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Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland

Eine empirische Analyse

©2001 Magisterarbeit 180 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Musikfernsehen ist eines der wichtigsten Massenmedien für Jugendliche und junge Erwachsene. Von ihm gehen Impulse in Bereichen wie Musik, aber auch Mode, Stil und Lebenswandel, Politik und Konsum aus. Es liefert Gesprächsstoff und Produktinformationen ebenso wie eine Klang- und Bildtapete für Jugendzimmer und junge Wohngemeinschaften.
MTV – als der international bekannteste Vertreter des Musikfernsehens – ist längst mehr als nur ein weiterer Fernsehsender im überfüllten Kabelnetz. Es ist ein „allumfassender Vermittler der populären Kultur“ und – wie die Washington Post formulierte – das „vielleicht einflußreichste kulturelle Einzelprodukt“ der 80er Jahre. Es ist zu einer kulturellen Ikone geworden. Zu einem Markenzeichen, das für Postmoderne steht, für Hedonismus und Jugendkultur. Für schnelle Bildschnitte und den Starkult der pompösen ‚Video Music Awards’, aber auch für das soziale Bewußtsein von ‚Rock The Vote’.
Seit 1993 stehen sich in Deutschland die Konkurrenten MTV und VIVA gegenüber – begleitet von ihren Ablegern MTV2 und Viva Zwei. Der deutsche Musiksender VIVA ging 1993 auf Sendung und verfügt über die finanzielle Unterstützung mehrerer großer Plattenfirmen und Medienkonzerne (namentlich AOL Time Warner, EMI und Polygram).
Der Konkurrent MTV Deutschland gehört (wie alle anderen regionalen MTV-Programme) zur VIACOM-Gruppe und begann in den letzten Jahren sich mehr und mehr vom paneuropäischen Rahmenprogramm aus London (MTV Europe, das seit 1987 auf Sendung ist) zu verabschieden. Deutschland ist nach den USA und Japan der drittgrößte Musikmarkt der Welt und der größte Europas. Und obwohl es viele andere Möglichkeiten gibt, Musik zu bewerben und zu verbreiten (wie beispielsweise Radio, Printmedien, Clubs und Livekonzerte) ist Musikfernsehen heute eines der wichtigsten Medien um Musik einem Massenpublikum vorzustellen und zu verkaufen.
Gleichzeitig mehrt sich seit einigen Jahren Kritik an den klassischen Musikfernsehprogrammen: Die langen Strecken von kurz anmoderierten Videoclips, die den Sender MTV berühmt gemacht haben, sind weitestgehend aus dem Programm verschwunden und durch Spiel- und Talkshows, Reportagen und Magazinsendungen ersetzt worden. Die Plattenfirmen fürchten, ihren Einfluß auf das Programm zu verlieren und weniger ihrer Künstler im Programm plazieren zu können und zahlreiche Zuschauer beschweren sich über die Zunahme nichtmusikalischer Programme.
Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung neuer […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5909
Koch, Christoph: Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der
Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland - Eine empirische Analyse
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Münster, Universität, Magisterarbeit, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

INHALT
1
VORWORT...1
2
THEMA UND GEGENSTAND DER UNTERSUCHUNG...4
2.1
Onlineangebote der Musiksender - Interaktive Variante des
Musikfernsehens?...4
2.2
Die Nutzer ­ Zuschauer oder Akteure? ...7
3
KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTLICHER ANSCHLUSS ...10
3.1
Diffusionsforschung ...10
3.1.1 Diffusion von Innovationen... 11
3.1.2 Die Stufen des Adoptionsprozesses ... 14
3.1.3 Die verschiedenen Adoptions-Typen... 16
3.1.4 Das Konzept der kritischen Masse... 18
3.2
Uses-And-Gratifications -Approach und Nutzenansatz...21
3.2.1 Bedürfnistypologien... 22
3.2.2 Kritik am Uses-And-Gratifications-Approach... 23
3.2.3 Konsequenzen für die Onlineangebote der Musikfernsehsender... 24
4
ZIELSETZUNG UND VORGEHENSWEISE DER UNTERSUCHUNG...26
5
DIE ENTWICKLUNG DES MUSIKFERNSEHENS ...28
5.1
Musik im Fernsehen: Die Vorläufer der Musikkanäle...28
5.2
Entwicklung des Musikfernsehens in den USA...32
5.2.1 Technische, politische und ökonomische Rahmenbedingungen ... 32
5.2.2 Die ,Erfindung' von MTV ... 34
5.2.3 Die Phase der Etablierung (1981-1983)... 36
5.2.4 Die Phase der Konsolidierung (1983-1985) ... 38
5.2.5 Die Phase der Expansion und Internationalisierung (1985-1996) ... 42
5.2.6 Die Phase der Digitalisierung und Diversifizierung (1996 bis jetzt)... 44
5.3
Entwicklung des Musikfernsehens in Deutschland...50
5.3.1 Musiksendungen im deutschen Fernsehen... 50
5.3.2 MTV Europe ... 52
5.3.3 MTV Germany... 54
5.3.4 VIVA ­ Musikfernsehen aus Deutschland ... 57
5.3.5 Von VH-1 und Viva Zwei zu MTV2 und Viva+... 63

6
AKTUELLE ONLINEANGEBOTE DER MUSIKSENDER ...67
6.1
www.mtv.de...67
6.1.1 Aufbau... 68
6.1.2 Inhalte... 75
6.1.3 Design ... 75
6.1.4 Besonderheiten... 76
6.2
www.viva.tv...78
6.2.1 Aufbau... 79
6.2.2 Inhalte... 82
6.2.3 Design ... 84
6.2.4 Besonderheiten... 84
7
FORSCHUNGSDESIGN UND METHODISCHES VORGEHEN...87
7.1
Forschungsfrage und Hypothesen...87
7.2
Aufbau und Inhalt des Fragebogens ...89
7.3
Stichprobe und Befragungsdurchführung...92
7.4
Datenauswertung...94
8
ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG...95
8.1
Demographische Daten...95
8.2
Nutzung der Onlineangebote...97
8.3
Bewertung der Onlineangebote und ihrer Funktionalität ... 108
8.4
Attraktivität und Relevanz zukünftiger Angebote... 117
8.5
Internetnutzung... 124
8.6
Verhältnis Internet und Fernsehen... 130
8.7
Bedenken bei der Nutzung von Onlineangeboten... 136
8.8
Überprüfung der Hypothesen... 138
9
MUSIKFERNSEHEN DER ZUKUNFT: FAZIT UND AUSBLICK ... 148
ANHANG... 152
Literaturverzeichnis... 152
Fragebogen... 160
Kodierung ... 168
Danksagung ... 174

,,Video killed the radio star."
(The Buggles, 1979)
"Internet kills the video star."
(Knarf Rellöm, 1997)

1
Vorwort
Musikfernsehen ist eines der wichtigsten Massenmedien
1
für Jugendliche und junge
Erwachsene. Von ihm gehen Impulse in Bereichen wie Musik, aber auch Mode, Stil und
Lebenswandel, Politik und Konsum aus. Es liefert Gesprächsstoff und Produktinfor-
mationen ebenso wie eine Klang- und Bildtapete für Jugendzimmer und junge Wohn-
gemeinschaften.
MTV ­ als der international bekannteste Vertreter des Musikfernsehens ­ ist längst
mehr als nur ein weiterer Fernsehsender im überfüllten Kabelnetz. Es ist ein ,,allumfas-
sender Vermittler der populären Kultur" (Goodwin 1992, Übers. d. Verf.) und ­ wie die
Washington Post formulierte ­ das ,,vielleicht einflußreichste kulturelle Einzelprodukt"
der 80er Jahre (zitiert nach McGrath 1996: 8, Übers. d. Verf.). Es ist zu einer kulturellen
Ikone geworden. Zu einem Markenzeichen, das für Postmoderne steht, für Hedonismus
und Jugendkultur. Für schnelle Bildschnitte und den Starkult der pompösen ,Video
Music Awards', aber auch für das soziale Bewußtsein von ,Rock The Vote'
2
.
Seit 1993 stehen sich in Deutschland die Konkurrenten MTV und VIVA gegenüber ­
begleitet von ihren Ablegern MTV2 und Viva Zwei
3
. Der deutsche Musiksender VIVA
ging 1993 auf Sendung und verfügt über die finanzielle Unterstützung mehrerer großer
Plattenfirmen und Medienkonzerne (namentlich AOL Time Warner, EMI und
Polygram).
1
In dieser Untersuchung wird der Begriff der Massenmedien im Sinne von Niklas Luhmann verwendet,
der darunter ,,alle Einrichtungen einer Gesellschaft" versteht, ,,die sich zur Verbreitung von
Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen [...] sofern sie Produkte in großer
Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen" (Luhmann 1996: 10).
2
,Rock The Vote' ist eine Initiative des Musiksenders MTV, die junge Amerikaner zu einer frühzeitigen
Registrierung als Wähler veranlassen soll und somit die schlechte Wahlbeteiligung vor allem bei
jungen Erwachsenen bislang mit respektablem Erfolg zu bekämpfen versucht.
3
Viva Zwei wird nach Angaben der VIVA Media AG Anfang des Jahres 2002 in den neuen
,Portalsender' Viva+ umgewandelt. In einer Kooperation mit AOL Time Warner soll ein Kanal
entstehen, bei dem Zuschauer einkaufen und an Spielen teilnehmen können, so Viva-Chef Dieter
Gorny (vgl. N.N. 2001a: 21).

