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Die Bedeutung von Narrationen für die Pädagogik unter Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien

Ihre Möglichkeiten und Grenzen an Publikationen Neil Postman's dargestellt

©2000 Diplomarbeit 149 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In den politischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Debatten der letzten Jahre wird oft die Meinung vertreten, daß pädagogische Prozesse genauso steuerbar sind wie der Bau eines Autos. Pädagogisch gesteuerte Prozesse mit definierten Bildungszielen sind jedoch von vielen Einflüssen abhängig, die von Pädagogen nicht beeinflußt werden können. Dies gilt für die Schule ebenso wie für Personalentwicklungsmodelle, insbesondere aber auch für die Vorstellungen von Persönlichkeit und individueller Identität.
In dieser Arbeit wird zunächst umrissen, welche Bedeutung Narrationen haben und in welchen Formen sie vorkommen. Es stellt sich die Frage, ob verschiedene wissenschaftliche Erkenntnismodelle, die eine vermeintlich objektive Erkenntnis der Welt ermöglichen, nicht doch auf einer narrativen Grundlage beruhen, und die Welt erst durch Narrationen konstruiert wird. Kommunikation wäre damit die Basis einer spezifischen Realitätsgenerierung. Die Art der Wahrnehmung und der Interpretation von Realität ist damit abhängig von sozialen Prozessen.
Der Begriff des Prozesses deutet schon darauf hin, daß ein bestimmter Vorgang eine bestimmte Zeit braucht - und Narrationen Ereignisse zwischen zwei Zeitpunkten beschreiben (und ggf. bewerten). So ist nun zu untersuchen, welche Rolle der Zeitfaktor spielt.
Mit Kommunikation und Narrationen befaßt sich schwerpunktmäßig die Literaturwissenschaft. Anhand erzähltheoretischer Modelle wird nun definiert, was eine Narration ist. Auf dieser Basis werden die Zusammenhänge zwischen Narrationen und pädagogischem Handeln aufgezeigt. Auf Grundlage der hieraus gewonnenen Erkenntnisse wird an Beispielen von Neil Postman untersucht, inwieweit seine Vorschläge für eine „besser“ Pädagogik a) Narrationen und b) pädagogisch anwendbar sind.
Die Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß Pädagogen innerhalb einer narrativ gestalteten Wirklichkeit Erziehungs- und Bildungsprozesse nur begrenzt beeinflussen können.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
0Inhaltsverzeichnis1
1.Vorwort4
2.Einführung in das Thema „Was sind „Narrationen“?5
2.1Die Bedeutung der Narrationen im Alltag7
2.1.1Persönliche Erzählungen9
2.1.2Selbst-Erzählungen10
2.1.3Gesellschaftliche Erzählungen11
2.1.4Erzählungen in den Medien12
2.1.5Kommunikative Gattungen13
2.2Narrationen in der Geschichte der Pädagogik14
2.2.1Platon16
2.2.2G. Pico della Mirandola17
2.2.3Hermann Gmeiner18
2.3Anthropologie und Narrationen19
2.4Rhetorik und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5999
Dehn, Karl-Heinz: Die Bedeutung von Narrationen für die Pädagogik unter
Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien - Ihre Möglichkeiten und
Grenzen an Publikationen Neil Postman`s dargestellt
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Duisburg, Universität - Gesamthochschule, Diplomarbeit, 2000
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

0
Inhaltsverzeichnis:
S. 1
1
Vorwort
S. 4
2
Einführung in das Thema:
S. 5
Was sind ,,Narrationen"?
2.1
Die Bedeutung der Narrationen im Alltag
S. 7
2.1.1
Persönliche Erzählungen
S. 9
2.1.2
Selbst-Erzählungen
S. 10
2.1.3
Gesellschaftliche Erzählungen
S. 11
2.1.4
Erzählungen in den Medien
S. 12
2.1.5
Kommunikative Gattungen
S. 13
2.2
Narrationen in der Geschichte der Pädagogik
S. 14
2.2.1
Platon
S. 16
2.2.2
G. Pico della Mirandola
S. 17
2.2.3
Hermann Gmeiner
S. 18
2.3
Anthropologie und Narrationen
S. 19
2.4
Rhetorik und Narrationen
S. 22
2.5
Zusammenfassung des 2. Kapitels
S. 25
3
Die narrative Gestalt(ung) der
S. 26
Wirklichkeit
3.1
Erkenntnis in der Moderne
S. 27
3.1.1
Die Krise in den Sozialwissenschaften
S. 29
3.1.2
Sozialwissenschaft als Ideologie
S. 31
3.2
Alternative Paradigma für die
S. 32
Sozialwissenschaften
3.2.1
Das Menschenbild als Paradigma
S. 33
der Sozialwissenschaften
3.2.2
Der Mensch als individueller Konstrukteur
S. 35
seiner Wirklichkeit
3.2.3
Der Radikale Konstruktivismus in Thesen
S. 36
3.2.4
Die Grenzen des Radikalen Konstruktivismus
S. 37
3.2.5
Menschliche Wirklichkeit als sprach-
S. 38
lich-kulturelle Gestalt(ung)
3.2.5.1
Der Gedanke der Narrativität
S. 41
3.2.5.2
Zusammenfassung der Thesen zur sprachlich-
S. 43
kulturellen Gestalt(ung) der Wirklichkeit
3.3
Kommunikation als Realitätsgenerierung
S. 44
3.3.1
Narrationen und Gestalt(ung)
S. 46
3.3.2
Metaphern, Worte und Begriffe
S. 47
3.3.3
Konventionalisierung und De-Konventionali-
S. 48
sierung / Zentripetale - zentrifugale soziale
Prozesse
3.3.4
Konsequenzen für ein alternatives Wis-
S. 51
senschaftsverständnis
3.3.5
Zusammenfassung der Thesen zur Kom-
S. 53
munikation
3.4
Person und Identität
S. 54
3.4.1
Identitätserleben als Selbst-Narration
S. 56
1

3.4.2
Zusammenfassung der Thesen zur
S. 59
narrativen Identität
3.5
Aufbruch in die Postmoderne
S. 60
3.6
Zusammenfassung des 3. Kapitels
S. 63
4
Zeit und Erzählung
S. 65
4.1
Zeit und historische Erzählung
S. 66
4.2
Zeit und literarische Erzählung
S. 67
4.3
Die erzählte Zeit
S. 68
4.3.1
Narrative Identität
S. 69
4.3.2
Exkurs: Narrationen und Psychoanalyse
S. 70
4.4
Zusammenfassung des 4. Kapitels
S. 72
5
Literaturwissenschaftliche
S. 73
Erzähltheorien
5.1
Merkmale des Erzählens
S. 74
5.2
Das Erzählen und das Erzählte
S. 76
5.3
Darstellungsformen
S. 78
5.3.1
Erzählzeit und erzählte Zeiten
S. 79
5.3.2
Der Modus der Erzählung
S. 80
5.3.3
Der Akt des Erzählens (Stimme)
S. 81
5.3.4
Die Stellung des Erzählers zum Erzählten
S. 82
5.3.5
Subjekt und Adressat des Erzählens
S. 83
5.3.6
Unzuverlässiges Erzählen
S. 84
5.4
Handlung und erzählte Welt
S. 86
5.4.1
Ereignis - Geschehen - Geschichte
S. 87
5.4.2
Motivierung
S. 88
5.4.3
Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens
S. 90
5.4.4
Erzählte Welten
S. 91
5.5
Ereignisketten und Motivationsgefüge
S. 92
5.6
Zusammenfassung des 5. Kap
S. 93
6
Die Zusammenhänge von Narrationen
S. 94
und pädagogischen Zielvorstellungen
6.1
Narrative Entwürfe für pädagogisches
S. 96
Handeln
6.2
Narrative Beschreibungen für die Wirksam-
S. 98
keit pädagogischen Handelns
6.3
Narrationen in Erziehungs- und Unter-
S. 100
richtsprozessen
6.4
Die Rezeption von Narrationen
S. 103
6.5
Zusammenfassung des 6. Kapitels
S. 106
2

7
Die Notwendigkeit von Narra-
S. 107
tionen
7.1
NEIL POSTMANS ,,große Erzählungen"
S. 110
7.2
Das ,,Raumschiff Erde"
S. 114
7.2.1
Eine ,,Fabel" aus New York
S. 116
7.2.2
Überlegungen zur pädagogischen
S. 119
Anwendung I
7.3
Der ,,gefallene Engel"
S. 121
7.3.1
Kritisches Denken
S. 123
7.3.2
Überlegungen zur pädagogischen
S. 124
Anwendung II
7.4
Nicht alle Erzählungen sind Narra-
S. 125
tionen
7.5
Überlegungen zur pädagogischen
S. 128
Anwendung III
7.6
Zusammenfassung des 7. Kapitels
S. 131
8
Schlußfolgerungen:
S. 132
Pädagogen sind Erzähler
9
Literaturnachweis
S. 134
3

