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Kommunikationsmodelle und Medientheorien

Analyseinstrument oder Praxisanleitung für den politischen Wahlkampf?

©2002 Diplomarbeit 156 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Medien beeinflussen das Wahlverhalten – glauben die Politiker. Nur nach welchem Muster? Die Medienwirkungsforschung hat es in unzähligen Modellen darzustellen versucht. Doch was können die wichtigsten Theorien aus einem Dreivierteljahrhundert den Parteistrategen heute bieten, um erfolgreich Wählerstimmen zu gewinnen? Der Autor weist nach, dass Modelle im Wahlkampf nur in besonderen Fällen als Praxisanleitung und Analyseinstrument dienen können. Er untersucht dabei primär die Strategien des erfahrenen Wahlkämpfers Peter Radunski und dessen CDU-Kampagne vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im Herbst 2001. Dort scheint das Erfolgsmodell Radunskis erstmals versagt zu haben: Die CDU fuhr ihr schlechtestes Ergebnis seit 1948 ein. Warum?
Politiker, Wähler und das Massenmediensystem, über das sie miteinander kommunizieren, werden in der vorliegenden Diplomarbeit aus wahrnehmungstheoretischer Sicht betrachtet. Denn der Wähler wechselt nicht nur immer häufiger seine Parteivorlieben, auch als Rezipient scheint er unberechenbar. Die Angebote des Massenmediensystems erlebt er als Zusammenspiel der Säulen Journalismus, Unterhaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Mit dieser Beschreibung stützt sich der Autor auf den Systemtheoretiker Niklas Luhmann und den Radikalkonstruktivisten Ralf Dulisch. Seine These: Die Interaktionen zwischen den Säulen sind so stark, dass politische Kommunikation nicht verlässlich planbar ist – auch nicht mit Hilfe klassischen Modelldenkens.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung7
1.1Fragestellung8
1.2Theoretische Grundlagen11
1.3Vorgehen12
1.4Quellen14
2.Präsentation16
2.1Die Kommunikationsmodelle16
2.1.1Der passive Mediennutzer17
2.1.1.1Das Stimulus-Response-Modell17
2.1.1.2Die „Schweigespirale“19
2.1.1.3Die Agenda-Setting-Theorie21
2.1.2Der aktive Mediennutzer23
2.1.2.1Der Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation25
2.1.2.1.1Das „Vier-Ohren-Modell“27
2.1.2.2Die Verstärkerhypothese und die Theorie der kognitiven Dissonanz29
2.1.2.3Der Nutzen- und Belohnungsansatz30
2.1.3Der chaotische Mediennutzer30
2.1.3.1Systemtheorie31
2.1.3.2Radikaler Konstruktivismus33
2.1.3.3Das Vier-Säulen-Modell35
2.2Radunskis Wahlkampfmodell38
3.Diskussion41
3.1Die Säule Public Relations43
3.1.1Das Stimulus-Response-Modell53
3.1.2Die „Schweigespirale“58
3.1.3Die Agenda-Setting-Theorie65
3.2Die Säule Journalismus74
3.2.1Die Verstärkerhypothese und die Theorie der kognitiven […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5813
Matiack, Christian: Kommunikationsmodelle und Medientheorien - Analyseinstrument oder
Praxisanleitung für den politischen Wahlkampf?
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Berlin, Kunsthochschule, Diplomarbeit, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

Inhalt
1.
Einleitung
7
1.1
Fragestellung
8
1.2
Theoretische Grundlagen
11
1.3
Vorgehen
12
1.4
Quellen
14
2.
Präsentation
16
2.1
Die Kommunikationsmodelle
16
2.1.1
Der passive Mediennutzer
17
2.1.1.1
Das Stimulus-Response-Modell
17
2.1.1.2
Die ,,Schweigespirale"
19
2.1.1.3
Die Agenda-Setting-Theorie
21
2.1.2
Der aktive Mediennutzer
23
2.1.2.1
Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation
25
2.1.2.1.1
Das ,,Vier-Ohren-Modell"
27
2.1.2.2
Die Verstärkerhypothese
und die Theorie der kognitiven Dissonanz
29
2.1.2.3
Der Nutzen- und Belohnungsansatz
30
2.1.3
Der chaotische Mediennutzer
30
2.1.3.1
Systemtheorie
31
2.1.3.2
Radikaler Konstruktivismus
33
2.1.3.3
Das Vier-Säulen-Modell
35
2.2
Radunskis Wahlkampfmodell
38

3.
Diskussion
41
3.1
Die Säule Public Relations
43
3.1.1
Das Stimulus-Response-Modell
53
3.1.2
Die ,,Schweigespirale"
58
3.1.3
Die Agenda-Setting-Theorie
65
3.2
Die Säule Journalismus
74
3.2.1
Die Verstärkerhypothese
und die Theorie der kognitiven Dissonanz
79
3.3
Die Säule Unterhaltung
83
3.3.1
Der Nutzen- und Belohnungsansatz
86
3.4
Die Säule Werbung
91
3.5
Gemeinsame Funktionen der vier Säulen
94
3.5.1
Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation
97
3.6
Fazit
104
4.
Fallstudie
106
4.1
Hintergrund
108
4.2
Das Stimulus-Response-Modell
108
4.3
Die ,,Schweigespirale"
115
4.4
Die Agenda-Setting-Theorie
117
4.5
Die Verstärkerhypothese
und die Theorie der kognitiven Dissonanz
126
4.6
Der Nutzen- und Belohnungsansatz
128
4.7.
Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation
131
4.8
Das Vier-Säulen-Modell
133
4.9
Fazit
135

5.
Resümee und Schlußfolgerungen
137
6.
Literatur- und Quellenverzeichnis
142
6.1
Fachliteratur
142
6.2
Zeitschriften
146
6.3
Zeitungen
147
6.4
Sonstige Publikationen und Quellen
152
6.5
Internet
152

Abbildungen
1.
Das Stimulus-Response-Modell
18
2.
Die ,,Schweigespirale"
20
3.
Die Agenda-Setting-Theorie
22
4.
Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation
26
5.
Das ,,Vier-Ohren-Modell"
28
6.
Das Vier-Säulen-Modell
37
7.
Radunskis Wahlkampfmodell
39
8.
Gegenüberstellung des Vier-Säulen-Modells
nach Luhmann und Dulisch mit dem
Wahlkampfmodell Radunskis
42
9.
Politik, Journalismus und Wähler als soziale Funktionssysteme
45

7
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1. Einleitung
Es gab wieder Sekt und Selters, am 21. Oktober 2001 in Berlin. Sekt für die Gewinner:
Die SPD hatte bei den vorgezogenen Wahlen zum Abgeordnetenhaus die meisten Stimmen
bekommen. Selters für ernüchterte Verlierer: Die CDU fuhr ihr schlechtestes Ergebnis seit
1948 ein. Dabei hatten sich doch alle Kandidaten wieder gleichermaßen bemüht: Broschüren
und Streichholzbriefchen verteilt, in Fußgängerzonen diskutiert ­ und vor allem sich in
Presse, Funk und Fernsehen präsentiert. Trotzdem: Die eine Partei, die SPD, schien von
vornherein auf der Siegerstraße, jedenfalls stellten die Medien es so dar. Für die andere
dagegen, die CDU, blieb die Stimmung in der Stadt schlecht. Dabei leitete mit Peter
RADUNSKI ein gestandener Stratege ihre Kampagne. Er hatte erfolgreich die Bundestags-
wahlkämpfe von Helmut KOHL gemanagt (1983, 1987, 1990), außerdem diverse Landtags-
wahlkämpfe. Seine in Buchform veröffentlichten Erfahrungen lassen sich als Praxismodell
lesen, mit dem Parteien erfolgreich um Wähler werben sollen. Trotz allem verlor die CDU in
Berlin nun rund siebzehn Prozent. Warum?
Wahlkämpfe sind ein faszinierendes Stück Werbung. Ihr Produkt ­ die Partei, der
Kandidat ­ muß sich an einem einzigen Tag ,,verkaufen". Es gibt keine Testphase. Ein
Joghurt, verglichen mit dem Spitzenkandidaten, kann jahrelang angeboten, seine Präsentation
erprobt, korrigiert werden. Beworben wird er in Anzeigen und Spots. Der Politiker dagegen
erscheint vielleicht auch in der ,,Tagesschau". Der Joghurt bietet keinen Gesprächsstoff. Über
den Politiker wird geredet, gelästert, diskutiert. Denn er steht unter ständiger Beobachtung ­
durch die Medien. Eine besondere Herausforderung für die politischen Kommunikatoren.
Fettnäpfchen lauern überall. Amüsiert und gespannt zugleich verfolgen wir das Mühen der
Kandidaten ­ Don ,,Edmund" und Don ,,Gerhard" Quichotte gegen die Windmühlenflügel der
Presse. Das Denken der Politstrategen zu erforschen, angesichts all dieser Unwägbarkeiten,
hat mich gereizt. Welche Rolle Kommunikationsmodelle spielen (können), um die Massen-
medien den Zielen der Wahlwerbung dienlich zu machen, bot dafür einen guten Ausgangs-
punkt.