1 Vorwort
2
Der Konkurrent MTV Deutschland gehört (wie alle anderen regionalen MTV-Pro-
gramme) zur VIACOM-Gruppe
4
und begann in den letzten Jahren sich mehr und mehr
vom paneuropäischen Rahmenprogramm aus London (MTV Europe, das seit 1987 auf
Sendung ist) zu verabschieden. Deutschland ist nach den USA und Japan der drittgrößte
Musikmarkt der Welt und der größte Europas. Und obwohl es viele andere Möglich-
keiten gibt, Musik zu bewerben und zu verbreiten (wie beispielsweise Radio, Print-
medien, Clubs und Livekonzerte) ist Musikfernsehen heute eines der wichtigsten
Medien um Musik einem Massenpublikum vorzustellen und zu verkaufen (vgl. Banks
1996).
Gleichzeitig mehrt sich seit einigen Jahren Kritik an den klassischen Musikfernseh-
programmen: Die langen Strecken von kurz anmoderierten Videoclips, die den Sender
MTV berühmt gemacht haben, sind weitestgehend aus dem Programm verschwunden
und durch Spiel- und Talkshows, Reportagen und Magazinsendungen ersetzt worden
(Goodwin 1993: 53; Altrogge 1995: 160-161). Die Plattenfirmen fürchten, ihren Einfluß
auf das Programm zu verlieren und weniger ihrer Künstler im Programm plazieren zu
können (vgl. Banks 1996, 79-82) und zahlreiche Zuschauer beschweren sich über die
Zunahme nichtmusikalischer Programme (vgl. Stein 1997: 103).
Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung neuer Verbreitungstechniken wie dem
Internet besonders interessant. Da Musikvideos in der Regel nur wenige Minuten lang
sind, eignen sie sich wesentlich besser für eine Distribution über schmalbandige Inter-
netverbindungen als Spielfilme oder andere längere Formate. Durch einen immer stär-
ker fragmentierten Musikmarkt ist auch eine genauere Ansprache der verschiedenen
Zielgruppen notwendig, die unter Umständen von interaktiven Angeboten im Internet
besser geleistet werden kann, als von klassischen Fernsehangeboten via Kabel oder
Satellit. Momentan ist die Übertragung von Musikvideos über das Internet noch durch
technische Barrieren (geringe Bandbreiten etc.) beschränkt. Die Musiksender versuchen
4
VIACOM ist ein amerikanischer, vertikal sehr hoch integrierter Medienkonzern, zu dem u.a. die
Filmfirma Paramount, Fernsehkanäle wie Nickelodeon, die Videothekenkette Blockbuster und
zahlreiche amerikanische Kabelnetze gehören (vgl. Schmidt 1999). Eine genauere Schilderung des
Konzerns ist in Kapitel 5.2.5 dieser Arbeit zu finden.

1 Vorwort
3
dieses Problem zu lösen, indem sie extra für das World Wide Web konzipierte Videos
5
anbieten und sich ansonsten auf zusätzliche Informationen rund um das Programm der
Sender sowie über Musik und verwandte Themen konzentrieren.
Unter den Internetadressen
www.mtv.de
und
www.viva.tv
versuchen die beiden großen
Musiksender ihre Zuschauer auch im Internet an sich zu binden. Die bestehenden
Homepages sollen nach und nach zu Musikportalen ausgebaut werden, auf denen die
Benutzer Informationen zu musikalischen und nichtmusikalischen Themen (Kino,
Mode, etc.) finden, sich mit Gleichgesinnten austauschen und Videoclips auf ihrem
Computer ansehen können. Ebenso wie im Kabel- und Satellitennetz, konkurrieren die
Musiksender jedoch auch im Internet mit vielen anderen Angeboten um Aufmerksam-
keit. Daraus ergibt sich die Frage, wie erfolgreich sie mit dem Versuch sein können, ihr
Publikum vom Fernseh- an den Computerbildschirm zu führen.
Wichtig ist dabei, sowohl das Phänomen Musikfernsehen als auch seine Onlineakti-
vitäten nicht nur als rein kulturelles Phänomen zu begreifen und beispielsweise die
Musikvideos inhaltlich und filmtechnisch zu analysieren. Vielmehr muß sich auch mit
den technischen und medienökonomischen Zusammenhängen auseinandergesetzt wer-
den, um eine sinnvolle und ergiebige Analyse zu ermöglichen (vgl. Schmidt 1999: 93).
Wie aktuell und relevant das Thema ,Musikfernsehen im Internet' momentan ist, zeigen
die gegenwärtigen Umwälzungen und Kooperationen, die sich auf diesem Gebiet voll-
ziehen: Die MTVi Group, die die Onlineaktivitäten von MTV in Amerika bündelt geht
eine Allianz mit den fünf großen Musiklabels ein, gleichzeitig beschließen in Deutsch-
land AOL Time Warner und VIVA ein großangelegtes Joint Venture bezüglich der
Onlinepräsenz www.viva.tv und des zweiten Fernsehkanals Viva+ (vgl. hierzu auch
Kapitel 5).
5
Sogenannte ,Webeos' oder ,I-Clips', die optisch einfacher aufgemacht sind und nur einen Bruchteil des
Speicherplatzes (bzw. der Bandbreite) benötigen, wie eine gewöhnliche Video-Datei.

2
Thema und Gegenstand der Untersuchung
2.1
Onlineangebote der Musiksender - Interaktive Variante
des Musikfernsehens?
In der Welt der Medien ist Stillstand undenkbar. Alles ist in ständiger Bewegung und
entwickelt sich kontinuierlich weiter und selbst diese Entwicklung bleibt nicht konstant,
sondern beschleunigt sich im Laufe der Zeit mehr und mehr (vgl. Merten 1999: 183-
213). Im Zuge dieser Medienevolution entwickeln sich einerseits die bestehenden
Medien immer weiter fort (beispielsweise durch wachsende Kanal- oder Titelvielfalt,
Spezialisierung, Professionalisierung, etc.), andererseits entstehen vollkommen neue
Formen von Medienangeboten.
Eine Möglichkeit für die Entstehung neuer Medienangebote ist die Kombination bereits
bestehender Angebote, Distributionswege oder Kommunikationstechniken. Um eine
solche Kombination und ein daraus neu entstandenes Medienangebot handelt es sich bei
dem Untersuchungsgegenstand dieser Forschungsarbeit. Die Onlineangebote der
Musikfernsehsender sind jedoch deutlich mehr als lediglich eine sture Übertragung des
Programms von MTV oder VIVA auf den Computerbildschirm. ,Multimedia' lautet ein
Zauberwort, das seit vielen Jahren fällt, wenn von neuen interaktiven Onlineangeboten
die Rede ist. Multimedia bedeutet zunächst nichts anderes, als daß Inhalte, die in ver-
schiedener Form vorliegen (also beispielsweise Text, Bilder, Musik, Filme, etc.) durch
einen einzigen Kanal transportiert und mittels eines einzigen Geräts dargestellt werden
können (vgl. zur Definition Booz-Allen & Hamilton 1997: 17).
Ermöglicht wird diese Kompatibilität durch die Digitalisierung von Medieninhalten,
einer der wichtigsten technischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Bei der
Digitalisierung wird die zu übertragende Schwingung (beispielsweise einer menschli-
chen Stimme) in gleichmäßige Intervalle eingeteilt und abgetastet. Jedem Abtastzeit-
punkt wird nun ein Wert zugeordnet, den die Welle zum Zeitpunkt des ,samplings' (=
Abtastvorgang) gerade angenommen hat. Diesen Wert kann man (ebenso wie Buch-
staben eines Textes oder Bildpunkte einer Grafik) wiederum in Zahlenketten aus 0 und
1 - die sogenannten ,bits' (Binary Digits) - umwandeln. Der Vorteil dieser bits ist, daß

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung
5
sie im Gegensatz zum analogen Signal, das unendlich viele Ausprägungen annehmen
kann (also stetig ist), diskret codiert sind und nur die beiden Signalwerte 1 und 0 mög-
lich sind. Dadurch können digitale Signale nicht nur ohne jeden Qualitätsverlust über-
tragen oder aufgezeichnet werden, sondern in der Datenmenge auch bequem kompri-
miert werden (vgl. Ruhrmann 1997: 57-63; Ziemer 1994: 24-32).
Mit der Digitalisierung und den daraus entstehenden Multimedia-Anwendungen eng
verbunden ist das Konzept der Konvergenz, was eine Verschmelzung von Computer-
technik, Unterhaltungselektronik und Telekommunikationssystemen bedeutet. Der
Mythos von einer Multimediastation im Wohnzimmer, über die ferngesehen, gespielt,
telefoniert, gearbeitet und eingekauft wird, hatte vor einigen Jahren Hochkonjunktur.
Mittlerweile ist er allerdings wieder ein wenig in Vergessenheit geraten und man geht
davon aus, daß zwar eine Konvergenz von bislang getrennten Bereichen stattfinden
wird, diese jedoch nicht unbedingt immer in einer Verschmelzung aller Geräte resul-
tieren muß.
Die Onlineangebote der Musikfernsehsender sind Multimediaanwendungen, die durch
das Internet oder genauer gesagt das World Wide Web navigierbar gemacht werden
6
.
Sie verbinden Informationen in Textform mit der Darstellung von Fotos und Video-
dateien und halten auch Audiosignale zum Abruf bereit. Dazu kommen Plattformen für
den Austausch zwischen den Nutzern mittels Profilen, Chaträumen, Diskussionsforen
etc.
Diese Onlineangebote sind also nicht als ,Musikfernsehen mit anderen Mitteln' zu ver-
stehen. Sie weisen vielmehr Parallelen zu einer ganzen Reihe von anderen Medien oder
nicht-massenmedialen Kommunikationsangeboten auf
7
:
·
Sie bieten geschriebene Informationen und Fotos zu verschiedenen Themen-
gebieten, wie man sie ansonsten in einer Zeitschrift finden könnte.
6
Die Begriffe World Wide Web (WWW) und Internet werden häufig synonym verwendet, dabei ist das
WWW lediglich ein Dienst innerhalb des Internet. Er zeichnet sich vor allem durch seine leichte
Bedienbarkeit aus, die keine speziellen Programmier- oder Hardwarekenntnisse erfordert (vgl. Beck
1999: 22-23).
7
Eine genauere Schilderung der Angebote und Möglichkeiten der Websites von MTV und VIVA
befindet sich in einem gesonderten Kapitel dieser Studie.