1
Vorwort
In seinem Buch ,,Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung." stellt
NEIL POSTMAN (1997) die These auf, daß den heutigen Schüler der
Sinn von Schule und Unterricht nicht mehr vor Augen geführt wird. Die
Vermittlung von Sinn könne nur durch die ,,großen Erzählungen" erfol-
gen, die Auskunft darüber geben, woher die Menschen kommen und war-
um sie auf der Welt sind.
Auch in der Diskussion um die Postmoderne wird immer wieder behaup-
tet, daß die ,,großen Erzählungen" verlorengegangen wären. Im Alltag
kann man jedoch feststellen, daß immer noch erzählt wird, seien es per-
sönliche Gespräche, Radio- oder Fernsehsendungen, Zeitungsberichte,
Romane usw.
In dieser Arbeit wird versucht zu klären, welche Strukturen und Eigen-
schaften Erzählungen haben, und wie sie in pädagogischen Bereichen
verwendet werden können. Dazu wird zunächst geschildert (Kap. 2), in
welchen Situationen und Zusammenhängen Narrationen vorkommen.
Die ,,Epistemologie der narrativen Gestaltung der Wirklichkeit" (VAAS-
SEN 1996; Kap. 3) bildet den Rahmen für die Annahme, daß die gesam-
te menschliche Wirklichkeit aus einem narrativen Gestaltungsprozeß
hervorgeht. Um den Begriff der Narration einzugrenzen und handhabbar
zu machen, wird u.a. auf phänomenologische und literaturwissenschaft-
liche Theorien zurückgegriffen (Kap. 4 und 5). Erst jetzt kann eine Über-
tragung narrationstheoretischer Annahmen auf pädagogische Bereiche
erfolgen (Kap. 6); die bis dahin nebeneinanderstehenden Ansätze aus
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen werden miteinander ver-
knüpft. Auf dieser Grundlage erfolgt dann eine Analyse der Geschichten,
die POSTMAN als sinnvolle pädagogische Erzählungen ansieht (Kap. 7).
Im Schlußkapitel (Kap. 8) wird der Frage nachgegangen, welche Bedeu-
tung Narrationen für die Pädagogik haben und ob Pädagogen Geschich-
tenerzähler sind.
Duisburg, im Juni 2000 Karl-Heinz Dehn
4

2
Einführung in das Thema: Was sind ,,Narra-
tionen"?
Zu Beginn dieser Arbeit wird der Begriff der ,,Narration" in seinem all-
gemeinsten Sinne, als Erzählung bzw. Geschichte gebraucht werden,
gleichgültig, ob es sich um literarische, biographische oder medial (Rund-
funk, Fernsehen, Internet usw.) vermittelte Narrationen, um fiktive Ge-
schichten oder Tatsachenberichte handelt. Um Narrationen von ande-
ren Formen der Kommunikation bzw. des Informationsaustausches ab-
zugrenzen, ist es schon hier erforderlich, eine Minimaldefinition von Ge-
schichten vorzunehmen (MARTINEZ 1996, S. 22):
,,Die Minimalstruktur eines Geschehens besteht aus einer zeitlichen Folge von Zu-
ständen, in der einem Gegenstand zu einem Zeitpunkt t-1 ein Prädikat F zukommt
und zu einem Zeitpunkt t-2 ein zu F konträres Prädikat G. Zur Geschichte wird eine
solche Folge, wenn sie um eine erklärende Verbindung ergänzt ist dergestalt, daß
die Zustände nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen. Erst wenn ein
Verursachungszusammenhang zwischen Anfangs- und Endzustand hergestellt wird,
ist die Zustandsfolge zu einem narrativen Ganzen integriert."
Diese minimalistische Definition aus dem Bereich der Literaturwissen-
schaft muß für pädagogische Narrationen dergestalt ergänzt werden,
daß sich die Erziehungswissenschaft nicht nur mit bereits abgelaufenen
Geschichten (z.B. Biographien) beschäftigt, sondern im Bereich der Er-
ziehung und des Unterrichts mit in der Zukunft liegenden Zielvorstellun-
gen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt t-1 verfügt z.B. ein Kind über ein
bestimmtes Wissen und Verhaltensweisen, die sich zu einem Zeitpunkt
t-2 durch erzieherische oder unterrichtende Maßnahmen verändert ha-
ben. Vom Zeitpunkt t-2 aus betrachtet, können die pädagogischen Maß-
nahmen dann als ursächlich für die Änderungen in den Wissensstruktu-
ren und im Verhalten des Kindes angesehen werden Im Zeitpunkt t-1 be-
steht der fertige gedankliche Entwurf des Erziehungsziels nur im Kopf
des Erziehers; was für ihn den Charakter einer Narration hat, soll den
Zögling in seiner Entwicklung ,,voranbringen".
1
Auf didaktische Modelle
des Erzählens, Lesens und Verfassens von Texten (vgl. AEBLI 1994)
wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen, da dies eine dem Thema
unangemessene Eingrenzung bedeuten würde.
Für die Übermittlung von Geschichten gibt es unterschiedliche Formen:
1
Solche pädagogischen Narrationen reichen von den Wünschen der Eltern, ,,Du sollst
es einmal besser haben als wir!", bis zu den konkret definierten Lehrplänen der
Bildungseinrichtungen.
5

mündlich, schriftlich, audiovisuell. In pädagogischen Zusammenhängen,
z.B. zwischen Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern ist die
mündliche Kommunikation (immer noch) vorrangig.
Um Geschichten erzählen (bzw. überhaupt handeln) zu können, muß
man über Sprache und Wissen verfügen. Im allgemeinen wird unter-
schieden zwischen Alltagswissen, wissenschaftlichem Wissen und Er-
fahrungen, wobei keiner der Bereiche den einen ersetzen kann oder dem
anderen überlegen ist. Die Unterscheidung zwischen (wissenschaft-
lichen) Tatsachen, (faktischen) Ereignissen, Erfahrungen und Erzäh-
lungen wird sich noch als problematisch erweisen.
Diese Arbeit ist so aufgebaut, daß nach einer Beschreibung der vielfälti-
gen Verwendung von Narrationen in wissenschaftlichen und lebenswelt-
lichen Bereichen in Anlehnung an VASSEN (1996) eine wissenschafts-
und erkenntnistheoretische Betrachtung der Narrativität von Welt er-
folgt (Kap. 3). In den folgenden beiden Kapiteln (4 und 5) wird der Nar-
rationsbegriff aus philosophischer, phänomenologischer und literatur-
wissenschaftlicher Sicht gefaßt. Anschießend werden die Zusammen-
hänge zwischen Narrationen und pädagogischen Zielvorstellungen be-
sprochen (Kap. 6). Als (aktuelles) Beispiel wird auf POSTMANS (1995)
Vorschläge für pädagogisch ,,wertvolle" Erzählungen eingegangen und
Aufbau und Zielvorstellungen untersucht (Kap. 7). Den Abschluß der Ar-
beit (Kap. 8) bilden Überlegungen zum bewußteren Umgang mit Narra-
tionen im pädagogischen Handeln.
6

2.1
Die Bedeutung der Narrationen im Alltag
Im Rahmen der ,,Alltagswende" in den Sozial- bzw. Gesellschaftswis-
senschaften seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts be-
schäftigen Wissenschaftler sich wieder mehr mit dem konkreten Leben
und Erleben der Menschen (qualitative Sozialforschung): dazu gehören
Lebensweltanalysen, die Sammlung und Auswertung biographischer
Daten, die Narrative Pädagogik u.a.m. (vgl. SCHRÜNDER 1995; DE
HAAN/LANGWAND/SCHULZE 1995). Als Beispiel für den Versuch
einer biographischen Gesellschaftsanalyse sei hier das Buch ,,Eigenes
Leben" von BECK u.a. (1995) angeführt, das neben einer Vielzahl von
Biographien
2
auch Fotos der Erzähler enthält. Die Verbindung von
quantitativen und qualitativen Ansätzen findet sich auch in der 12. Shell
Jugendstudie (JUGENDWERK DER DEUTSCHEN SHELL 1997).
Eine Übersicht der qualitativen Methoden in der Erziehungswissen-
schaft geben FRIEBERTSHÄUSER/PRENGEL (Hrsg.) (1997) in einem
Handbuch.
Narrative Interviews sind eine Methode der qualitativen Forschung. Die
mit verschiedenen Interview-Formen erhobenen Lebensgeschichten ent-
halten Selbstbilder, Weltbilder und Dramen. WIEDEMANN (1986)
schreibt dazu:
,,Erzählungen [...] sind Sprachspiele, die sich auf Erfahrungen und Erfahrungsverar-
beitungsstrukturen beziehen; sie ermöglichen, die biographisch bestimmten Deu-
tungs-, Relevanz- und Entscheidungsmuster des Erzählers zu erfassen."
(a.a.O., S. 61) [Auslassungen von KHD]
,,Denn Erzählungen bestehen nicht nur aus narrativen Sequenzen [...]
Der Erzähler bewegt sich während seiner Erzählungen auf verschiedenen Ebenen,
die differenziert werden müssen, [...]:
- die Perspektive der Reinszenierung des Ereignisses in der Erzählsituation:
- die Perspektive der Ereignisbeteiligung am erzählten Geschehen und
- die Perspektive der Ereignisverarbeitung, d.h. der Relevanzsysteme des Erzählers."
(a.a.O., S. 63) [Auslassungen von KHD]
,,Jede Darstellung von vergangenem Geschehen ist eine Retrospektive, in die spätere
Wertungen, Standpunkte und Neuansichten miteingehen. Das Besondere an Erzäh-
lungen ist, daß sowohl ein vergangenes Ereignis in der damaligen Erlebnisperspekti-
ve geschildert wird, wie auch die Erfahrungen, die sich aus diesen (und anderen Er-
lebnissen) gebildet haben, mit ausgedrückt werden." (a.a.O., S. 67)
Narrative Interviews können aber ein methodisches Problem nicht um-
2
Siehe BECK u.a. 1995, S. 12:
,,In der Biographieforschung wird unterschieden zwischen dem ,,Lebenslauf" als der
Verkettung tatsächlicher Ereignisse und der ,,Biographie" als der Erzählform der Er-
eignisse, was keinesfalls zusammenfallen muß."
7

gehen: Erzählen die Interviewten tatsächlich, was sie erlebt haben und
wie sie es deuten, oder formulieren sie Antworten, von denen sie meinen,
daß der Interviewer sie hören will (man denke z.B. an eine medizinisch-
psychologische Untersuchung zu Wiedererlangung der Fahrerlaubnis
oder an Gutachten zu von Straftätern ausgehenden Gefährdungen an-
derer Menschen)? Oder suggestieren die Interviewer Antworten, die sie
hören wollen?
3
Die Verbindungen zwischen Aussagen, Anschauungen, Sprache, Wahr-
heit und Wirklichkeit werden in den Kap. 3 ff. untersucht.
3
Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe vom 30. Juli 1999
(1 StR 618/98) werden an strafprozessuale Glaubhaftigkeitsgutachten Min-
destanforderungen gestellt. So gilt für die Gutachten bei Sexualdelikten, hier:
Verdacht auf Kindesmißbrauch, u.a. folgendes:
,,Der Ausdeutung von Kinderzeichnungen sowie der Deutung von Interaktionen, die
Kinder unter Einsatz sog. anatomisch korrekter Puppen darstellen, kommt in foren-
sisch-aussagepsychologischen Gutachten keine Bedeutung zu."
(Pressemitteilung Nr. 63/1999 des BGH Karlsruhe)
8