1. Einleitung
8
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1.1 Fragestellung
Was schätzen Politiker an ihrem Job? Als Antwort hört man häufig: ,,Hier kann ich
gestalten." Aber was gestalten? Handeln ­ oder das Bild vom Handeln? Denn Politik heißt
auch: über Politik zu reden. So stellt es RADUNSKI dar:
,,Formulierung und Kommunikation der Politik sind zwei Seiten einer Medaille, die der moderne
Politiker nicht voneinander trennen darf. Politisch handeln heißt für ihn auch, politische Kom-
munikation zu planen und entwerfen, heißt nicht nur an die Inhalte, sondern auch an die öffent-
liche Umsetzung der Politik denken. Politische Strategien ohne Kommunikationsstrategien sind in
der modernen Demokratie undenkbar. Wer eine Politik entwirft, muß auch ihre Kommunikation
mit einbeziehen."
1
Politische Kommunikation definiert RADUNSKI als ,,Kommunikationsprozesse", die
,,sich im wesentlichen zwischen politischen Repräsentanten und den Mitgliedern der Gesell-
schaft abspielen, also zwischen Politiker und Wähler"
2
. Dies kann nur auf zwei Wegen
geschehen: über Individualkommunikation oder Massenkommunikation. Im ersten Fall kann
ein Dialog zustande kommen. Der Bürger reagiert unmittelbar auf das, was ihm der Politiker,
zum Beispiel in der Fußgängerzone, sagt. Im zweiten Fall aber, etwa während eines Auftritts
in politischen Talkshows wie ,,Sabine Christiansen" (ARD), richtet sich der Politiker an ein
disperses, räumlich von ihm getrenntes Publikum. Das kann allenfalls gruppenweise mit-
einander über das Gesehene diskutieren, zum Beispiel in der Familie.
3
Jeder mag dabei das
Gewicht auf einen anderen Aspekt legen. Dem einen mißfällt vielleicht, was der Kandidat
über den Standort Deutschland sagt, der andere dagegen findet seinen Schlips besonders
schick. Kurz: Was Presse und Fernsehen ins Haus liefern, ist veritablen ,,Gegenkräften"
4
ausgesetzt: den Einstellungen des einzelnen, was seine Freunde denken, zu welchen Erkennt-
nissen die Diskussion mit ihnen führt.
Das Störfeuer aber beginnt bereits, sobald der Politiker vor die Presse tritt. Er will in
einem günstigen Licht erscheinen ­ während der Journalist versucht, den Scheinwerfer
möglichst schräg aufzustellen. ,,Wahlen", sagt RADUNSKI, ,,sind deshalb nicht nur ein
Kampf zwischen den politischen Kandidaten um die Gunst der Wähler, ,sie sind auch ein
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1
RADUNSKI 1980: 9
2
ebd.: 12
3
vgl. KEPPLINGER 1986: 173
4
MALETZKE 1998: 94f.

1. Einleitung
9
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Kampf zwischen Kandidaten und Massenmedien`."
5
Denn letztere stellen die Verbindung
zum Wähler her, als ,,einseitig vermittelndes technisches Medium"
6
.
Seit es die moderne Presse und Funk und Fernsehen gibt, wird ihr Einfluß auf das Wahl-
verhalten erforscht.
7
Mehr noch: Fast alle großen Kommunikationstheorien wurden am
Beispiel politischer Werbung entwickelt.
8
Natürlich versuchen die Parteistrategen seit dem
Beginn systematischer Forschung, sich deren Analysen zunutze zu machen, die Erkenntnisse
in ein Praxismodell für morgen umzusetzen, um ein Stück mehr Macht über die Medien und
damit vielleicht gar Wählerstimmen zu gewinnen. Schließlich fußt, so Anita STEINSEIFER-
PABST und Werner WOLF, ein erfolgreicher Wahlkampf auf dem ,,Dreieck zwischen Politik,
Wissenschaft und Kommunikation"
9
.
Nur, was können die Parteistrategen mit den unzähligen, in einem dreiviertel Jahrhundert
zusammengetragenen Kommunikationsmodellen wirklich anfangen ­ wenn wir die Definition
von Gerhard MALETZKE zugrunde legen:
,,Ein Modell ist eine vereinfachte, abstrahierende Repräsentation eines Realitätsbereichs mit dem
Ziel, die unter einer bestimmten Problemstellung relevanten Aspekte herauszuheben und über-
schaubar zu machen."
10
Um Vereinfachung geht es also im Modelldenken. Kann dieses aber dem komplexen
Wahlkampfgeschehen überhaupt gerecht werden? Wiederum haben Modelle nur dann Sinn,
wenn die Praktiker sie sich zu Diensten machen können. Schließlich sind sie ,,Abstraktions-
leistungen menschlichen Denkens", die eine ,,Ordnungs- und Verständigungshilfe"
11
bieten
sollen.
,,Gehen wir davon aus, daß das Individuum die Welt unter dem Eindruck einer Fülle von ständig
wechselnden Außenweltreizen erlebt, dann wird einsichtig, daß der biologisch unterentwickelte
Mensch sich in dieser Welt nur behaupten kann, wenn er diese Vielfalt auf einige wenige Größen
reduziert und sie damit verständlich und praktikabel macht."
12
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5
RADUNSKI 1980: 12, zit. PALETZ David L. (1979): ,,Massenmedien und Wahlen".
Media Perspektiven Nr. 1. [ohne Ort] [ohne Verlag] 1979, S. 22
6
MALETZKE 1998: 73
7
vgl. UEKERMANN 1986: 141
8
vgl. MERTEN 1999: 334
9
STEINSEIFER-PABST/WOLF 1990: 59. Wenn im folgenden STEINSEIFER-PABST
erwähnt wird, ist WOLF immer mit gemeint.
10
MALETZKE 1998: 56
11
ebd.: 56f.
12
ebd.: 56

1. Einleitung
10
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Damit hat MALETZKE die beiden Antipoden benannt: Dienen Modelle dazu, a posteriori
die Welt zu ordnen, ,,verständlich" zu machen? Oder sind sie mehr ­ kann Modelldenken
a priori die Welt ,,praktikabel" machen, also Grundlagen für erfolgreiches Handeln liefern?
MALETZKE scheint beides möglich. Gilt dies aber auch für den Wahlkämpfer, wenn er sich
jener Modelle bedient, die Kommunikationsprozesse beschreiben sollen? Die Literatur scheint
diese Frage bisher weitgehend vernachlässigt zu haben. Grund genug, sie zum Thema der vor-
liegenden Arbeit zu machen:
Können Kommunikationsmodelle und Medientheorien Analyseinstrumente oder Praxis-
anleitungen für den politischen Wahlkampf sein?
Ziel des Politikers ist stets, ein bestimmtes Bild von sich und ebenso seine Botschaften
möglichst ,,unzerschreddert" durch das Mediensystem zu lotsen. Problem: Letzteres setzt sich
aus diversen Bereichen zusammen, die wir mit dieser Arbeit untersuchen wollen ­ vor allem
ihre Interaktionen, die nach besonderen Gesetzen ablaufen und dabei ein reges Eigenleben
entwickeln. Ein schmaler Grat für Politiker: Sie müssen diesen Gesetzen gehorchen ­ dürfen
sich ihnen aber nicht unterwerfen. So versuchen sie, das Massenmediensystem für ihre
Zwecke nutzbar zu machen. Welche Handhabe ihnen Kommunikationsmodelle und Medien-
theorien dabei bieten, oder wie weit sich die massenmedialen Teilsysteme widersetzen, ist
Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Ihre These lautet:
Die Interaktionen zwischen den Teilbereichen eines zusammengesetzten Massenmediensystems
machen politische Kommunikation nicht planbar.
Insbesondere die politische Werbung scheint für den Strategen unvorhersehbare Risiken
zu bergen. So kommt Lothar S. LEONHARD, Präsident des Gesamtverbandes Werbe-
agenturen, zu dem Schluß: ,,Am Thema Politik-Werbung (...) lassen sich Macht und Ohn-
macht der Kommunikation besonders gut beobachten und diskutieren."
13
Sekt oder Selters?
Am Wahlabend, so scheint es, ist der Abstand nicht allzu groß.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
13
zit. n. BERLINER KOMMUNIKATIONSFORUM E. V. 2001

