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Probleme der Körperwahrnehmung bei Herzinfarktpatienten

©2000 Doktorarbeit / Dissertation 255 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Nachdem die im Verlauf der 50er und Anfang der 60er Jahre erworbenen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Auffassung bestätigten, daß die Frühmobilisation zu positiven Effekten bei Patienten im Zustand nach Herzinfarkt führt, nehmen bewegungs- und sporttherapeutische Maßnahmen einen festen Platz in der Behandlung Herzinfarktgeschädigter ein. Die Zielsetzungen, die für diesen Bereich formuliert wurden, sind sehr umfangreich. Dies läßt vermuten, daß hinsichtlich der erwarteten Effekte ein hoher Anspruch an sport- und bewegungstherapeutischen Maßnahmen innerhalb der kardiologischen Rehabilitation gestellt wird. Waren die Zielsetzungen in den Anfängen des Herzgruppensports hauptsächlich medizinisch-somatisch ausgerichtet, so sind im Laufe der Entwicklung weitere Ziele hinzugekommen, die neben der Steigerung der körperlichen Funktionen das Ziel der Schaffung einer neuen Lebensqualität in den Mittelpunkt stellen. Kritik an den bestehenden Herzsportgruppenmodellen kommt über die Infragestellung der Zielerreichung auf. Dies deshalb, weil insbesondere günstige psychosoziale Effekte, wie z.B. Verhaltensänderungen, psychische Stabilisierung, angemessene Krankheitsverarbeitungsformen usw. zu selten erreicht werden. Dementsprechend werden Methoden und Inhalte kritisch hinterfragt und dahingehend geprüft, ob sie tatsächlich der Umsetzung psychosozialer Ziele gerecht werden und sich in der Praxis nicht doch primär auf medizinisch-somatische Aspekte konzentrieren, wie die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Letzteres wird darauf zurückgeführt, daß die Konzeption der Herzgruppenbetreuung in erster Linie auf wissenschaftlichen Grundlagen der Medizin, Sportmedizin und Trainingslehre aufbaut. Dies führt dazu, daß die Ziele in diesem Bereich besonders klar differenziert und definiert sind.
In der Vergangenheit wurden bereits neue Methoden für die kardiologische Rehabilitation vorgeschlagen, die sich gegen eine ausschließliche Fixierung auf die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch funktionelles Übungssgut stellen. Eine besondere Intention liegt in der Verbesserung der Interozeptionsleistung der Betroffenen, sowie in einer Steigerung der Sensibilität für körpereigene Prozesse. Der Umgang mit dem Körper soll auf der Basis von Bewegungserfahrung und Wahrnehmungsförderung stattfinden, d.h. eine bessere Wahrnehmung von Körpersignalen und die Fähigkeit zur richtigen Belastungsdosierung erreichen, sowie die Angst vor der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5753
Schmitt-Fink, Barbara: Probleme der Körperwahrnehmung bei Herzinfarktpatienten
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Köln, Sporthochschule, Dissertation / Doktorarbeit, 2000
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

0
Allen Personen, die mich bei meiner Untersuchungsarbeit unterstützt haben, möchte ich an
dieser Stelle herzlich danken. Für die Durchführung der Fragebogenuntersuchung gilt mein
Dank insbesondere Frau Corinna Coors-Mühlbacher, der bewegungstherapeutischen Abtei-
lung der ehemaligen Sonnenhof-Klinik in Bad Oeynhausen und ebenso dem Fachpersonal der
Bewegungstherapie der Klinik Roderbirken in Leichlingen.
Für die wissenschaftliche Unterstützung danke ich Herrn Privatdozent Dr. J. Knobloch.

1
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS 1
EINLEITUNG 5
1.
DIE MULTIFAKTORIELLE GENESE DES HERZINFARKTS
7
2.
SPORT UND BEWEGUNG IN DER KARDIOLOGISCHEN
REHABILITATION 18
2.1. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus medizinischer Sicht
18
2.2. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus psychologischer Sicht
19
2.3. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus sozialer Sicht
20
2.4. Übungsinhalte der Bewegungstherapie mit Herzpatienten
21
2.5. Empirische Untersuchungen zur Herzsportgruppenarbeit
23
2.5.1. Befunde bezüglich physiologisch-medizinischer Ziele
23
2.5.2. Befunde bezüglich psychologischer Ziele
26
2.5.3. Befunde bezüglich sozialer Ziele
32
2.6. Einfluß von Krankheitsverarbeitung, Sportverständnis und
Gesundheitsmotivation auf die kardiologische Bewegungstherapie
35
2.7. Neue Entwicklungen in der Bewegungstherapie mit Herzpatienten
38
3.
PHYSIOLOGISCHE UND PSYCHOLOGISCHE GRUNDLAGEN VON
WAHRNEHMUNGSPROZESSEN 46
3.1. Wahrnehmungstheoretische Grundlagen
46
3.2. Physiologische Grundlagen der Interozeption
50
3.3. Psychologische Grundlagen der Interozeption
52

2
4.
KÖRPERWAHRNEHMUNG BEI HERZINFARKTPATIENTEN
58
4.1. Bedeutung der Körperwahrnehmung für den Herzinfarktpatienten
58
4.2. Interozeption bei Herzinfarktpatienten
59
4.3. Krankheitswahrnehmung bei KHK-Patienten
62
5.
MESSUNG DER KÖRPERWAHRNEHMUNGSFÄHIGKEIT 67
5.1. Struktur der Meßmethoden zur Körperwahrnehmungsfähigkeit 67
5.2. Meßmethoden zum Körperbild
68
5.3. Meßmethoden zur interozeptiven Wahrnehmungsfähigkeit
69
5.3.1. Einschätzverfahren zur Messung der viszerozeptiven Wahrnehmungsfähigkeit
70
5.3.2. Einschätzverfahren und Körperorientierungsaufgaben zur Messung der
propriozeptiven Wahrnehmungsfähigkeit
72
5.4. Psychophysiologische Messung der Entspannungsfähigkeit
73
6.
VORÜBERLEGUNGEN UND THESEN ZUR EIGENEN EMPIRISCHEN
UNTERSUCHUNG 76
6.1. Problemstellung 76
6.2. Ziele der Arbeit
79
6.3. Fragestellungen und Hypothesen
81
7.
METHODIK 84
7.1.
Untersuchungsdesign 84
7.2. Untersuchungsinstrumente 84
7.2.1. Überblick
84
7.2.2. Konstruktion eines Fragebogens zum Thema UKKv
85
7.2.3. Konstruktion eines Fragebogens zum Thema UKKn
87
7.2.4. Konstruktion eines Fragebogens zur Sportmotivation
89
7.2.5. Motorische Tests zur Messung der Körperwahrnehmungsfähigkeit
91
7.2.5.1.
Messung des Körperschemas
91
7.2.5.2.
Wahrnehmung von interozeptiven Signalen während körperlicher
Anstrengung 95
7.2.5.3.
Messung der Entspannungsfähigkeit
97

3
7.3. Beschreibung der Stichprobe
99
7.3.1. Person- und arbeitsbezogene Merkmale
99
7.3.2. Programme der Experimentalgruppen
103
7.4. Untersuchungsdurchführung 104
7.5. Verwendete statistische Verfahren
105
8. BESCHREIBUNG DER ERGEBNISSE
108
8.1. Fragebogenuntersuchung 108
8.1.1. Faktorenanalyse des Fragebogens Umgang mit Körper und Krankheit in der
Vorinfarktphase (UKKv)
108
8.1.1.1.
Itemanalyse und Mittelwerte der Faktoren
114
8.1.2. Faktorenanalyse des Fragebogens Umgang mit Körper und Krankheit in der
Phase nach dem Infarkt (UKKn)
119
8.1.2.1.
Itemanalyse und Mittelwerte der Faktoren
125
8.1.3. Diskussion der Ergebnisse zu den Fragebögen UKKv und UKKn
129
8.1.4. Faktorenanalyse des Fragebogens zur Sportmotivation (FSM)
133
8.1.4.1.
Itemanalyse und Mittelwerte der Faktoren
138
8.1.5. Folgerungen für die Therapiearbeit in der Herzsportgruppe
142
8.2. Experimentelle Untersuchung
146
8.2.1. Persondaten
146
8.2.2. Medizinische Daten
147
8.2.3. Aktivitäten außerhalb der Herzsportgruppe und Dauer der
Herzsportgruppenteilnahme 148
8.2.4. Vergleich von VG und KG bei den motorischen Tests zur
Interozeptionsleistung 151
8.2.4.1.
Ergebnisse zum Körperschema
151
8.2.4.2.
Wahrnehmung der körperlichen Anstrengung
158
8.2.4.3. Entspannungsfähigkeit
166
8.3. Unterschiede zwischen VG und KG bei Sportmotivation (FSM) und Umgang
mit Körper und Krankheit vor der Infarkterkrankung (UKKv)
168
8.3.1. Mittelwertvergleiche in den Faktoren des UKKn zwischen den beiden
Untersuchungsgruppen 171
9.
DISKUSSION DER EXPERIMENTELLEN BEFUNDE
175
10. ABSCHLUßDISKUSSION 179
10.1. Bewertung der Untersuchungsbefunde
179
10.2. Konsequenzen für Forschung und Praxis
183

4
11. LITERATUR 187
12. ANHANG 209
12.1. Tabellen zu den Persondaten
209
12.2. Herzsportgruppenleiterbefragung 211
12.2.1. Fragebogen
211
12.2.2. Ergebnisse
212
12.3. Beschreibung der motorischen Testaufgaben
218
12.3.1. Testbogen zur Protokollierung der Testergebnisse
221
12.4. Statistische Kennwerte zu den Faktoren aus UKKv, UKKn, FSM
223
12.4.1. Mittelwerte und Streuung der Einzelitems in den vier Faktoren des UKKv
223
12.4.2. Mittelwerte und Streuung der Einzelitems in den vier Faktoren des UKKn
225
12.4.3. Mittelwerte und Streuung der Einzelitems in den vier Faktoren des FSM
227
12.5. Meßinstrumente - verwendete Fragebögen
228
LEBENSLAUF 250

5
Einleitung
Nachdem die im Verlauf der 50er und Anfang der 60er Jahre erworbenen wis-
senschaftlichen Erkenntnisse die Auffassung bestätigten, daß die Frühmobilisa-
tion zu positiven Effekten bei Patienten im Zustand nach Herzinfarkt führt,
nehmen bewegungs- und sporttherapeutische Maßnahmen einen festen
Platz in der Behandlung Herzinfarktgeschädigter ein. Die Zielsetzungen, die
für diesen Bereich formuliert wurden (Kapustin, 1992; Lagerström, 1994a),
sind sehr umfangreich. Dies läßt vermuten, daß hinsichtlich der erwarteten Ef-
fekte ein hoher Anspruch an sport- und bewegungstherapeutischen Maßnah-
men innerhalb der kardiologischen Rehabilitation gestellt wird. Waren die
Zielsetzungen in den Anfängen des Herzgruppensports hauptsächlich medizi-
nisch-somatisch ausgerichtet, so sind im Laufe der Entwicklung weitere Ziele
hinzugekommen, die neben der Steigerung der körperlichen Funktionen das
Ziel der Schaffung einer neuen Lebensqualität in den Mittelpunkt stellen
(Halhuber, 1994; Lehmann, 1986). Kritik an den bestehenden Herzsportgrup-
penmodellen kommt über die Infragestellung der Zielerreichung auf. Dies des-
halb, weil insbesondere günstige psychosoziale Effekte, wie z.B. Verhaltens-
änderungen, psychische Stabilisierung, angemessene Krankheitsverarbeitungs-
formen usw. zu selten erreicht werden (Halhuber, 1994; Knobloch, 1985,
1990). Dementsprechend werden Methoden und Inhalte kritisch hinterfragt und
dahingehend geprüft, ob sie tatsächlich der Umsetzung psychosozialer Ziele
gerecht werden und sich in der Praxis nicht doch primär auf medizinisch-
somatische Aspekte konzentrieren, wie die Steigerung der körperlichen Leis-
tungsfähigkeit (Esser & Zimmer, 1985; Kollenbaum & Prange-Morgenstern,
1986; Wiraeus & Effert, 1988). Letzteres wird darauf zurückgeführt, daß die
Konzeption der Herzgruppenbetreuung in erster Linie auf wissenschaftlichen
Grundlagen der Medizin, Sportmedizin und Trainingslehre aufbaut. Dies führt
dazu, daß die Ziele in diesem Bereich besonders klar differenziert und definiert
sind (Reuß, 1992).
In der Vergangenheit wurden bereits neue Methoden für die kardiologische
Rehabilitation vorgeschlagen, die sich gegen eine ausschließliche Fixierung
auf die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch funktionelles Ü-