2.1.1
Persönliche Erzählungen
Narrationen kommen im Alltag in vielen verschiedenen Variationen vor:
als Lebensgeschichten, Anekdoten, in Witzen, Berichten, Lügen, Prahle-
reien, Wünschen, Gebeten, Sprüchen, Belehrungen usw. Persönliche
Geschichten handeln von Liebe und Leid, von dem, was man erlebt oder
erlitten hat, weshalb man so oder anders gehandelt hat, woran man
glaubt. Man erzählt nicht jedem Gesprächspartner alles, manchen
mehr, manchen weniger und manchen gar nichts (vgl. GOFFMAN
1996). Die Gesprächsinhalte und -formen sind abhängig von den Ge-
sprächspartnern (vgl. SCHULZ VON THUN 1994; 1994a). Spezielle
Formen persönlicher Erzählungen findet man z.B. bei Gerichtsverhand-
lungen, seien es Zeugenaussagen (vgl. RÜCKEL 1986) oder legitimieren-
de Erzählungen oder Rechtfertigungsgeschichten (vgl. LEHMANN
1980). Die beiden letzteren finden auch im Alltag häufig Verwendung.
Bei Arztbesuchen muß ein Patient seine Vorgeschichte (Anamnese) er-
zählen. Die Eigenanamnese beruht auf den Angaben des Patienten
selbst, die Fremdanamnese auf den Angaben von Fremdpersonen (Ver-
wandte, Unfallzeugen o.a.) (vgl. PSCHYREMBEL 1990, S. 75; Stich-
wort: ,,Anamnese"). Für das Therapeuten- und Krankheitsverhalten
kann auch das Krankheitskonzept des Patienten wichtig sein. Der Be-
griff bezeichnet die Summe der Vorstellungen und Erklärungsansätze
des Patienten zu seiner Krankheit (Laientheorien) (vgl. PSCHYREM-
BEL 1990, S. 902; Stichwort: ,,Krankheitskonzept").
Eine Predigt stellt für Christen genauso eine Erzählsituation dar wie die
Beichte (vgl. HAHN 1982). Erzählungen können aber auch verletzend
sein, andere Menschen beeinflussen und ihnen Schaden zufügen: das
Spektrum reicht von Diskriminierung über Mobbing
(vgl. ZUSCHLAG
1997) bis zur verbalen Gewaltausübung und Volksverhetzung.
9

2.1.2
Selbst-Erzählungen
Mit Selbst-Erzählungen sind die Konzepte gemeint, die die eigene Identi-
tät zum Inhalt haben. Da bedeutet zum einen die Darstellung der eige-
nen Persönlichkeit nach außen, zum anderen gibt es so etwas wie einen
inneren Monolog (oder Dialog): Wer bin ich? Bin ich immer ich? Warum
bin ich so, wie ich bin?
Zu diesem Fragenkomplex gehören auch die Fragen nach dem Bewußt-
sein bzw. dem Selbstbewußtsein. Schlüssige Antworten darauf, wie
Menschen (im Sinne physikalisch und/oder biologisch beschreibbarer
Systeme) im Rahmen der phylogenetischen Entwicklung ein Bewußt-
sein bzw. ein Selbstbewußtsein entwickeln konnten, gibt es (noch) nicht,
wohl aber Theoriebildungen. z.B. SCHURIG (1976). Mit dem Entstehen
der neurobiologischen Wissenschaften kommt es hier zu weiteren (neu-
en) Theorieentwürfen, die jedoch mehr Fragen aufwerfen als Antworten
ermöglichen (vgl. MECHSNER 1998).
Zu den bekanntesten Identitätstheorien gehören u.a. die Entwürfe von
HABERMAS (1973): ,,Identität als Bemühung um Integration";
KRAPPMANN (1988): ,,Balancierende Identität"; GOFFMAN (1996):
,,Interaktionistisches Identitätskonzept", und SCHULZ VON THUN
(1998): ,,Inneres Management". Auf das Problem des ,,Ichs" wird weiter
unten im Rahmen eines narrativen Identitätskonzeptes (vgl. VAAS-
SEN 1996, S. 157 - 217) eingegangen werden.
Beispiele für Selbst-Erzählungen im Alltag sind Äußerungen über das
Selbstwertgefühl, die eigene Lebensgestaltung, Motivationen für Hand-
lungen usw.
10

2.1.3
Gesellschaftliche Erzählungen
Menschen sind nicht allein auf der Welt, sie leben in Gemeinschaften, in
Kulturen. Was diese Gemeinschaften u.a. zusammenhält, sind die ,,gros-
sen" Erzählungen (Meta-Erzählungen), z.B. die Mythen über die Schöp-
fung der Welt und die Religionen oder andere sinnstiftende Erzählungen.
Das Christentum ist eine große Erzählgemeinschaft, und Jesus von Na-
zareth war in erster Linie ein Erzähler (vgl. LAUBI 1995). Schon WE-
BER (1988) konstatiert zwar die ,,Entzauberung der abendländischen
Welt" und die Aushöhlung des Christentums durch den ,,Geist des Kapita-
lismus", aber der erste Satz der Präambel zum Grundgesetz der Bun-
desrepublik Deutschland beginnt mit den Worten ,,Im Bewußtsein unse-
rer Verantwortung vor Gott und den Menschen..." und belegt damit die an-
dauernde christliche Tradition.
Es gibt aber noch weitere Meta-Erzählungen, die nicht eschatologisch
ausgerichtet sind, z.B. die der notwendigen Globalisierung
4
, die des un-
begrenzten Wirtschaftswachstums oder die programmatische Ausru-
fung der Informations- bzw. Wissensgesellschaft (vgl. RÖTZER 1999).
Eine mögliche Erklärung dafür, wie solche Narrationen in der Alltags-
welt legitimiert werden und den Charakter einer objektiven Gegebenheit
erhalten, geben BERGER und LUCKMANN (1995) mit ihrem wissens-
soziologischen Ansatz.
4
Der Begriff der Globalisierung ist nicht territorial zu verstehen. BECK (1999, S.31)
schreibt dazu:
,,Ein territorial fixiertes Epochenbild des Sozialen, welches die politische, kulturelle
und wissenschaftliche Imagination im Großen wie im Kleinen in Bann geschlagen
und beflügelt hatte, löst sich auf. Dem globalen Kapitalismus entspricht ein Prozeß
kultureller und politischer Globalisierung, welcher Territorialität als Ordnungsprin-
zip von Gesellschaft - und als Ordnungsprinzip des kulturellen Wissens, auf dem
die vertrauten Selbst- und Weltbilder beruhen - aufhebt."
11

2.1.4
Erzählungen in den Medien
Weiteren Narrationen begegnet man in den Printmedien (z.B. Zeit-
schriften, Ratgeberbücher, Romanen usw.), im Hörfunk (Hörspiele, Lie-
dertexte), in Live-Aufführungen (Theater, Musicals usw.) und in vielen
Variationen im Fernsehen (von der Talkshow bis zum Expertenge-
spräch). Die Verbreitung neuer Technologien läßt neue Erzählformen
entstehen, z.B. im Internet (vgl. SCHNEIDER 1996), wirkt jedoch auch
verändernd auf traditionelle Erzählformen, wie beispielsweise das Mär-
chenerzählen (vgl. HORN 1993).
Die Vielzahl möglicher Erzählformen und Inhalte kann hier nicht ab-
schließend angeführt werden. Es scheint so zu sein, daß Menschen von
der Geburt bis zum Tod Geschichten erzählen, Geschichten erleben und
in sie verwickelt sind.
5
5
Was hier in der ,,positiven" Form des Erzählens, also des Aussprechens in jeglicher
Form beschrieben wird, hat auch eine Schattenseite: das (Ver-) Schweigen und das
Verdrängen. Als Beispiel kann hierfür die individuelle und gesellschaftliche Aufar-
beitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutsch-
land angeführt werden.
Da wir es in pädagogischen Arbeitsfeldern in der Regel mit dem positiv Ausgespro-
chenem zu tun haben - insbesondere in der politischen Bildung -, wird der Aspekt
des Verschweigens hier nicht weiter bearbeitet.
12