1. Einleitung
11
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1.2. Theoretische Grundlagen
Kommunikationswissenschaftler sortieren die Modelle in der Regel danach, welches
angenommene Verhältnis der Faktoren Kommunikator, Aussage, Medium und Rezipient
ihnen zugrunde liegt. Eine der Kategorien konzentriert sich auf die Beziehung zwischen
Kommunikator und Rezipient.
14
Im vorliegenden Fall heißt dies: zwischen dem Politiker auf
der einen und dem Wähler auf der anderen Seite des Massenmediensystems. Dieser Be-
ziehung wollen wir uns widmen ­ tangiert sie doch eine wichtige Frage: ,,Mit welchem Bild
von ihrem Rezipienten arbeiten die Kommunikatoren?"
15
Die Politstrategen müssen sich eine Vorstellung von ihrer Zielgruppe, den Wählern,
machen. Nur so können sie Medieninhalte bereitstellen, die dazu führen sollen, daß der Bürger
sein Kreuz wunschgemäß plaziert. Gleichzeitig macht sich der Wähler sein eigenes Bild vom
Kandidaten. ,,Er wählt nicht den Politiker, wie er tatsächlich ist", sagt RADUNSKI, ,,sondern
wofür er ihn hält."
16
Doch das Material, aus dem beide ihre Vorstellung vom jeweils anderen konstruieren,
liefern in erster Linie die Massenmedien. Zu Gedankenmaterial wird, was der einzelne den
Medien entnimmt. Deshalb soll die Sicht auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit eine
wahrnehmungstheoretische sein. Eine solche ist die Systemtheorie ebenso wie der radikale
Konstruktivismus. Gemeinsamer Nenner: Wahrnehmung gilt als aktiver Prozeß, als Kon-
struktion, die neue Erfahrungswirklichkeiten hervorbringt (vgl. Kapitel 2.1.3.1 und 2.1.3.2).
17
Besonders der Konstruktivismus ist geeignet, um zu analysieren, unter welchen Voraus-
setzungen Bilder von Parteien, Politik und Politikern zustande kommen. Denn der Kon-
struktivismus ist per definitionem ,,eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung"
18
.
Das heißt, er erlaubt uns, die Beobachter zu beobachten: die Medien.
Die Wahrnehmungstheoretiker pflegen ein Bild des ,,chaotischen", ,,multioptionalen"
Rezipienten (vgl. Kapitel 2.1.3). Vieles spricht dafür, sich auf ihre Sichtweise einzulassen ­
denn wir werden es mit dem ,,multioptionalen" Wähler zu tun bekommen, der gestern FDP,
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
14
vgl. MALETZKE 1998: 71ff.
15
ebd.: 73
16
RADUNSKI 1980: 16
17
vgl. A. S. 2000: 56
18
SCHMIDT 1994a: 5

1. Einleitung
12
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heute SPD und morgen die Grünen wählt oder alle gleichzeitig (mit Erst-, Zweit- und Dritt-
stimme) und dies eher emotional begründet (vgl. Kapitel 2.2).
Nicht zuletzt könnte es sein, daß wir auf Widersprüche in den Ansichten von radikalen
Konstruktivisten stoßen. Voraussetzung dafür ist aber, erst einmal durch ihre Gedankengänge
zu wandeln.
Nach Maßgabe des radikalen Konstruktivismus kann die vorliegende Arbeit ebenfalls
nur eine Konstruktion sein. Denn jener gilt immer auch für sich selbst, wie Klaus KRIPPEN-
DORF betont:
,,Er macht dem Forscher bewußt, daß auch er kognitiv verstrickt ist in die Erzeugung seines
eigenen Forschungsobjektes, während er es erforscht, und daß er sich einer Teilnahme an
institutionellen Praktiken nicht entziehen kann."
19
1.3 Vorgehen
Diese Arbeit gliedert sich in vier Teile.
Kapitel 2 beschreibt zunächst die zu untersuchenden Modelle und Theorien: erst die
klassischen, die analytisch Kommunikationsprozesse nachzeichnen sollen. Am Schluß der
Sprung in die Praxis: die Darstellung des RADUNSKI-Modells, das aufschlüsselt, über
welche Bereiche die Politiker ihre Wähler erreichen können.
Die klassischen Kommunikationsmodelle sind hier nicht allein chronologisch sortiert.
Die Struktur liefert vielmehr unsere Ausgangsfrage: Welches Menschenbild haben die Kom-
munikatoren? Das hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Die Medien-
wirkungsforschung läßt sich so in mehrere Etappen teilen. Die jeweils prägenden Modelle
beziehungsweise jene, die einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben, werden hier präsen-
tiert.
Ein besonderes Augenmerk gilt, wie erwähnt, der Systemtheorie und dem radikalen Kon-
struktivismus. Aus dieser Richtung kommen Modelle, die unser Mediensystem als zusammen-
gesetzt betrachten und die Interaktionen seiner Teilbereiche beschreiben. Diese sich ähnelnden
Ansätze fassen wir zu einem Vier-Säulen-Modell zusammen ­ dem Katalysator, um die
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19
KRIPPENDORF 1994: 112f.

1. Einleitung
13
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skizzierten Kommunikationsmodelle auf ihre Wahlkampftauglichkeit zu testen. Denn dem
zusammengesetzten Mediensystem sind fast alle Maßnahmen der Politstrategen ausgesetzt.
Damit sind alle Modelle und Theorien für die Diskussion in Kapitel 3 eingeführt. Den
Rahmen bildet der Vergleich zwischen dem RADUNSKI-Schema und dem Vier-Säulen-
Modell. Schließlich basieren beide auf der Annahme eines zusammengesetzten Medien-
systems
20
­ einer Systematisierung, die RADUNSKI konkret auf die Wahlkampfsituation
zuschneidet. Also liegt die Frage nahe: Kann das Wissen um die Interaktionen, die das
Vier-Säulen-Modell beschreibt, helfen, erfolgreich Wahlkampf zu führen? Inwieweit hat
RADUNSKI sie bereits berücksichtigt?
Schließlich vergleichen wir die klassischen Modelle mit dem Denken heutiger Partei-
strategen ­ und wenden dabei wiederum das Vier-Säulen-Modell an. Die Frage lautet:
Angesichts eines zusammengesetzten Mediensystems ­ welche Modelle dienen den
Politikern, können also Aktionsanleitung im Wahlkampf sein? Und wo entwickeln die
Teilbereiche des Vier-Säulen-Systems eine derartige Eigendynamik, daß ein Kommuni-
kationsmodell allenfalls noch post festum brauchbar ist, um zu analysieren, was schief-
gelaufen ist?
Als Fallstudie folgt in Kapitel 4 eine Betrachtung des Berliner Wahlkampfes vom Herbst
2001. Wo ist hier Modelldenken zu entdecken? Und hat es zum Erfolg geführt? Oder sich als
unbrauchbar erwiesen? Der Schwerpunkt gilt der CDU. Schließlich beschäftigt sich diese
Arbeit auch mit dem Praxismodell von RADUNSKI. Und eben dieser hat federführend den
Wahlkampf seiner Partei in Berlin gemanagt. Wir haben also Gelegenheit, seine Lehre an der
Praxis politischer Kommunikation zu messen.
Die Fallstudie fußt fast ausschließlich auf einer Auswertung der Berliner Abonnement-
Zeitung ,,Der Tagesspiegel" vom Beginn des Wahlkampfes Mitte Juli bis zum Tag nach der
Abstimmung, dem 22. Oktober 2001. Eine Analyse aller Berliner Medien aus diesem Zeit-
raum erschien im Rahmen dieser Arbeit weder machbar noch nötig. Es geht schließlich nicht
darum, aus einem Gesamttenor der Berichterstattung Rückschlüsse auf das Wahlergebnis zu
ziehen ­ sondern um die Frage: Was haben Kommunikatoren ins Mediensystem eingegeben,
und was hat das System erzeugt. Es genügt, dies exemplarisch an einem Medium zu unter-
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20
Auch wenn die Säulenmodelle erst anderthalb Jahrzehnte nach RADUNSKIS Überlegungen
entstanden sind.