6
bungssgut stellen. Eine besondere Intention liegt in der Verbesserung der Inte-
rozeptionsleistung der Betroffenen, sowie in einer Steigerung der Sensibilität
für körpereigene Prozesse (Fischer, 1992; Knobloch, 1990; Kolb, 1994; Mau-
rer, 1994; Prange-Morgenstern, 1987). Der Umgang mit dem Körper soll auf
der Basis von Bewegungserfahrung und Wahrnehmungsförderung stattfinden,
d.h. eine bessere Wahrnehmung von
Körpersignalen und die Fähigkeit zur richtigen Belastungsdosierung erreichen,
sowie die Angst vor der Auseinandersetzung mit und der Hinwendung zum
Körper reduzieren. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, ein so angeleg-
tes Therapiekonzept empirisch zu prüfen.
In den einleitenden Kapiteln wird der Versuch unternommen, zu einer kriti-
schen Betrachtung des derzeitigen Herzinfarktsports zu gelangen. Es erfolgt
zunächst eine Beschreibung von Zielen, Methoden und Inhalten, die daran an-
schließend mittels ausgewählter Untersuchungsergebnisse ausführlich disku-
tiert und kritisch hinterfragt werden. Die weiteren Kapitel befassen sich neben
wahrnehmungstheoretischen Grundlagen mit der Strukturierung und Darstel-
lung von Untersuchungsverfahren zur Körperwahrnehmungsfähigkeit.
Der emipirische Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob ein alternati-
ves, d.h. mehr psychologisch ausgerichtetes Therapiekonzept, das insbesondere
auf einer Förderung der Körperwahrnehmung und des Körpererlebens beruht,
günstigere Auswirkungen auf den Umgang mit der Herzerkrankung erreicht als
ein Therapieprogramm, das solche Elemente nicht integriert. Daneben umfaßt
dieser Teil der Arbeit die statistische Analyse von drei selbstentwickelten Fra-
gebögen.

7
1. Die multifaktorielle Genese des Herzinfarkts
Es ist allgemein akzeptiert, daß der Entwicklung einer koronaren Herzkrank-
heit (KHK) ein multifaktorielles Geschehen zugrunde liegt. Diese Einflüsse,
die auch als Risikofaktoren bezeichnet werden, sind unterschiedlicher Natur
und werden in ihrer Bedeutsamkeit für die Progression einer KHK nicht als
gleichermaßen wirksam beurteilt (Damm & Frey, 1990; Langosch, 1988). Je-
des Merkmal wird dann als Risikofaktor aufgefaßt, wenn ein statistisch gesi-
cherter Zusammenhang mit der KHK belegt werden kann. Der Anspruch, diese
Merkmale auch als Kausalfaktoren nachzuweisen, besteht nach dieser Definiti-
on jedoch nicht (Langosch, 1988, 1989b).
Als besonders gefährlich wird das gemeinsame Auftreten mehrerer Risikofak-
toren beurteilt. In diesem Fall ergibt sich die Erhöhung der Erkrankungswahr-
scheinlichkeit nicht aus der einfachen Summation der einzelnen Faktoren, son-
dern sie steigt wesentlich stärker an, als es der einfachen Aufaddierung ent-
sprechen würde (Hollmann, Rost, Dufaux & Liesen, 1983). Außerdem müssen
für einen hohen Gefährdungsgrad nicht nur einzelne Risikofaktoren eine starke
Ausprägung zeigen, sondern schon das gemeinsame Auftreten mehrerer mäßig
ausgeprägter Risikofaktoren kann zu einer ähnlich starken Gefährdung führen
(Nüssel, Buchholz & Scheidt, 1984, zitiert nach Langosch, 1988).
Hollmann et al. (1983, 29) betrachten folgende Risikofaktoren aus den Ergeb-
nissen verschiedener epidemiologischer Studien für die KHK als gesichert,
wobei sie eine Einteilung in interne und externe Faktoren vornehmen. Als in-
terne Faktoren gelten Hypercholesterinämie, Hypertonie, Diabetes mellitus,
Hyperurikämie und Hypertriglyzeridämie. Beim Vorhandensein anderer Risi-
kofaktoren wird die Adipositas als weiterer Risikofaktor aufgefaßt.
Unter die externen Risikofaktoren fallen das Zigarettenrauchen, Disstreß und
Bewegungsmangel, sowie unphysiologische Ernährungsgewohnheiten. Letzte-
res betrifft die Qualität und die Quantität der Nahrungsaufnahme.
Als sogenannte ,,Standardrisikofaktoren" gelten Hypercholesterinämie, Hy-
pertonie und das Rauchen, weil sie in den erwähnten Studien besonders gut
nachgewiesen werden konnten.

8
Während die bisher aufgeführten Risikofaktoren als beeinflußbar gelten, exis-
tieren weitere krankheitsfördernde Merkmale, die offenbar nicht beeinflußbar
sind. Dazu zählen das männliche Geschlecht, das Alter und die genetische An-
lage. Ebenso erhöht das Auftreten von KHK-Fällen bei Familienangehörigen
vor dem 55. Lebensjahr das Risiko, an einer KHK zu erkranken.
Das anfangs somatisch orientierte Risikofaktorenmodell wurde im Laufe der
Zeit um psychosoziale Faktoren erweitert. Der Grund hierfür lag darin, daß
sich das Auftreten der KHK nicht immer mit den somatischen Faktoren erklä-
ren ließ. Allgemein wird behauptet, daß ca. 50% der KHK-Fälle auf die Stan-
dardrisikofaktoren zurückführbar sind (Keys et al. 1972; Langosch, 1989a;
Schäfer & Blohmke, 1977).
In einer Studie des amerikanischen Ministeriums für Gesundheit, Erziehung
und Wohlfahrt (1973, zitiert nach Damm & Frey, 1990) konnten z. B. nur 25%
der Varianz durch die somatischen Risikofaktoren aufgeklärt werden. Die rest-
lichen 75% wurden sozialen und psychischen Faktoren zugeschrieben.
Wichtige Erkenntnisse zu diesem Thema erbrachte die Arbeit von Schäfer &
Blohmke (1977), die sich mit der Frage auseinandersetzte, warum es die soge-
nannten "escapers" gibt, d.h. Personen, die z.B. Raucher sind, unter Überge-
wicht und Hypertonie leiden und trotzdem nicht an einem Herzinfarkt erkran-
ken.
Anhand vorliegender epidemiologischer Befunde und eigener Studien versuch-
ten sie, Zusammenhänge zwischen sozialen Merkmalen und dem Auftreten von
KHK nachzuweisen und diese in einer Modelltheorie darzustellen. Zusammen-
gefaßt besagt diese Modelltheorie, daß somatische Risikofaktoren, die als Pri-
märfaktoren bezeichnet werden, aufgrund problematischer sozialer Umweltfak-
toren entstehen.
Soziale Risiken können z.B. durch die soziale Schicht, durch belastende Le-
bensereignisse, durch Arbeitsunzufriedenheit, risikoreiche Verhaltensweisen,
wie Rauchen, Alkohol, Bewegungsmangel usw. provoziert werden. Entschei-
dend für den Übergang dieser sozialen Risiken in tatsächliche Risikofaktoren
ist nach Schäfer & Blohmke (1977) jedoch die Persönlichkeit, denn von ihr
hängt der Grad der Emotionalität ab, mit welcher auf die risikoträchtigen, sozi-
alen Umweltfaktoren reagiert wird.

9
In der weiteren Erforschung psychosozialer Faktoren für die KHK- Entstehung
wurde der Persönlichkeit und bestimmten Verhaltensmerkmalen große Auf-
merksamkeit gewidmet.
Einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte das von Friedman & Rosenman (1959)
entwickelte Konzept des Typ-A-Verhaltensmusters. Das Typ-A-Verhalten
stellt nach Rosenman & Chesney (1982) einen sehr einflußreichen Risikofaktor
dar. Sie beschreiben ihn als konstanten Multiplikator mit folgenden Worten:
"Man könnte sagen, das das Typ-A-Verhalten das KHK-Risiko, das von einem
oder mehreren anderen Risikofaktoren gebildet wird, auf jedem Niveau ver-
doppelt, was sich offensichtlich nicht mit zufälligen Konstellationen erklären
läßt" (S. 41).
Die besondere Bedeutung dieses Risikofaktors wurde durch die Western Col-
laborative Group Study (WCGS) und die Framinghamstudie belegt. Diese
beiden Längsschnittstudien konnten ein deutlich erhöhtes Koronarrisiko bei
den Typ-A-Personen nachweisen (Haynes, Feinleib & Kannel, 1980; Rosen-
man et al. 1975).
Die Ergebnisse der WCGS deckten ein 2,37mal größeres KHK-Risiko für Typ-
A-Personen auf, als vergleichsweise für den B-Typ (Rosenman et al. 1975).
Das Typ-A-Verhalten wird beschrieben als eine spezifische Reaktionsweise
auf Stressoren, die für das Individuum eine Bedrohung der sozialen Anerken-
nung bzw. des ,,Autoritätsgefühls" darstellen. Dabei steht das einerseits um-
weltbedingte und andererseits persönlichkeitsbedingte Auftreten von Typ-A-
Verhaltensweisen in einer deutlichen Beziehung zu neurophysiologischen Re-
aktionen (Rosenman & Chesney, 1982).
Bei den sogenannten Typ-A-Personen betrachtet man häufig Verhaltensweisen,
wie übertriebenen Ehrgeiz, hohe Verausgabungsbereitschaft, ständiges Streben
nach Anerkennung, Unfähigkeit zur Entspannung und Verleugnung von Mü-
digkeit und Entspannungsbedürfnissen, erhöhte Reizbarkeit, Hast und Eile,
Aggressivität und latente Feindseligkeitsmerkmale (Friedman & Rosenman,
1985).
Diese Verhaltensweisen dienen nach Glass (1977) dazu, die Umwelt zu kon-
trollieren. Kontrollverlust wird dabei von diesen Personen als Bedrohung er-
lebt.

10
Der Versuch, Kontrolle über die Umwelt zu erlangen und zu erhalten, wird
primär über das ,,chronisch kompensatorische Leistungs- und Dominanz-
verhalten" unternommen (Langosch, 1989b, S. 86).
Nach Langosch (1989b) dient dieses Verhalten dem Erhalt des Selbstwerts, das
durch soziale Anerkennung, wie beispielsweise Lob durch andere Personen
stabilisiert wird, bzw. dem Abbau von Angst vor Selbstwertminderung- oder
verlust. Erschöpfungs - oder Ermüdungsanzeichen werden in der Konsequenz
als Störfaktoren für die Aufrechterhaltung des Leistungsverhaltens beurteilt
und deshalb nur ungern beachtet. Die verleugnende Abwehr solcher Anzeichen
ist häufig die Folge.
Eine Untersuchung von Carver, Coleman & Glass (1976) konnte die Neigung
zur Nichtbeachtung von Ermüdungsanzeichen in physischen Belastungssituati-
onen bei Typ-A-Personen nachweisen. Sie verglichen eine Gruppe von Typ-A-
Personen mit einer Gruppe von Typ-B-Personen während eines Laufbandtests.
Die Ergebnisse deuteten darauf hin, daß sich die Typ-A-Personen stärker ange-
strengt hatten als die Typ-B-Personen, die subjektiven Werte für den Ermü-
dungsgrad bei der Typ-A-Gruppe jedoch niedriger lagen als bei der Typ-B-
Gruppe.
Bei der Interpretation der Ergebnisse verweisen die Autoren auf die Kontroll-
ambitionen von Typ-A-Personen. Die Bewältigung einer Anforderung gilt als
Indiz für die Kontrollierbarkeit der Umwelt. Die erfolgreiche Bewältigung ei-
ner Leistungsaufgabe besitzt deshalb einen hohen Auffoderungscharakter, was
wiederum den hohen Anstrengungsgrad der Typ-A-Gruppe in dieser Untersu-
chung erklärt. Ermüdungssymptome werden unterdrückt, weil sie die erfolgrei-
che Bewältigung einer Aufgabe gefährden.
In diesem Verhalten sehen die Autoren eine gesundheitliche Gefährdung, z.B.
für die frühzeitige Wahrnehmung eines Herzinfarkts oder für die Wahrneh-
mung von gefährlichen Überbelastungsanzeichen im weiteren Verlauf einer be-
reits vorliegenden Herzinfarkterkrankung.
Ob das Typ-A-Verhalten jedoch tatsächlich eine so hohe koronarspezifische
Bedeutung besitzt, ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht eindeutig geklärt, denn
die Ergebnisse der nachfolgenden Typ-A-Forschung liefern kein eindeutiges
Bild (Matthews, 1982; Price, 1982; Myrtek, 1983; Niederhauser, 1993; Kupfer,
1994, Mittag, Kolenda, Nordmann, Bernien & Maurischat, 1998). Außerdem