2.1.5
Kommunikative Gattungen
LUCKMANN (1986; 1989) hat die verschiedenen Kommunikationsfor-
men in der Gesellschaft aus soziologischer Sicht untersucht und dabei
den Begriff der ,,kommunikativen Gattungen" geprägt:
,,Außerdem gibt es aber in allen Gesellschaften kommunikative Handlungen, in de-
nen sich der Handelnde schon im Entwurf an einem Gesamtmuster orientiert. Dieses
Gesamtmuster bestimmt weitgehend die Auswahl der verschiedenen Elemente aus
einem kommunikativen ,,Code", und der Verlauf der Handlung ist hinsichtlich jener
Elemente, die vom Gesamtmuster bestimmt sind, von den Mit- bzw. Gegenhandeln-
den verhältnismäßig gut voraussagbar. Wenn solche Gesamtmuster vorliegen, als
Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats zur Verfügung stehen und im
konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar sind, können wir von kom-
munikativen Gattungen sprechen.
[...]
Kommunikative Gattungen können in einer gewissen Analogie zu gesellschaftlichen
Institutionen verstanden werden, solange man einen wesentlichen Unterschied nicht
vergißt. Gesellschaftliche Institutionen sind mehr oder minder wirksame und ver-
bindliche ,,Lösungen" für allgemeine ,,Probleme" gesellschaftlichen Lebens. Kommu-
nikative Gattungen sind dagegen mehr oder minder wirksame und verbindliche
,,Lösungen" von spezifisch kommunikativen ,,Problemen".
Es ist natürlich nicht leicht, hier eine scharfe Grenze zu ziehen. Im täglichen Leben
sind die zwei Arten von Problemen jedenfalls eng miteinander verknüpft. Im
menschlichen Leben ist zwar vielleicht in gewissen Sinn alles Tun ein ,,Reden" und
alles Reden ein Tun. Manchmal allerdings ist das Reden sogar ein Tun ohne meta-
phorische Erweiterung der Wortbedeutung, und zwar dann, wenn kommunikatives
Handeln ein konstitutiver Bestandteil der Lösung grundlegender Probleme gesell-
schaftlichen Lebens ist, z.B. im Gerichtsurteil."
(LUCKMANN 1989, S. 37 f.)
[Auslassungen von KHD]
LUCKMANN (vgl. 1986, S. 205) unterscheidet zwischen rekonstrukti-
ven Gattungen, wie z.B. Konversionserzählungen, Interviews und
Klatsch, und den nicht-rekonstrukiven (didaktischen, moralischen etc.)
wie Predigten oder Sprichwörtern (Erziehung und Unterricht gehören
wohl auch in diesen Bereich). Diese Gattungsanalysen kann man noch
weiterführen (vgl. GÜNTHNER/KNOBLAUCH 1994). In die vorhande-
nen Kommunikationsmuster wird man hineingeboren. Man erlernt sie
durch den Erwerb kommunikativer Kompetenzen (Kommunikation
beinhaltet mehr als nur die sprachliche Ebene) und durch Sozialisations-
prozesse.
Was in der analytischen Trennung von kommunikativem Handeln und
gesellschaftlichem Handeln untergeht (mit Ausnahme des als Beispiel
angeführten Gerichtsurteils) ist, daß Kommunikation für die Beteiligten
fast immer auch konkrete Folgen hat. Das ist nicht nur bei Gerichtsur-
teilen oder bei Mobbing der Fall, sondern auch bei erzieherischen Maß-
nahmen, bei Eheschließungen, bei moralischen Urteilen, bei politischen
Entscheidungen usw.
13

2.2
Narrationen in der Geschichte der Pädagogik
Von der allgemeinen Festellung, daß Menschen ab einem bestimmten
Zeitpunkt in ihrer Stammesgeschichte über Selbstbewußtsein und
Sprache, und damit auch über Wissen, über mythologische und religiöse
Vorstellungen verfügen konnten, kann abgeleitet werden, daß sie sich
auch über die Erziehung ihrer Kinder Gedanken gemacht haben. Die er-
sten Inhalte von pädagogischen Narrationen könnten Geschichten da-
rüber gewesen sein, wie man sich am besten Nahrung beschafft oder wie
man Säuglinge pflegt.
Die ältesten schriftlichen Quellen, in denen über pädagogische Maßnah-
men und Ziele berichtet wird, sind die Schriften der biblischen Autoren
6
und der griechischen Philosophen; insbesondere die von PLATON (ideali-
stisches Bildungsverständnis) und ARISTOTELES (praktisches Bil-
dungsverständnis).
7
Spätere Entwürfe von pädagogischen (Bildungs-)
Theorien wandeln sich entsprechend der jeweiligen anthropologischen,
religiösen und gesellschaftlichen Vorstellungen vom richtigen Leben
(Meta-Erzählungen; vgl. 2.1.3): z.B. AUGUSTINUS (idealistisches, gott-
gebundenes Bildungsverständnis) und THOMAS VON AQUIN (indivi-
duelles Bildungsverständnis im Glaubenshorizont); Pädagogik bleibt ein
Teilgebiet der Theologie bzw. Philosophie. Mit Beginn der Aufklärung tre-
ten die theologischen gegenüber den philosophischen Vorstellungen in
den Hintergrund: z.B. ROUSSEAU (,,allgemeine Menschenbildung") und
KANT (,,subjektive Vernunftbildung").
8
Der erste Ansatz einer systematischen, empirisch orientierten Pädago-
gik findet sich bei Ernst Christian TRAPP (1745-1818), der von 1779 bis
1783 die erste deutsche Professur für Pädagogik in Halle/Saale inne hat-
te (vgl. BÖHM 1994, S. 689; Stichwort: ,,TRAPP"). In der Folgezeit wur-
6
SCHWENK (1995, S. 390) schreibt zum alttestamentarischen Erziehungsbegriff:
,,Durch Belehrung und Strafen versucht der Gott der Juden, sein ungehorsames
Volk wieder in seine Gemeinschaft zurückzuführen. Ziel der göttlichen Zucht ist
Unterwerfung unter das Gesetz, das den göttlichen Willen repräsentiert. Analog
ist es die Aufgabe, das Kind durch Belehrung und körperliche Züchtigung in die
Furcht Gottes und zum Gehorsam, zur Unterwerfung unter das Gesetz zu bringen."
7
FISCHER (1998, S. 1 - 11) unterscheidet (für den Bereich des antiken Griechen-
lands) das pädagogische Handeln und die theoretische Reflexion über Erziehen
und Unterrichten. ,,Pädagogisches Denken" liegt erst vor, wenn eine Theorie der
Erziehung formuliert wird. Die Geschichte der Pädagogik beginnt somit für FI-
SCHER im 5.vorchristlichen Jahrhundert.
8
Die historische Entwicklung wird hier nur grob angedeutet. Eine differenziertere
Beschreibung findet sich z.B. bei BLANKERTZ 1992.
14

de Pädagogik zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin, die al-
lerdings mit Philosophie, Psychologie und Soziologie eng verbunden ist.
9
Die neueren Theorien befassen sich mit empirisch-analytischer und kri-
tisch-emanzipatorischer Pädagogik und mit der Problematik von Erzie-
hung, Unterricht und Bildung in der Postmoderne.
10
Im Anschluß soll
mit drei Beispielen belegt werden, daß pädagogische Theorien vielfach in
narrativer Form verbreitet wurden, anstatt in einer ,,neutralen, wissen-
schaftlichen" Sprache.
9
Auf die Diskussion um die unterschiedlichen Bezeichnungen ,,Pädagogik, Erzie-
hungswissenschaft", ,,Erziehungswissenschaften" kann hier nicht näher einge-
gangen werden. Der Autor bevorzugt hier die Beschreibung von BAUER (1997,
S. 8):
,,Erziehungswissenschaft kann als eine Multi-Disziplin betrachtet werden, eine
Kombination von Psychologie, Sozialwissenschaft und Bildungstheorie, die sich auf
keine ihrer ,,Teildisziplinen" zurückführen läßt. Es entsteht eben etwas qualitativ
Neues und Wirksameres, wenn mehrere Disziplinen und Sichtweisen miteinander
gekreuzt werden. Erziehungswissenschaft ist also nicht gleich Pädagogik. Pädago-
gik ist die Einheit von wissenschaftlichem Wissen, Berufserfahrung und prakti-
scher Handlungskompetenz, also fast so etwas wie eine Kunstfertigkeit."
10
MOLLENHAUER (1985, S. 19) weist in seinem Buch ,,Vergessene Zusammen-
hänge" darauf hin, daß
,,... die Erziehungs- und Bildungsaufgabe es immer auch mit der Gesamtkultur,
mit der gesellschaftlichen Formation dieser Kultur, mit ihren noch legitimierbaren
überlieferten Beständen und deren Zukunftsfähigkeit zu tun hat"
,
was im Rahmen moderner Theoriebildungen zu wenig berücksichtigt wird.
Deshalb wurde der Narrationsbegriff in diesem Kapitel auch sehr weit gefaßt.
In seinem Buch führt MOLLENHAUER (1985) auch Beispiele für pädagogische
Narrationen an, u.a. AUGUSTINUS, COMENIUS und PESTALOZZI.
15