1. Einleitung
14
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suchen. Außerdem betrachten manche Beobachter das Medium Zeitung als besonders relevant
für den Wahlkampf: Besser als etwa das Fernsehen, so Klaus SCHÖNBACH, vermag die
Tageszeitung Kenntnisse zu vermitteln und politisch zu aktivieren.
21
In Kapitel 5 schließlich kondensieren wir die Erkenntnisse aus Diskussion und Fallstudie
und fassen zusammen, als was sich die Kommunikationsmodelle entpuppt haben. Damit
gelangen wir auch zu einer Antwort, was Modelldenken im Wahlkampf überhaupt bringen
kann.
1.4 Quellen
Die Diskussion stützt sich im wesentlichen auf folgende Autoren: Ralf DULISCH, erklär-
ter Anhänger des radikalen Konstruktivismus, der in seinem Buch ,,Schreiben in Werbung, PR
und Journalismus"
22
eine Einteilung des Massenmediensystems vorgenommen hat. Gleiches
legte der Systemtheoretiker Niklas LUHMANN zwei Jahre vor seinem Tod in ,,Die Realität
der Massenmedien"
23
vor. Die Systematisierungen beider Autoren fassen wir zu einem Vier-
Säulen-Modell zusammen. DULISCH erhebt zudem den Anspruch, daß sein Modell zu einer
Praxisanleitung für erfolgreiche Kommunikation führen kann. Ob dies auch für den Wahl-
kampf gilt, bleibt hier zu untersuchen.
Auf der anderen Seite ist Peter RADUNSKIS Buch ,,Wahlkämpfe. Moderne Wahlkampf-
führung als politische Kommunikation"
24
Grundlage der vorliegenden Arbeit. Es ist deshalb
interessant, weil sich RADUNSKIS Überlegungen durchaus als Kommunikationsmodell lesen
lassen ­ und er damit dem Wahlkämpfer eine Praxisanleitung an die Hand geben will.
Ergänzend soll hier ,,Wahlen und Wahlkampf in der Bundesrepublik Deutschland"
25
von
Anita STEINSEIFER-PABST und Werner WOLF dienen.
Die Grundlagen der Diskussion aus wahrnehmungstheoretischer Sicht bilden vor allem die
Schriften von Klaus MERTEN, Siegfried J. SCHMIDT, Siegfried WEISCHENBERG und
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
21
vgl. SCHÖNBACH 1983: 108
22
DULISCH 1998. PR steht für ,,Public Relations". Eine Definition in Kapitel 3.1.
23
LUHMANN 1996
24
RADUNSKI 1980
25
STEINSEIFER-PABST/WOLF 1990

1. Einleitung
15
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anderen Autoren in ,,Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikations-
wissenschaft"
26
.
Die Fallstudie fußt überwiegend auf Artikeln des ,,Tagesspiegels". Warum? Mit einer
Auflage von täglich über 140 000 verkauften Exemplaren gehört er zu den führenden Tages-
zeitungen in Berlin.
27
Er scheint nicht eindeutig politisch zu orten.
28
Wir können uns also
ganz auf die Interaktion der Mediensubsysteme konzentrieren ­ und müssen keinen ver-
fälschenden ideologischen Effet berücksichtigen.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
26
MERTEN/SCHMIDT/WEISCHENBERG 1994
27
vgl. TSP 2002
28
Ein Teil der Medienkritik bezeichnet ihn als eher konservativ, der andere als sozialliberal.

16
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
2. Präsentation
2.1 Die Kommunikationsmodelle
Die Geschichte der Medienwirkungsforschung ist eine Geschichte der Menschenbilder.
Denn Ausgangspunkt für die Kommunikationswissenschaftler war und ist stets die Frage: Wie
ist der Mensch? Kein Wunder, daß sich auch Propagandisten und Kommunikatoren seit jeher
sehr interessiert an Antworten zeigten: in der Hoffnung, endlich eine exakte Vorstellung vom
Empfänger ihrer Botschaften zu gewinnen und damit den Schlüssel, ihn erfolgreich beeinflus-
sen zu können.
29
Eine eindeutige Antwort aber gibt es nicht. Denn Vorstellungen über den Menschen sind
immer gekoppelt mit Vorstellungen über die Gesellschaft an sich. Gesellschaftsentwürfe
konkurrierten und konkurrieren ­ und mit ihnen die Menschenbilder. So rückte das liberale,
der Aufklärung verpflichtete Modell den aktiven, vernunftgesteuerten Menschen in den
Mittelpunkt. Dem gegenüber standen die Massentheorien ­ der Mensch sei schlecht, dumm,
verführbar.
30
Die Wirkungsforschung, die systematisch erst mit der Verbreitung des Radios in den
zwanziger Jahren einsetzte
31
, zeichnete dieses Wechselspiel nach. Alleinige Grundannahme
war zunächst der passive Rezipient, auf den die Medien starken Einfluß ausübten (Kapitel
2.1.1), bis in den vierziger Jahren die Vorstellung vom aktiven Menschen und einer schwa-
chen direkten Medienwirkung hinzutrat (2.1.2). Erst seit gut einem Jahrzehnt ist ein dritter
Weg zu erkennen mit Ansätzen, das beständige Denken in den Kategorien gut/schlecht,
aktiv/passiv zu durchbrechen: Der Mensch sei weder noch und doch beides gleichzeitig ­
chaotisch (2.1.3). Die wichtigsten Modelle, die sich dem jeweiligen Blickwinkel zuordnen
lassen, vor allem solche, die einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben, seien hier kurz
präsentiert.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
29
vgl. ROLLKA 1999: 385
30
vgl. ebd.: 391ff.
31
vgl. MERTEN 1999: 333

2. Präsentation
17
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2.1.1 Der passive Mediennutzer
Bis 1940 dominierten Theoretiker, die eine starke Medienwirkung annahmen.
32
Vertreter
der Elite stünden einer willenlosen Masse Mensch gegenüber. Nur sie seien in der Lage und
legitimiert, diese Masse zu lenken. Die elitären (Ver-)Führer bräuchten nur raffiniert ver-
einfachte Signale auszusenden ­ der Massenmensch sei ihnen hilflos ausgeliefert.
33
So nimmt es nicht wunder, daß das allererste Kommunikationsmodell der Physik ab-
geguckt war: Demnach erzeugt eine Kraft immer eine Wirkung. Harold D. LASSWELL
übertrug dies 1927 in die Kommunikationsforschung: mit seinem Reiz-Reaktions-Schema,
dem Stimulus-Response-Modell (Kapitel 2.1.1.1).
34
Und obwohl sich die Paradigmen
zwischenzeitlich änderten ­ die Frage ,,Was macht das Medium mit den Menschen?"
35
faszinierte die Wissenschaftler noch Jahrzehnte später. Deshalb gehört auch Elisabeth
NOELLE-NEUMANNS Theorie der Schweigespirale von 1974 in ein Kapitel über die
Vermutung starker Medienwirkungen (2.1.1.2).
36
Fast zeitgleich formulierte Maxwell E.
McCOMBS seinen Agenda-Setting-Ansatz (,,agenda-setting approach"; 2.1.1.3).
37
Alle diese Theorien entstanden aus der Beobachtung von politischer Kommunikation.
2.1.1.1 Das Stimulus-Response-Modell
MERTEN resümiert LASSWELLS Unterstellung, daß Medien monokausal wirkten, wie
folgt (siehe Abbildung 1):
,,Der Kommunikator ,zielt` auf den Rezipienten. Wenn und sofern es ihm gelingt, diesen zu
,treffen` (d. h. zu erreichen, daß der Rezipient sich dem Medium bzw. der Aussage aussetzt),
muß er ­ ganz im Sinne aristotelischer Vorstellungen über sachgerechte Rhetorik ­ Wirkungen
erzielen."
38
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
32
vgl. MERTEN 1994b: 291
33
vgl. ROLLKA 1999: 395
34
vgl. MERTEN 1994b: 294
35
ebd.: 317
36
vgl. ebd.: 314
37
vgl. MERTEN 1999: 339
38
MERTEN 1994b: 294. Hervorhebung im Original.

2. Präsentation
18
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Unter ,,Wirkung" verstand LASSWELL dabei recht pauschal die Veränderung von
Wissen, Einstellung und Verhalten. Nur der direkte Reiz könne sie auslösen. Starke und
schwache, direkte und indirekte, kurzzeitige und erst spät auftretende Effekte differenzierte
er nur sehr willkürlich. Die Formel schien einfach. Gleicher Stimulus müsse gleiche Wirkung
erzielen ­ und dies logischerweise proportional: Je intensiver, anhaltender, direkter der Reiz,
desto größer der Effekt.
39
Abb. 1. Das Stimulus-Response-Modell (nach MERTEN 1994b: 295)
LASSWELL leitete sein Modell aus der Analyse von Propagandawirkungen ab ­ dies aber
durchaus mit Praxisanspruch. Die ,,Erzeugung, Auswahl und Versendung wirkungsmächtiger
Stimuli"
40
sollte noch effektiver werden:
,,The propagandist may be said to be concerned with the multiplication of those stimuli which are
best calculated to evoke the desired response, and with the nullification of those stimuli which are
likely to instigate the undesired response"
41
.
Der Mensch also galt LASSWELL als steuerbar. Fast fünfzig Jahre später griff NOELLE-
NEUMANN den Gedanken vom unmündigen Bürger wieder auf.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
39
vgl. ebd.: 294ff.
40
ebd.: 294
41
ebd., zit. LASSWELL Harold D. (1927): ,,The theory of political propaganda". S. 630.
American Political Science Review Nr. 21. [ohne Ort] [ohne Verlag] 1927, S. 627-631