11
ließen sich auch bei anderen chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise
Morbus Bechterew, Typ-A-Verhaltensmerkmale nachweisen (Rüddel, Lan-
gosch, Schmidt, Brodner & Neus, 1985).
Die prognostische Bedeutung des Typ-A-Verhaltens für Infarktpatienten wird
in der Literatur kontrovers diskutiert. Dies deshalb, weil Studien existieren, die
diesen Zusammenhang eher in Frage stellen (Langosch, 1988; Mittag et al.
1998; Niederhauser, 1993). Gründe für die uneinheitlichen Resultate der Typ-
A-Forschung werden beispielsweise in einer problembehafteten Definition und
Erhebung von Typ-A-Verhaltensmerkmalen gesehen (Brodner, 1980; Ernst,
1988). Danach ist das Typ-A-Verhaltensmuster zu eng gefaßt (Niederhauser,
1993). Es zeichnet sich nämlich nicht durch ein einziges Konstrukt aus, das mit
verschiedenen Verfahren erfaßt werden kann, sondern es handelt sich eher um
ein Aufeinandertreffen verschiedener Konstrukte, die in den verschiedenen
Studien jeweils einen Zusammenhang zur KHK aufwiesen (Langosch, 1988).
Die unterschiedliche Ergebnisstruktur zeigt nach Langosch (1988) die Multi-
dimensionalität des Typ-A-Verhaltens auf. Andererseits ergibt sich die Fra-
ge, welche des sehr heterogen zusammengesetzten Typ-A-Konglomerats nun
die eigentlich gefährlichen Merkmale für die Progression der KHK sind (Kup-
fer, 1994). Diesbezüglich sind die Forscher einigen Verhaltensmerkmalen ge-
sondert nachgegangen. Verhaltensaspekte wie Feindseligkeit, unterdrückte
Wut, Zynismus oder eine überdurchschnittliche Ich-Beteiligung wurden als
Typ-A-Verhaltensweisen in ihrer Beziehung zur KHK untersucht (Ernst,
1988). Aber auch hier ergab sich keine eindeutige und zufriedenstellende Er-
gebnisstruktur.
Auch wenn es den Anschein hat, als wäre die Typ-A-Forschung mit vielen
Vorbehalten und Einschränkungen versehen und aufgrund ihrer fehlenden
Konstanz nur von bedingter Wertigkeit für die Vorhersage von KHK- Fällen,
so hat die Typ-A-Theorie nach Ernst (1988, S. 25) zumindest "den Weg geeb-
net zu einer ganzheitlichen, psychosomatischen Betrachtungsweise von Ge-
sundheit und Krankheit."
Dementsprechend wurden auch andere Ansätze entwickelt, die psychosoziale
Faktoren für die KHK-Entstehung thematisieren. Solche Modelle verfolgen
einen integrativen Ansatz, versuchen Querverbindungen zum Typ-A-Konzept
herzustellen, indem z.B. einzelne Typ-A-Merkmale herausgegriffen werden.
Darüberhinaus wird die Möglichkeit ausgeschöpft, neben den individuellen

12
(Verhaltens-)Komponenten auch umwelt-und gesellschaftsbezogene Faktoren
in das Konzept zu involvieren. Die Modellvorstellungen von Siegrist, Ditt-
mann, Rittner & Weber (1980) (Abb. 1) und Niederhauser (1993) (Abb. 2) ver-
ankern das Zusammentreffen verschiedener psychosozialer Belastungen als re-
levant für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.

13
Risikosituationen: Risikodisposition:
Psychosoziale
Risikokonstel-
lationen
Standardrisikofaktoren : u.a. Stress:
Somatische
Vorläufer
Pathogene-
tische
Mechanismen
klinische
Manifestation akuter Myokardinfarkt
Dokumentierte überprüfbare Relationen
Variablen
teilweise oder gar nicht postulierte, teilweise oder gar nicht
dokumentierte Variablen überprüfbare Relationen
Abb. 1: Postulierte Zusammenhänge im Forschungsprojekt nach Siegrist et al. (1980. S. 28)
Kontrollambition
(Typus A)
Chronisch:
- Arbeitsbelastungen
- familiäre
Schwierigkeiten
-
mangelnde soziale Unter-
stützung
Subakut:
- Lebensverändernde
Ereignisse
Bluthochdruck
Cholesterin
Zigarettenrauchen
Übergewicht
Bewegungsarmut
Neurohormonelle/kardio
vaskuläre Reaktionen
Atherosklerose der Koro-
narien
Spasmen
Myokardiale
Stoffwechsel
störungen

14
Das Forschungsmodell von Siegrist et al. (1980) geht von einem Wechselspiel
zwischen dispositionellen Verhaltensweisen und chronischen wie subaku-
ten bzw. akuten Belastungssituationen aus, die bei fehlender Bewältigung
"emotionalen Stress" auslösen und über die Aktivierung physiologischer Pro-
zesse, wie beispielsweise eine erhöhte Sympathikuserregung oder vermehrte
Ausschüttung von Hormonen der Nebennierenrindenachse, direkten Einfluß
auf pathogene Mechanismen des Myocardiums oder anderer Herz-Kreislaufpa-
rameter nehmen.
Auf der Seite der Risikodisposition, die dem Typ-A-Verhalten entspricht, wir-
ken stark ausgeprägte Kontrollbedürfnisse in Form von hoher Leistungs- und
Verausgabungsbereitschaft, Wettbewerbsstreben, Perfektionismus, hektischem
Arbeitsstil und fehlender Distanzierungsfähigkeit von beruflichen Belastungen.
Auf der anderen Seite werden in diesem Modell chronische soziale Risikosi-
tuationen berücksichtigt, d.h. berufliche Belastungen, familiäre Schwierigkei-
ten und fehlender sozialer Rückhalt. Ebenso werden subakute Belastungen in
Form von lebensverändernden Ereignissen als riskante situative Bedingungen
für die Entwicklung einer KHK bzw. eines Myokardinfarkts aufgefaßt.
Auch das Modell für die Entstehung und Progression der KHK von Niederhau-
ser (1993) legt zugrunde, daß neben bestimmten gefährdenden Verhaltenswei-
sen, die z.B. dem Typ-A-Konzept entsprechen, noch andere Faktoren hinzutre-
ten müssen, um eine Koronargefährdung auszulösen. Sein Modell berücksich-
tigt klassische Risikofaktoren ebenso wie chronische berufliche und familiäre
Stressbelastungen, erschwerte Lebensverhältnisse, wie z.B. einen niedrigen so-
zioökonomischen Status und soziale Isoliertheit, sowie überraschend eintreten-
de belastende Lebensereignisse.

15
klassische RF
weitere Fakto-
ren
sozio-
ökonomische
Situation
chron. Über-
lastung/ Streß
Konstitution
Persönlichkeits-
struktur
Bremswirkung:
- Entspannungs-
fähigkeit
- soziales Netz
KHK
Lebensereignisse
Abb. 2: Modell für die Entstehung und Progression der KHK nach Niederhauser
(1993, S. 153)
Die Untersuchungsergebnisse aus der Studie von Siegrist et al. (1980) bestäti-
gen die Modellannahmen. In der Infarktgruppe waren die erwarteten psychoso-
zialen Risikokonstellationen signifikant stärker ausgeprägt als in der Kontrast-
gruppe. Dies betraf vorhandene chronische Arbeitsbelastungen bei fehlender
sozialer Unterstützung, das Vorhandensein von Kontrollambitionen als Kon-
strukt des Typ-A-Verhaltens und das Erleben von lebensverändernden Ereig-
nissen. Außerdem wies die Infarktgruppe auch häufiger erhöhte Werte bei
mehreren bzw. allen Risikomerkmalen auf, als die Kontrastgruppe.
Interessant waren die Ergebnisse zum Vorhandensein von Standardrisikofakto-
ren. Die Unterschiede zwischen den Gruppen bei den Werten der Standardrisi-
kofaktoren waren schwächer ausgeprägt als bei den psychosozialen Risikofak-
toren. Außerdem zeigte sich im Trend, daß psychosozial extrem belastete Per-
sonen höhere Werte in solchen Merkmalen aufwiesen, die theoretisch mit neu-
rohormonellen Prozessen verbunden waren, wie beispielsweise Bluthochdruck
(Siegrist et al. 1980).
Eine spätere Studie der Arbeitsgruppe, die an 416 männlichen Arbeitern der
Metallindustrie zwischen 1982-1985 durchgeführt wurde, konnte die Zusam-
menhänge zwischen der Risikodisposition Kontrollambition und sozialen Be-
lastungsfaktoren weiter stützen und differenzieren (Siegrist, 1987). Es zeigte

16
sich z.B., daß eine erhöhte Verausgabungsbereitschaft und starke Kontrollbe-
dürfnisse nicht zu Disstreßerfahrungen führen, wenn sie entsprechend belohnt
werden und zum Erfolg führen (Siegrist, 1989).
Andererseits stellte das Typ-A-Verhalten dann einen Risikofaktor dar, wenn
sich der Betroffene in einer beruflichen Position ohne Aufstiegschancen befand
oder wenig sozialen Rückhalt erfuhr. Die Gefahr, einen Herzinfarkt zu er-
leiden, wurde dann durch den zusätzlichen Eintritt eines lebensverändernden
Ereignisses, wie beispielsweise den Tod einer wichtigen Bezugsperson, noch
beschleunigt bzw. löste bei bereits vorliegender morphologischer oder funktio-
neller Schädigung ein akutes Krankheitsereignis, wie z.B. den Herzinfarkt, aus
(Siegrist, 1984, 1989).
Der psychosoziale Aspekt "sozialer Rückhalt" wurde als Einflußfaktor im
Rahmen der KHK-Inzidenz von Siegrist (1986) gesondert untersucht.
Das Fehlen dieses Faktors wird dabei nicht nur unter dem Risikoaspekt be-
trachtet, der die Entwicklung einer KHK mitbeeinflussen kann, sondern er wird
ebenfalls als Schutzfaktor diskutiert. Danach entfaltet die soziale Umwelt des
Menschen sowohl gesundheitsbedrohende als auch gesundheitsfördernde Wir-
kungen "über ihren Einfluß auf seelische Vorgänge (z.B. emotionales Gleich-
gewicht) und auf das Verhalten (z. B. Rauchen, Alkoholkonsum, Ernährung,
Compliance)" (Badura, 1987, S. 291). In Situationen physischer und psychi-
scher Belastung können diese Stressoren durch entsprechende soziale Unter-
stützung aufgefangen werden. Im Falle des Mangels an sozialem Rückhalt
kann dieser Faktor aber auch als Stressor wirken.
Darüberhinaus wird dem Faktor sozialer Rückhalt nicht nur in der Phase der
Abwendung einer Erkrankung eine unterstützende Wirkung zugeschrieben,
sondern er kann auch den psychophysischen Stabilisierungsprozeß bei einer
bereits eingetretenen chronischen Erkrankung erleichtern (Freidl, Egger &
Schratter, 1992; Orth-Gomer, Unden & Edwards, 1988; Siegrist, 1986, 1990).
Kolenda (1994) gibt einen Überblick über solche Studien, die den Versuch un-
ternehmen, unter dem Aspekt der Sekundärprävention Maßnahmen festzule-
gen, die eine langsamere Progression und teilweise sogar eine Regression er-
reichen. Auch für die Phase nach der ersten Infarkterkrankung wird dem Er-
leiden eines weiteren Infarkts ein multifaktorielles Entwicklungsgeschehen
zugrundegelegt.