2.2.1
PLATON (427 - 347 v. Chr.)
In PLATONS Buch (1989, st. 514a - 518d) ,,Der Staat: Über das Ge-
rechte" findet sich sein berühmtes ,,Höhlengleichnis". WEHNES (1994,
S. 259) schreibt dazu:
,,In PLATONS ,,politeia" [...] liegt uns die erste systematische Grundlegung mensch-
licher Bildung vor; so im ,,Höhlengleichnis", in dem die menschliche ,,Natur in bezug
auf Bildung und Unbildung" untersucht wird: Unbildung wird veranschaulicht in
dem Bilde von Menschen, die ,,von Kindheit an" in einer Höhle, mit dem Gesicht zum
Höhleninneren, gefesselt sind und also in einer Welt bloßer Schatten (d.h. nicht in
der Wirklichkeit) leben; Bildung dagegen im Bilde eines daraus Befreiten, der, wenn
auch unter großen Schmerzen, durch Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis Zu-
gang findet zur Wirklichkeit = ,,Wahrheit". "
[Auslassung von KHD]
Als Form der Darstellung des Problems der Bildung wählt PLATON den
Dialog zwischen SOKRATES und GLAUKON. Innerhalb dieses Dialogs
ist das ,,Höhlengleichnis" eine eingeschobene Narration, eine bildhafte
Darstellung des zur Diskussion stehenden Problems. Metaphorische
Darstellungen bedürfen jeweils der Interpretation des Lesers bzw. des
Rezipienten. Das Problem von ,,Unbestimmtheitsstellen" in Narrationen
wird zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen.
LYOTARD (1986, S. 87 ff.) weist darauf hin, daß die platonischen
Gleichnisse auch die Funktion einer Legitimierung von Wissen bzw. Wis-
senschaft haben können:
,,Nun weiß man, daß die Antwort, zumindest teilweise, in einer Erzählung gegeben
wird, dem Höhlengleichnis, das erzählt, warum und wie die Menschen Erzählungen
wollen und das Wissen nicht anerkennen. Dieses wird also durch das Martyrium be-
gründet.
Aber darüber hinaus streckt die Legitimationsbestrebung in ihrer eigenen Form in
den Dialogen Platons der Erzählung die Waffen; denn jeder nimmt immer die Form
der Wiedergabe einer wissenschaftlichen Diskussion an. Daß die Geschichte der
Auseinandersetzung mehr dargestellt als berichtet, eher in Szene gesetzt als erzählt
wird und so dem Tragischen näher ist als dem Epischen, spielt hier kaum eine Rolle.
Tatsache ist, daß der platonische Diskurs, der die Wissenschaft inauguriert, nicht
wissenschaftlich ist, und zwar insoweit er sie zu legitimieren beabsichtigt."
(a.a.O., S. 90)
16

2.2.2
G. PICO DELLA MIRANDOLA (1463 - 1494)
Im Jahre 1486 erschien PICO DELLA MIRANDOLAS (1990) ,,Oratio
de hominis dignitate", die Rede ,,über die Würde des Menschen".
11
PICO
läßt in seinem Buch Gott über die Bestimmung des Menschen sprechen
(1990, S. 5 - 7):
,,Also war er zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Ge-
stalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ,,Wir haben dir keinen
festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere
Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du dir selbst aus-
ersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die
Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorge-
schriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und
Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. We-
der haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaf-
fen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer
dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrige-
ren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen
wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt."
Eine Interpretation der ,,Oratio" findet sich bei RIEMEN (1989). Kon-
stitutiv für die Würde des Menschen ist die Freiheit, der Mensch kann
das sein, was er will. Um aber nicht ,,zum Tier zu entarten", bedarf es
der Bildung. Die Bildsamkeit des Menschen wird als Disposition, als Mög-
lichkeit, gefaßt. Die Form der philosophisch-theologischen Thesen PICO
DELLA MIRANDOLAS ist narrativ: er läßt Gott in direkter Rede spre-
chen, ebenso den Propheten ESRA (a.a.O., S. 61). Das Wesen des Men-
schen und seine Bildungsmöglichkeiten werden nicht normativ festge-
legt, sondern metaphorisch beschrieben.
11
Bezüglich der Entstehungsgeschichte des Werkes vgl. die Ausführungen von BUCK
in der Einleitung zu PICO DELLA MIRANDOLA (1990), S. VII - XXVII.
17

2.2.3
HERMANN GMEINER (1919 - 1986)
GMEINER war der Gründer der SOS-Kinderdörfer, die als familiennahe
Erziehungsstätten für Kinder weltweite Anerkennung gefunden haben.
In seinem Buch ,,Eindrücke, Gedanken, Bekenntnisse" (1995) be-
schreibt er in verschiedenen Aufsätzen seine Lebensgeschichte, seine
Glaubensvorstellungen und die pädagogischen Ziele, die in den SOS-Kin-
derdörfern erreicht werden sollen:
,,Ein zentrales Anliegen beherrscht die gesamte weltweite SOS-Kinderdorf-Arbeit. Es
ist das Anliegen, die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf die Not elternloser, ver-
lassener Kinder zu lenken und diesen Kindern Schutz und Hilfe angedeihen zu las-
sen. Jede Einrichtung, die eine solche Aufgabe mit Erfolg erfüllen will, muß vor allem
imstande sein, dem Kind, das keine Eltern und kein Zuhause hat, einen verlässli-
chen Ersatz für die verlorene Familie zu bieten. [...] Wichtiger als die Perfektion der
angewandten Erziehungsmethoden ist die Qualität der Betreuung, die um so besser
ist, je persönlicher und größer das Interesse der Erwachsenen an jedem einzelnen
ihm anvertrauten Kinde ist. [...] Die SOS-Kinderdörfer und ihre vielen Millionen
Freunde wollen mit ihren Modellen der Tendenz entgegenwirken, die überall in der
Welt im Gefolge der großen sozialen Revolutionen die Familie funktionsuntüchtig
macht, nämlich der Tendenz, sie zu einer Lebensgemeinschaft der Erwachsenen
werden zu lassen, in der das Kind vereinsamt und verkümmert. Nicht nur dem
wirklich verwaisten, jedem im Stich gelassenen Kind möge die Bemühung um die
Wiederbesinnung auf die eigentliche Funktion der Familie zugute kommen. Je
schwieriger es wird, in unserer leistungsorientierten, technisierten Welt zu leben, um
so liebender und besorgter sollten wir uns dem Kinde zuwenden."
(a.a.O., S. 88f.) [Auslassungen von KHD]
GMEINER fordert aus der Erfahrung seiner eigenen Kindheit und seiner
christlichen Vorstellungen für (elternlose) Kinder eine Erziehung, die auf
Liebe
12
beruht. Liebe kann aber nur in der Beziehung zwischen Men-
schen erfahren und gelebt, nicht aber wissenschaftlich definiert werden.
13
Begriffe, die nicht im Rahmen nomothetischer oder idiographischer Wis-
senschaften definierbar sind, können nur narrativ be- bzw. umschrieben
werden.
12
vgl. SPAEMANN (1994, S. 94 f.):
,,Es gibt einen alten Satz der mittelalterlichen Philosophen: agere sequitur esse, das
Handeln folgt dem Sein. Letzten Endes sind aber nicht Handlungen gut, sondern Men-
schen. Was aber den Menschen gut macht, trägt in der christlichen Tradition den Na-
men ,,Liebe". Es ist eine Haltung der grundsätzlichen Bejahung der Wirklichkeit. Aus
ihr entspringt universelles Wohlwollen, für das wir selbst nicht mehr im Mittelpunkt
der Welt stehen, das sich aber sehr wohl auch auf uns selbst erstreckt: man muß auch
mit sich selbst in Freundschaft leben, um gut zu leben."
13
Ob die Liebe der Mütter zu ihren Kindern eine anthropologische Konstante oder
eine kulturelle Errungenschaft ist, bleibt fraglich (vgl. ARIES 1994).
18

2.3
Anthropologie und Narrationen
Anthropologie als die Wissenschaft vom Menschen faßt das Wissen über
den Menschen in Theorien zusammen. So stehen biologische Ansätze,
z.B. von GEHLEN (,,der Mensch als Mängelwesen") und von MORRIS
(1996) (,,Das Tier Mensch"), neben soziologischen, z.B. DAHRENDORF
(1974) (,,homo sociologicus"), und philosophischen, z.B. SCHELER (,,Der
Mensch als Geistwesen"), Ansätzen.
14
BLUMENBERG (1996, S. 104)
beschreibt die verschiedenen Ansätze so:
,,Was der Mensch ist, wurde in zahllosen definitionsähnlichen Bestimmungsversu-
chen auf Sätze gebracht. Die Spielarten dessen, was man heute Philosophische An-
thropologie nennt, lassen sich auf eine Alternative reduzieren: der Mensch als armes
oder reiches Wesen. Daß der Mensch biologisch nicht auf eine bestimmte Umwelt fi-
xiert ist, kann als fundamentaler Mangel einer ordentlichen Ausstattung zur Selbst-
erhaltung oder als Offenheit für die Fülle einer nicht mehr nur vital akzentuierten
Welt verstanden werden. Kreativ macht den Menschen die Not seiner Bedürfnisse
oder der spielerische Umgang mit dem Überfluß seiner Talente. Er ist das Wesen,
das unfähig ist, irgend etwas umsonst zu tun, oder das Tier, das allein zum ,acte
gratuit` fähig ist. Der Mensch wird definiert durch das, was ihm fehlt, oder durch die
schöpferische Symbolik, mit der er sich in eigenen Welten beheimatet. Er ist der Zu-
schauer des Universums in der Mitte der Welt oder der aus dem Paradies vertriebe-
ne Exzentriker auf dem Stäubchen Erde, das nichts bedeutet. Der Mensch birgt in
sich den wohlaufgeschichteten Ertrag aller physischer Wirklichkeit oder er ist das
von der Natur im Stich gelassene Mängelwesen, geplagt von unverstandenen und
funktionslos gewordenen Instinktresiduen. Ich brauche mit der Aufzählung der Anti-
thesen nicht fortzufahren; man sieht leicht das Prinzip, nachdem sie sich verlängern
ließen."
Mit den verschiedenen Anschauungen vom Mensch-Sein sind verschie-
dene Menschenbilder verbunden; und je nach vorherrschender Weltan-
schauung oder politischem System sind davon auch die pädagogischen
Theoriebildungen (vgl. Kap. 2.2.1 - 2.2.3) abhängig. Ein Problem aller
Reflexionen über das Mensch-Sein ist, daß Wissenschaftler auch ,,nur"
Menschen sind und bei ihren Untersuchungen keinen neutralen Beob-
achterstandpunkt einnehmen kann (mehr dazu in Kap. 3). Narrationen
über die Stellung des Menschen in der Natur, in der Gesellschaft und im
politischen System bestimmen so über Erziehung, Unterricht und Bil-
dung.
Für die Pädagogik, ober besser für erfolgreiches pädagogisches Handeln,
gelten drei ,,ideale" Grundannahmen:
1) Der Mensch ist, zumindest in seinen ersten Lebensjahren, hilfs- und
14
Vgl. FISCHER / LÖWISCH / RUHLOFF 1975, S. 9 - 45.
19