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung
6
·
Sie geben die Möglichkeit, Musik auf Wunsch probeweise anzuhören und
gegebenenfalls zu erwerben, vergleichbar einem Platten- oder CD-Geschäft.
·
Sie offerieren ihren Rezipienten (wenn auch derzeit noch in stark reduzierter
Form) Videofilme und Musikclips, ähneln in diesem Punkt also dem Fernsehen.
·
Sie geben ihren Nutzern die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen und zu
kommunizieren, wie sie es sonst beispielsweise über Telefon oder E-Mail
könnten.
Gerade der letzte Punkt ist relevant, denn allein die Möglichkeit aus einer großen An-
zahl an Inhalten auszuwählen, macht noch eine echte Interaktivität aus. Ebensowenig
wie es kein echter interaktiver Vorgang sein kann, wenn ein Fernsehzuschauer von
Kanal A auf Kanal B umschaltet, kann es auch keiner sein, wenn er sich im Internet aus
einer Datenbank mit 2 Millionen Artikeln einen Artikel auswählt, um ihn auf seinem
Bildschirm zu lesen. Echte Interaktivität bedeutet die Möglichkeit für den Zuschauer
einzugreifen und sich zu beteiligen, das Medienangebot zu verändern und seine eigenen
Ideen und Kreativität einzusetzen
8
.
Durch die fortschreitende Digitalisierung von Medieninhalten, durch Kompression von
Datenmengen und die dadurch vereinfachte Möglichkeit, große Mengen von Inhalten
abrufbar zu speichern, werden die Möglichkeiten für eine individualisierte, entkoppelte
Mediennutzung immer größer. Anbieter- und Produktvielfalt tragen ebenso dazu bei,
wie eine sich immer weiter fragmentierende und in Untergruppen und Subkulturen auf-
gliedernde Gesellschaft.
Diese individualisierte Mediennutzung bietet dem Rezipienten viele Freiheiten und
Vorteile, da er ein genau auf sich, seine Interessen und seinen Wissensstand zuge-
schnittenes Angebot nutzen kann. Um diese Angebote sinnvoll nutzen zu können, sind
jedoch Medienkompetenz, Verantwortungsbewußtsein und häufig ein gewisser
8
In der Literatur wird deshalb häufig von Anwendungen mit niedrigem, mittlerem und hohem
Interaktivitätslevel gesprochen (vgl. Ruhrmann 1997: 181-185).

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung
7
sozioökonomischer Status oder eine höhere formale Bildung nötig
9
. Generell werden
mit zunehmender Interaktivität, Selektivität und Individualisierung der Mediennutzung
neue Anforderungen an den Rezipienten gestellt, wie im nächsten Abschnitt erläutert
werden soll.
2.2
Die Nutzer ­ Zuschauer oder Akteure?
Bei den bisherigen Angeboten der Musiksender auf dem Fernsehbildschirm war die
Rolle des Rezipienten schnell erklärt: Er sollte dasitzen und zusehen oder das Pro-
gramm wenigstens im Hintergrund laufen lassen und dabei möglichst selten umschalten.
Gelegentlich durfte er bei einer der wenigen Livesendungen anrufen, eine Quizfrage
beantworten, seine Freunde grüßen oder sich einen Videoclip wünschen, der aber stets
auch in der aktuellen Rotation des Senders zu finden sein mußte.
Mit der Entwicklung neuer interaktiver Onlineangebote ändert sich die Rolle des ,Zu-
schauers': Er ist mit einem Mal kein reiner Zuschauer mehr. Während man den Fern-
seher nur einschalten und ihn auf einen Musikkanal einstellen muß, erfordert die Navi-
gation der Internetangebote größere Aktivität, Aufmerksamkeit und Geschick
10
.
Neben gewissen Hardwareanforderungen wie Computer, Modem, Telefonanschluß und
ähnlichem (die es beim Fernsehen in Form eines Gerätes jedoch in geringerem Umfang
auch gibt), muß der Rezipient auch grundsätzliche Computerkenntnisse mitbringen oder
durch die Nutzung Schritt für Schritt erwerben. Dies bedeutet nicht, daß Programmier-
sprachen erlernt oder die genaue Funktionsweise eines Mikrochips verstanden werden
müssen. Die Einwahl ins Internet, das Aufrufen der Websites und ihre Navigation sowie
die Installation von zusätzlicher Software (sogenannte ,Plug-ins' wie Flash oder
Shockwave) ist für die jüngsten der Nutzer zwar häufig eine Selbstverständlichkeit, für
diejenigen aber, die nicht mit dem PC aufgewachsen sind, können sie ernsthafte
Zugangsbarrieren darstellen.
9
Auf die Hypothese der wachsenden Wissenskluft nach Tichenor, Donohue und Olien (1970) soll an
dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden.
10
Damit soll nicht unterstellt werden, daß Fernsehkonsum keinerlei Ansprüche an den Rezipienten stellt.
Generell ist der Konsum jedoch ein passiverer, der häufig die Bedürfnisse des Rezipienten vor allem
nach Entspannung und Erholung stillen soll.

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung
8
Doch selbst wenn die technischen Hürden überwunden sind, stellt eine komplett inter-
aktive Anwendung deutlich höhere Anforderungen an den Nutzer als ein ausgestaltetes
Fernsehprogramm. Der Rezipient muß sich sehr viel stärker sowohl über seine eigenen
Bedürfnisse im klaren sein, als auch über die Möglichkeit, diese zu befriedigen und so-
mit seine Gratifikation zu erlangen (vgl. die ausführlichere Schilderung des Uses-and-
Gratifications-Approach im nächsten Kapitel). Hat er diese Erkenntnis erreicht, muß er
lernen, sich die Inhalte, die er rezipieren möchte, selbst zusammenzustellen.
In dem Maße, wie die Grenzen zwischen einer ,one-to-many'-Kommunikation wie bei
den klassischen Massenmedien und einer ,many-to-many'-Kommunikation wie bei
Internetplattformen oder anderen interaktiven, digitalen Angeboten verschwimmen,
wächst auch die Verantwortung des einzelnen nicht nur gegenüber sich selbst, sondern
auch gegenüber den anderen Nutzern, die er ­ nun selbst Sender geworden ­ erreichen
kann.
Gerade angesichts der immensen Angebotsvielfalt ist ein sinnvoller und verantwor-
tungsbewußter Umgang mit den neuen Medien kein leichtes Unterfangen und verlangt
eine immer größere Medienkompetenz. Erst durch sie wird eine selbständige, sinnvolle
und kreative Nutzung von Medien möglich. Der Jugend- und Mediensoziologe Dieter
Baacke beschreibt Medienkompetenz über die folgenden vier Dimensionen (vgl.
Baacke 1999a: 34):
·
Medienkritik (analytisch, reflexiv und ethisch)
·
Medienkunde (informativ und instrumentell-qualifikatorisch)
·
Mediennutzung (rezeptiv/anwendend und interaktiv/anbietend)
·
Mediengestaltung (innovativ, kreativ)
Es soll an dieser Stelle verdeutlicht werden, daß Medienkompetenz keineswegs über
einen ,Crashkurs Internet' an der örtlichen Volkshochschule erworben werden kann.
Medienkompetenz meint vielmehr ein lebenslang andauerndes und interdisziplinäres
Konzept, das erforderlich ist, um der ständig ansteigenden Menge von Informationen
gerecht zu werden und auch in einem immer unübersichtlicher werdenden Dickicht von
Medienangeboten, diejenigen herauszufiltern, die für die eigene Entwicklung,

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung
9
Information, Entspannung etc. sinnvoll sind. Um tatsächlich das Entstehen einer Wis-
senskluft innerhalb der Gesellschaft zu verhindern, ist es deshalb wichtig, daß möglichst
alle Bevölkerungsgruppen möglichst schnell Zugang zu neuen Medientechniken haben,
um somit den Umgang mit ihnen zu üben und Medienkompetenz zu erwerben.

3
Kommunikationswissenschaftlicher
Anschluss
3.1
Diffusionsforschung
Eine neue Idee, ein neues Produkt, ein neues Medienangebot, ein neuer Herstellungs-
prozeß ­ ständig erblicken Innovationen das Licht der Welt. Doch nur ein Teil davon
kann sich durchsetzen und sich auf dem jeweiligen Markt etablieren, kann sich ent-
weder in das bestehende Angebot als zusätzliche Alternative einreihen oder in manchen
Fällen sogar eine ältere Idee oder ein älteres Produkt ablösen und verdrängen. Wie In-
novationen entstehen und vor allem woran es liegt, ob und wie schnell sie sich durch-
setzen können, ist das Forschungsfeld der Diffusionsforschung.
Die Diffusionsforschung untersucht Innovationsprozesse in ihrem Verlauf und versucht
so, Aufschluß über die Ursachen und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verbrei-
tung von Neuerungen zu erhalten. Somit können auch Annahmen über zukünftige Dif-
fusionsvorgänge getätigt und diese gegebenenfalls strategisch geplant und gestaltet
werden. Als Vater der modernen Diffusionsforschung gilt der Amerikaner Everett M.
Rogers, der sie zwar nicht erfunden hat, seit 1962 aber versucht, die verschiedenen For-
schungszweige und -richtungen, die sich mit der Übernahme von Neuerungen beschäf-
tigen, zu systematisieren und in eine einheitliche Diffusionstheorie zu integrieren.
Betrachtet man das Phänomen der Innovationen genauer, so kann man zunächst
zwischen technischen Innovationen, wie beispielsweise Produkten und Dienst-
leistungen, und sozialen Innovationen, wie zum Beispiel politische Ideologien oder
neue Wertvorstellungen, unterscheiden (vgl. Schenk 1996: 24). Im Kontext dieser Un-
tersuchung ist zweifelsohne eine Konzentration auf technische Innovationen angebracht.
Technische Innovationen lassen sich in der Regel weiterhin in einen Hardware- und
einen Softwareaspekt unterteilen. ,Hardware' bezeichnet dabei das Gerät oder Werk-
zeug, das die Innovation als physischer Körper manifestiert (beispielsweise ein Faxgerät
oder ein CD-Player). ,Software' bezeichnet entweder die Idee oder die von der

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
11
Hardware benötigte Information (beispielsweise Computerprogramme oder die Musik
auf einer CD)
11
. Die Onlineangebote der Musikfernsehsender gehören zweifelsohne zu
den Innovationen im Softwarebereich, zur Nutzung ist allerdings sowohl das Vorhan-
densein von Hardware (ein Computer, Modem, etc.) als auch von weiterer Software
(Internetzugang, Browser, etc.) nötig.
3.1.1 Diffusion von Innovationen
Die Diffusion von Innovationen ist laut Rogers ein Prozeß, in dem eine Innovation (A)
durch bestimmte Kanäle (B) im Lauf der Zeit (C) unter den Mitgliedern eines sozialen
Systems (D) kommuniziert wird. Diese vier Elemente der Diffusion von Innovationen
sollen nun etwas näher beleuchtet werden (vgl. hierzu Rogers 1995: 11-31).
Abbildung 3-1: Diffusionsprozeß von Innovationen (Quelle: Rogers 1995:11)
11
Manchmal gehören Hard- und Software bereits zusammen und werden zusammen erworben (wie bei
einem Telefon oder Faxgerät), manchmal muß zunächst die Hardware erworben werden, um die
Software, die ebenfalls gekauft werden muß, nutzen zu können (Beispiele hierfür wären Videorecorder,
Fotokameras oder Videospiele). Häufig wird dabei die Hardware relativ preisgünstig verkauft um eine
Vormachtstellung am Markt zu sichern und Profite später über den Verkauf der zugehörigen Software
zu machen (vgl. zur sogenannten ,Shaver-and-blades Strategie' Rogers 1995: 13).