17
Dabei besitzen folgende Risikofaktoren besondere Relevanz:
ein erhöhtes sowie erniedrigtes LDL-Cholesterin
Hypertonie
Rauchen
Adipositas vom männlichen Typ
Bewegungsmangel
psychosoziale Risikofaktoren wie chronischer Disstreß und fehlender
sozialer Rückhalt
(Kolenda, 1994, S. 7).
Trotz der Befunde, die eine multifaktorielle Genese der KHK nahelegen, wer-
den die oben genannten Risikofaktoren in ihrer Bedeutung für die KHK nicht
gleich beurteilt.
Eine Vielzahl von Wissenschaftlern räumt einem erhöhten LDL - Cholesterin
neben dem Rauchen den größten Stellenwert ein und läßt psychosoziale Fakto-
ren weitgehend unberücksichtigt (Gleichmann, Mannebach & Gleichmann,
1991).
Andere beurteilen psychosoziale Risikofaktoren als mindestens genauso ent-
scheidend wie die beiden genannten Faktoren oder vertreten die Ansicht, daß
auch ohne medikamentöse Behandlung eine Progression verlangsamt bzw. eine
Regression erreicht werden kann (Ornish, 1992).
Kolenda (1994) kommt aufgrund eigener praktischer Erfahrungen zu dem
Schluß, daß eine derart gegensätzliche Diskussion nicht zum Erfolg führen
kann. Er fordert eine umfassende Lebensstiländerung und orientiert sich dabei
mit Einschränkungen am Lifestyle-heart-trial-Programm, das von Ornish et
al. (1990) entwickelt wurde. Die Durchführung dieses Programms, das von ei-
nem multifaktoriellen Ansatz ausgeht, führte bei der Studiengruppe zu einer
signifikanten Verbesserung des Krankheitsstatus im Sinne einer Gesamtregres-
sion in der Studiengruppe, während die Kontrollgruppe, die dieses Programm
nicht durchführte, mit einer Progression reagierte (Brusis, 1994; Ornish et al.
1990).
Auf dieses Programm soll an späterer Stelle ausführlicher eingegangen werden.

18
2. Sport und Bewegung in der kardiologischen Rehabili-
tation
2.1. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus medizinischer Sicht
In der Herzgruppenarbeit gilt die Verbesserung der Leistungsfähigkeit und
Belastbarkeit des Herz-Kreislaufsystems als ein wesentliches motorisch-phy-
siologisches Hauptziel (Kapustin, 1992). Dieses Ziel wird über entsprechend
dosierte, der Erkrankungsschwere angepaßte Ausdauerbelastungen erreicht, die
eine Reduzierung des Sauerstoffbedarfs des Herzens für eine gegebene musku-
läre Arbeit bewirken wollen. Diese Ökonomisierung der Herzarbeit durch Trai-
ning der Skelettmuskulatur gilt nach Weidemann & Meyer (1991) als wichtigs-
tes Prinzip der Bewegungstherapie mit Herzkranken.
Neben der Verbesserung der Ausdauerleistungsfähigkeit werden im Training
aber auch Koordination, Beweglichkeit und Muskelkraft angesprochen, wo-
bei die Verbesserung dieser motorischen Eigenschaften dazu beitragen soll,
den Belastungen und Problemen des täglichen Lebens besser gewachsen zu
sein (Rost, 1995). Dies bildet eine wesentliche Grundlage für das übergeordne-
te Ziel einer erfolgreichen Rehabilitation, worunter Hollmann et al. (1983, S.
142) das Bemühen verstehen, "den Patienten in physischer, psychischer und
sozialer Sicht so weit wie möglich unter Berücksichtigung des bestehenden
Defektzustandes zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu machen."
In seiner Übersicht verweist Kapustin (1992) für den motorischen Bereich auf
das Erlernen von weiteren motorischen Fertigkeiten, soweit diese für das Spie-
len, Schwimmen, Tanzen, Skiwandern usw. notwendig sind. Eine weiteres Ziel
liegt in der richtigen Koordinierung von Atmung und Bewegung.

19
2.2. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus psychologischer
Sicht
Allgemein wird betont, daß neben diesen genannten medizinisch-motorischen
Aspekten die Rehabilitation des Herzinfarktkranken mehr impliziert. Hollmann
et al. (1983) empfehlen eine ganzheitliche Vorgehensweise in der Therapiear-
beit, die sich in den Trainingsinhalten wiederspiegeln muß. Psychologische
Trainingsinhalte müssen besondere Berücksichtigung finden, um den ganzen
Patienten anzusprechen, "der im wörtlichen und im übertragenen Sinne an die-
sem Herzen hängt" (Hollmann et al. 1983, S. 171). Halhuber (1985) stellt die
Verbesserung der Lebensqualität der Patienten in den Vordergrund. Brenner &
Trappe (1981, S. 147 zitiert nach Knobloch, 1993) formulieren u.a. Ziele wie
den "Aufbau und die Verbesserung gesundheitsfördernder Selbstverantwor-
tung", worunter Knobloch (1993, S. 244) auch die "Verminderung des Typ-A-
Verhaltens" faßt.
Inhaltlich beziehen sich die psychologischen Ziele primär auf eine bessere psy-
chologische Bewältigung der Krankheitsfolgen durch körperliches Training
(Hollmann et al. 1983; Lagerström, 1994a). Der psychologische Effekt basiert
dabei auf einer Entängstigung des Patienten, der durch das körperliche Trai-
ning eine Verbesserung seiner körperlichen Leistungsfähigkeit erfährt und da-
mit wieder Vertrauen in den eigenen Körper gewinnt.
Von besonderer Bedeutung für den Prozeß der Entängstigung ist das Erkennen
und richtige Einschätzen der körperlichen Leistungsgrenzen (Lagerström,
1994a). Weidemann & Meyer (1991) gehen davon aus, daß die verbesserte
Körpereinschätzung, sowie das neu erworbene Zutrauen in körperliche Funk-
tionen als positive Körpererfahrungen erlebt werden, die für sich genommen
ausreichen, um körperbezogene Ängste und Unsicherheiten zu bewältigen.
Unter psychologischer Zielsetzung wird in der Herzgruppenarbeit ebenfalls ei-
ne Verhaltensmodifikation angestrebt. Dies deshalb, weil langfristig wirksa-
me Trainingseffekte nur dann erwartet werden, wenn gleichermaßen das Ver-
halten des Betroffenen geändert werden kann (Reuß, 1992).
Die verhaltensändernden Maßnahmen beziehen sich z.B. auf den Abbau von
Risikoverhaltensweisen, die längerfristig das Ziel haben, die Auftretenswahr-
scheinlichkeit eines Zweit-oder Reinfarkts zu reduzieren (Ilker, 1992). Dies
impliziert beispielsweise die Erlangung der Bereitschaft auf Seiten des Trai-

20
ningsteilnehmers, seine verminderte Leistungsfähigkeit und körperliche Ein-
schränkung zu akzeptieren und sein Verhalten danach auszurichten.
Eliot (1979) formuliert diese Intention unter seinen fünf Zielen der Rehabilita-
tion im ersten Ziel und bezeichnet es als Annahme der Krankheit. Stark leis-
tungsorientierte Menschen sollen lernen, ihre hohen Leistungserwartungen an
sich selbst zu reduzieren, um zu einem angemessenen Umgang mit Körper und
Krankheit zu gelangen.
Kapustin (1992, 192) führt in seiner Übersicht neben den oben genannten wei-
tere psychologisch-affektive Ziele für die Herzsportgruppenarbeit auf, wie die
Verbesserung des Wohlbefindens, die Entwicklung von Spiel- und Bewe-
gungslust, die Vermittlung von Entspannungsfähigkeit bzw. Kontrolle der
Muskelspannung, sowie die Entwicklung von Bewegungs-und Muskelgefühl.
2.3. Ziele in der ambulanten Herzgruppenarbeit aus sozialer Sicht
Zielsetzungen, die sich auf die soziale Situation des Betroffenen konzentrieren,
stellen einen weiteren bedeutungsamen Bereich innerhalb der Herzgruppenar-
beit dar. Die formulierten Lernziele basieren auf dem erwarteten Ablauf be-
stimmter Gruppenprozesse, die sich positiv auf die soziale Situation des Herz-
patienten auswirken können. Sozialer Rückhalt, soziale Integration und so-
zio-emotionale Unterstützung sollen durch die Gruppe für den Einzelnen er-
fahrbar sein. Nach Kapustin (1992) kann die Herzsportgruppe für den Herzpa-
tienten neben der Familie zu einer wichtigen Bezugsgruppe werden, die ihm
das Gefühl von gegenseitiger Hilfeleistung vermitteln soll. Darüberhinaus kann
die Bindung an diese "neue" Gruppe den Betroffenen aus Gruppen herauslö-
sen, die negativen Einfluß auf seine Lebensweise nehmen und auf der anderen
Seite die Motivation des Einzelnen fördern, die Lebensweise an die neue Situa-
tion anzupassen und entsprechend umzustellen. Innerhalb der Gruppe soll die
Bereitschaft entstehen, eigene Probleme mitzuteilen und Anregungen und Zu-
hörerbereitschaft für die Probleme anderer aufzubringen. Kapustin (1992) geht
davon aus, daß Aspekte wie Anerkennung, Ermunterung und Lob für den Pati-
enten von großer Wichtigkeit und nur in der Gruppe erfahrbar sind. Stark leis-
tungsorientierten Menschen ist es zudem gerade in der Gruppe möglich, "ohne
Prestigeverlust ihre erhöhte Risikobereitschaft abzubauen" (Kapustin, 1992, S.
194).

21
Einen wesentlichen Einfluß auf die soziale Situation des Betroffenen nimmt
die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach der Infarkterkrankung (Badura, 1986;
Lagerström, 1994a). Das darauf ausgerichtete Ziel innerhalb des Herzsports
beinhaltet eine Reduktion von Ängsten, Unsicherheiten und Unkenntnis auf
Seiten des Patienten, um die Wiedereingliederung in Beruf aber auch in Fami-
lie und Gesellschaft zu unterstützen. Ein systematisch dosiertes körperliches
Bewegungsprogramm kann diesen Prozeß erleichtern, indem Leistungsfähig-
keit und Belastbarkeit des Betroffenen zunehmen (Kapustin, 1992; Lagerström,
1994a).
2.4. Übungsinhalte der Bewegungstherapie mit Herzpatienten
In Anbetracht der im letzten Abschnitt dargestellten Ziele des Herzgruppen-
sports weist der inhaltliche Aufbau eines Trainings mit Herzpatienten auf kon-
krete Methoden und Maßnahmen hin, die eingesetzt werden, um diese Zielset-
zungen zu realisieren. Das Kölner Modell, das auf der Basis der im Jahre 1974
an der Sporthochschule in Köln gegründeten Koronargruppen, die durch das
Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin wissenschaftlich begleitet
wurden, entstand, findet in der folgenden Darstellung besondere Berücksichti-
gung. 1977 wurde das Kölner Modell von der Landesregierung Nordrhein-
Westfalen als verbindlich für alle Städte und Gemeinden festgelegt.
Das Kölner Modell beinhaltet eine Adaptations-, Aufbau - und Stabilisierungs-
phase, über die der Patient systematisch an die auftretenden Belastungen der
kommenden Monate und Jahre in der Sportgruppe herangeführt wird. Eine
Übungsstunde beinhaltet nach Lagerström (1992) folgende Stundenelemente:
1. Aufwärmung
2. Koordinationsübungen
3. Dehnübungen
4. Kraftübungen
5. Lockerungsübungen
6. Entspannungsübungen
7. Ausdauertraining
8. Übungs-und Spielformen