2. Präsentation
19
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
2.1.1.2 Die ,,Schweigespirale"
NOELLE-NEUMANNS Ansatz ist auch als Theorie der öffentlichen Meinung bekannt
geworden.
42
Der Begriff ,,Schweigespirale" soll einen gesellschaftlichen Prozeß benennen, in
dem der Theorie zufolge immer mehr Menschen sich selbst ein Redeverbot auferlegen, sobald
sie glauben, daß die von ihnen vertretene Meinung zu einem bestimmten Thema, öffentlich
geäußert, ihnen nur Nachteile bringen würde. Warum? Der Mensch wird getrieben von
Isolationsfurcht, so NOELLE-NEUMANNS Hypothese (siehe Abbildung 2). Deshalb sei er
permanent auf der Suche nach der Meinung, die zu haben gerade opportun ist. Dazu beo-
bachte er die Menschen in seiner Umgebung und die Medien. Dieser Prozeß erzeuge die
sogenannte öffentliche Meinung.
43
Sie sei Handlungs- und Entscheidungsgrundlage für den
einzelnen. Von der Gesellschaft belohnt werde Konformität, bestraft der Verstoß gegen das
übereinstimmende Urteil.
44
Dabei registriere der gesellige Mensch insbesondere, welche
Meinungen gerade zu- oder abnähmen: das Meinungsklima. Entsprechend verhalte er sich.
,,Entweder stellt er fest, daß er mit der herrschenden (oder sich durchsetzenden) Meinung
übereinstimmt, dies stärkt sein Selbstvertrauen und erlaubt ihm, sich sorglos, ohne Gefahr der
Isolation zu exponieren, mit Reden, Schneiden Andersdenkender, Anstecknadeln, sichtbarem
Tragen einer Zeitung oder Zeitschrift, die diesen Standpunkt vertritt. Er ,bekommt Oberwasser`.
Oder er erfährt umgekehrt, daß seine Überzeugungen an Boden verlieren, und je unaufhaltsamer
ihm diese Entwicklung erscheint, desto unsicherer wird er mit seinen Ansichten zurückhalten."
45
Die Konsequenz: ,,Indem die einen laut reden, öffentlich zu sehen sind, wirken sie stärker,
als sie wirklich sind, die anderen schwächer, als sie wirklich sind."
46
Am Ende werde die
anfangs nur als dominant unterstellte Meinung zur tatsächlich dominanten Meinung.
47
Im
Gegenzug ziehe die ,,Schweigespirale" die mutmaßliche Minderheitenmeinung unaufhaltsam
in die Versenkung hinab.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
42
vgl. MERTEN 1999: 372
43
vgl. NOELLE-NEUMANN 1980: XII
44
vgl. ebd.: III
45
NOELLE-NEUMANN 1977: 173
46
NOELLE-NEUMANN 1994: 379
47
vgl. MERTEN 1994b: 321

2. Präsentation
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Abb. 2. Die ,,Schweigespirale" (nach MERTEN 1994b: 320)
Auch Wahlentscheidungen fallen demzufolge nur gefühlsmäßig: Die letzten Unentschlos-
senen könnten diejenigen Parteien auf ihre Seite ziehen, die von den Medienschaffenden
a priori als Sieger dargestellt würden. Denn auf der Seite der Verlierer wolle niemand
stehen.
48
Für Christina HOLTZ-BACHA stellt die Theorie der Schweigespirale einen Paradigmen-
wechsel dar ­ insofern, als daß sich die politischen Parteien nachfolgend wieder stärker der
Wirkung von Medien in Wahlkämpfen zugewendet hätten.
49
Insbesondere dem Fernsehen
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
48
vgl. NOELLE-NEUMANN 1994: 379
49
vgl. HOLTZ-BACHA 1996: 33

2. Präsentation
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sprachen sie demnach eine dominierende Rolle zu. Der Grundgedanke aber ist keineswegs
neu: Es handelt sich mehr oder weniger um ein erweitertes Stimulus-Response-Denken ­
erweitert, da neben der massenmedialen Kommunikation der Mensch mit ins Spiel kommt,
wenn auch in passiver Rolle. Nicht allein die Medien geben demzufolge vor, wie zu denken
und zu handeln sei ­ sondern auch Vermutungen darüber, wie die Mitmenschen denken.
Stimuli von Kommunikatoren würden somit also wenigstens indirekt ihre Wirkung entfalten.
Dennoch sind weite Teile der Theorie der Schweigespirale mittlerweile in der wissen-
schaftlichen Diskussion für unzutreffend erklärt worden. Zweifel kamen auf, daß der einzelne
überhaupt in der Lage wäre zu registrieren, welche Meinung gerade dominant ist. Auch die
Bevölkerung könne sich schließlich über die Bevölkerung täuschen.
50
Trotzdem herrscht in
politischen Kreisen wohl immer noch ein ungebrochener Glaube an die Macht der Medien,
insbesondere an die des Fernsehens.
2.1.1.3 Die Agenda-Setting-Theorie
Auch in dieser Theorie lebt der Stimulus-Response-Ansatz implizit fort ­ als Stimuli
sollen hier jedoch Themen fungieren.
51
Der Grundgedanke: Die Medien besetzten durch ihre
Berichterstattung ein Thema mehr oder weniger stark (siehe Abbildung 3). Die Folge: Nach
einer gewissen Zeit sei auch beim Rezipienten eine entsprechende thematische Besetzung
festzustellen
52
­ er hat ein Thema von der Medienagenda in seine persönliche Agenda über-
nommen.
Franz LIEBL weist darauf hin, wie wichtig es sei, daß die Medien einem Thema Bedeut-
samkeit bescheren.
,,Die Agenda der Medien besitzt insofern eine überragende Bedeutung für die öffentliche Agenda
und damit für die Mobilisierung, als der Diskurs der verschiedenen involvierten Parteien über
Medien geführt wird, die konkurrierenden Interpretationen bzw. Deutungsrahmen dort publiziert
werden und von Seiten der Medien eine Kommentierung erfolgt."
53
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
50
vgl. MERTEN 1999: 373
51
vgl. ebd.: 339
52
vgl. MERTEN 1994b: 318
53
LIEBL 2000: 44

2. Präsentation
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Abb. 3. Die Agenda-Setting-Theorie (nach MERTEN 1994b: 319)
Zwar geben die Agenda-Setting-Vertreter zu, daß die Medien nicht direkt Einstellungen
ändern könnten. Aber daß sie die Einstellung gegenüber Themen beeinflussen ­ mindestens ­,
glauben sie dennoch. Kein Wunder, daß die Kommunikationsmanager in den Unternehmen,
Parteien und Verbänden versuchen, sich auch diese Analyse-Ergebnisse zunutze zu machen ­
und die Steuerung einer öffentlichen Debatte nicht mehr allein ihren Gegnern und den Medien
zu überlassen. So haben sie die Agenda-Setting-Theorie in den vergangenen Jahren zum
Praxisinstrument ,,Issue-Management" ausgebaut. ,,Im angelsächsischen Sprachgebrauch",
schreibt LIEBL, ,,bezeichnet der Begriff ,issue` allgemein ein öffentliches Anliegen oder
Problem bzw. eine politische oder soziale (Streit-)Frage."
54
Das strategische Ziel des Issue-Managements lautet, frühzeitig Themen von Tragweite zu
erkennen, die bald die öffentliche Diskussion bestimmen werden ­ und unter Umständen
Einfluß auf den Erfolg der eigenen Institution haben. Dies können Themen mit mutmaßlich
positivem Effekt sein. Natürlich werden die Strategen rechtzeitig versuchen, sich diese
Themen dienstbar zu machen, um mit ihrer Interpretation des Sachverhalts führend am
Meinungsmarkt aufzutreten. Handelt es sich dagegen um kritische Themen, gilt es, Schaden
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
54
ebd.: 21