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
12
Die Innovation
Als Innovation gilt eine Idee, Praxis, Produkt oder ein anderes Gut, das als neu wahr-
genommen wird. Es muß sich dabei nicht grundsätzlich um eine gänzlich neue Erfin-
dung handeln. Es ist auch möglich, daß eine Idee oder ein Produkt aus anderen Gesell-
schaften oder Gesellschaftsbereichen übernommen wird oder eine bereits bestehendes
Produkt weiterentwickelt und modifiziert wird. Wichtig ist einzig und allein die wahr-
genommene Neuartigkeit für die Person, die mit der Innovation konfrontiert wird. Eine
Innovation kann dabei selbstverständlich eine Reihe verschiedener Charakteristika auf-
weisen, die unter anderem dafür verantwortlich sind, ob und wie schnell sie sich etablie-
ren kann. So sollte eine Innovation beispielsweise einen Vorzug gegenüber der
bisherigen Lösung aufweisen, selbst wenn dieser Vorzug nur subjektiv wahrgenommen
wird. Weitere wichtige Faktoren sind Kompatibilität, Komplexität, Sichtbarkeit der
Ergebnisse sowie die Möglichkeit, die Innovation in kleinem Rahmen auszuprobieren.
Je besser sich eine Innovation mit den bisherigen Erfahrungen und Bedürfnissen ver-
trägt, je einfacher sie zu verstehen ist, je risikoloser man sie testen kann und je sicht-
barer die möglichen Ergebnisse sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß eine
Innovation erfolgreich diffundiert.
Die Kommunikationskanäle
Als Kommunikationskanal definiert Rogers das Mittel mit dem Botschaften von einem
Individuum zum anderen gelangen. Dies kann entweder durch Massenmedien gesche-
hen oder durch interpersonelle Kommunikation. Massenmedien erweisen sich dabei als
nützlicher und effektiver um eine große Anzahl potentieller Übernehmer einer Inno-
vation von ihrer Existenz in Kenntnis zu setzen und sie zu informieren. Interpersonelle
Kommunikation ist hingegen effektiver, wenn es darum geht, potentielle Übernehmer
zu überzeugen, eine Innovation zu akzeptieren oder zumindest versuchsweise anzu-
nehmen. Dabei läßt sich feststellen, daß je ähnlicher sich die beteiligten Personen in
Punkten wie Bildung, Status, Herkunft etc. sind, desto größer die Effekte sind, die in-
terpersonelle Kommunikation zwischen ihnen haben kann. Diese Effekte können von
einem Zuwachs an Wissen über Veränderung der Einstellung bis zu tatsächlich verän-
dertem Verhalten führen. Als eines der größten Probleme bei der Diffusion von

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
13
Innovationen sieht Rogers die Heterogenität der beteiligten Personen an (beispielsweise
wenn unterschiedlich hohe technische Kompetenz aufeinander trifft und die Kommuni-
kation zwischen einem Verkäufer und seinem Kunde erschwert).
Zeit
Der Faktor Zeit spielt im Diffusionsprozeß auf mehrfache Art und Weise eine Rolle.
Zunächst ist die Zeitspanne relevant, die ein Individuum (oder eine Gruppe von Indivi-
duen, beispielsweise eine Firma oder eine Gemeinde) benötigt, um von dem Wissen um
die Existenz einer Innovation zu ihrer Adoption zu gelangen (welche Phasen dabei im
Einzelnen durchlaufen werden wird später näher erläutert).
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Übernahme einer
Innovation geschieht, also ob die Adoption verglichen mit anderen Individuen relativ
früh oder relativ spät erfolgt. Die Mitglieder eines sozialen Systems lassen sich in fünf
verschiedene Kategorien einteilen, abhängig davon, wie früh oder spät sie eine be-
stimmte Innovation übernehmen (auch diese Kategorien werden in diesem Kapitel noch
genauer vorgestellt).
Der dritte Punkt bei dem der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle spielt, ist die Frage
nach der Geschwindigkeit der Übernahme, das bedeutet wie lange es dauert, bis ein
gewisser Prozentsatz an Individuen in einem sozialen System die Innovation adaptiert
hat. Diese Geschwindigkeit läßt sich einfach an dem Grad der Steigung der s-förmigen
Diffusionskurve (vgl. Abbildung 3-1) ablesen. Je steiler die Kurve, desto schneller
schreitet die Innovation voran (Innovation I), je flacher sie verläuft, desto langsamer
geht sie vonstatten (Innovation III).
Das soziale System
Ein soziales System wird von Rogers als eine Gruppe von miteinander verbundenen
Einheiten definiert, die an einer gemeinsamen Problemlösung arbeiten oder ein gemein-
sames Ziel verwirklichen wollen. Bei diesen Einheiten kann es sich um Einzelpersonen,

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
14
informelle Personengruppen, Organisationen oder Subsysteme handeln
12
, zusammen-
gehalten wird das soziale System von dem gemeinsamen Ziel.
Die verschiedenen sozialen und kommunikativen Strukturen eines Systems beeinflussen
eine Innovation ebenso wie seine Regeln und Normen. Zusätzlich können in jedem
sozialen System Meinungsführer auftreten, die die Einstellung oder das Verhalten der
anderen Individuen innerhalb des Systems beeinflussen und somit eine Diffusion ent-
weder beschleunigen, abbremsen oder sogar gänzlich verhindern können.
3.1.2 Die Stufen des Adoptionsprozesses
Der Prozeß der Adoption, also der freiwilligen Annahme und Nutzung einer Innovation,
umfaßt mehrere Stufen (vgl. hierzu Rogers 1995: 161-203). Diese werden jedoch nicht
immer komplett durchlaufen. Nur wenn der potentielle Übernehmer zu einem positiven
Ergebnis gelangt, wird die nächste Stufe eingeleitet; andernfalls wird der Vorgang der
Adoption abgebrochen.
A) Wissen: In dieser Stufe wird das Individuum der Existenz der Innovation gewahr
und erhält ein erstes grundsätzliches Verständnis von ihrer Eigenschaft und
Funktionsweise (,,knowledge stage").
B) Meinung: Hier entwickelt das Individuum eine Einstellung zu der zu bewer-
tenden Innovation aufgrund detaillierteren Wissens, das es erworben hat
(,,attitude stage").
C) Bewertung: In diesem Abschnitt werden die Vor- und Nachteile der Übernahme
abgewogen und die eigentlich Entscheidung getroffen, ob die Innovation genutzt
werden soll oder nicht (,,decision stage").
D) Implementierung: Falls die Entscheidung positiv ausgefallen ist, wird die Inno-
vation nun eingesetzt und genutzt. Dabei überprüft das Individuum, ob die
Innovation seinen Vorstellungen entspricht oder nicht (,,implementation stage").
12
Rogers führt als Beispiel an, daß eine Diffusionsstudie ein soziales System bestehend aus allen Bauern
eines peruanischen Dorfes, allen Ärzten eines bestimmten Krankenhauses oder allen Einwohnern der
Vereinigten Staaten analysieren kann (vgl. Rogers 1995: 23).

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
15
E) Bestätigung: Selbst wenn die Innovation mittlerweile implementiert worden ist,
sucht der Adoptor in der Folgezeit Bestätigung für sein Handeln. Im Falle posi-
tiver Erfahrungen wird die Nutzung der Innovation fortgesetzt und wird zur
Routine, bei negativen Erfahrungen oder neuen Informationen, die eine Nutzung
fragwürdig erscheinen lassen, kann die Implementierung auch wieder rück-
gängig gemacht und die Nutzung abgebrochen werden (,,confirmation stage").
Der geschilderte Prozeß der Adoption gilt für Individuen, läßt sich aber in leicht abge-
wandelter Form auch auf Organisationen übertragen. Rogers benennt die fünf Stufen
hier allerdings anders und spricht von ,,Agenda Setting", ,,Matching", ,,Redefining",
,,Clarifying" und ,,Routinizing" (vgl. Rogers 1995: 389-404).
Bei Individuen wie bei Gruppen und Organisationen unterliegt der Prozeß der Adoption
ständig verschiedenen Einflüssen durch interpersonelle oder massenmediale Kommuni-
kationskanäle und geht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, ökonomischer, recht-
licher und technischer Rahmenbedingungen vonstatten (vgl. Weiber 1992: 8).
Abbildung 3-2: Modell der Stufen im Adoptionsprozeß (Quelle: Rogers 1995: 163)