22
9. Spiele
10. Standardbelastung und ggf. Gespräch
(S. 228)
Diese Stundenelemente erhalten in den drei verschiedenen Trainingsphasen ei-
ne unterschiedliche Gewichtung und folgen in der Zusammenstellung einem
verbindlichen Grundkonzept. Grundsätzlich gilt jedoch, daß sich der Pro-
grammaufbau an den speziellen Merkmalen (Alter, Belastbarkeit etc.) der
Gruppe zu orientieren hat (Lagerström, 1992).
Systematisch werden die Trainingsteilnehmer an eine Trainingsdauer von 90
Minuten herangeführt. Das Training sollte zweimal pro Woche stattfinden.
Neben Flexibilitäts-, Koordinations- und Kraftübungen im gymnastischen Teil
wird ebenfalls die regelmäßige Durchführung von Lockerungs- und Entspan-
nungsübungen empfohlen. Sie gilt im wesentlichen der Vorbeugung von Ver-
spannungen in der Muskulatur sowie der Belastungsreduktion -und dosierung
über Phasen der aktiven Erholung. In enger Beziehung zu Lockerungs- und vo-
rallem Entspannungsübungen steht die Schulung der Körperwahrnehmung.
Die Körperwahrnehmungsschulung soll die Herausbildung von Körperbewußt-
sein und Körperbeherrschung unterstützen und bildet eine wichtige Grundvor-
aussetzung für die realistische Selbsteinschätzung bei körperlichen Belastun-
gen, die ihrerseits zur Steigerung der Selbstsicherheit und Angstreduktion bei-
trägt (Lagerström, 1994a).
Die Ausdauerbelastung wird systematisch auf einen Umfang von 15-20 Mi-
nuten gesteigert.
Im spielerischen Bereich können große Mannschaftsspiele, wie z.B. das Vol-
leyballspielen eingeführt werden. In "sportorientierten Gruppen" können die
spielerischen Elemente ca. 50% der gesamten Trainingseinheit in Anspruch
nehmen (Lagerström, 1992, S. 230).
Die sogenannte Standardbelastung, bestehend aus Dehn- und Lockerungs-
übungen, sollte am Schluß einer jeden Einheit stehen.
Durch die empfohlene Teilnahme des Ehepartners am Training erhofft man
sich einerseits einen positiven Einfluß auf die Regelmäßigkeit und Dauerhaf-
tigkeit des Trainings. Andererseits kann der Ehepartner durch seine Teilnahme
Belastungsintensitäten selbst erfahren und dadurch darauf bezogene Ängste

23
und Unsicherheiten abbauen, sowie den erkrankten Ehepartner in der Belas-
tungseinschätzung unterstützen.
Gruppengespräche und Einzelgespräche mit dem Arzt oder dem Sportlehrer
werden als eine sinnvolle Ergänzung zum Sportprogramm gesehen. Sie bieten
eine Basis für die Verarbeitung persönlicher und gesundheitlicher Probleme
(Kapustin, 1992). Lagerström (1992, 1994a) verweist auf die Technik der per-
sonenzentrierten Gesprächsführung, die von allen Herzsportgruppenbetreuern
beherrscht werden sollte.
Zusätzlich zum Trainingsprogramm in der Sportgruppe werden Zusatzveran-
staltungen, z.B. in Form von organisierten Wanderungen oder Skifahrten, so-
wie Informations- und Gesprächsabenden empfohlen.
2.5. Empirische Untersuchungen zur Herzsportgruppenarbeit
In diesem Abschnitt soll der Versuch unternommen werden, mittels empiri-
schem Material zu prüfen, ob die dargestellte Praxis der Bewegungstherapie
den festgelegten Zielen der Rehabilitation gerecht wird.
2.5.1. Befunde bezüglich physiologisch-medizinischer Ziele
Die bewegungstherapeutischen Effekte, die sich an den physiologischen Ziel-
setzungen orientieren, gelten heute als allgemein gesichert (Halhuber, 1980;
Rost, 1995).
Aus der wissenschaftlichen Begleitung der Herzsportgruppen im Rahmen des
"Kölner Modells" resultieren objektivierbare Trainingsergebnisse aus den
Tests zur Entwicklung der motorischen Funktionen Koordination, Flexibilität,
Kraft und Ausdauer.
Anhand der Testergebnisse stellen Hollmann et al. (1983) fest, daß die körper-
liche Leistungsfähigkeit in den meisten Fällen zunimmt. Die positiven Effekte
des körperlichen Trainings liegen in einer Ökonomisierung der Herzarbeit,
wobei sich der myokardiale O2-Bedarf für eine gegebene Belastungsstufe re-
duziert. Ein Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen O2-Angebot und O2-

24
Bedarf kann in der Folge auf eine höhere Belastungsstufe verlagert werden
(Quaglietti & Froelicher, 1992).
Ähnliche Ergebnisse zum Anstieg der körperlichen Leistungsfähigkeit liefert
die Hamburger Arbeitsgruppe um Ilker, Krasemann und Donat (Ilker, 1982).
Sperhake & Ilker (1981) beobachteten 78 Teilnehmer einer Herzsportgruppe
über einen Zeitraum von fünf Jahren. Neben anderen Faktoren untersuchten sie
die Entwicklung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Belastungswerte, die
mittels Fahrradergometrie erhoben wurden, zeigten einen Trainingserfolg bei
85% der Herzsportgruppenteilnehmer. Eine positive Entwicklung der körper-
lichen Leistungsfähigkeit ergab sich nach Ilker (1982) aus einer weiteren Un-
tersuchung des eigenen Arbeitskreises (Dennhardt 1974, zit. nach Ilker, 1982).
In dieser Studie wurde ein Vergleich zwischen 133 aktiven Teilnehmern aus
Koronartrainingsgruppen (TG) und 52 Kontrollpersonen (KG) vorgenommen,
deren gesundheitliche Situation ähnlich war.
Nach drei Monaten ergab sich folgende Veränderung der körperlichen Leis-
tungsfähigkeit im Vergleich zu den entsprechenden Daten des Abschlußbe-
richts der Reha-Klinik (nach Ilker, 1982):
TG KG
n = 133 n = 52
gebessert 45,1% 13,55%
unverändert 48,9% 73,0%
verschlechtert 6,0% 13,5%
Im gleichen Kollektiv konnten nach drei Monaten 364 Koronargruppenteil-
nehmer untersucht werden. Unter Bezugnahme auf Laubinger & Dennhardt
(1975) berichtet Ilker (1982), daß 37% ihre Leistungsfähigkeit verbessern
konnten, 49% unveränderte Werte und 14% eine Verschlechterung der Belast-
barkeit aufwiesen.
Weitere drei Monate später, also ein halbes Jahr nach Klinikentlassung, konn-
ten 276 von 364 Herzsportgruppenteilnehmern nochmals untersucht werden.
Eine weitere Verbesserung war in 50% der Fälle zu verzeichnen. 80% zeigten
unveränderte Werte und bei 3% hatte sich die kardiale Belastbarkeit ver-
schlechtert.

25
Mit der verbesserten körperlichen Leistungsfähigkeit ist nach Hollmann et al.
(1981) die Voraussetzung für die Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit
und die bessere Bewältigung des Alltagslebens gegeben.
Nach der Hamburger Infarkt-Nachsorge-Studie (INS) nehmen 82% der Mit-
glieder einer Herzsportgruppe ihre berufliche Tätigkeit wieder auf. Im Rahmen
dieser Studie wurde ebenfalls der Wert der nicht in einer Herzsportgruppe trai-
nierenden Herzinfarktpatienten erhoben. Hier lag der Anteil der wieder Berufs-
tätigen bei 56% und damit signifikant niedriger als bei den Herzsportgruppen-
teilnehmern. Eine ähnliche Verteilung konnten Sperhake & Ilker (1981) in
ihrer Stichprobe erheben (s.o.). Aus dieser Gruppe nahmen 81,9% nach dem
Infarkt ihre alte Berufstätigkeit wieder auf. Der Vergleich mit der
Kontrollgruppe, die aus Personen bestand, die nicht an einem solchen Training
teilnahmen, verwies auf eine deutlich frühere Arbeitsfähigkeit der Herzsport-
gruppenteilnehmer. Offensichtlich stellte in dieser Untersuchung nicht, wie
häufig angenommen, die körperliche Leistungsfähigkeit den Maßstab für die
Rückkehr zur Arbeit dar. Sperhake & Ilker (1981) gehen davon aus, daß die
Wiederaufnahme der Arbeit vom Beruf abhängig war. Handwerker, Techniker
und Ingenieure nahmen z.B. ihre Berufstätigkeit eher auf als Beamte.
Aufgrund der physiologischen Effekte des körperlichen Trainings erwartet man
neben dem Aufbau von Schutzfaktoren, z.B. über die Zunahme der fibrinolyti-
schen Aktivität, gleichfalls den Abbau einiger Risikofaktoren. Die Verminde-
rung der Risikofaktoren ergibt sich dabei aus dem erhöhten Kalorien-
verbrauch, der mit sportlicher Aktivität einhergeht und sich günstig auf die
Faktoren Übergewicht, Diabetes mellitus und Hypertonie auswirkt. Außerdem
wird durch den Anstieg des HDL-Wertes ein günstiger Einfluß auf den Fett-
stoffwechsel erwartet (Rost, 1990). Die Verminderung der Risikofaktoren er-
gibt sich jedoch nicht ausschließlich aus den physiologischen Effekten des
körperlichen Trainings, sondern ist ebenso von erfolgreichen psychologischen
Maßnahmen abhängig. Dazu gehört der Abbau von risikoreichen Verhaltens-
weisen, wie das Rauchen, übermäßige Salz-, Fett- und Kalorienzufuhr sowie
ein zuviel an Alkohol.
Die Untersuchung von Sperhake & Ilker (1981) konnte neben den positiven
Ergebnissen zur körperlichen Leistungsfähigkeit und beruflichen Wiederein-
gliederung vorallem einen günstigen Einfluß des Herzsports auf die Risikofak-
toren Rauchen und Übergewicht nachweisen. Die Anzahl der Nichtraucher war

26
von 22,1% vor dem Infarkt auf 79,2% nach 5 Jahren Herzsport angestiegen.
Ebenso waren 88,4% der Patienten der Koronartrainingsgruppe nach 5 Jahren
normalgewichtig.
Diese positiven Ergebnisse lassen sich jedoch nicht durchgängig bestätigen.
Gleichmann, Mannebach & Halhuber (1983), die eine Untersuchung zur aktu-
ellen Situation in Koronargruppen der BRD durchführten, stellten ein relativ
hohes Risikoprofil der Teilnehmer fest. Auch die Trainingsergebnisse aus den
Kölner Herzsportgruppen weisen darauf hin, daß bei den am Koronarsport teil-
nehmenden Personen lediglich in Einzelfällen die Risikofaktoren günstig be-
einflußt werden können. Aus einer Langzeitstudie im Rahmen des Schorndor-
fer Modells (Hartmann, 1987) geht hervor, daß bei einem beträchtlichen Teil
der befragten Herzsportgruppenteilnehmer die Risikofaktoren Rauchen (53,3
%), Übergewicht (48,5%), Hypertonie (36,1%) und Bewegungsmangel
(27,6%) noch vorhanden waren.
Die multizentrische Herzgruppenstudie, die Anfang der 80er Jahre im Auftrag
der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Kardiologische Prävention und Rehabi-
litation begonnen wurde (Nüssel et al. 1986), konnte nur eine unwesentliche
Beeinflussung der vier Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht, Blutdruck und
Cholesterin im Rahmen des Herzsports aufzeigen (Nüssel, Bergdolt, Wiese-
mann & Scheuermann 1992; Nüssel et al. 1986).
Die erfolgreiche Reduktion der Risikofaktoren durch den Herzsport muß nach
diesen Ergebnissen als unbefriedigend beurteilt werden. Die Forderung nach
einer intensiveren Gesundheitserziehung bleibt nach wie vor bestehen (Gleich-
mann et al. 1991).
2.5.2. Befunde bezüglich psychologischer Ziele
Objektivierbare Ergebnisse zur erfolgreichen Umsetzung der Ziele im psycho-
logischen Bereich sind schwer zu finden.
Die Kölner Arbeitsgruppe stützt ihre Erkenntnisse eher auf subjektive Erfah-
rungswerte.
Hollmann et al. (1981, 1983) vermuten insbesondere eine Zunahme des
Selbstbewußtseins, das sich durch das körperliche Training bzw. den daraus