erziehungsbedürftig.
2) Er nimmt diese Hilfe auch an; pädagogische Maßnahmen sind also
wirksam.
3) Andere Menschen, z.B. Pädagogen, sind kompetente Helfer.
Für den in jüdisch-christlicher Tradition stehenden westlichen Kultur-
kreis gilt eine weitere Annahme: nämlich die, daß der Mensch ,,gut" sei.
Die Frage nach dem ,,Guten an sich" kann nicht in einem allgemeingülti-
gen Sinn beantwortet werden:
,,So kann eine obere Grenze dessen, was eine gute Handlung ausmacht, gar nicht de-
finitiv angegeben werden. Meistens ist noch irgend etwas Besseres möglich als das,
was jemand tut. Und es wäre ganz falsch zu sagen, man sei immer verpflichtet, das
Bestmögliche zu tun. Das geht überhaupt nicht.
Wohl aber läßt sich eine untere Grenze angeben. Es gibt bestimmte Handlungen,
durch die die Würde des Menschen immer verletzt wird, sein Selbstzweckcharakter
immer angetastet wird, Handlungen, die durch keine sogenannten höheren Pflichten
oder umfasserenden Verantwortlichkeiten gerechtfertigt werden können. Das hängt
damit zusammen, daß die menschliche Person nicht ein rein geistiges Wesen ist,
sondern daß sie sich von Natur auf eine bestimmte Weise manifestiert, nämlich
durch ihren Leib und durch ihre Sprache. Wo der Leib und die Sprache nicht als Re-
präsentationen der Person respektiert, sondern nur als Mittel zu anderen Zwecken
gebraucht werden, da wird die Person selbst nur als Mittel gebraucht. Daraus ergibt
sich ganz konkret, daß die absichtliche und direkte Tötung eines Menschen, daß die
Folter, die Vergewaltigung oder der Einsatz der Sexualität als Mittel für bestimmte
Zwecke immer schlecht sind. Auch wer einem Menschen, der ihm berechtigtes Ver-
trauen entgegenbringt, belügt, kann dies nicht rechtfertigen. Er instrumentalisiert
die Sprache und bringt sich als Person, die sich in der Sprache darstellt, sozusagen
zum Verschwinden. Außerdem beraubt er den anderen der Möglichkeit, der Wirklich-
keit gerecht zu werden, weil er dessen Kontakt mit der Wirklichkeit absichtlich un-
terbricht." (SPAEMANN 1994, S. 93)
In diesem Zitat von SPAEMANN wird auf mehrere, teilweise schon an-
gesprochene Probleme hingewiesen:
- Das Menschenbild: personales Menschenbild
15
, die Würde des Men-
schen in christlich-jüdischer Tradition bzw. im Sinne des Art.1 Abs. 1
des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
- Leiblichkeit und Sprachlichkeit des Menschen.
-
Möglichkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden; Erzie-
hungsmöglichkeit.
-
Beziehung zwischen Menschen und Wirklichkeit u.a.m.
Das ,,Wesen des Menschen" läßt sich nicht einfach definieren, sondern
unterliegt einem Bedingungsgefüge. Für diese Arbeit soll aber eine an-
15
Vgl. MACHA / SOLZBACHER (Hrsg.) 1996.
20

thropologische Annahme gelten: Der Mensch unterscheidet sich von an-
deren Lebewesen dadurch, daß er über Sprache und Bewußtsein, über
Vernunft und Phantasie verfügt, und damit auch über Abstraktions-
möglichkeiten, die ihren Ausdruck in Symbolen, Metaphern und Narra-
tionen finden.
ECO (1986, S. 21) faßt diese Wesenszüge in seiner Schilderung über die
Entstehung seines Romans ,,Der Name der Rose" (1986a) so zusam-
men:
,,Ich habe einen Roman geschrieben, weil ich Lust dazu hatte. Ich halte das für einen
hinreichenden Grund, sich ans Erzählen zu machen. Der Mensch ist von Natur aus
ein animal fabulator." [Fettdruck von KHD]
Der Mensch als ,,animal fabulator", als erzählendes Wesen
16
, soll im
Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Erzählungen sind die verbindenden
Elemente zwischen den Menschen als Gemeinschaft und zwischen den
Menschen und der Welt. Sinnvolle Handlungen sind nicht ohne ent-
sprechende Erzählungen denkbar. Die Sprache ist vielleicht sogar eine
unhintergehbare Voraussetzung für die Erfahrung und Erkenntnis von
Welt. GADAMER (1975) beschreibt die Verbindung von Sprache und
Welt folgendermaßen:
,,[...]: in der Sprache stellt sich die Welt selbst dar. Die sprachliche Welterfahrung ist
,absolut`. Sie übersteigt alle Relativitäten von Seinssetzung, weil sie alles Ansichsein
umfaßt, in welchen Beziehungen (Relativitäten) immer es sich zeigt. Die Sprachlich-
keit unserer Welterfahrung ist vorgängig gegenüber allem, das als seiend erkannt
und angesprochen wird. Der Grundbezug von Sprache und Welt bedeutet daher
nicht, daß die Welt Gegenstand der Sprache werde.. Was Gegenstand der Erkenntnis
und der Aussage ist, ist vielmehr immer schon von dem Welthorizont der Sprache
umschlossen. Die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung schließt nicht die
Vergegenständlichung der Welt in sich." (GADAMER 1975, S. 426) [Auslassung von
KHD]
,,Es gibt nichts, was nicht für das Hören mittels Sprache zugänglich würde. Während
alle anderen Sinne an der Universalität der sprachlichen Welterfahrung keinen un-
mittelbaren Anteil haben, sondern nur ihre spezifischen Felder erschließen, ist das
Hören ein Weg zum Ganzen, weil es auf den Logos zu hören vermag."
(GADAMER 1975, S. 438)
,,Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." (GADAMER 1975, S. 450)
GADAMERS Gedanken werden bei VAASSEN (1996) in anderer Form
wieder aufgegriffen (vgl. Kap. 3).
16
Die Konzeption narrativer Identität (,,homo narrans" ; ,,homo fabulans") wird in
Kap. 3.4.1 besprochen.
21

2.4
Rhetorik und Narrationen
In der antiken Rhetorik ist die
,,narratio (diegesis) [...] die Erzählung [...] der mit der Angelegenheit verknüpften
Tatsachen [...], aber diese Erzählung wird ausschließlich vom Standpunkt des Be-
weises abgefaßt, sie ist die ,,überredende Darstellung einer Sache, die getan oder an-
geblich getan wurde". Die Narration ist also keine Erzählung (im romantischen und
gleichsam uneigennützigen Sinn des Terminus), sondern eine Argumentationsprota-
se. Folglich besitzt sie zwei vorgeschriebene Merkmale: 1. ihre Nacktheit: keine Ab-
schweifung, keine Prosopopöie, keine direkte Argumentation; es gibt keine spezifi-
sche techne für die narratio ; sie muß nur klar, wahrscheinlich und bündig sein; 2.
ihre Funktionalität: Sie ist eine Vorbereitung auf die Argumentation; die beste Vor-
bereitung ist jene, in welcher der Sinn verborgen ist, die Beweise als unscheinbare
Samen verstreut sind (semina probationum ). Die narratio enthält zwei Typen von
Elementen: die Tatsachen und die Beschreibungen." (BARTHES 1990, S. 78 f.)
[Auslassungen von KHD]
Nun soll hier nicht das ganze System der frühen Rhetorik ausgebreitet
werden, wie es ARISTOTELES (1995) aufgestellt hat, zumal formale
und inhaltliche Aspekte von Narrationen (im Sinne der allgemeinen Defi-
nition in Kap. 2) bisher nicht getrennt wurden
17
, sondern kurz skizziert
werden, welche Bedeutung Rhetorik (und damit Narrationen als rhetori-
sche Elemente) heute hat. BLUMENBERG (1996) stellt in seinem Auf-
satz zur Aktualität der Rhetorik einige Thesen auf, die hier auszugswei-
se wiedergegeben und konkretisiert werden:
,,Es wäre ganz einseitig und unvollständig, die Rhetorik nur als die ,,Notlösung" an-
gesichts des Mangels an Evidenz in Situationen des Handlungszwanges darzustel-
len. Sie ersetzt nicht nur die theoretische Orientierung für die Handlung; bedeuten-
der ist, daß sie die Handlung selbst zu ersetzen vermag. Der Mensch kann nicht nur
das eine anstelle des anderen vorstellen, sondern auch das eine anstelle des ande-
ren tun." (BLUMENBERG 1996, S. 117)
Menschen, die über viele verschiedene Narrationen verfügen, seien es ei-
gene Erfahrungen oder gehörte Geschichten, haben mehr Orientierungs-
hilfen für Handlungen und können die Folgen beabsichtigter Handlungen
besser einschätzen. Dies ist besonders dann hilfreich, wenn die Situation
eine Handlung zwingend erfordert.
Das Nachdenken darüber, welche
Handlung die angemessene ist, und welche Folgen und Nebenfolgen sie
haben kann, erfordert Zeit:
,,Rhetorik hat auch mit der Temporalstruktur von Handlungen zu tun. [...] Das viel-
schichtige Phänomen der Technisierung läßt sich reduzieren auf die Intention des
17
BARTHES (1964) hat am Beispiel des Mythos gezeigt, daß Form und Inhalt zu
Untersuchungszwecken zwar getrennt werden können, aber der Sinn eines Mythos,
der durch Form und Inhalt bestimmt und so der Beliebigkeit der Interpretation
entzogen wird, ist das Entscheidende.
22