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
16
3.1.3 Die verschiedenen Adoptions-Typen
Die Individuen innerhalb eines sozialen Systems übernehmen eine Neuerung natürlich
nicht alle zum selben Zeitpunkt. Statt dessen kam die Diffusionsforschung zu dem Er-
gebnis, daß man sie in fünf verschiedene Typen einteilen kann, die jeweils aus
bestimmten Gründen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Innovation übernehmen.
Zeigt die Abbildung 3-1 in ihrer s-förmigen Kurve die kumulierte Anzahl an erfolg-
reichen Adoptionen an, zeigt die Abbildung 3-3 wieviel neue Übernehmer es zu jedem
Zeitpunkt eines Adoptionsprozesses gibt. Auf der x-Achse ist dabei die verstrichene
Zeit abzulesen, auf der y-Achse die Anzahl der erfolgreichen Adoptionen.
Abbildung 3-3: Kategorisierung der Adoptoren auf der Basis ihrer Innovationsbereitschaft
(Quelle: Rogers 1995: 262)
Die fünf Gruppen der Adoptoren lassen sich idealtypisch wie folgt beschreiben (vgl.
Rogers 1995:263-280) :
·
Innovatoren (,,innovators"): Lediglich 2,5% der Anwender gehören zu dieser
Gruppe. Sie sind wagemutig und technikbegeistert und genießen innerhalb ihres
sozialen Systems nicht immer den besten Ruf. Sie sind keine Meinungsführer,
ihre Funktion als eine Art Schleusenwärter, der den Fluß neuer Ideen in die
Grenzen eines sozialen Systems hinein steuert, ist jedoch nicht zu unterschätzen.
In der Regel verfügen sie über eine höhere Schulbildung, größere finanzielle
Ressourcen und sind sehr gut durch die Medien informiert.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
17
·
Frühe Übernehmer (,,early adoptors"): Diese Gruppe fällt mit 13,5% der Adop-
toren bereits deutlich größer aus. Im Gegensatz zu den Innovatoren sind die
frühen Übernehmer deutlich weniger kosmopolitisch geprägt, dafür genießen sie
größeren Respekt innerhalb ihres Systems. Sie gelten als Meinungsführer und
Symbol für sinnvoll und mit Bedacht implementierte Innovationen. Auch sie
weisen ähnlich den Innovatoren einen hohen sozialen und finanziellen Status auf
und beziehen ihre Informationen überwiegend aus den Medien.
·
Frühe Mehrheit (,,early majority"): Mit 34% der Anwender ist diese eine der
beiden größten Gruppen. Sie geht in den meisten Fällen relativ überlegt vor und
übernimmt eine Innovation erst dann, wenn die Anfangsschwierigkeiten aus
dem Weg geräumt und die Preise für eine Implementierung gefallen sind. Mit-
glieder der frühen Mehrheit gelten selten als Meinungsführer ihres Systems,
sondern vertrauen eher darauf, durch Kontakt mit den Individuen in ihrer Um-
gebung für sich relevante Informationen zu erhalten.
·
Späte Mehrheit (,,late majority"): Ebenso wie die frühe Mehrheit macht die
späte Mehrheit mit 34% der Adoptoren etwa ein Drittel der Mitglieder eines
sozialen Systems aus. Sie verfügen über geringere Ressourcen als die bisherigen
Gruppen und können es sich daher oft erst leisten, eine Innovation zu über-
nehmen, wenn sie preisgünstiger geworden ist und sichergestellt ist, daß sie sich
bewähren wird. Ihre Skepsis ist groß, soziale Normen sowie Druck von anderen
Individuen sind für sie ein gewichtiger Grund, Neuerungen zu übernehmen.
·
Nachzügler (,,laggards"): Diese Gruppe umfaßt 16% der Mitglieder eines
sozialen Systems. Sie gilt als konservativ, traditionell und vergangenheits-
orientiert. Sie weisen die niedrigste formale Bildung und den niedrigsten
sozialen Status aller fünf Gruppen auf und übernehmen Innovationen erst dann,
wenn sie sich ihnen aufgrund des sozialen Drucks nicht mehr länger ver-
schließen können.
Betrachtet man die Diffusionskurve für Produkte und Angebote aus dem Bereich Tele-
kommunikation, so stellt man fest, daß diese im Vergleich zur Normalverteilung nach
rechts verschoben sind. Das bedeutet, daß bei Innovationen wie beispielsweise

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
18
neuartigen Onlineangeboten der Musiksender mit einer verzögerten Adoption zu
rechnen ist und damit, daß der gesamte Prozeß der Übernahme länger dauert als durch-
schnittlich. Dies liegt unter anderem daran, daß erst eine gewisse Anzahl von Anwen-
dern erreicht werden muß, damit sich die Ausbreitung mit einer höheren
Geschwindigkeit fortsetzen kann (bzw. nicht völlig scheitert); dieser Entwurf der ,kriti-
schen Masse' wird im folgenden Kapitel ausführlicher erläutert.
3.1.4 Das Konzept der kritischen Masse
Im Zusammenhang mit interaktiven Medien wie zum Beispiel Fax, E-Mail oder Bild-
telefonen tritt bei der Adoptionsrate ein besonderes Phänomen auf, das unter dem
Namen ,kritische Masse' bekannt ist.
Das Konzept der ,kritischen Masse' geht ursprünglich auf die Physik zurück und wurde
dort im Zusammenhang mit der Menge radioaktiven Materials gebraucht, die nötig ist,
um eine nukleare Reaktion zu produzieren. Im Falle einer interaktiven Innovation be-
deutet dies, daß wenn erst einmal eine genügend große Anzahl an Nutzern die Inno-
vation implementiert haben, eine Art Selbsterhaltung der weiteren Diffusion einsetzt
und diese stark beschleunigt wird. Am Ende entsteht sogar in vielen Fällen eine Art
Druck, die Innovation zu implementieren, um keine negativen Sanktionen zu erleiden
oder ausgegrenzt zu werden.
Im Gegenzug kann eine Innovation auch daran scheitern, daß die kritische Masse nicht
erreicht wird. Gerade bei interaktiven Innovationen hängt die Attraktivität zu einem
großen Teil davon ab, wieviel andere Individuen innerhalb des sozialen Systems die
Innovation bereits implementiert haben
13
. Wenn die anfängliche Diffusion also zu lang-
sam vonstatten geht und für eine längere Zeit zu wenig Individuen von ihr Gebrauch
machen, kann es passieren, daß die Verbreitung stagniert und sogar bereits geschehene
Implementierungen wieder rückgängig gemacht werden
14
.
13
Eine Person, die niemanden kennt, der eine E-Mail-Adresse hat, wird weitaus weniger Interesse daran
haben, auf diese Art und Weise zu kommunizieren, als jemand dessen gesamter Freundeskreis über
elektronische Post erreichbar ist. Letztgenannte wird sogar einen gewissen sozialen Druck verspüren,
endlich nachzuziehen und die Innovation ebenfalls zu nutzen.
14
Wer sich beispielsweise ein Bildtelefon anschafft, nach einem Jahr aber immer noch kaum Gebrauch
davon machen kann, da die Innovation sonst von niemandem übernommen wird, könnte (unter
anderem aus Kostengründen) das Bildtelefon wieder abschaffen.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
19
Abbildung 3-4: Kritische Masse - Adoptionsrate für eine gewöhnliche sowie eine interaktive Inno-
vation (Quelle: Rogers 1995: 314)
Die Onlineangebote der deutschen Musikfernsehsender sind insofern eindeutig inter-
aktive Angebote, als daß sie auf den Aufbau einer sogenannten ,Onlinecommunity'
abzielen. Das bedeutet, daß junge Nutzer, die sich über ein persönliches Kennwort an-
melden, Mitteilungen in Diskussionsforen schreiben, sich an Chats beteiligen und sich
auf andere Art und Weise austauschen können. Neben einer aus dem Journalismus be-
kannten, klassischen ,one-to-many'-Kommunikation findet also auch in vielen Be-
reichen der Onlineangebote eine ,many-to-many'-Kommunikation statt, bei der das
Nachrichtenangebot der Websites in den Hintergrund tritt und sie zur Kommunikations-
plattform für den gleichberechtigten Austausch verschiedener Nutzer wird. Aus diesem
Grund sind sie auch stark vom Phänomen der kritischen Masse betroffen, das auch als
,Netzwerkeffekt' bekannt ist (vgl. Blind 1997: 156).
Eine bereits existierende ausreichend große Zahl an Nutzern, die die Chaträume und
Diskussionsforen mit Leben erfüllen und die den jungen Nutzern das Gefühl geben
,etwas zu verpassen', wenn sie nicht dabei sind, ist also eine Voraussetzung für die

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
20
individuelle Implementierung und somit für eine Diffusion. Denn mit jeder zusätz-
lichen Adoption steigt der Nutzen sowohl für die existierenden als auch für die zukünf-
tigen Anwender.
Weitere Kriterien für den Markterfolg sind Benutzerfreundlichkeit, Funktionalität und
Attraktivität der inhaltlichen Angebote. Die neuen interaktiven Angebote der Websites
von MTV und VIVA müssen sowohl Neues bieten, als auch an bestehende Nutzungs-
gewohnheiten anknüpfen. Ein ­ vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene ­
immer selbstverständlicher werdender Umgang mit Computer und Internet ist dabei
ebenso hilfreich sowie ein sich immer stärker ausdifferenzierender Medienmarkt, der
den Rezipienten zur Selektivität zwingt.
Genau festzustellen, an welchem Punkt in der ,Laufbahn' einer Diffusion sich die
Onlineangebote der Musiksender im Augenblick befinden, ist nahezu unmöglich. Es
kann jedoch angenommen werden, daß beide Angebote an dem bedeutungsvollen
Punkt, an dem die kritische Masse erreicht ist und die Ausbreitung eine gewisse Eigen-
dynamik erhält, noch nicht ganz angekommen sind.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
21
3.2
Uses-And-Gratifications-Approach und Nutzenansatz
Es ist bereits deutlich geworden, daß interaktive Onlineangebote wie die der Musik-
fernsehsender einen aktiven Mediennutzer voraussetzen, der eigenständig und erfahren
aus einer ständig wachsenden Angebotsvielfalt die Angebote auswählt, die seinen indi-
viduellen Bedürfnissen am besten entsprechen. Vor allem jungen Menschen ist diese
Situation vertraut, da für sie ein sich ständig weiter ausdifferenzierender Medienmarkt
voller Special-Interest-Angebote und Neuerscheinungen zum Alltag gehört und eine
Selbstverständlichkeit darstellt.
Ebenso wie die Diffusionsforschung gehen auch der Uses-And-Gratifications-Approach
und der Nutzenansatz in ihrer Grundannahme von einer starken Selektivität aktiver
Mediennutzer aus. Der Ansatz steht in bewußtem Widerspruch zum Stimulus-
Response-Modell und kehrt die Fragestellung ,Was machen die Medien mit dem
Menschen?' in das berühmte ,Was machen die Menschen mit den Medien?' um (vgl.
Katz 1962: 378).
1974 wurde von Katz, Blumler und Gurevich der ursprüngliche Uses-And-
Gratifications-Approach
15
entwickelt, der davon ausgeht, daß sich Menschen den-
jenigen Medieninhalten zuwenden, von denen sie sich die Erfüllung bestimmter
Bedürfnisse erwarten. Die Befriedigung der Bedürfnisse und die daraus resultierende
Zufriedenheit ist als die Gratifikation zu verstehen (vgl. Schenk 1987: 379).
Für die Medien bedeutet dies im Gegenzug, daß sie ,,untereinander als Mittel der
Bedürfnisbefriedigung oder Problemlösung in Konkurrenz stehen, und zwar auch zu
nichtmedialen Quellen" (Bonfadelli 1999: 160, Hervorhebung im Text). Eine automa-
tische oder grundlose Nutzung, wie sie vielleicht in Zeiten spärlicher Medienangebote
erfolgte, ist nicht mehr denkbar.
15
In der deutschen Übersetzung herrscht im Bereich dieses Ansatzes einige Verwirrung: Der Uses-And-
Gratifications-Approach wird in der deutschen Literatur häufig mit ,Nutzen- und Belohnungsansatz'
übersetzt oder aber schlicht mit ,Nutzenansatz'. Dabei ist letztgenannter eigentlich eine
Weiterentwicklung des Uses-And-Gratifications-Ansatzes der Forscher Renckstorf und Teichert aus
den Siebziger Jahren. Als sinnvolle kurze Übersetzung für den ursprünglichen Uses-And-
Gratifications-Ansatz nach Katz und Blumler wird die Bezeichnung ,Nutzungsansatz' vorgeschlagen.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
22
Nach Karl Erik Rosengren (1974) hat jeder Mensch je nach seiner Sozialisation und
aktuellen Lebenssituation individuell unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse und
somit unterschiedliche Möglichkeiten, diese zu lösen respektive zu befriedigen. Die
Probleme und Bedürfnisse setzen sich aus verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel der
jeweiligen Gesellschaft, der physiologischen und psychologischen Entwicklung und
grundsätzlichen menschlichen Bedürfnissen zusammen. Die Lösungs- und Befriedi-
gungsmöglichkeiten werden ebenfalls von dem gesellschaftlichen Kontext, dem vor-
handen Mediensystem, etc. geprägt
Abbildung 3-5: Handlungstheroetischer Nutzenansatz nach Renckstorf
(Quelle: Bonfadelli 1999: 162)
3.2.1 Bedürfnistypologien
Die verschiedenen Bedürfnisse der Rezipienten lassen sich in verschiedenen Dimen-
sionen und Kategorien einteilen, was jedoch kein unproblematisches Unterfangen ist.
Der Medienwirkungsforscher Heinz Bonfadelli schlägt dabei folgende Kategorisierung
vor (vgl. Bonfadelli 1999: 163-164):