27
resultierenden Anstieg der körperlichen Leistungsfähigkeit entwickelt, und be-
obachten in der Folge eine deutliche Reduzierung von Angstgefühlen.
Lippert (1976) untersuchte 68 Koronarpatienten, wovon 40 nach dem Hambur-
ger Modell trainierten und 28 sportinaktiv waren. Zum Zeitpunkt der Untersu-
chung liegt das Infarkterlebnis im Mittel 21 Monate zurück. Zu diesem Zeit-
punkt zeigen die Teilnehmer des Koronarsports gemessen an der Selbstein-
schätzung positive psychische Veränderungen in den Dimensionen Aggressivi-
tät, Dominanz und psychische Labilität. Im Vergleich zu den sportinaktiven
Patienten weisen die Herzsportgruppenteilnehmer signifikant niedrigere Werte
in den Faktoren Gelassenheit, Extraversion und Offenheit auf.
Im Rahmen der Oldenburger Longitudinalstudie, die im Auftrag des Bundes-
ministers für Forschung und Technologie von der Projektgruppe Laiensystem
und Rehabilitation in den Jahren 1979 bis 1983 durchgeführt wurde, kristalli-
sierte sich ein ähnlich positives Gesamtbild der psychischen Situation im Ver-
gleich zwischen Herzsportgruppenteilnehmern und Nichtteilnehmern heraus
(Lehmann, 1986).
Ein Jahr nach dem Infarktereignis fühlten sich die Teilnehmer durch die
Krankheit weniger belastet, glaubten die durch die Krankheit entstehenden Be-
lastungen besser bewältigen zu können, bewerteten ihren Gesundheitszustand
positiver, beurteilten sich als weniger ängstlich und depressiv und schrieben
sich ein stärkeres Selbstbewußtsein zu als die Nichtteilnehmer.
Zu bedenken bleibt jedoch, daß insbesondere in der Untersuchung von Lippert
(1976) die positiven Veränderungen im psychischen Bereich mit einer Abnah-
me der Offenheitswerte einhergehen. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Pati-
enten im Sinne sozialer Erwünschtheit geantwortet haben und somit die tat-
sächliche psychische Situation der Teilnehmer nicht genau beurteilt werden
kann. Die Ergebnisse der Oldenburger Longitudinalstudie sind nach Knobloch
(1990) ebenfalls kritisch zu betrachten und methodisch nicht einwandfrei. Er
gibt zu bedenken, daß keinerlei Daten über die Ausgangssituation der beiden
Untersuchungsgruppen vorliegen und demnach ein Vergleich nur schwer ge-
zogen werden kann. Außerdem kommt er zu dem Schluß, daß Infarktpatienten,
die sich dazu entschließen, an einer ambulanten Herzsportgruppe teilzuneh-
men, eine positive Auswahl an Personen darstellen, weil diese in der Regel ei-
ne bessere psychische Leistungsfähigkeit und ein höheres Gesundheitsengage-
ment aufweisen. Sein letzter Kritikpunkt bezieht sich auf den Zeitpunkt der Er-

28
hebung, da seiner Meinung nach Meßwerte, die in diesem Zeitraum erhoben
werden, nicht automatisch als überdauernd, sondern eher im Sinne "psychi-
scher Anfangserfolge" (Knobloch, 1990, S. 173) interpretiert werden müssen.
Zu dieser Aufassung gelangt der Autor aufgrund einer eigenen kontrollierten
Studie, in der er psychologische Effekte an Herzsportgruppenteilnehmern un-
tersuchte (Knobloch, 1985). Er führte eine Längsschnittanalyse durch, an der
24 Teilnehmer verschiedener ambulanter Herzsportgruppen, die nach dem
Kölner Modell trainierten, und eine Kontrollgruppe bestehend aus 17 Untersu-
chungsteilnehmern, die sportlich inaktiv waren, teilnahmen.
Die Daten wurden zu drei unterschiedlichen Meßzeitpunkten erhoben. Nach
einem Vortest, der bei der Trainingsgruppe (TG) 14 Monate und bei der Kon-
trollgruppe (KG) 11 Monate nach dem Infarktereignis stattfand, folgten zwei
weitere Messungen während des Trainingszeitraumes im Abstand von 8 und 24
Monaten. Als Meßinstrumente wurden der Psychologische Screeningbogen für
Patienten mit Myocardinfarkt von Langosch, Prokoph & Brodner (1980), die
Freiburger Beschwerdeliste von Fahrenberg (1975) und das Freiburger Persön-
lichkeitsinventar von Fahrenberg, Selg & Hampel (1978) verwendet.
Die Untersuchungsergebnisse konnten nur einen Teil der erwarteten psycholo-
gischen Effekte untermauern. Entgegen der Erwartung zeigte die TG eine Zu-
nahme der sozialen Angst, der Hast und Eile, der Schmerzempfindlichkeit und
der Sorge um die Gesundheit im Zeitraum von 8 bis 24 Monaten. Dies stand
einerseits im Widerspruch zu der geringen Anzahl von Beschwerden, die die
TG angab, d.h. eine Reduzierung von Symptomen der Anspannung, der Herz-
Kreislaufbeschwerden und der Beschwerdesumme der FBL und andererseits zu
der angestiegenen, sich im Verlauf des Trainings stabilisierten körperlichen
Leistungsfähigkeit.
Deutlich positive Wirkungen im Sinne der im Herzsport angestrebten psycho-
logischen Veränderungen ergaben sich in den Faktoren Depressivität und emo-
tionale Labilität. Die TG stufte sich nach 24 Monaten gegenüber der Messung
nach 8 Monaten als weniger gehemmt und aggressiv ein. Die KG zeigte neben
den insgesamt durchschnittlich stärkeren Ausprägungen in diesen Faktoren
auch ein zum Ende der Untersuchung hin ansteigendes Niveau.
Insbesondere für die Werte in den Faktoren Depressivität und emotionale
Labilität des FPI gibt der Autor allerdings zu bedenken, daß eine Interpretation
nur mit Vorsicht erfolgen kann, weil die TG im Faktor Offenheit eine
abnehmende Tendenz aufwies. Knobloch (1985) kommt deshalb zu dem
Schluß, daß eine positive Krankheitsverarbeitung und emotionale

29
positive Krankheitsverarbeitung und emotionale Stabilisierung bei Teilneh-
mern einer Herzsportgruppe nicht sicher angenommen werden kann.
In einer späteren Querschnittstudie untersuchte Knobloch (1990) nochmals die
psychologischen Wirkungen, die durch sporttherapeutische Maßnahmen in der
Herzsportgruppe erwartet werden. Er verglich 38 sportaktive Koronarpatien-
ten, d.h. Teilnehmer an ambulanten Herzsportgruppen, und 26 inaktive Koro-
narpatienten mit dem PSM (Langosch et al. 1980), mit zwei Subskalen der
Skala zur Kontrollambition nach Siegrist et al. (1980), mit einem Fragebogen
zur Erhebung körper- und gesundheitsbezogener Merkmale, mit zehn Subska-
len des Streßverabeitungsfragebogen von Janke, Erdmann & Boucsein (1978)
und einer selbstentwickelten Fragensammlung zur Erfassung von Arbeitsbelas-
tung, Freizeitverhalten und krankheitsbezogenen Informationen.
Die Ergebnisse deuteten zweieinhalb Jahre nach dem Infarktereignis auf kei-
nerlei Veränderung bei den körper- und gesundheitsbezogenen Einstellungen
und Verhaltensweisen als auch bei den Streßverarbeitungsstilen zugunsten der
Herzsportgruppenteilnehmer hin. In Streßsituationen ziehen sich die sportakti-
ven Patienten eher auf sich selbst zurück, wohingegen sich die Sportinaktiven
eher für Maßnahmen entscheiden, die zu einer schnellen Entlastung führen.
Obwohl die Sportinaktiven gegenüber den Sportaktiven ein geringeres Maß an
Gelassenheit besitzen, geben sich letztere im beruflichen Bereich selbstkriti-
scher und dünnhäutiger und zeigen eine geringere Distanzierungsfähigkeit bei
auftretenden Problemen.
Zu einem früheren Zeitpunkt als die von Knobloch (1985, 1990) durchgeführ-
ten Untersuchungen zeigte bereits eine Studie in den USA, daß positive Ein-
flüsse auf psychische Dimensionen, wie beispielsweise Angst, Depressivität,
Hilflosigkeit, Hypochondrie, Schwermut, Krankheitswahn u.a. als Folge eines
körperlichen Trainings keineswegs sicher angenommen werden können.
Die Studie von Stern & Cleary (1982) konnte keine signifikanten Unterschiede
im MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) und KAS (Katz Ad-
justment Scale) wie auch in anderen eingesetzten Verfahren zwischen einer
über zwei Jahre trainierenden Patientengruppe und einer nichttrainierenden
Kontrollgruppe nachweisen. Lediglich die körperliche Leistungsfähigkeit zeig-
te zu drei verschiedenen Meßzeitpunkten (nach sechs Monaten, nach einem
Jahr, nach zwei Jahren) einen statistisch bedeutsamen Unterschied zugunsten
der sportaktiven Herzpatienten.

30
Erdman, Duivenvoorden, Verhage, Kazemier & Hugenholtz (1986) versuchten
ebenfalls in einer Längsschnittuntersuchung zu prüfen, ob psychologische Ef-
fekte in einer ambulanten Gruppentherapie nachweisbar sind. In ihrer Hypo-
these gingen sie davon aus, daß Personen, die in einer Gruppe 3x wöchentlich
trainieren, höhere Werte bei der Angstreduktion und der Verbesserung des
Selbstwertgefühls erreichen als Patienten, die zuhause ein Training absolvie-
ren. Es zeigten sich keine Unterschiede in den genannten Dimensionen zwi-
schen den beiden Untersuchungsgruppen. Lediglich im Faktor soziale Distanz
konnten die Gruppenteilnehmer eine Abnahme erreichen.
Die ungünstige Bilanz der Änderungen im emotionalen Bereich in den oben
genannten Untersuchungen bestätigte sich auch in der Meta-Analyse von
Kugler, Seelbach & Krüskemper (1994). Sie überprüften den Einfluß von Be-
wegungsprogrammen auf die psychologischen Merkmale Depression und
Angst anhand von 28 Studien.
Die ausgewählten Studien basierten auf drei verschiedenen Untersuchungsde-
signs. Einerseits wurden Patientengruppen vor und nach der Durchführung von
Bewegungsprogrammen miteinander verglichen. Andererseits wurde zusätzlich
ein Vergleich mit einer nichtaktiven Kontrollgruppe vorgenommen. Drittens
wurden unter Hinzunahme einer nichtaktiven Kontrollgruppe unterschiedliche
Behandlungsformen miteinander verglichen.
Für die Studien, die mit einer Kontrollgruppe arbeiteten, berechneten die Auto-
ren einen Wert (d), der den durchschnittlichen Nutzeffekt der Rehabilitati-
onsprogramme beschreibt. Dieser Wert ergibt sich aus folgender Formel:
d = Mt - Me
sdp
Mt = durchschnittlicher Effektzuwachs in der Untersuchungsgruppe
Me = durchschnittlicher Effektzuwachs in der Kontrollgruppe
Sdp = aufaddierte Standardabweichung der beiden Gruppen.
Zur Reduktion der Angstsymptomatik ergab sich anhand der Studien im Mit-
tel ein Nutzeffekt der durchgeführten Maßnahmen von .31. Depressive Merk-
male konnten nur geringfügig besser durch die eingesetzten Maßnahmen redu-
ziert werden. Hierfür lag der durchschnittliche Nutzeffekt bei .46. Zusätzlich
verglichen die Autoren diese Ergebnisse mit der Effektivität von gezielten psy-

31
chotherapeutischen Maßnahmen (.80) und empfehlen, daß neben der Durch-
führung von bewegungstherapeutischen Maßnahmen in der kardiologischen
Rehabilitation gleichzeitig psychotherapeutische Interventionen Berücksichti-
gung finden sollten.
2.5.2.1. Befunde bezüglich psychologischer Ziele unter besonderer
Berücksichtigung der Körperwahrnehmung
Wie in Abschnitt 2.2. bereits dargestellt, spielt die adäquate Einschätzung der
körperlichen Leistungsfähigkeit in der kardiologischen Bewegungstherapie ei-
ne wichtige Rolle. Das Erkennen der eigenen Leistungsgrenzen ist dabei eng
verknüpft mit der psychologischen Intention, dem Patienten durch den Koro-
narsport zur Akzeptanz der begrenzten Leistungsfähigkeit zu verhelfen. Er
soll eventuelle hohe Leistungsansprüche an sich selbst reduzieren und sein
Verhalten den krankheitsbedingten Leistungsgrenzen anpassen.
Empirische Befunde zur Körperwahrnehmung bei Herzsportgruppenteilneh-
mern sind schwer zu finden. Die bereits dargestellten Studien, die den Erfolg
der Herzgruppenarbeit untersuchten, setzten sich mit dieser Thematik in den
meisten Fällen nicht auseinander. Eher liegen Befunde von gesunden Ver-
suchspersonengruppen vor. Gründe für diese unbefriedigende Situation liegen
offenbar in der schwierigen methodischen Erfassung dieses Merkmals, sowie
in dessen ungenauer begrifflichen Bestimmung.
Ewart et al. (1986) untersuchten 40 Koronarpatienten einer ambulanten Herz-
sportgruppe, deren Infarkt mindestens 6 Monate zurücklag. Ihre Hypothese ba-
sierte auf der Annahme, daß Herzpatienten im Rahmen einer Sporttherapie sehr
genau in die Pulsmessung eingeführt werden, um eine Kontrolle der körperli-
chen Belastungen während und außerhalb des Trainings zu erlernen. Sie gin-
gen weiterhin davon aus, daß dieser Personenkreis aufgrund des häufigen Ü-
bens besonders gut in der Lage ist, die körperlichen Belastungsgrenzen zu er-
kennen. Als Parameter zogen Ewart et al. (1986) die Sollpulsfrequenz der ein-
zelnen Herzsportgruppenteilnehmer heran, die durch einen Belastungstest er-
mittelt wird. Dieser Pulswert dient während des Trainings als Richtwert und
soll nicht überschritten werden.