2. Präsentation
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von der eigenen Institution abzuwenden. Auch dabei muß man versuchen, so die Lehre, die
öffentliche Diskussion rechtzeitig in die gewünschte Richtung zu lotsen. Dazu gehöre, lange
vorher um Vertrauen zu werben und den Dialog mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen zu
suchen ­ also nicht nur mit Medienvertretern.
55
Denn Themen können auch von privaten
Interessengruppen in die Öffentlichkeit gebracht werden.
Die Agenda-Setting-Theorie ist nach wie vor Gegenstand der Forschung, wenn auch
deren angeblich unangemessene Methodik beklagt wird. Kritiker bemängeln zudem, daß der
Wirkungsbegriff im Agenda-Setting auf das Stimulus-Response-Prinzip zurückgeht, das sie
für überholt halten.
56
2.1.2 Der aktive Mediennutzer
Bereits in den vierziger Jahren schien die Theorie der starken Medien ­ fürs erste ­ obsolet
geworden.
57
Die ihren Modellen innewohnende Unterstellung, die Bürger seien willenlose,
verführbare Masse, glaubte man nicht länger aufrechterhalten zu können, ebensowenig die
Annahme, daß alle Mediennutzer auf eine bestimmte Aussage in gleicher Weise reagieren
müßten. Denn, so MALETZKE:
,,Dem steht [...] die Alltagsbeobachtung entgegen, daß verschiedene Menschen auf einen bestimm-
ten ,Reiz` oft höchst unterschiedlich reagieren. In der Fachsprache heißt das aber: Der Mensch,
der Rezipient selbst erweist sich als eine intervenierende Variable. Von dort aus ist es nur ein
kleiner Schritt zu der Erkenntnis, daß der Rezipient nicht als eine Variable, sondern als ein hoch-
komplexes Bündel einer Vielzahl von Faktoren zu denken ist."
58
Der Grund für diesen Paradigmenwechsel: Paul F. LAZARSFELD hatte beobachtet, daß
Appelle, waren sie noch so heftig, auch auf taube Ohren beim Rezipienten stoßen konnten,
wenn sie nicht in sein Weltbild paßten. Anscheinend nahm der Mensch nur selektiv wahr.
Mehr noch: Um so lieber hörte er wohl, was ihn bestätigte, und zwar am liebsten von Seines-
gleichen ­ und nicht von fernen Medienakteuren.
59
LAZARSFELD definierte dies als Zwei-
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
55
vgl. ebd.: 15
56
vgl. MERTEN 1999: 371
57
vgl. MERTEN 1994b: 291
58
MALETZKE 1998: 109. Hervorhebungen im Original.
59
vgl. ROLLKA 1999: 397

2. Präsentation
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Stufen-Fluß der Kommunikation (,,two-step flow of communication"; Kapitel 2.1.2.1). Seine
Erkenntnisse, erneut aus der Analyse von Wahlpropaganda gewonnen, veröffentlichte er 1944
in der bis heute prominenten Studie ,,The People's Choice".
60
Damit wurde das persönliche
Gespräch wieder Thema in der Kommunikationsforschung. Nicht nur Friedemann SCHULZ
VON THUN hat sich Jahre später (1981) seiner angenommen (2.1.2.1.1). Darüber hinaus
führten LAZARSFELDS Beobachtungen der selektiven Wahrnehmung Joseph KLAPPER
1957 zu seiner Verstärkerhypothese. Sie wiederum mündete im selben Jahr in Leon FESTIN-
GERS Theorie der kognitiven Dissonanz (2.1.2.2).
Bewußt vom Bild des passiven Mediennutzers abwenden wollten sich auch Jay G.
BLUMLER und Elihu KATZ 1974 mit ihrem Nutzen- und Belohnungsansatz (,,uses-and-
gratifications approach"; 2.1.2.3). Hintergrund war die Vervielfachung des Medienangebots,
forciert durch die zunehmende Verbreitung des Fernsehens. Ihre erste Studie zu dem Thema
hatten sie aber schon 1940 betrieben.
61
Für MALETZKE fand somit in den vierziger Jahren der eigentliche Paradigmenwechsel
statt: der vom einseitig-linearen hin zum Variablenansatz.
62
Alle späteren Modelle hätten sich
diesem untergeordnet ­ bis heute. Es gebe intervenierende Variablen, die den Fluß von Kom-
munikation ablenkten. Mal sind dies vielleicht Freunde, die uns erzählen, was der Bundes-
kanzler im Fernsehen gesagt hat, mal wir selbst, wenn wir in unserem Kopf ein eigenes Bild
vom Gesehenen entstehen lassen. Daraus zu schließen wäre, daß auch jedem Menschen selbst
sozusagen intervenierende Variablen innewohnen. Damit ist das Thema des Folgekapitels
(2.1.3) hier bereits angerissen. Dennoch ist unser wahrnehmungstheoretischer Ansatz nicht
pauschal dem Bild des aktiven Rezipienten zuzuordnen. Also erfordert er eine gesonderte
Betrachtung.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
60
vgl. MERTEN 1999: 336. Ihre deutsche Übersetzung gehört zu den Quellen der vorliegenden
Arbeit: LAZARSFELD/BERELSON/GAUDET 1969.
61
vgl. MERTEN 1994b: 317
62
vgl. MALETZKE 1998: 189

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2.1.2.1 Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation
Eigentlich wollte LAZARSFELD mit seiner Untersuchung der amerikanischen Präsident-
schaftswahlen 1940 das Stimulus-Response-Modell verifizieren. Doch dann stellte sich
heraus, daß wohl mitnichten die Medien direkt verantwortlich waren für die Wahlentschei-
dung. Nein, anscheinend hatten eher Menschen Menschen zu einem endgültigen Entschluß
gebracht (siehe Abbildung 4).
63
,,Die ,Zweistufenhypothese` weist darauf hin, daß die Netze der zwischenmenschlichen Beziehun-
gen mit denen der Massenmedien so verbunden sind, daß einige exponierte Personen das, was sie
sehen, hören oder lesen, an andere, weniger exponierte, mit denen sie in Kontakt stehen, weiter-
geben."
64
Genauer: Die Aussagen in den Medien fließen, so die Theorie, primär an die politisch
Interessierteren, Aktiveren. Sie würden dann im Kreise ihrer Freunde und Bekannten als
Meinungsführer wirken und die weniger Aktiven informieren.
65
Kollektiv bildeten die ver-
sammelten Personen so ihre Verhaltensweisen und Ansichten, die der einzelne nur zögerlich
wieder aufgebe oder gar einseitig verändere ­ aus Angst vor Isolation.
66
Die Sicht auf die
Welt (und die Politik) wäre dann die durch die ,,Gruppenbrille". Individuelle Einstellungen,
so LAZARSFELD, sind damit nur scheinbar individuell ­ sondern eher ,,Nebenprodukte
zwischenmenschlicher Beziehungen"
67
.
Auch diese Analysen wurden immer wieder in die Praxis übertragen ­ bis heute. Wer
erfolgreich werben will, so die Quintessenz, der muß das soziale Umfeld des Umworbenen
kennen, um ihn effektiv ansprechen zu können.
68
Wer kann als Meinungsführer, als Multipli-
kator, als Trendsetter in der begehrten Zielgruppe dienen ­ abseits der schwer steuerbaren
Massenmedien? Diese Fragestellung aus der Werbepraxis zeigt: Obwohl als aktiv angesehen,
gilt der Mensch noch als steuerbar.
69
Persönlicher Einfluß macht es möglich, so die Theorie.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
63
vgl. MERTEN 1994b: 316
64
KATZ/LAZARSFELD 1962: 54. Wenn im folgenden LAZARSFELD angeführt wird, sind KATZ
beziehungsweise seine späteren Koautoren Bernard BERELSON und Hazel GAUDET immer
mit gemeint.
65
vgl. LAZARSFELD/BERELSON/GAUDET 1969: 191
66
vgl. KATZ/LAZARSFELD 1962: 54
67
ebd.: 78
68
vgl. ebd.: 157
69
vgl. ROLLKA 1999: 397f.

2. Präsentation
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Abb. 4. Der Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation (nach MERTEN 1994b: 316)
Dem Gespräch, legte schon LAZARSFELD dar, könne man sich nicht so leicht entziehen
wie den Medien. Abschalten sei nicht möglich. Wenn mein Gegenüber signalisiere, daß ihm
meine Worte nicht paßten, könne ich schnell umschwenken, persönlich auf den Partner ein-
gehen, mit seiner Isolationsangst spielen: ihm Belohnung widerfahren lassen ­ oder Mißmut
ausdrücken. Nicht zuletzt: Die Meinungen lebendiger (bekannter) Personen seien uns wichti-
ger als die unbekannter Leitartikler.
70
Trotz seiner Praxisrelevanz ist das LAZARSFELD-Modell auch heftig kritisiert worden.
Nicht jeder Mensch sei sozial vernetzt, hieß es, habe also Kontakt zu jemandem, der als
Meinungsführer fungiere. Und spätestens seit der weiten Verbreitung von Fernsehern könnten
Informationen einen auch direkt erreichen.
71
Darüber hinaus sind weitere Zweifel angebracht: LAZARSFELD sprach von ,,Informa-
tionsweitergabe", meinte aber, daß der Meinungsführer seinen Zuhörer dadurch automatisch
überzeugen würde.
72
MALETZKE ist skeptisch. Überhaupt: Was sind ,,Informationen" ­
wenn sie offenbar so kommuniziert werden, wie wir es aus dem Kinderspiel Stille Post
kennen.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
70
vgl. LAZARSFELD/BERELSON/GAUDET 1969: 192ff.
71
vgl. MERTEN 1999: 363
72
vgl. SILBERMANN/KRÜGER 1973: 67