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
23
·
Kognitive Bedürfnisse: In diese Gruppe lassen sich Bedürfnisse zusammen-
fassen, die aus Orientierungs- und Entscheidungsproblemen resultieren. Dazu
gehören Unterdimensionen wie Neugier, Kontrolle der Umwelt, Lernen,
Realitätserforschung, Wissenserweiterung, Selbsterfahrung, etc.
·
Affektive Bedürfnisse: Diese Kategorie beinhaltet die Kontrolle verschiedener
Stimmungen wie Entspannung und Erholung durch Unterhaltung, Ablenkung,
Entlastung oder Verdrängung, andererseits aber auch Bedürfnisse nach Span-
nung und Aufregung
16
.
·
Sozial-interaktive Bedürfnisse: Diese Bedürfnisse resultieren aus dem Wunsch
nach Austausch mit anderen Menschen, nach ihrer Gesellschaft und Aner-
kennung. Medien dienen dabei indirekt als Lieferant für Gesprächsthemen und
Anlässe, aber auch zur Identifikation mit Medienakteuren und ihre Behandlung
als Personen des realen Lebens
17
.
·
Integrativ-habituelle Bedürfnisse: Die Gruppe beruht auf der Sehnsucht nach
Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität. Durch gewohnheitsmäßige Nutzungs-
muster oder festgelegte Inhaltsstrukturen können Medien diese Bedürfnisse
befriedigen
18
.
3.2.2 Kritik am Uses-And-Gratifications-Approach
Scharfe Kritik erfuhr der Uses-And-Gratifications sowie der Nutzenansatz von mehre-
ren Seiten: Klaus Merten stellt beispielsweise die Frage, ob es sich bei den Ansätzen um
eine theoretisches Konzept oder lediglich um eine Forschungsstrategie handele (vgl.
16
Während das Fernsehen tendenziell prädestinierter für Erholung, Entspannung und ,Abschalten' zu sein
scheint, liegt die Vermutung nahe, daß interaktive Onlineangebote wie Chaträume und ähnliches eher
das affektive Bedürfnisse nach Spannung und Aufregung befriedigen können.
17
Ein Beispiel hierfür wären die Bewohner des Big Brother-Containers, die von vielen Rezipienten in
Unterhaltungen mit anderen Zuschauern der Sendung behandelt wurden, als wären es gemeinsame
Bekannte. Noch absurder wird es, wenn dasselbe Phänomen bei fiktiven Figuren, beispielsweise
Charakteren aus der Lindenstraße zutage tritt.
18
Beispiele hierfür wären Konstanten im Tagesablauf wie das Ansehen einer täglichen Soap Opera oder
der Abendnachrichten, andererseits inhaltliche Regelmäßigkeiten, die dem Rezipienten Vertrautheit
ermöglichen wie Genres, standardisierte Formate und ähnliches.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
24
Merten 1984: 54). Er bemängelt außerdem, daß der Uses-And-Gratifications-Ansatz
,,nicht die Wirkung einzelner Medienangebote erfaßt, sondern [...] das (tägliche,
wöchentlich) durchschnittliche Medienangebot in Bezug setzt zu den Bedürfnissen des
Rezipienten" (Merten 1999: 364, Hervorhebung im Text).
Ein zusätzlicher Kritikpunkt ist der des Tautologieschlusses: So sei es immer möglich,
allen bei den Rezipienten feststellbaren Bedürfnissen nachträglich Medienangebote zu-
zuordnen, die diese Bedürfnisse befriedigen. Die Ansätze wiesen einen ,,zirkulären
Charakter" (Zubayr 1996: 28) auf, viele der von Rezipienten geäußerten Bedürfnisse
seien außerdem von Marketing- und Werbeabteilungen der Medienbranche künstlich
geschaffen worden (vgl. zur Kritik am Nutzungsansatz Ronge 1984, Swanson 1979
sowie Bonfadelli 1999: 165).
Ein weiteres Problem bei der Verwendung des Nutzungsansatzes sind die Annahme,
daß die Bedürfnisse der Rezipienten überhaupt erschlossen werden können. Dies impli-
ziert nämlich, daß sie sich a) selbst darüber im klaren sind und b) in der Lage und wil-
lens sind, darüber Auskunft zu geben. Außerdem sollte die Rationalität und Planung
beim Medienkonsum nicht überbewertet werden. Medien werden nicht nur zielgerichtet,
absichtsvoll und effektiv genutzt und konsumiert, sondern oft auch spontan, impulsiv
und wahllos (vgl. Ronge 1984: 74). Vor allem in der Diskussion um neue Medien wie
das Internet kursiere laut Aussagen vieler Kritiker ein Zerrbild vom ,,hyperaktiven Re-
zipienten" (Schönbach 1997, zitiert nach Weischenberg 1998: 54).
3.2.3 Konsequenzen für die Onlineangebote der Musikfernsehsender
Trotz der Schwächen, die der Uses-and-Gratifications-Ansatz und in einigen Punkten
auch der Nutzenansatz aufweisen, kommt ihre Sichtweise der zielgruppenorientierten
Betrachtungsweise vieler Marketingstrategen aus dem Mediensektor gelegen. Durch
immer genauer auf die Bedürfnisse kleinster Untergruppen von Nutzern zugeschnittene
(Online-)Angebote kann beispielsweise dem Werbekunden auch ohne exorbitante
Reichweiten versprochen werden, daß seine Werbebotschaften ihr Ziel erreichen. Ob
diese Versprechen berechtigt sind und ob die Streuverluste tatsächlich so niedrig sind
wie angenommen und behauptet wird, ist gerade im Bereich Onlinewerbung nach wie
vor strittig.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss
25
Um sich erfolgreich im Kampf um Aufmerksamkeit sowie Gebühren- und Zeitbudgets
zu behaupten, müssen die Onlineangebote der Musikfernsehsender eine Reihe von Be-
dürfnissen erfüllen. Dadurch, daß eine Vielzahl von Inhalten unterschiedlichster Art
permanent verfügbar und abrufbereit sind, ist die Möglichkeit zur Selektion deutlich
stärker als bei einem starr programmierten und formatierten Fernsehkanal. Dies würde
Bedürfnissen nach Selbständigkeit, Kreativität und Unabhängigkeit entgegenkommen.
Das gleiche gilt für das Bedürfnis nach zeitlicher Unabhängigkeit, die dadurch entsteht,
daß sich der Rezipient nicht mehr nach bestimmten Programmschemata richten muß
oder auf den Videoclip seines Lieblingskünstlers warten muß. Liegen alle Inhalte 24
Stunden abrufbereit auf einem Internetserver, hat der Nutzer die Freiheit, jederzeit zu
konsumieren, was er möchte, ohne auf den Tagesablauf und die Nutzungsgewohnheit
der Mehrheit (auf die die meisten Medienangebote zugeschnitten sind) Rücksicht
nehmen zu müssen.
Mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten und sich über gemeinsame Themen und Vor-
lieben auszutauschen, wie es in den Online-Communities der Internetangebote von
MTV und VIVA möglich ist, kann das Bedürfnis nach sozialer Interaktion ebenso be-
friedigen wie das nach räumlicher Unabhängigkeit, da der Nutzer unter Umständen
auch Freundschaften und Kontakte zu weit von ihm entfernt lebenden Personen pflegen
kann. Die Gratifikationen, die das herkömmliche Musikfernsehen bisher jedoch in
großen Maße bieten konnte, sollten bei den Onlineangeboten der Musiksender nicht
vernachlässigt werden. Müssen die Benutzer auf gewohnte Gratifikationsmöglichkeiten
(wie etwa die Befriedigung von Bedürfnissen nach Entspannung, Ablenkung und
Realitätsflucht) verzichten, könnte das die Akzeptanz und Ausbreitung der Online-
angebote bremsen und im schlechtesten Falle sogar verhindern.