32
Ewart et al. (1986) konnten ihre Hypothese in der Studie nicht bestätigen. Sie
stellten fest, daß die ermittelte obere Belastungsgrenze bei einem Drittel der
Teilnehmer in mehr als der Hälfte der Übungszeit überschritten wurde.
Insbesondere praktische Erfahrungsberichte zur bewegungstherapeutischen
Arbeit mit Herzpatienten scheinen diese Untersuchungsergebnisse zu stützen
(Esser & Zimmer, 1985; Halhuber, 1980; Kolb, 1994; Kollenbaum, 1990; Kol-
lenbaum& Prange-Morgenstern, 1986; Wireaus & Effert, 1988). Häufig vertritt
das behandelnde Rehabilitationsteam die Ansicht, daß Koronarpatienten eher
schlecht in der Lage sind, den Anstrengungsgrad von Belastungen in der Be-
wegungstherapie angemessen einzuschätzen. Darüberhinaus wird sogar die
Neigung zur übereifrigen Gestaltung der sportlichen Aktivität innerhalb der
Gruppe beobachtet, die eher auf ein bewußtes Verleugnen der Belastungsgren-
zen schließen läßt. Auf eine erfolgreiche Krankheitsverarbeitung im Sinne
der Akzeptanz von Leistungsgrenzen kann also anhand dieser Beobachtungen
nicht geschlossen werden.
2.5.3. Befunde bezüglich sozialer Ziele
Es existieren Untersuchungsergebnisse, die darauf hinweisen, daß der Herz-
sport günstige Voraussetzungen für die emotionale Unterstützung bzw. den
sozialen Rückhalt innerhalb der Gruppe haben kann. Die Untersuchung von
Erdman et al. (1986), die die psychosozialen Auswirkungen von einem Grup-
pentraining und einem durch den Patienten selbst und allein durchgeführten
Heimtraining untersuchten, konnten einen signifikanten Unterschied im Faktor
soziale Distanz nachweisen, der zugunsten der Gruppenaktiven ausfiel.
Anhand der Ergebnisse der Oldenburger Longitudinalstudie sieht Lehmann
(1986) einen positiven Gruppeneffekt in der gegenseitigen Unterstützung und
Hilfeleistung, die sich die Teilnehmer untereinander gewähren können. Der
gegenseitige Austausch und das Gemeinschaftserlebnis fungieren dabei als ei-
ne besondere Form der Krankheitsbewältigung. Der Erfahrung, daß andere
Menschen durch eine vergleichbare Erkrankung ähnliche Probleme lösen müs-
sen, kommt auch nach Lehr (1984) eine große Bedeutung zu. Andererseits be-
legen die Ergebnisse aus der Oldenburger Longitudinalstudie, daß die Gruppe
das Arzt-Patientenverhältnis günstig beeinflußt. Durch die unbeschwerte
Gruppenatmosphäre und die ständige Anwesenheit des Arztes in der Gruppe

33
fällt es dem Patienten leichter, den Arzt auf Probleme anzusprechen, die nicht
ausschließlich medizinischer Natur sind, sondern über das Gespräch von
"Mensch zu Mensch" (Lehmann, 1986, S. 321) auch psychosoziale Aspekte
betreffen können.
Auch wenn solche Ergebnisse auf günstige Voraussetzungen für die emotiona-
le Unterstützung des Herzpatienten innerhalb der Herzsportgruppe hindeuten,
besteht insbesondere aufgrund praktischer Erfahrungen die Auffassung, daß
auch negative Auswirkungen von der Gruppe ausgehen können (Kolb, 1994;
Kollenbaum, 1990). Dabei wird z.B. angezweifelt, daß die Gruppe in ihrer
Funktion als soziale Gemeinschaft von Gleichbetroffenen tatsächlich ohne den
Einsatz gezielter Interventionen die Möglichkeit für stark leistungsorientierte
Personen schafft, ihre erhöhte Risikobereitschaft ohne Prestigeverlust abzu-
bauen. Kollenbaum (1990) vertritt die Ansicht, daß die Gruppe das extreme
Leistungsverhalten sogar noch verstärken kann. Der Herzpatient verfällt nicht
selten in ein altes Verhaltensmuster, indem er versucht, durch Leistung eine
sozial anerkannte Position innerhalb der Gruppe zu erreichen. Auch Kolb
(1994) macht darauf aufmerksam, daß die Anwesenheit anderer im Herzsport
und die Ausrichtung auf die Verbesserung physischer Leistungsaspekte bei den
Patienten Wettkampfverhaltensweisen provoziert, d.h. zu einem Vergleich der
jeweiligen Leistungsfähigkeit unter den Gruppenmitgliedern führt.
Empirisches Material zur Effektivität und regelmäßigen Durchführung von
Gruppengesprächen innerhalb der Herzsportgruppe ist schwer zu finden.
Wahrscheinlich muß zunächst geprüft werden, ob Gruppengespräche über-
haupt stattfinden und zum festen Bestandteil der Übungsstunden gehören.
Gleichmann et al. (1983) fanden in ihrer Studie in 65% der untersuchten Koro-
nargruppen eine regelmäßige Durchführung von Gruppengesprächen.
Eine wesentlich schlechtere Bilanz zieht Knobloch (1990) unter Bezugnahme
auf Mickler (1984). In 14 untersuchten Herzsportgruppen wurden weder Ent-
spannungsübungen noch Gruppengespräche in den Übungsstunden durchge-
führt. Die Motivation, über persönliche und krankheitsorientierte Schwierig-
keiten zu sprechen, war nur in geringem Umfang vorhanden.
Schürmann (1996) befragte in seiner Studie 95 Herzsportgruppenleiter nach
der Anwendung von Entspannungsmethoden, Gesprächen und alternativen
Bewegungsformen innerhalb ihrer Gruppenprogramme. Es zeigte sich, daß

34
diese Gespräche zwar stattfinden, deren Effektivität jedoch durch einen zu ge-
ringen Zeitumfang, durch Unregelmäßigkeit, durch Fehlplazierung, z.B. außer-
halb des Herzsports, und durch eingeschränkte Themenwahl, wie beispielswei-
se lediglich auf Urlaub oder Medikation bezogen, in Frage gestellt werden
muß.
Held (1991) kritisiert, daß dem Prinzip der "comprehensive care" vor allem im
Bereich der psychosozialen Komponenten noch nicht ausreichend Rechnung
getragen wird. Dies wird einerseits auf Widerstände bei den Patienten und an-
dererseits auf Unsicherheiten aufgrund fehlender Kompetenz bei Therapeuten
und Ärzten zurückgeführt, die sich deshalb z.B. der Durchführung von
Gruppengesprächen entziehen (Held, 1991; Schürmann, 1996).
Die Wichtigkeit und Effektivität von Gruppengesprächen innerhalb der ambu-
lanten Betreuung von Herzpatienten konnte Ornish et al. (1990) nachweisen. In
seinem Lifestyle-heart-trial-Programm gehört neben der Einhaltung einer
veganen Kost, der Durchführung eines Stressmanagementprogramms und Aus-
dauertrainings, sowie der völligen Nikotinabstinenz die psychosoziale Unter-
stützung durch die Gruppe in Form von Gruppengesprächen zum festen Be-
standteil. Beim wöchentlichen vierstündigen Zusammentreffen wurde regel-
mäßig jeweils eine Stunde für das Gruppengespräch reserviert, das sich insbe-
sondere persönlichen Problemen der Gruppenmitglieder widmete.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die eine normale medizinische Behandlung
durch den Hausarzt erfuhr, zeigte die Studiengruppe eine signifikante Reduzie-
rung des Gesamtcholesterins und eine signifikante Gesamtregression der Ko-
ronarsklerose (Brusis, 1994).
Halhuber (1994) berichtet von einem persönlichen Gespräch mit Ornish, indem
dieser die Auffasssung vertritt, daß der psychosoziale Rückhalt vermittelt
durch zwischenmenschliche Beziehungen als wichtigster psychosozialer
Einflußfaktor gilt.
Zusammenfassend betrachtet, erreicht die Therapiearbeit in der ambulanten
Herzsportgruppe nicht ihre gewünschte Wirkung. Als wirklich gesichert kann
wohl nur die positive Entwicklung der körperlichen Leistungsfähigkeit angese-
hen werden, wobei zu berücksichtigen ist, daß verbesserte physische Funktio-
nen nicht automatisch zu einer Verbesserung der psychischen Situation des Be-
troffenen beitragen (Knobloch, 1985).

35
Auch Halhuber (1994, S. 14) kommt zu dem Schluß, daß die umfassende Be-
treuung "heute weder stationär noch ambulant so befriedigend gelingt, wie wir
es uns wünschen müssen".
Von der angestrebten Lebensstiländerung und einer damit propagierten Ver-
besserung der Lebensqualität kann nach den dargestellten Ergebnissen nicht
generell ausgegangen werden.
2.6. Einfluß von Krankheitsverarbeitung, Sportverständnis und Gesund-
heitsmotivation auf die kardiologische Bewegungstherapie
Als kritisch wird insbesondere der Einfluß des primär somatisch orientierten
Konzepts der Bewegungstherapie auf den Rehabilitationsprozeß betrachtet
(Knobloch, 1990, 1993). Danach sind bewegungstherapeutische Maßnahmen
vordergründig auf die Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit
ausgerichtet und stehen damit einer erfolgreichen Krankheitsverarbeitung eher
im Weg (Esser & Zimmer, 1985; Kollenbaum & Prange-Morgenstern, 1986).
Als Zeichen einer mißglückten Krankheitsverabeitung werden von den Auto-
ren Verhaltensweisen beschrieben, die den Herzpatienten dazu anleiten, in ris-
kante, krankheitsmitverursachende Verhaltensweisen zurückzuverfallen.
In enger Beziehung dazu stehen z.B. Verleugnungstendenzen, die sich auf ein
Nichtwahrhabenwollen der Belastungsgrenzen beziehen und sich in Form von
Übermotivation und extremen Leistungsstreben in der bewegungstherapeuti-
schen Übungsstunde zeigen. Halhuber (1980, S. 20) ist der Auffasssung, daß
gerade diese "Leuchten der Leistungsgesellschaft" problematisch und schwer
erziehbar sind und daher eine besondere Behandlung in Form psycho - und so-
zialtherapeutischer Maßnahmen benötigen. Nach Kollenbaum & Prange-Mor-
genstern (1986, S. 168) bedürfen neben diesen meist hyperaktiv reagierenden
Personen ebenfalls die "regressiv-ängstlichen" Patienten, die durch eine über-
triebene Schonhaltung und ängstliche Selbstwahrnehmung auffallen, einer be-
sonderen Behandlung.
Neben den erkrankungsrelevanten, psychischen Konflikten des Herzpatienten,
die in den Therapieprozeß eingehen und diesen erheblich erschweren können,
nehmen jedoch auch solche Aspekte Einfluß, die von gesellschaftlicher Ebene