2. Präsentation
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______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
,,Werden sie unverändert weitergegeben, so hat der Meinungsführer nur eine Relais-Funktion;
werden sie verändert, so beeinflußt der Meinungsführer den Kommunikationsprozeß durch seine
Interpretation der Aussagen, und es fragt sich, ob Regeln zu erkennen sind, nach denen dieses
Umsetzen verläuft."
73
Es ist zu bezweifeln, daß eine Information jemals ,,unverändert" weitergegeben werden
kann. Auch den Meinungsführer können nicht nur die Medien beeinflussen ­ sondern eben-
falls persönliche Gespräche.
74
Er läßt weg, fügt hinzu, moduliert seine Gestik und Mimik.
Schließlich wird die vermittelte Aussage in irgendeiner Form im Kopf des Gesprächspartners
entstehen. Nach welchen Regeln das Senden und Empfangen zwischenmenschlicher Botschaf-
ten abläuft, darüber hat sich zum Beispiel SCHULZ VON THUN Gedanken gemacht.
2.1.2.1.1 Das ,,Vier-Ohren-Modell"
SCHULZ VON THUN unterscheidet vier Aspekte, die der Gesprächspartner gleichzeitig
in seiner Nachricht mit auf den Weg schicke, ausgesprochen und unausgesprochen (siehe
Abbildung 5): Zuerst den Sachinhalt, also den nackten Informationskern. Zweitens, was der
Sprecher in diesem Moment über sich selbst preisgebe. Drittens offenbare die Aussage etwas
über die Beziehung zu deren Empfänger. Hinzu komme, viertens, der Appellaspekt.
Beispiel: Eine Fahrt im Auto, die Frau am Steuer, ihr Mann als Beifahrer. Er sagt:
,,Die Ampel ist grün" (Sachinhalt). Vielleicht will er damit ausdrücken: ,,Ich bin in Eile"
(Selbstoffenbarung). Aber auch die Aussage ,,Ich halte meine Frau für hilfsbedürftig"
schwingt mit (Beziehungsaspekt). Womöglich will er nur eines erreichen: ,,Fahr schneller!"
(Appell).
75
Bezeichnen wir diese Struktur als ,,Vier-Ohren-Modell". Damit die Botschaft tatsächlich
auch wie beabsichtigt vom Partner verstanden wird, sagt SCHULZ VON THUN, müsse der
Sender fähig sein, alle ,,Ohren" im jeweils richtigen Verhältnis zu bedienen. Der Empfänger
wiederum müsse dann aber auch auf dem richtigen ,,Ohr" hören. Er versuche nämlich, über
genau dieselben vier Aspekte die ankommende Nachricht zu dekodieren ­ und herauszu-
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
73
MALETZKE 1998: 116
74
vgl. SILBERMANN/KRÜGER 1973: 66. Weshalb man später auch lieber von einer
,,Multi-Step-Hypothese" sprach.
75
vgl. SCHULZ VON THUN 1981: 30

2. Präsentation
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finden, in welches ,,Ohr" der Sender wohl speziell gesendet hat: Was sagt er? Ist er in Eile?
Will er mich kritisieren? Was soll ich tun?
Abb. 5. Das ,,Vier-Ohren-Modell" (nach SCHULZ VON THUN 1996: 22)
Natürlich zeigt der Alltag, daß die ,,Ohren" nicht selten aneinander vorbei hören. Mit dem
Ergebnis, daß wir etwas in den ,,falschen Hals" bekommen. Angenommen, der Sender will die
Sachinformation betonen: ,,Die Ampel ist grün." Doch die Hörerin ist in diesem Augenblick
eher für den Beziehungsaspekt sensibilisiert und denkt: ,,Aha, er hält mich wohl für blöd."
Wenn also der Sprecher die vier Informationsaspekte nicht exakt in der gleichen Weise ge-
wichtet wie der Empfänger die Aufnahmebereitschaft seiner vier ,,Ohren", so die Theorie,
dann kommt es zu Kommunikationsstörungen. Je nachdem, welcher Aspekt auf welches Ohr
trifft, werde das Gespräch seinen weiteren Verlauf nehmen.
76
Dies aber macht erst einmal
wenig Hoffnung, daß Verstehen und Verständigung jemals hundertprozentig gelingen können.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
76
vgl. ebd.: 44ff.

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2.1.2.2 Die Verstärkerhypothese und die Theorie der kognitiven Dissonanz
KLAPPER setzte LAZARSFELDS Studien fort. Auch er hatte einen Menschen vor
Augen, der nur selektiv wahrnehme, was ihm an Informationen geboten würde. Er entscheide
sich bewußt für eine Zeitschrift und gegen eine andere. Dann wähle er aus, was er lesen wolle;
was er lese, interpretiere er aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen; was er sich merken
wolle, speichere er im Gedächtnis und verändere dabei vielleicht noch einmal den aufzuneh-
menden Inhalt.
77
Was dies für Einstellungsänderungen bedeute, formulierte KLAPPER in seiner Hypothese:
Die ,,Medien sind tendenziell eher in der Lage, eine Verstärkerwirkung als einen Wandel
hervorzurufen"
78
. Die Gründe dafür untermauerte FESTINGER mit seiner Theorie der kogni-
tiven Dissonanz. Demnach versucht der Mensch, sich seine Einstellungen möglichst wider-
spruchsfrei zu erhalten, Inhalten auszuweichen, die seinen Interessen, Überzeugungen,
psychologischen Dispositionen zuwiderliefen und ihn in einen inneren Konflikt stürzen,
kurz: die eine kognitive Dissonanz hervorrufen würden.
79
Heute betrachtet man diese Annahmen jedoch differenzierter. MALETZKE beschreibt,
unter welchen Umständen ein Kommunikator die selektive Wahrnehmung des Rezipienten
überwinden könnte:
,,Die Beeinflussung ist in der Regel um so stärker, je mehr die empfangenen Aussagen mit den
Attitüden des Rezipienten übereinstimmen. Wirkungsmöglichkeiten ergeben sich vor allem, wenn
sich der Rezipient in der Angelegenheit, um die es in der Aussage geht, noch nicht festgelegt hat,
oder wenn er sich überhaupt noch nicht mit dem betreffenden Gegenstand befaßt hat, oder wenn
er ­ etwa in Krisensituationen ­ ein außergewöhnliches Informationsdefizit bei starkem Informa-
tionsbedarf hat."
80
Das hieße: Neue Themen, die die Medien aufbringen, schaffen neue Einstellungen. Eine
Chance für Politiker?
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
77
vgl. NOELLE-NEUMANN 1977: 117
78
SILBERMANN/KRÜGER 1973: 80, zit. KLAPPER Joseph T. (1960):
The effects of mass communication. New York: [ohne Verlag] 1960, S. 8
79
vgl. NOELLE-NEUMANN 1977: 118
80
MALETZKE 1998: 95

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2.1.2.3 Der Nutzen- und Belohnungsansatz
Es ist umstritten, ob der Nutzen- und Belohnungsansatz der Wirkungsforschung tatsäch-
lich von Nutzen sein kann.
81
Schließlich wird mit ihm nicht untersucht, wie Medien wirken ­
der Rezipient selbst ist sein Gegenstand. Frage: Was machen die Menschen mit den Medien?
Und warum? Antwort: Sie selegieren aktiv und zielgerichtet ­ und zwar diejenigen Artikel
und Sendungen, die ihre Bedürfnisse am ehesten zu befriedigen versprechen.
82
Sie suchen der
Theorie zufolge eine Form von Belohnung für die überstandenen Mühen ihres Alltages, dem
sie so vorübergehend zu entfliehen hoffen.
Der eine Zuschauer will vielleicht teilhaben an einem Leben, das Schöneres verspricht als
das seine ­ also würde er heute abend das ZDF-,,Traumschiff" dem ARD-,,Brennpunkt" vor-
ziehen. Der andere fühlt sich womöglich durch Streit und Konflikt gut unterhalten ­ nicht
auszuschließen, daß er mit der Übertragung der Haushaltsdebatte bei ,,Phoenix" gut bedient
ist. Wir sehen: ,,Die Zuwendung zu Medien wird gesteuert durch einen Typus von Nutzen-
Kalkulation."
83
Auch wenn manche Stimmen dem Nutzen- und Belohnungsansatz gänzlich den Rang
einer Theorie absprechen wollen ­ er soll in diesem Abriß nicht fehlen. Er bedeutete seinerzeit
wohl die konsequenteste Abkehr vom Stimulus-Response-Modell.
84
2.1.3 Der chaotische Mediennutzer
Egal, ob der Rezipient als passiv oder aktiv betrachtet wurde ­ steuerbar galt er den Kom-
munikationsforschern anscheinend immer, mal im Verhalten, mal in seinen Ansichten, mal in
seinem Wissen. Der Literatur zufolge konnte man sich jedenfalls irgendwie auf ihn einstellen.
Seit Anfang der neunziger Jahre wollen Konstruktivisten mit dieser Idee aufräumen. Und
mit der Vorstellung, daß es überhaupt statische Menschenbilder geben könne. Diese seien
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
81
vgl. MERTEN 1999: 339
82
vgl. MERTEN 1994b: 317f.
83
MALETZKE 1998: 121f., zit. MERTEN Klaus (1984): ,,Vom Nutzen des ,Uses and Gratifications
Approach`". Rundfunk und Fernsehen Nr. 32. [ohne Ort] [ohne Verlag] 1984, S. 66
84
vgl. MERTEN 1999: 335

