten.
3
1
So auch ebd. S. 22 und 23.
2
Vgl. auch Kapitel 3.2.1, Die Kinderstube der Kunst ­ Malerei als Wegbereiter der Schrift, S. 25 ­
Über die Universalbedeutung des Bildes.
3
Vgl. auch Kapitel 3.4.3, Historischer Ausblick ­ Erneute Divergenz zwischen Kunst und Werbung,
S. 66 ­ Über Picassos Zertrümmerung der Form.

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Eine besondere Stellung innerhalb dieser, heute als naive Kunst
1
bezeichneten Figuren und Plastiken, nehmen die auf den griechischen
Cycladeninseln gefundenen prähistorischen Marmoridole ein. Mit ihrem
Geheimnis beschäftigt sich das nun folgende Kapitel.
3.2.2. Cycladenidole ­ Unvermögen oder bewusstes Formempfinden?
Als vor über hundert Jahren die ersten Forscher begannen, die mehr als 30
kleinen Inseln vor der Ostküste Griechenlands im Herzen der Ägäis zu
ergründen, stießen sie auf ebenso fantastische wie rätselhafte Zeugen einer
prähistorischen Gesellschaft.
Vor allem in Gräbern fand man unzählige, meist nicht größer als 60 cm
gefertigte Marmorfiguren, die besonders durch ihre in unserem heutigen
Sinne abstrakt-moderne Formsprache beeindruckten. Diese Cycladenidole,
benannt nach ihrem Fundort, den Cycladen- oder auch Marmorinseln, gaben
und geben bis heute der Wissenschaft große Rätsel auf.
Was aber unterscheidet diese Figuren von anderen prähistorischen und
primitiven Formdarstellungen?
In Gegensatz zu den furchterregenden Dämonenmasken und Fratzen der
Eingeborenen Afrikas, ebenso wie zu den Herrscheridolen und Götterstatuen
Ägyptens, ist die Thematik der Cycladenfiguren ausschließlich diesseitig
orientiert. Statt verherrlichender Machtdemonstration oder jenseitsbezogener
Götterverehrung schien es den Schöpfern der Cycladenidole wichtiger, den
diesseitigen Menschen in seiner natürlichen Schönheit darzustellen
2
.
So sind
die meisten der gefundenen Idole weiblichen Geschlechts in einer aufrechten
1
Der Begriff der ,,naiven" oder auch ,,primitiven" Kunst entstand Anfang des 20. Jahrhunderts, als die
ersten Künstler des Kubismus und Expressionismus bei ihrer Suche nach neuem Formvokabular auf
die archaisch anmutenden Masken Afrikas und die Plastiken der Südsee sowie der iberischen
Skulptur aufmerksam wurden (Vgl. Krauße, Anna-Carola (1995) Geschichte der Malerei, S. 92).
2
Die Bezeichnung der Figuren als ,,Idole" ist hier daher nur angebracht, wird sie in ihrer
Ursprünglichen Bedeutung als Ableitung des altgriechischen Begriffs ,,eidolon" verstanden, was nichts
anderes heißt als ,,Bild" oder ,,Abbild" (Vgl. Getz-Preziosi, Pat (1994) Early Cycladic Sculpture,
Revised Edition, Malibu/California, The J. Paul Getty Museum, S. 1 (im folgenden zitiert als "Early
Cycladic Sculpture")).

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Haltung mit vor der Körpermitte gefalteten Armen. Nicht wenige sind dabei
als Schwangere zu erkennen, und sogar Darstellungen von postnatalen
Hautfalten sind zu finden. Neben den weiblichen gibt es eine geringere
Anzahl männlicher Figuren, die meist nicht passiv stehend, sondern aktiv in
alltäglichen, gesellschaftlichen Rollen gezeigt werden. So sind neben den
berühmten Harfenspielern (Abb. 16) auch Flötisten und in Gruppen sitzende
Figuren gefunden worden. Hinweise auf Soldaten oder Jägerdarstellungen
gibt es nur wage. Lediglich der selten vorkommende Schultergurt mancher
Figuren könnte als Hinweis auf eine Waffe interpretiert werden. Kultisch oder
religiös anmutende Götterdarstellungen oder auch Herrscherstatuen hat man
nicht gefunden
1
.
Sollte dort also vor mehr als 5000 Jahren tatsächlich eine bereits
gesellschaftlich hoch entwickelte, diesseitig orientierte Kultur geherrscht
haben, die musische Genüsse heroischen Eroberungen und kriegerischem
Heldentum vorzog und die echtes Interesse an der Schönheit des
menschlichen Körpers und dessen fantastischer Natur empfand?
Wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht. Man weiß jedoch, dass die
ersten fremden Siedler erst um ca. 800 vor Christus die Inseln der Ägäis
erreichten
2
. Die zu diesem Zeitpunkt dort lebenden Völker hatten also zuvor
in ihrer Isolation weder Anlass sich gegen Eindringlinge und Feinde zur Wehr
zu setzten noch andere aus eigenem Antrieb anzugreifen. Ein solch
friedliches gesellschaftliches Klima ist die beste Voraussetzung für das
Gedeihen einer höher entwickelten Kultur. Die kurz darauf, um ca. 3000 vor
Christus in Kreta einsetzende Entwicklung der minoischen Hochkultur (Abb.
35), die sich, ebenfalls fernab politischer Wirren und kriegerischer
Auseinandersetzungen, durch Friedfertigkeit, Naturverbundenheit und Sinn
für weibliche Schönheit auszeichnete
3
, deutet bereits auf das später viel
gepriesene antike Schönheitsideal und die demokratische Geisteshaltung der
1
Vgl. Getz-Preziosi, Pat (1994) Early Cycladic Sculpture, S. 1ff.
2
So auch Andreas & Andreas (1990) Archäologie: Die großen Abenteuer und Entdeckungen,
Lizenzausgabe, Erlangen, Karl Müller Verlag, S. 311 (im folgenden zitiert als ,,Archäologie").
3
So auch Stützer, Herbert A. (1955) Die Kunst der griechischen Antike, München, Mandruck, S. 8-12
(im folgenden zitiert als ,,Griechische Antike").