36
her wirken, wie beispielsweise bestimmte, dem Sport zugeordnete Normen
und Wertvorstellungen.
Daraus ergeben sich spezielle Motive, die zum Sporttreiben anregen und ein
bestimmtes Sportverständnis, das zu einer konkreten Erwartungshaltung bei
den Teilnehmern einer Sportgruppe führt.
Insbesondere auf Gesundheit ausgerichtetes Präventivverhalten wird als nor-
menkonformes Verhalten erwartet und weist dem Individuum beim Auftreten
von Krankheit Schuld im Sinne einer Eigenverantwortung zu (Kolb, 1995).
Aus dieser Situation ergibt sich die Entwicklung einer hohen Gesundheitsmo-
tivation, d.h. die Gesunderhaltung oder die Wiedererlangung der Gesundheit
spielen eine zentrale Rolle.
Eine Untersuchung von Weiss & Russo (1994) konnte aufzeigen, daß Sport
gemeinhin als ideal für die Förderung von Gesundheit betrachtet wird. Die Be-
funde von Pahmeier (1994) zeigten, daß neben sogenannten Situationsreizen,
wie Sich-Wohlfühlen, Gemeinschaft, Ausgleich, Streßabbau, Anstrengung, die
sportliche Aktivität gleichfalls durch gesundheits- und fitneßerhaltende Mo-
mente aufgenommen wurde. Die befragten Ausdauersportler in der Studie von
Völker, Gracher, Wibbels und Hollmann (1985) gaben ebenfalls das Streben
nach Gesundheit als Hauptantrieb für den Sport an. In der Untersuchung zur
Sportmotivation von Weiss, Russo & Norden (1994) nahm ebenfalls das Ge-
sundheitsmotiv im Sinne von "Vorstellung vom langen Leben als Ausdruck der
Gesundheit" neben "Entspannung und Stressabbau" und "das Erlebnis, in der
freien Natur zu sein", einen forderen Rangplatz ein. Abele & Brehm (1990)
fanden heraus, daß bei Fitneß- und Freizeitsportlern das Gesundheitsmotiv ei-
nen hohen Stellenwert für die Aufnahme von sportlicher Aktivität besitzt. Da-
bei stellen die Autoren einschränkend fest, daß insbesondere bei solchen Per-
sonen das Gesundheitsmotiv dominierend war, wenn Gesundheit mit subjekti-
ven Beschwerdebildern in Zusammenhang gebracht wurde und Beschwerden
tatsächlich vorhanden waren.
Auf die enge Verquickung von Sport und Gesundheit weisen ebenfalls Studien,
die die wichtigsten Rehabilitationsmaßnahmen aus der Sicht der betroffenen
Patienten untersuchen. Fahrenberg, Myrtek & Trichtinger (1985) befragten
Herzinfarktpatienten nach deren Behandlungserwartungen und fanden heraus,
daß bewegungstherapeutischen Maßnahmen wie Wandern, Ergometertraining,
Gymnastik und Schwimmen, abgesehen von medizinisch-ärztlicher Beratung

37
und Untersuchung, der größte Stellenwert eingeräumt wurde. Nach Mrazek
(1985) erklärt sich der hohe Stellenwert der Bewegungstherapie für den In-
farktkranken aus der weitgehenden Gleichsetzung von Gesundheit und körper-
licher Leistungsfähigkeit. Die Wiedererlangung von Gesundheit fordert dem-
nach die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die durch regel-
mäßige sportliche Aktivitäten erreicht werden kann.
Die prinzipielle Gleichsetzung von Gesundheit und Sport wird in der Litera-
tur häufig kritisiert (Beckers & Kruse 1986; Rittner, 1985a). Die bekannten
negativen Auswirkungen von Sport, wie beispielsweise orthopädische Proble-
me, Verletzungen oder Überbelastung sprechen dafür, daß der Sport nicht nur
einen positiven Beitrag zur Gesundheit liefert (Bös, Wydra & Karisch 1992;
Ulmer, 1991). Die Ergebnisse aus der Untersuchung von Völker et al. (1985)
zeigen, daß Breitensportler zur Überbelastung neigen. Die gewählte Belas-
tungsintensität der Sportler, die über Pulsfrequenz und Blutlaktat erfaßt wurde,
lag über der aerob-anaeroben Schwelle. Ebenso standen die Schätzwerte auf
der Borgskala in keiner Beziehung zu den objektiven Belastungsparametern.
Die Untersuchung von Abele & Brehm (1990) deutet darauf hin, daß Anstren-
gung als positive Empfindung gewertet wird und sogar für die weitere Beteili-
gung am Sport eine entscheidende Rolle spielt. Eine hohe Anstrengungsbe-
reitschaft kann zum Risiko werden, wenn der Sport mit Übereifer nach dem
Motto je mehr desto gesünder betrieben wird (Rittner, 1985a). Diese über-
schießende Jagd nach Gesundheit, die sich auf die Herausbildung einer optima-
len körperlichen Leistungsfähigkeit konzentriert, birgt nach Beckers (1993) die
Gefahr, daß die sportliche Aktivität zum Stressor avanciert und selbst einen Ri-
sikofaktor für Gesundheit darstellt. Gerade der Faktor Leistung scheint sich im
allgemeinen Sportverständis als besonders bedeutend herauszustellen. Häufig
dominiert in breiten Bevölkerungsschichten die Auffassung, sportliches Han-
deln sei einzig auf Leistung und deren Vergleich im Wettkampf ausgerichtet
(Kottmann & Küpper, 1991).
Ein solches leistungsgeprägtes Sportverständnis sowie die Gleichsetzung von
Sport und Gesundheit zeigt auch Wirkung im Rehabilitationssport, zumal
sich hier Personen einfinden, die nachweislich gesundheitlich beeinträchtigt
sind. Der Anspruch, für die eigene Gesundheit selbst Verantwortung tragen
und auf dem schnellsten Wege wieder gesund werden zu müssen, sowie die
Tatsache, im Sport mit dem darin verankerten Gesundheitsversprechen eine
geeignete Maßnahme zur Gesundheitsförderung zu finden, läßt es als verständ-

38
lich erscheinen, daß gerade die Bewegungstherapie, z.B. aus der Sicht des
Herzpatienten, eine so maßgebliche Rolle spielt (Mrazek, 1985). In Verbin-
dung mit den in der Literatur häufig beschriebenen herzinfarkttypischen Ver-
haltensweisen ist es denkbar, daß der Sport im Sinne Rittners (1985a) mit einer
überschießenden Gesundheitsmotivation betrieben wird. Es erscheint plausibel,
die nicht selten zu beobachtende Hyperaktivität bei Herzpatienten in der bewe-
gungstherapeutischen Übungsstunde (vgl. Abschn. 2.5.2.1.) mit diesem Aspekt
in Verbindung zu bringen. Eine Dominanz des Leistungsmotivs entsteht im
Rehabilitationssport nach Beckers & Kruse (1986) durch die überwiegende O-
rientierung an physiologischen Gesundheitsparametern, wie der Steigerung
der körperlichen Leistungsfähigkeit, die über das Erreichen einer höheren
Wattzahl im Belastungstest forciert wird. Weiterhin sehen sie gerade den
männlichen Teil dieses Personenkreises als von Leistungssport in Schul- und
Militärzeit beeinflußt.
Um das im Sport liegende Gesundheitsversprechen tatsächlich einzulösen, wer-
den spezielle Inhalte und Methoden vorgeschlagen, die den Umgang mit dem
Körper auf der Basis von Bewegungserfahrung und Wahrnehmungs-
förderung in den Vordergrund stellen. Darüber wird eine bessere Wahrneh-
mung von Körpersignalen vermutet, die Fähigkeit zur richtigen Dosierung so-
wie eine Bereitschaft und Fähigkeit zur mehrperspektivischen Sichtweise von
Sport. Dieser Aspekt soll im folgenden Abschnitt genauer beschrieben werden.
2.7. Neue Entwicklungen in der Bewegungstherapie mit Herzpatienten
Ähnlich der Weiterentwicklung des Risikofaktorenmodells zur KHK (vgl. Kap.
1.), tritt auch im Bereich der Rehabilitation die Berücksichtigung von psycho-
sozialen Inhalten im Sinne eines psychosomatischen Konzepts immer stärker in
den Vordergrund.
Die Forderung nach einer umfassenden Betreuung des Herzpatienten hat
insbesondere durch Halhuber (1980, 1989) Eingang in die Rehabilitation ge-
funden und damit ist ein Ansatz gemeint, der sich nicht nur an medizinisch-
physiologischen Zielen orientiert.
In neuerer Zeit wird eine Verbesserung der Lebensqualität einer umfassenden
Versorgung des KHK-Patienten zugrunde gelegt. Die Lebensqualität eines In-

39
dividuums wird entscheidend geprägt durch die jeweilige körperliche Verfas-
sung, durch die psychische Befindenslage, durch die Funktions-und Leistungs-
fähigkeit in verschiedenen Lebensbereichen und letztlich durch die Qualität
des sozialen Rückhalts (Halhuber, 1994; Lehmann, 1986). Daraus ergibt sich
der Anspruch, daß gezielte psychologische Maßnahmen notwendig sind, um
die gewünschten Verhaltensänderungen im Sinne einer effektiven Krankheits-
verarbeitung zu erreichen (Knobloch, 1985, 1993). Dies steht im Wiederspruch
zu der oft vertretenen Auffassung, daß sich solche Veränderungen ganz auto-
matisch als sogenannte Sekundäreffekte durch die Bewegungstherapie ergeben
(Lagerström, 1989).
In engem Zusammenhang mit den beschriebenen problematischen Krankheits-
verarbeitungsmodi wird die schlechte Körperwahrnehmungsfähigkeit und
wenig ausgeprägte Körperbezogenheit von Herzpatienten diskutiert (Essser &
Zimmer, 1985; Wireaus & Effert, 1988). Tatsächlich ergaben Untersuchungen,
daß Herzpatienten stark dazu neigen, gegebene Belastungen zu unterschätzen
und in der bewegungstherapeutischen Übungsstunde ihre vorgegebene Soll-
pulsfrequenz zu überschreiten (Hauer 1993, zitiert nach Drinkmann & Hauer,
1995; Kollenbaum, 1990).
Auf dieser Basis wurden neue Ansätze in der Bewegungstherapie entwickelt,
die besonderen Wert auf den Einsatz von körperwahrnehmungsorientierten
Methoden legen, um einen besseren und bewußteren Umgang mit dem Körper
zu erreichen und den Patienten für Wahrnehmungen aus dem Körperinneren zu
sensibilisieren. Darüberhinaus sollen diese Methoden dem Patienten eine ande-
re Erlebnisdimension im Sport vermitteln, z.B. über das intensive Spüren und
Fühlen von Entspannungszuständen, um ihn dazu anzuleiten, auch nicht auf
Leistung ausgerichtete Situationen als angenehme Erlebnisinhalte zu empfin-
den. Über diese andersartigen Körper- und Bewegungserfahrungen erhofft man
sich Verhaltensänderungen im Sinne einer Loslösung von Konkurrenz- und
Leistungsorientiertheit (Kolb, 1994). Das Gelingen dieses Prozesses nimmt ei-
nen bedeutenden Einfluß auf die Art der Krankheitsverarbeitung. Der Patient
lernt, seine Belastungsgrenzen zu akzeptieren und zu einer realistischen
Selbsteinschätzung zu gelangen und somit einen wichtigen Schritt in Richtung
Annahme der Krankheit zu unternehmen (Eliot, 1979).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2000
ISBN (eBook)
9783832457532
ISBN (Paperback)
9783838657530
DOI
10.3239/9783832457532
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln – Sportwissenschaften
Erscheinungsdatum
2002 (August)
Note
1,0
Schlagworte
bewegungstherapie herzsportgruppe kardiale rehabilitation krankheitsverarbeitung interozeption
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Titel: Probleme der Körperwahrnehmung bei Herzinfarktpatienten
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