Zeitgewinns. Rhetorik hingegen ist hinsichtlich der Temporalstruktur von Handlun-
gen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlichkeit, prozedurale Phantasie, Rituali-
sierung implizieren Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch
der humane Weg zwischen ihnen sei." (a.a.O., S. 121 f.) [Auslassung von KHD]
In einer hochtechnisierten, komplexen Gesellschaft wird das Mensch-
Sein in vielen Bereichen auf ,,Funktionsfähigkeit" reduziert. Es scheint
auf die Ausführung einer Handlung anzukommen; Nachdenken über
das ,,Wie und Warum" wird als dysfunktional bewertet:
,,Immer weniger Leute werden wissen, was sie tun, indem sie lernen, weshalb sie so
tun. Die Handlung verkümmert zur Reaktion, je direkter der Weg von der Theorie
zur Praxis ist, der gesucht wird. Der Schrei nach der Eliminierung ,,unnützen" Lern-
stoffes ist immer der nach der ,,Erleichterung" der funktionellen Umsetzungen.
[...]
Zielt die klassische Rhetorik wesentlich auf das Mandat zum Handeln, so wirbt die
moderne Rhetorik für die Verzögerung des Handelns oder zumindest um Verständnis
für diese und das auch und gerade dann, wenn sie Handlungsfähigkeit demonstrie-
ren will, indem sie wiederum symbolische Substitutionen vorweist."
(BLUMENBERG 1996, S. 123 f.)
Für die Pädagogik bedeutet dies, daß die Zielvorstellungen vom autono-
men und mündigen Menschen an die Funktionalitätskriterien der Wirt-
schaft und der Gesellschaft angepaßt werden müßten. Unter diesem
,,Anpassungsdruck" werden Ergebnisse anderer wissenschaftlicher Dis-
ziplinen (fast unhinterfragt) übernommen, weil die ,,Realität" zum Han-
deln zwingt:
So steht jede Art von Pädagogik schon im praktischen Prozeß und kann auf Zuliefe-
rung ihrer theoretischen Voraussetzungen nicht warten; sie wird daher gezwungen,
aus dem Angebot theoretischer Verallgemeinerungen der Biologie, Psychologie, Sozio-
logie und anderer Disziplinen Quasiresultate zu akzeptieren. In dieser Grenzzone
spielen sich merkwürdige Vorgänge vom Typus der rhetorischen ab, bei denen Ratio-
nalität und Realismus zu divergieren scheinen; denn hier gibt es nicht nur den
Handlungszwang als solchen, sondern eine Nötigung zur Axiomatisierung von Vo-
raussetzungen, ohne die eine auf Handlungszwänge bezogene Theorie lahmgelegt
und zur Sterilität verurteilt wäre." (a.a.O., S. 126)
Dabei ist der Gegenstandsbereich der Rhetorik -und der Pädagogik- ei-
gentlich nicht die Realität im Sinne des Hier und Jetzt, sondern die zu-
künftige Gestaltung der Welt und des Zusammenlebens der Menschen
im Sinne des ,,sensus communis":
,,Rhetorik hat es nicht mit Fakten zu tun, sondern mit Erwartungen. Das, was sie in
ihrer ganzen Tradition ,,glaubwürdig" und ,,dem Wahren ähnlich" genannt hat, muß
in seiner praktischen Valenz deutlich unterschieden werden von dem, was theore-
tisch ,,wahrscheinlich" heißen darf." (a.a.O., S. 129)
Die hier angerissene Theorie der Rhetorik ist von der lebensweltlichen
Praxis zu unterscheiden. Denn die Möglichkeit und Fähigkeit zur Teil-
23

nahme an Diskursen hat auch etwas mit den individuell erworbenen
Kompetenzen (Sprachkompetenz, Sachwissen usw.) zu tun, die in indi-
viduell unterschiedlich verlaufenden Sozialisationsprozessen erworben
werden. Das für alle Mitglieder einer Gesellschaft Chancengleichheit be-
steht, ist auch heute noch ein ,,frommer Wunsch". Beispiele dafür, daß
Rhetoren andere Menschen beeinflussen und manipulieren, begegnen
uns tagtäglich. Wenn im Rahmen dieser Arbeit pädagogische Narratio-
nen als ,,Erst-Erzählungen" bezeichnet werden (s. Kap. 6), dann besteht
immer die Gefahr, daß die Hörer mit der und durch die Erzählung mani-
puliert werden.
24

2.5
Zusammenfassung des 2. Kapitels
Bis hier kann festgehalten werden, daß der Mensch ein ,,erzählendes We-
sen" ist, und daß Narrationen
-
Prozesse beschreiben, die zwischen zwei Zeitpunkten ablaufen und
zu Veränderungen beim betroffenen Gegenstand bzw. bei Menschen
führen;
-
die Vergangenheit oder ein zukünftiges Handeln mit einer bestimm-
ten Zielsetzung beschreiben können;
-
auf verschiedenen Ebenen erzählt werden bzw. wirksam sind:
intraindividuell, gesellschaftlich, weltanschaulich;
-
Deutungsmuster für vergangenes oder zukünftiges Verhalten
bereitstellen;
-
sprachliche ,,Gebilde" sind, die physische Auswirkungen haben
(können);
-
etwas mit dem Erleben der eigenen Identität zu tun haben.
Andere Problemkreise wurden bisher noch nicht abgehandelt:
- Der Begriff der ,,Narration" wurde nicht allgemein verbindlich defi-
niert; es wurde nur mit einer Minimaldefinition von Geschichten ge-
arbeitet.
-
Narrationen wurden nicht in reale und fiktive unterschieden.
- Der Begriff der ,,Pädagogischen Narrationen" oder der ,,Narrativen
Pädagogik" (vgl. BÖHM 1994, S. 491; Stichwort. ,,Narrative Pädago-
gik"; BAACKE / SCHULZE (Hrsg.) 1979, S. 7) wurde bisher nur bei-
spielhaft umschrieben.
Im folgenden Kapitel wird das Problem der Narrationen auf wissen-
schaftstheoretischer Ebene untersucht, anhand VAASSENS (1996)
,,narrativer Gestalt(ung) der Wirklichkeit". Seine Thesen bilden dann den
Rahmen für die weitere Untersuchung des Narrationsbegriffs.
25

3
Die narrative Gestalt(ung) der Wirklichkeit
Ausgehend von den Erkenntnisschemata der Wissenschaften in der Mo-
derne entwickelt BERND VAASSEN (1996) eine narrative Epistemolo-
gie, in der konstruktivistische Annahmen, Sprach- und Kommunikati-
onstheorien und Identitätskonzepte miteinander verbunden werden. Mit
Bemerkungen zu einer postmodern orientierten Sozialwissenschaft
schließt er seine Arbeit ab.
18
Das Buch befaßt sich schwerpunktmäßig
mit Sozialpsychologie; eine Verwendung der Theorie in der Erziehungs-
wissenschaft kann sich als nützlich erweisen.
In diesem Kapitel wird der Gliederung von VAASSEN gefolgt und seine
Argumentation in komprimierter Form nachvollzogen. Zuvor ist noch
eine Anmerkung notwendig: Die von VAASSEN angeführten Zitate ha-
ben im Rahmen seiner Überlegungen nicht den Charakter eines Bewei-
ses, indem auf akkumuliertes Wissen zurückgegriffen wird, sondern ei-
nen Verweischarakter auf andere, narrative Bezüge (vgl. a.a.O., S. 10).
19
18
Es handelt sich bei dem Buch um die Veröffentlichung einer Dissertation am Lehr-
stuhl für Organisationspsychologie der Universität St. Gallen, Schweiz. Weitere
Informationen zu den Arbeitsgebieten von VAASSEN ließen sich nicht ermitteln.
19
Soweit in diesem Kapitel auf Zitate Dritter hingewiesen oder sie zitiert werden,
erfolgt die Angabe der Quelle im Literaturnachweis am Ende dieser Arbeit nach
den Angaben von VAASSEN 1996, S. 234 - 249, bzw. nach den entsprechenden
neueren Auflagen, soweit sie mir vorliegen. KHD
26