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doch selbst nur Konstruktion ­ also ein Wunschbild, das der Kommunikator sich macht.
Wenn die sich aber schon ihre Traumwelt konstruierten ­ warum dann nicht auch der Rezi-
pient? Denn offenbar tut dieser einfach, was ihm gerade frommt. Der Mensch: ein Chaot, ein
multioptionaler Verbraucher. Mal geht er fein essen, dann greift er wieder zu den Fertig-
gerichten bei Aldi. Was leitet ihn? Schwer zu sagen, kaum zu prognostizieren. Hauptsache,
so scheint es, das Erlebnis stimmt. Und ein Erlebnis sei, sagen die Konstruktivisten, was der
Mensch als Erlebnis empfinde. Sinnvoll sind demnach die Objekte, denen er Sinn beimißt.
So projiziere er seine erwünschte Realität nach außen.
85
Wenn dies stimmt, erweitert sich
auch die Funktion von Massenmedien:
,,Massenmedien werden nicht mehr nur als Techniken der Kommunikation, d. h. als neutrale
Instrumente zur Verbreitung und Speicherung von Informationen gesehen, sondern eher als
Instanzen der Selektion und Sinngebung, die aktiv in die gesellschaftliche Konstruktion von
Wirklichkeit eingreifen."
86
Damit ist unser Abriß zur Wirkungsforschung bei der Wahrnehmungstheorie angelangt. Es
folgen kurze Erläuterungen der Systemtheorie (Kapitel 2.1.3.1) und des radikalen Konstruk-
tivismus (2.1.3.2). Denn aus beiden Theorien generiert sich die Grundannahme der vorliegen-
den Arbeit: daß die Angebote, die Massenmedien ihren Nutzern machen, aus dem Zusammen-
spiel von massenmedialen Subsystemen entstehen.
87
Damit gelangen wir zu einem neuen
Schema: dem Vier-Säulen-Modell (2.1.3.3), das zu prüfen sein wird.
2.1.3.1 Systemtheorie
Der Systemtheoretiker unterscheidet zwischen System und Umwelt. Zu einem System
gehören soziale Handlungen, die aufeinander verweisen. Umwelt bilden alle Handlungen, die
nicht dazugehören. Gegenstand der Systemtheorie ist nun, wie die Wechselbeziehungen
zwischen System und Umwelt organisiert sind.
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
85
vgl. ROLLKA 1999: 399ff.
86
MALETZKE 1998: 124, zit. SCHULZ W. (1985): ,,Fortschritte der Medienwirkungsforschung".
S. 68. MAHLE W. A., Hg. (1985): Fortschritte der Medienwirkungsforschung. Berlin: [ohne Verlag]
1985, S. 67-70
87
vgl. LUHMANN 1996: 45

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Die Grenzen eines Systems werden festgelegt durch die Regeln, die innerhalb des Systems
gelten. Es sind Sinngrenzen, die Informationen einschließen, die nach bestimmten Regeln
zusammengefaßt sind. Im System Massenkommunikation sind dies beispielsweise die Regeln
für journalistische Berichterstattung.
88
Das Bündel solcher Kriterien bezeichnen die System-
theoretiker als ,,Code". Anhand dessen erkennt man Ereignisse aus der Umwelt als relevant
für das System und wählt sie aus.
89
Anders wäre die komplexe Umwelt nicht zu bewältigen.
Immer geht es um Vereinfachung.
Die sogenannte Leitdifferenz beschreibt den Code. Beispiel Journalismus: Hier lautet die
Leitdifferenz ,,Information/Nichtinformation". Das heißt: Ein Ereignis aus der Umwelt wird
dann wichtig für den Redakteur, wenn es eine Information hergibt. Dies ist der Fall, wenn das
Ereignis den Regeln im System Journalismus entspricht. Also: Das Ereignis wird zur Nach-
richt, wenn es aktuell ist, überraschend, von Tragweite et cetera. Damit aktualisiert, also
verändert es gleichzeitig das Informationsangebot im System Journalismus (man sagt auch:
die ,,Nachrichtenlage"). Alles andere wäre eine Nichtinformation.
90
In den Worten der Systemtheorie: Eine Information liegt immer nur dann vor, wenn der
Code an ihr einen Unterschied entdecken kann ­ und sie damit in der Lage ist, einen neuen
Unterschied zu produzieren. Ähnlich wie bei einer Kühlanlage: Angenommen, sie erhält die
Botschaft ,,zu heiß". Daraus folgert das System: ,,Kühlanlage einschalten". Eine neue Bot-
schaft entsteht: ,,Temperatur optimal".
91
Damit kommen wir zur Kommunikation. Person A hat ein anderes Gedächtnis, ein anderes
Bewußtsein als B. Das heißt, beide Systeme ,,Gedächtnis" sind voneinander getrennt ­ und
sehr komplex. Daß A seinen Gesprächspartner B nicht versteht (oder umgekehrt), wundert
LUHMANN nicht: ,,Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl
wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden."
92
Konsequenz: Um dennoch das Gespräch miteinander erfolgreich zu gestalten, müssen
beide versuchen, im Zusammenspiel die Komplexität ihrer Sinnsysteme abzubauen, zu
vereinfachen. Gedanken von A müssen sich auch im Kopf von B einbetten können
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
88
vgl. KEPPLINGER 1986: 172
89
vgl. KRIEGER 1996: 29
90
vgl. LUHMANN 1996: 74f.
91
vgl. KRIEGER 1996: 23f.
92
SCHMIDT 1994b: 603, zit. LUHMANN Niklas (1981): ,,Die Unwahrscheinlichkeit der Kom-
munikation". S. 26. Ders.: Soziologische Aufklärung Nr. 3. Opladen: [ohne Verlag], S. 25-34

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(vice versa). Anders gesagt: Es gibt ,,Schwellen, die erfolgreiche Kommunikation erst einmal
überschreiten muß"
93
­ egal, ob ein PR-Mann versucht, den Journalisten für sein Thema zu
gewinnen, oder ob jemand die vier ,,Ohren" seines Gesprächspartners bedienen will, indem er
die vier Aspekte seiner Botschaft adäquat temperiert (vgl. Kapitel 2.1.2.1.1). Immer geht es
darum, die Schwelle zum anderen zu überwinden. Dies geschieht durch Weglassen von
Informationen, die für den Gesprächspartner unwichtig sein könnten, und durch ,,Symbol-
techniken"
94
, also beispielsweise die Art, wie ich mein Anliegen am besten vermitteln kann.
Doch selbst wenn dies gelingt, also der andere meine Botschaft verstanden hat ­ ob er sie
wirklich in das eigene Denken und Handeln übernimmt, bleibt für den Systemtheoretiker
fraglich.
95
Aber erst dann definiert LUHMANN die Kommunikation als gelungen: wenn der
andere durch eine Anschlußhandlung oder Folgeworte sichtbar oder hörbar macht, daß er
verstanden hat.
96
Alles hängt von dessen individuellem Bewußtsein ab. So gelangen wir
zwangsläufig zur nächsten hier wichtigen Theorie und damit von dem eher soziologischen
hin zum eher psychologischen Ansatz.
2.1.3.2 Radikaler Konstruktivismus
Grundlegend sei, was im Bewußtsein passiert, sagen die Radikalkonstruktivisten. Dort
entwickle jeder sein eigenes Bild von der Wirklichkeit, die uns umgibt. Das klingt nicht neu.
Bereits wenige Jahrhunderte vor Christus, in der Ära der Sophistik, lautete der Satz des
Protagoras: ,,Wie alles mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so ist es für dich."
97
Heute
glauben radikale Konstruktivisten, ,,daß Umweltgegebenheiten kognitive Systeme nur im
Sinne unspezifischer energetischer Veränderungen [...] anregen"
98
. Grundlage unserer
Erlebniswirklichkeit könnten deshalb nur die Bedeutungen sein, die wir selbst den uns
umgebenden Objekten und Sachverhalten zuweisen. Die Konsequenz:
______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________
93
KÄSLER 1991: 55
94
ebd.: 56
95
vgl. SCHMIDT 1994b: 604
96
vgl. KRIEGER 1996: 101
97
vgl. ROSS 2002
98
KRUSE/STADLER 1994: 32

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832458133
ISBN (Paperback)
9783838658131
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität der Künste Berlin – 2 Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation
Note
1,0
Schlagworte
massenmedien systemtheorie wahlen berlin konstruktivismus
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Titel: Kommunikationsmodelle und Medientheorien
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