4
Zielsetzung und Vorgehensweise der
Untersuchung
Betrachtet man die Ergebnisse der vorgestellten Studie zum Thema Nutzung und Ak-
zeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland, so stellt man fest,
daß es sich dabei noch keineswegs um ein Massenphänomen handelt. Nach einer Phase
des Abwartens haben jedoch die beiden großen Konkurrenten auf dem deutschen Markt
(MTV und VIVA) beide das Potential des Onlinemarktes erkannt und durch ent-
sprechende Investitionen in ihre Onlineaktivitäten reagiert (vgl. hierzu die Kapitel
5.2.6.2 und 5.3.4.4). Waren die Websites der Sender anfangs hauptsächlich als ausführ-
liche Programmbroschüren verstanden worden (ähnlich dem Videotextangebot vieler
Fernsehsender), in denen man über Sendezeiten und Programmhighlights informiert, so
werden die Internetpräsenzen mehr und mehr als eigenständige Medienangebote
produziert.
Dies wirft mehrere Fragen auf: Zum einen, ob das Publikum diese Angebote annimmt
und nutzen wird, zum anderen, welchen Stellenwert es ihnen beimißt und wie es sich
auf ihren bisherigen Medienkonsum auswirkt. Wird ­ auch wenn durch technische Ent-
wicklungen vieles möglich ist ­ an den Bedürfnissen und Wünschen der Benutzer vor-
beiproduziert? Die zentrale Forschungsfrage lautet deshalb: Wie werden die bestehen-
den und zukünftigen Online-Angebote der deutschen Musikfernsehsender von den
Rezipienten genutzt und akzeptiert?
In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage, inwieweit die Onlineangebote
eine Gefahr für das reguläre Fernsehprogramm von MTV und VIVA darstellen. Ob sie
von den (meist jugendlichen) Nutzern als Ergänzung zu den Fernsehangeboten verstan-
den werden oder als Ersatz. Tauchen neue Medien (oder neue technische Über-
tragungsmöglichkeiten) auf, ist es üblich, daß Befürchtungen laut werden, das neue
Medium (Fernsehen, Videocassetten oder E-Mails) könnten das jeweils alte (Buch,
Kino oder Briefe) verdrängen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß solche Vermutungen
sich in der Regel als unbegründet herausstellen. Weder hat das Fernsehen dazu geführt,
daß keine Bücher mehr geschrieben oder verlegt werden, noch hat die Entwicklung des
Videorecorders dafür gesorgt, daß niemand mehr in Kinos geht. In den meisten Fällen

4 Zielsetzung und Vorgehensweise der Untersuchung
27
kam es gleichwohl zu Veränderungen und Verschiebungen, denn egal wie stark die Zahl
und der Umfang der unterschiedlichen Medienangebote auch zunehmen, das verfügbare
Zeitbudget, das der einzelne für den Konsum dieser Medienangebote aufzuwenden in
der Lage ist, kann nur sehr begrenzt zunehmen (vgl. zum Thema Evolution der Medien
Merten 1999: 183-213).
Die vorliegende Untersuchung will klären, inwieweit Jugendliche und junge Erwach-
sene bereits die Onlineangebote der Musiksender nutzen, welche Eigenschaften sie
dabei am meisten faszinieren und welche Angebote sie sich für die nahe Zukunft vor-
stellen und wünschen würden. Die Untersuchung schließt dabei an die Forschung in den
Bereichen der Diffusionsforschung an und bezieht sich auf Ansätze wie den Uses-and-
Gratifications-Approach und den Nutzenansatz der Kommunikationswissenschaft.
Die Untersuchung, die in Form einer schriftlichen Befragung vorgenommen wurde,
kann dabei jedoch nur den momentanen Zustand beschreiben, für eine längerfristige
Untersuchung von Entwicklungen (zum Beispiel durch eine Panel-Untersuchung) fehl-
ten leider die Möglichkeiten
19
. Insgesamt wurden 111 Jugendliche und junge Erwach-
sene im Alter von 13 bis 30 Jahren befragt, die Befragung wurde im Sommer 2001 im
Stadtgebiet von Münster durchgeführt. Die Studie erhebt keinen Anspruch auf Reprä-
sentativität, dennoch wurde versucht, durch die verschiedenen Orte, an denen die
Befragung durchgeführt wurde (vgl. Kapitel 7.3) eine möglichst heterogene Stichprobe
zu erhalten. Somit ist es möglich, ein aufschlußreiches Bild der aktuellen Nutzung und
Akzeptanz der Onlineangebote der Musiksender zu zeichnen und somit die Verhaltens-
weise und Einstellungen der jungen Mediennutzer etwas besser zu verstehen.
19
Eine dynamische Untersuchung, die sich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, ob und wie sich die
Nutzung von Online- und Fernsehangeboten im Lauf mehrere Jahre verschiebt, wäre eine höchst
interessante Anschlußforschung und könnte unter Umständen Antworten auf einige Fragen ergeben,
die in dieser Arbeit nur angerissen werden können.

5
Die Entwicklung des Musikfernsehens
Will man die aktuelle Situation der deutschen Musikfernsehsender analysieren und ver-
stehen, so darf man dabei die historischen Grundlagen und internationalen Entwick-
lungen, die auf diesem Sektor stattfanden, nicht außer acht lassen. Der historische
Überblick auf den folgenden Seiten soll dabei mehr sein als eine reine chronologische
Auflistung der Ereignisse, mehr als ,,one goddam thing after another" (Goodwin 1992:
189). Die Schilderung soll vielmehr als Orientierungshilfe dienen und einen Einstieg in
die Thematik auch ohne großes Vorwissen ermöglichen. Außerdem soll ein starkes
Augenmerk auf die Zusammenhänge und Kausalitäten zwischen den einzelnen Ereig-
nissen gerichtet werden und ihre Bedeutung für neuere Entwicklungen und den aktu-
ellen Stand der Dinge.
Während viele Vorgänge in den USA Erklärungen für Entwicklungen in Deutschland
liefern können, soll keineswegs übersehen werden, daß es doch immer wieder Eigen-
heiten eines nationalen Marktes, einer Kultur und eines Mediensystems sind, die die
Entwicklung eines Phänomens wie das Musikfernsehen beeinflussen und steuern kön-
nen. Deshalb wird die Entwicklung in den USA als Vorreiter für den weltweiten Sie-
geszug der Musikvideos dargestellt, aber ebenso in ausführlichen Kapiteln die spezielle
Situation in Deutschland erforscht und beleuchtet.
Vor allem R. Serge Denisoff (,,Inside MTV" 1988), Andrew Goodwin (,,Dancing in the
Distraction Factory" 1992), Tom McGrath ("MTV ­ The Making of a Revolution"
1996) und Jack Banks ("Monopoly Television ­ MTV's Quest to Control the Music"
1996) haben in ihren Werken bereits außerordentlich gute Darstellungen der geschicht-
lichen Entwicklung des Musikfernsehens allgemein und des Senders MTV im beson-
deren geliefert. Auf ihre Bücher stützen sich große Teile dieses Kapitels.
5.1
Musik im Fernsehen: Die Vorläufer der Musikkanäle
Musik tauchte natürlich nicht erst mit dem Sender MTV zum ersten Mal auf den Fern-
sehbildschirmen auf. Im Gegenteil: Die Verbindung von Musik und bewegten Bildern
ist genauso alt, wie der Tonfilm selbst. Der 1927 erstmals gezeigte Film ,The Jazz

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens
29
Singer' war nicht nur der erste Film mit einer Audiospur, sondern gleichzeitig auch der
erste Film mit einem musikalischen Soundtrack (vgl. Banks 1996: 23).
Die ersten Vorläufer des Videoclips wurden einige Jahre später in den 40ern bekannt.
Die sogenannten ,Soundies' waren Kurzfilme von etwa drei Minuten Länge, in denen
die Zuschauer musikalische Darbietungen, vorzugsweise von Jazzmusikern wie DUKE
ELLINGTON, LOUIS ARMSTRONG und NAT ,KING' COLE gezeigt bekamen.
Diese Kurzfilme wurden in sogenannten ,Panorams' gezeigt ­ Münzautomaten, die in
Nachtclubs, Bars und Restaurants aufgestellt waren
20
. Obwohl sich die ,Soundies' für
eine kurze Zeit großer Beliebtheit erfreuten, sorgten technische Unzulänglichkeiten
21
und schnell wechselnde Trends
22
für ein baldiges Verschwinden der Panoram-Apparate
(vgl. Banks 1996: 23-24).
Auch im Fernsehen spielte Musik von Anfang an eine wichtige Rolle. Viele der ersten
kommerziellen Fernsehsendungen waren ursprünglich im Radio entstanden und nach
dortigen Erfolgen auf den Bildschirm gebracht worden. So beispielsweise auch die Sen-
dung Your Hit Parade, die von Lucky Strike gesponsort wurde und in der eine fest an-
gestellte Band aktuelle Hits nachspielte und die Sänger zwischen den Liedern Sketche
aufführten. Sendungen dieser Art zielten auf keine bestimmte Altersgruppe ab und ver-
suchten, so gut wie möglich den Massengeschmack der gesamten Zuschauerschaft zu
treffen (vgl. Banks 1996: 24).
Eine weitere bedeutsame Sendung der 50er Jahre, in der Musik eine wichtige Rolle
spielte, war American Bandstand, das 1952 entstand und 1957 beim Network ABC
bundesweit auf Sendung ging. In dieser Sendung traten die Stars der damaligen Zeit
20
In Frankreich gab es in den 60er Jahren ähnliche Maschinen, die ,Scopitones' genannt wurden.
21
Einer der größten Nachteile war die Tatsache, daß die einzelnen Clips nacheinander auf einer langen
Filmspule angeordnet waren, so daß ein potentieller Betrachter nie wissen konnte, welcher Musiker als
nächstes gezeigt würde.
22
Zum einen war es den Betreibern der Automaten nicht möglich, die Filmspulen schnell genug zu
produzieren und zu wechseln, um mit den aktuellen Musiktrends mitzuhalten. Zum anderen kamen zu
dieser Zeit die Juke- oder Musikboxen in Mode, bei denen man die Musik selbst auswählen konnte und
zu denen besser getanzt werden konnte, als zu den für den einzelnen Betrachter konzipierten Panorams.