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griechischen Antike hin
1
. Die Handwerker dieser ersten griechischen
Kulturen waren Meister im gestalterischen Umgang mit Marmor. Auf ihrem
Wissen und ihren Erfahrungen basiert der Erfolg der antiken griechischen
Plastik
2
.
Die Cycladenidole sind die ältesten und bisher einzigen prähistorischen
Funde, die eine beinahe lückenlose Nachempfindung einer gestalterischen
Entwicklung, von zunächst eher zufallsgesteuerten Ausformungen erster
plastischer Darstellungsversuche bis hin zu einer äußerst präzisen, für eine
ganze Region charakteristischen Formsprache, erlauben.
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1
Vgl. auch Kapitel 3.2.4, Historischer Ausblick ­ Die Antike Griechenlands und die
Machtdemonstration des mittelalterlichen Klerus, S. 37.
2
Vgl. Getz-Preziosi, Pat (1994) Early Cycladic Sculpture, S. 81.
Abb. 5: Zeittafel der Entwicklung
der Cycladenidole.

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Die wohl ältesten Funde datieren Archäologen auf ca. 4500 vor Christus. Die
Form wirkt hier noch unproportional und unnatürlich wulstig. Nach und nach
jedoch sammelte man Erfahrung im Umgang mit dem äußert schwierig zu
bearbeitenden Material Marmor. Marmor ist ungewöhnlich hart, er kann nur
subtraktiv geformt werden, und die hohe Steifigkeit lässt ihn sehr schnell
brechen. Umso ehrfürchtiger ist die Leistung der damaligen Bildhauer zu
bewerten, die mit einfachsten Werkzeugen der Bronzezeit und geübtem Blick
für Details Erstaunliches vollbrachten.
So hatten die frühen stehenden Frauenfiguren eine noch sehr unnatürliche
Armhaltung, bei der sich die Arme, stark verkürzt, vor der Brust schließen.
Hätte man die natürlichen Proportionen befolgt, so hätten Arme und Ellbogen
ein Dreieck gebildet, das über die Körperbreite hinaus Hohlräume
freigegeben hätte. Diese zu formen hätte eine enorme Steigerung der
Instabilität bedeutet. Da aber offensichtlich der Drang nach einer
Präzisierung der Proportionen vorhanden war, behalf man sich indem sich
die Arme von nun an nicht mehr trafen, sondern vor der Körpermitte
übereinander gefaltet lagen. Dadurch war es möglich geworden, sowohl
Ober- als auch Unterarme naturgetreu zu verlängern, ohne dass sich die
Oberarme vom Körper hätten lösen müssen
1
. Trotz der großen Gefahr des
Zerbrechens der Figur findet man ab und an jedoch den Versuch, die Beine
ganz oder teilweise zu trennen. Die wenigen aktiv dargestellten Figuren
zeigen dagegen, dass es für geübte Meister sehr wohl möglich war,
Hohlräume und Stege zu formen. Weshalb also hielt man an der stehenden,
geschlossenen Form fest?
Manche Stimmen führen hierfür neben der höheren Stabilität weitere, rein
praktische Argumente ins Feld. So sei es zum Beispiel einfacher gewesen für
die flache und relativ schmale Form passende Werkstücke zu finden. Bei
genauerer Betrachtung der Idole, auch aus verschiedenen Epochen, fällt
jedoch auf, dass hinter der Gestaltung stehender Figuren ein
durchgehendes, strenges Regelwerk bezüglich Proportionen und Winkel
steht. Dies ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer langen Tradition und einer
ausgeprägten Empfindung für harmonische Verhältnisse. Man geht davon
1
Vgl. ebd. S. 28 und 29.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832460297
ISBN (Paperback)
9783838660295
DOI
10.3239/9783832460297
Dateigröße
3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule der Medien Stuttgart – unbekannt
Erscheinungsdatum
2002 (November)
Note
1,5
Schlagworte
gestaltempfindung kunstgeschichte provokation postmoderne kommunikationspsychologie
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