3.1
Erkenntnis in der Moderne
Nach SPAEMANN (1986) gründet sich das Bewußtsein der Menschen
in der Moderne, in einer sinnvoll geordneten Welt zu leben, auf drei Ver-
sprechen der Wissenschaft
20
:
- auf die Vorstellung von Freiheit als Emanzipation,
- auf den Mythos des notwendigen und unendlichen Fortschritts und
- auf die progressive Naturbeherrschung.
Der Mensch stieg zum individuell mit Vernunft begabten Wesen auf; und
die Vernunft allein war der Garant für die Verheißungen der Moderne.
Wissenschaft tritt nun mit einem universellen Erkenntnis- und Wahr-
heitsanspruch auf. Wissen wird erlangt mit Hilfe sinnlicher Wahrneh-
mungen (Empirismus) oder durch Nachdenken (Rationalismus: erken-
nendes Subjekt und erkanntes Objekt werden voneinander getrennt).
Das maßgebliche Ziel nomothetischer Wissenschaften ist die Erklärung,
Kontrolle und Prognose von Naturerscheinungen. Wissen ist nur dann
Wissen, wenn die gewonne Erkenntnis mit der objektiven Wirklichkeit
übereinstimmt.
,,Wissen stellt sich im Szientismus dar als ein System von Sätzen, die entweder
theoretische Aussagen, Aussagen über Fakten und Transformationsregeln darstel-
len, die angeben, wie man von theoretischen Sätzen zu Beobachtungssätzen kommt.
Die Verbindung zur Realität wird dadurch hergestellt, daß aus den Sätzen hypothe-
tische Verallgemeinerungen abgeleitet werden, die dann durch die Beobachtung der
Wirklichkeit überprüft werden (vgl. Klüver 1988, S. 76).
Die Sprache, in der Gesetze, Hypothesen und Beobachtungsaussagen formuliert wer-
den, muß also grundsätzlich in der Lage sein, die Wirklichkeit, auf die sich das Wis-
sen bezieht, unverfälscht abzubilden. Damit objektivierende Erfahrung überhaupt
möglich ist, muß vorausgesetzt werden, daß die Sprache selbst kein Erkenntnispro-
blem darstellt. Zwischen einer abstrakten Sprache und der (vor-) gegebenen Wirk-
lichkeit wird eine abstrakte Wahrheitsbeziehung unterstellt, derzufolge die Sprache
die objekthafte Natur in ihrem So-Sein abbildet." (VAASSEN 1996, S. 16)
Nur, wenn Sprache in der Lage ist, die Natur vollständig und abbildge-
treu wiederzugeben, ist objektives Wissen, das auch weitergegeben wer-
den kann, möglich. Persönliche Erfahrungen werden als nicht planbar
und nicht wiederholbar (Subjektivität), als nicht wissenschaftlich abge-
tan. Die Gültigkeit von Wissen ist von den Prüfregeln (z.B. Falsifikati-
onsprinzip) abhängig; die Fragen nach Regeln, Methoden und Methodo-
20
Vgl. VAASSEN 1996, S. 11 - 38.
27

logien bilden den Schwerpunkt traditioneller Wissenschaftstheorie.
,,Indem die Wissenschaft den methodologischen Objektivismus zur wissenschaftli-
chen Norm erhebt, die Abbildtheorie der Sprache stillschweigend als selbstverständ-
lich unterstellt und ihre wissenschaftstheoretischen Fragen ausschließlich auf die
Frage der Begründung richtet, setzt sie die prinzipielle Möglichkeit der Erreichbar-
keit objektiven Wissens voraus und macht sie zu etwas fraglos gegebenem. [...]
Nicht ob objektives Wissen überhaupt möglich ist, sondern wie sich Erkenntnisse
als wahr oder gültig begründen lassen, gilt als legitime wissenschaftstheoretische
Fragestellung." (VAASSEN 1996, S. 18) [Auslassung von KHD]
Die spezifischen Vorstellungen von Wirklichkeit, Erkenntnis und Wissen
sind in die soziale Sphäre alltäglicher Lebensbewältigung diffundiert und
prägen heute das individuelle Selbst- und Realitätsverständnis der Men-
schen. Die großen Verheißungen der Moderne haben sich inzwischen
aber als trügerisch erwiesen (vgl. BECK 1986: ,,Risikogesellschaft").
Das Funktionieren moderner Gesellschaften ist kaum noch durchschau-
bar und begreifbar. Problemlösungen werden von der wissenschaftlichen
Seite kaum noch erwartet. Auch die Wissenschaftstheorie steckt in ei-
ner Krise, weil ,,Wahrheit" als Wissensziel nicht mehr haltbar ist; Wis-
senschaft wird zum Instrument einer pragmatischen Lebensbewälti-
gung.
,,Die abgehoben von menschlichen Strebungen und Zwecken operierende Rationalität
wird zum pragmatischen Funktionsmechanismus sozialer Systeme wie z.B. des
Wirtschaftssystems, der sich im globalen Maßstab, offenbar (quasi-) naturhaft, weil
dem Menschen äußerlich und offenbar nach eigenen, durch keinen menschlichen Wil-
len beeinflußbaren Gesetzen voranschreitend, entwickelt. Die Wahrheit der natürli-
chen Ordnung schrumpft zur Systemrationalität." (a.a.O., S. 24)
Wissenschaft in der Moderne beruht auf den folgenden zentralen Grund-
annahmen (vgl. VAASSEN 1996, S. 49 f.):
-
Es existiert, unabhängig vom Beobachter, eine objektive Welt, die
prinzipiell in ihrem So-Sein erkannt werden kann.
-
Menschliches Erkennen richtet sich auf eine Abbildung der gegebe-
nen Realität.
-
Erkennen ist jedem menschlichen Individuum möglich und vollzieht
sich losgelöst von sozialen Bezügen und spezifischen Situationen.
-
Mit sprachlichen Mitteln kann die Welt beschrieben werden (Ab-
bildtheorie).
-
Sprache dient zur Verbreitung des Erkannten, ist aber nicht für das
Erkennen konstitutiv.
28

3.1.1
Die Krise in den Sozialwissenschaften
,,Das traditionelle Erkenntnisziel der Sozialwissenschaften ist die Aufdeckung der
fundamentalen, gesetzmäßigen Prinzipien sozialer Phänomene und ihres Zusam-
menwirkens sowie des individuellen Erlebens und Verhaltens. [...]
Bis heute wurde kein sozialwissenschaftliches Gesetz entdeckt, das der Vorgabe des
Szientismus auch nur annähernd gerecht würde [...] Ihrem selbstgesetzten Ziel der
Erklärung, Kontrolle und Prognose der Phänomene der Natur sind die Sozialwissen-
schaften nicht erkennbar näher gekommen."
Dort wo anwendbares Wissen erarbeitet wurde, erscheint dies häufig so alltäglich
und trivial, daß z.B. Müller Dachler (1988, S. 39) für die Führungspsychologie die
Frage stellten, ob nicht letztlich nur Alltagsweisheiten und Sprichwörter mit großem
Aufwand ,verelitiert` würden." (VAASSEN 1996, S. 26) [Auslassungen von KHD]
Auch die Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden im Rahmen der
,,Alltagswende" führte zu keinen wirklich neuen Ergebnissen, weil die
Einzelfallstudien nicht ausreichend generalisierbar und objektivierbar
erschienen. Dies führt zu Zweifeln an der szientistischen Subjekt-Ob-
jekt-Trennung und der Möglichkeit, überhaupt zu objektiver Erkenntnis
zu gelangen.
,,Der Begriff Objektivität als wissenschaftstheoretische und -ethische Forderung ist
gebunden an die Vorstellung einer unabhängig vom Erkennenden existierenden Welt
,da draußen` (metaphysischer Realismus), die mit wissenschaftlichen Mitteln er-
kannt werden kann. Ob aber Menschen objektive Erkenntnis, d.h. die Welt so zu er-
kennen, wie sie wirklich ist, prinzipiell überhaupt möglich ist, wird z.Z. aus mehre-
ren Perspektiven fundamental in Frage gestellt." (a.a.O., S. 29)
Um Welt erkennen zu können, muß Welt schon unabhängig vom Beob-
achter existent sein. Aber wie wird entschieden, ob Beobachtungen auch
richtig bzw. wahr sind? Kann ein Individuum allein überhaupt zu objekti-
ver Erkenntnis kommen?
Der Radikale Konstruktivismus geht u.a. von der Annahme aus, daß die
Erkennbarkeit einer äußeren Realität aufgrund der Funktionsweise der
menschlichen Sinnesorgane und des Gehirns nicht möglich ist. Sinnes-
eindrücke entstehen durch eine physikalische Reizung der Sinnesorgane.
Die physikalischen Impulse werden aber nicht in qualitativen, sondern in
quantitativen neuronalen Mustern verarbeitet, was bedeutet, daß die
Welt als solche grundsätzlich nicht erkennbar ist. Theorien sind dem-
nach ein Produkt sprachlicher Kommunikation innerhalb eines sozialen
und kulturellen Kontextes. Damit stellt sich auch die Frage, ob eine indi-
viduelle Erkenntnis eines einzelnen Menschen überhaupt möglich ist.
Sprache bildet ein geschlossenes System, das zur Begründung von Aus-
29

sagen immer nur auf sich selbst zurückverweisen und nicht überschrit-
ten werden kann.
,,Zum einen ist zu fragen, ob der erkenntnistheoretische Primat des menschlichen
Bewußtseins noch überzeugend argumentiert werden kann. Wenn ich in der Lage
bin, eine Sprache sinnvoll anzuwenden, nehme ich das Wissen und die Kultur einer
Gemeinschaft auf und partizipiere. Eine Sprache ist stets gemeinsamer Besitz einer
Gemeinschaft und kann in ihrem Ursprung nicht auf ein individuelles Bewußtsein
zurückgeführt werden.
Zum anderen ist zu fragen, ob man überhaupt sinnvoll von einer nicht-menschlichen
Wirklichkeit reden kann, denn jegliche Beschreibung zeigt ja, daß wir uns schon mit
ihr beschäftigt haben. ,,Gerade die Rede von einer nichtmenschlichen Wirklichkeit ist
eine menschliche Rede" (Israel 1990, S. 69).
Sprache und Sprechen bilden nichts ab, weder die Welt, wie sie ist, noch die Welt
des Bewußtseins. Sprache wird zum Medium gemeinsamer Wirklichkeitskonstrukti-
on." (VAASSEN 1996, S. 32)
30

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2000
ISBN (eBook)
9783832459994
ISBN (Paperback)
9783838659992
DOI
10.3239/9783832459994
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Duisburg-Essen – Erziehungswissenschaft, Allgemeine Pädagogik
Erscheinungsdatum
2002 (Oktober)
Note
1,0
Schlagworte
narrative pädagogik identität radikaler konstruktivismus fabulator temporalstruktur handlungen
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Titel: Die Bedeutung von Narrationen für die Pädagogik unter Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Erzähltheorien
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