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens
30
selbst auf, lieferten eine Playback-Vorführung ihrer aktuellen Stücke während das Stu-
diopublikum dazu tanzte
23
.
In den 60er Jahren sorgten vor allem Auftritte der Beatles und anderer englischer Bands
in bunt gemischten Variety Shows wie der Ed Sullivan Show für Schlagzeilen. Gleich-
zeitig versuchten sich die Sender an gefälligen Musiksendungen wie Hullaballoo oder
Shindig, in denen Hollywoodpersönlichkeiten wie Jerry Lewis oder Zsa Zsa Gabor
Musik ankündigten, zu der sie keinen Bezug hatten. Das Publikum honorierte diese
Form der Moderation ebensowenig wie die Tatsache, daß viele der zu dieser Zeit be-
liebten Künstler nicht in die Sendungen eingeladen wurden, weil ihre Musik als zu ex-
trem und nicht familientauglich eingestuft wurde (vgl. Banks 1996: 25).
Letzteres Problem wurde gelöst, indem ein Team von Fernsehproduzenten mit den
MONKEES kurzerhand ihre eigene, saubere und drogenfreie Rockband erfanden und
dafür vier junge Männer (keiner von ihnen Musiker) anheuerten
24
. Die Serie The
Monkees wurde ein voller Erfolg, ebenso wie das Album der MONKEES, das allerdings
von Studiomusikern eingespielt worden war. In den 80er Jahren strahlte übrigens nie-
mand anderes als MTV selbst die Wiederholungen der Serie aus.
In den frühen 70er Jahren entstand schließlich eine Reihe von Musiksendungen, die
überwiegend in den Nächten des Wochenendes ausgestrahlt wurden und sich an junge
Zuschauer wendeten, die gerade nach Hause zurückkehrten. Entgegen ihrer Titel wur-
den auch bei In Concert, Midnight Special und Rock Concert keine wirklichen Live-
konzerte gezeigt, sondern ähnlich bei American Bandstand Playbackauftritte im Fern-
sehstudio. Keine dieser Sendungen konnte jedoch über längere Zeit erfolgreich sein und
alle wurden bereits Mitte der 70er wieder eingestellt (vgl. Banks 1996: 26).
In den nächsten Jahren gab es Musik im amerikanischen Fernsehen nur sporadisch zu
sehen: Entweder bei einer der seltenen Spezialsendungen oder als musikalischer
Gastauftritt in der erfolgreichen Comedy-Sendung Saturday Night Live.
23
Ein Konzept, das bis heute erfolgreich ist, beispielsweise in Form der Sendung Top of the Pops (in
Deutschland im Programm von RTL).
24
Auch dieses Konzept findet sich im heutigen Fernsehgeschäft in einer Sendung wie Popstars wieder.
Eine weltweit syndizierte Sendung aus dem Hause Endemol, die in Deutschland von RTL 2
ausgestrahlt wurde und der künstlich erschaffenen Band NO ANGELS einen Nummer 1 Hit bescherte.

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens
31
Erst in den frühen 80er Jahren gab es wieder Musiksendungen im amerikanischen Fern-
sehen, die von den Zuschauern akzeptiert wurden. Solid Gold startete 1980 und präsen-
tierte die erfolgreichsten Hits der Woche, während in Soul Train ein vorwiegend afro-
amerikanisches Publikum zu seiner Musik tanzte (vgl. Bank 1996: 26).
Die Gründe, warum die amerikanischen Fernsehnetworks bei dem Versuch, Popmusik
in ihr Programm zu integrieren, jahrzehntelang erfolglos blieben, sind vielfältig: Zum
einen war die Bezahlung für die Musiker und Bands in der Regel schlecht, wohingegen
Livekonzerte finanziell wesentlich lukrativer waren. Außerdem bestand die Gefahr,
durch Fernsehauftritte potentielle Konzertbesucher zu verlieren, die nach einer Gratis-
vorstellung auf dem Bildschirm nicht mehr gewillt waren, ein Konzertticket zu kaufen.
Zum anderen waren die Sendungskonzepte und ihre Präsentatoren oft so konservativ,
daß viele Rockmusiker fürchteten, ihr Image und ihre Reputation beim jungen Publi-
kum zu verlieren, würden sie dort auftreten. Eng damit verknüpft ist das Problem der
Zensur, der sich Musiker im Fernsehen immer wieder unterwerfen mußten. Sei es der
berühmte Fall, daß Ed Sullivan seine Kameraleute anwies, ELVIS PRESLEY bei des-
sen Auftritt nur von der Hüfte aufwärts zu filmen oder die Forderung an die ROLLING
STONES die Texte ihres Stückes ,,Let's Spend the Night Together" zu ändern ­ die
Liste der Kontrollen und Eingriffe der Fernsehproduzenten in die Sphäre der Künstler
war lang und sorgte für gegenseitiges Mißtrauen. Zuguterletzt war auch die Klang-
qualität in den ersten Jahrzehnten des Fernsehens sehr schlecht und in etwa vergleichbar
mit einem Transistorradio. Dies alles führte dazu, daß von Seiten der Musiker sowie
von Seiten der Musikindustrie Fernsehen nur als sehr unattraktives Medium für die
Verbreitung von Musik angesehen wurde. Im Gegenzug waren die kommerziellen Fern-
sehnetworks darauf angewiesen, ein möglichst großes Massenpublikum anzuziehen, um
die nötigen Einschaltquoten zu erzielen, was ein Engagement für Künstler, die aus-
schließlich eine bestimmte demographische Zielgruppe ansprachen, nahezu von Anfang
an ausschloß (vgl. Banks 1996: 26-28).
Die ersten tatsächlichen Videoclips entstanden ­ wenn auch in einer relativ primitiven
Form ­ in den frühen 70er Jahren. Oft wurde einfach ein Konzert des Künstlers mit
einer einzigen Kamera abgefilmt, die so entstandenen Filme wurden dann in Schall-
plattenläden, Nachtclubs oder als bezahlte Werbung im Fernsehen gezeigt, um so das
Interesse der Plattenkäufer zu erregen. Viele dieser Clips (auch von amerikanischen

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens
32
Musikern) wurden für den europäischen, vor allem den britischen Markt produziert. Im
Gegensatz zu den USA spielte Musik hier schon längere Zeit eine wichtige Rolle im
Fernsehbereich und Sendungen wie Top of the Pops und Ready! Steady! Go! boten ein
ideales Umfeld für diese neuen Werbefilme. In den USA jedoch wurden sie kaum ge-
zeigt, was vor allem an der eingeschränkten Zielgruppe lag. Es bedurfte der Entwick-
lung des Kabelfernsehens und des Senders MTV um ihnen zu ihrem Siegeszug zu
verhelfen (vgl. Banks 1996: 29-30).
5.2
Entwicklung des Musikfernsehens in den USA
Betrachtet man die Literatur über die Entstehung und Anfangstage von MTV, so sind
sich die Autoren einig, daß der Sender ,,weder ein Zufallsprodukt, noch der Genie-
streich einzelner Macher" (Schmidt 1999: 94) war. Vielmehr war es das Zusammen-
treffen vieler technischer, politischer und ökonomischer Faktoren, welches das Projekt
möglich machte und zum Erfolg führte.
5.2.1 Technische, politische und ökonomische Rahmenbedingungen
Einer der wichtigsten technischen Faktoren in der Entwicklung des Musikfernsehens
dürfte zweifellos die Entstehung des Kabel- und Satellitenfernsehens und das starke
Wachstum dieses Sektors in den frühen 80er Jahren sein. Home Box Office (HBO) war
1975 der erste Sender gewesen, der sein Programm über Satellit landesweit in alle
Kabelnetze einspeiste. Durch diese Entwicklung kam es im Lauf der Jahre nicht nur in
den USA, sondern später auch in den etwas stärker regulierten Märkten Europas zu
einer Fülle von Kabelkanälen, was zu einer immensen Zunahme an benötigtem Sende-
material führte. In der Regel sprachen die neu entstandenen Kabel- und Satellitenkanäle
eine bestimmte demographische Gruppe an, statt dem Massenpublikum, das die klas-
sischen Fernsehnetworks suchten
25
(vgl. Goodwin 1992: 37-38).
In wirtschaftlicher Hinsicht bedeuteten die 80er Jahre einen Abschied vom Massen-
markt und eine Hinwendung zur zielgruppenorientierten Vermarktung. Dieser Wandel
spielte sich nicht nur in der Herstellung von Konsumgütern und der damit
25
Ein weiterer technischer Faktor war die Tatsache, daß im Laufe der 80er Jahre mehr und mehr
Fernsehübertragungen in Stereo stattfanden und somit Musik weitaus ansprechender und
wohlklingender ausgestrahlt werden konnte.

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens
33
einhergehenden Produktwerbung, sondern auch in einer Fragmentierung der
amerikanischen Popkultur und Medienlandschaft wieder. Spezialisierte Medien be-
gannen, genauestens definierte und eingegrenzte Zielgruppen anzusprechen und
Werbekunden so ein Ansprache dieser Zielgruppen ohne große Streuverluste zu
ermöglichen (vgl. Banks 1996: 30-31).
Einen ebenso wichtigen Faktor stellt jedoch die Rezession dar, in der sich die Musik-
industrie seit den ausgehenden 70er Jahren befand. Die Umsätze waren kontinuierlich
gefallen
26
, Mitarbeiter wurden entlassen, Niederlassungen geschlossen. Die Folge:
,,Neben vielerlei kontrovers diskutierten Ursachen (Home-Taping,
Mangel an Stars, Konkurrenz durch die wachsende Anzahl alterna-
tiver Medienprodukte, Rezession, etc.) war eines Konsens: Die
Musikindustrie brauchte effektivere Formen der Produktwerbung.
Konzerttourneen und das Radio als vormals einzige Formen der Pop-
Promotion hatten sich als zu kostenintensiv, schwerfällig, konservativ
und in der Reichweite zu begrenzt erwiesen" (Schmidt 1999: 98).
An den Radiosendern der damaligen Zeit wurde vor allem kritisiert, daß sie zu konser-
vativ und träge seien und es den Plattenfirmen nahezu unmöglich machten, neue und
unbekannte Künstler aufzubauen. Die meisten Stationen hielten sich strikt an ihr
,Classic Rock'-Format und spielten vorwiegend bewährte Hits bereits etablierter Stars.
Dies führte dazu, daß sich die gesamte Musikindustrie auf der Suche nach neuen Mög-
lichkeiten der Werbung und Promotion befand und den Gedanken von einem Fernseh-
kanal, der nichts anderes als Musikvideos ausstrahlen wollte, mit einer Mischung aus
Verzweiflung und Interesse aufnahmen (vgl. Banks 1996: 31-33).
Ein letzter wichtiger Faktor, der den Weg für das Musikfernsehen ebnete, war sozio-
kultureller Natur. Andrew Goodwin spricht (in Übereinstimmung mit einigen anderen
Autoren) von zwei sich gegenseitig beeinflussenden Phänomenen, zum einen einer
alternden Fangemeinde der Rockmusik, zum anderen der Entstehung einer Jugend-
kultur, die sich ­ anders als in den vorigen Jahrzehnten ­ nicht mehr ausschließlich über
Musik definiert (vgl. Goodwin 1992: 39-41).
26
So fielen die Umsätze im Bereich Tonträger beispielsweise von 726,2 Mio. US-$ im Jahr 1978 auf
575,6 Mio. im Jahr 1982, die Bruttoeinnahmen fielen in dieser Zeitspanne von 4,31 Mrd. Dollar auf
3,59 Mrd. (vgl. Frith 1988b: 92-93).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832459093
ISBN (Paperback)
9783838659091
DOI
10.3239/9783832459093
Dateigröße
4.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2002 (Oktober)
Note
2,3
Schlagworte
multimedia internet medien musikvideos
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Titel: Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland
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