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Drogenmissbrauch in der Adoleszenz als Folge einer frühen Traumatisierung

Theoretische Grundlagen und ihre Relevanz für die sozialarbeiterische Praxis

©2001 Diplomarbeit 68 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Ein Ereignis, welches durch seine Intensität und Plötzlichkeit die psychischen Abwehrmechanismen eines Menschen überfordert, nennt man Trauma.
Sexueller Mißbrauch in der Kindheit ist ein solches traumatisches Ereignis, welches spezifische Folgen erwarten läßt. Die heutige Psychotraumatologie entstand aus verschiedene Forschungsrichtungen. Unter anderem Charcot, Janet und Freud, aber auch Horowitz und Sleye haben viel dazu zum heutigen Verständnis eines Traumas beigetragen. Im ersten Teil der Arbeit werden daher die verschieden Forschungsansätze der Traumaforschung bis zur Entwicklung des heute gängigen Verlaufsmodells dargestellt. Während eines traumatischen Ereignisses können Sinneserfahrungen nicht wie gewohnt verarbeitet werden. Daraus resultieren Amnesien, Dissoziationen, Flashbacks und Wiederholungszwänge. Der zweite Teil der Arbeit befaßt sich daher mit den vielfältigen Folgen einer frühen Traumatisierung durch sexualisierte Gewalterfahrung. Im dritten Teil der Arbeit wird dargelegt, wieso Drogenmißbrauch in der Adoleszenz als Folge einer frühen Traumatisierung anzusehen ist.
Drogenmißbrauch wird als destruktiver Coping-Mechanismus vorgestellt.
Im Gegensatz dazu werden im vierten Teil konstruktive Wege der Traumabearbeitung aufgezeigt. Dazu werden verschiedene Formen der Traumatherapie miteinander verglichen und auf ihre Anwendbarkeit in den Arbeitsfeldern der Sozialarbeit hin geprüft.
Mit einem Fallbeispiel wird im fünften Teil der Arbeit nochmals die These unterstützt, daß Drogenmißbrauch in der Adoleszenz direkt auf die Folgen eines Traumas zurückzuführen ist. In diesem Teil werden außerdem Defizite in der Behandlung traumatisierter Mädchen im Drogenhilfesystem aufgezeigt und Ideen vorgestellt, wie Hilfen für traumatisierte Mädchen und Frauen aussehen könnten.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Einleitung1
1.Grundlagen der Psychotraumatologie3
1.1Die Geschichte der Psychotraumatologie4
1.1.1Die Ursprünge der Traumaforschung5
1.1.2Die Weiterentwicklung in verschiedene Forschungsrichtungen6
1.1.3Die Entwicklung in der Gegenwart: Das Verlaufsmodell10
1.2Traumadefinition11
1.3Zur Ätiologie des Traumas13
1.3.1Traumatisierung durch sexualisierte Gewalterfahrung in der Kindheit16
1.3.2Typologie17
2.Folgen einer Traumatisierung19
2.1Überblick über allgemeine mögliche Traumafolgen21
2.1.1Dissoziation24
2.1.2Spezielle Folgen in der Adoleszenz26
2.2Folgen von Traumatisierung im sozialen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Es gibt viele Ursachen und Motive für den Gebrauch von Drogen und fast ebenso viele wissenschaftliche Theorien dazu.

Allen gemeinsam ist jedoch, daß sie die Frage nach dem Sinn von Drogenkonsum stellen. Jedes Symptom in jedem System hat einen Sinn, den es zu finden gilt. Denn niemand würde etwas tun, wenn es für ihn persönlich keinen Sinn erfüllen würde.

Ich sehe Drogenkonsum als subjektiven Ausdruck des Versuchs, sich Lebensrealitäten und Entwicklungsanforderungen zu stellen, d.h. als eine – wenn auch problematische - Form der Lebensbewältigung.

Gerade in der Adoleszenz werden besondere Entwicklungsanforderungen an Jugendliche gestellt. Daher scheint es nicht verwunderlich, daß fast jeder Konsum in der Phase der Adoleszenz einsetzt. Das Risiko, mit dem Konsum von Drogen zu beginnen, ist hier am höchsten (vgl. Kastner 1988). Peter Blos (1962) beschreibt die Adoleszenz sogar als eine Wiederauflage früherer Kindheitskonflikte.

Handelt es sich bei diesen Kindheitskonflikten um frühe Traumata, scheint es mir lohnend, den potentiellen Zusammenhang zwischen der Traumabewältigung und des einsetzenden Drogenkonsums bei Jugendlichen genauer zu untersuchen.

In dieser Diplomarbeit möchte ich die These überprüfen, daß Drogenmißbrauch in der Adoleszenz die Folge einer frühen Traumatisierung sein kann.

Ich werde in meiner Arbeit die Begriffe Drogenkonsum, Drogenmißbrauch und Sucht nicht explizit voneinander unterscheiden, da mir eine Abgrenzung recht willkürlich erscheint und wenig auf Erkenntnisgewinn angelegt. Der rein genießende Konsum und die konsequent zum Tode führende Sucht sind für mich zwei Pole eines Kontinuums, die in ihrer Reinform höchst selten anzutreffen sind. Auch die medizinische Definition des ICD-10 hat für mich ihren Wert eher in einer öffentlichkeitswirksamen Verständigung als in zuverlässigen Kriterien.[1]

Der erste Teil meiner Arbeit beinhaltet die Entwicklung der Traumaforschung. Dazu werde ich sowohl die Ursprünge der Psychotraumatologie kurz darlegen, als auch die wissenschaftliche Entwicklung bis hin zum heute gängigen Verlaufsmodell.

Die Definition eines frühen Traumas, wie sie meiner Arbeit zugrunde liegt, führe ich in Kapitel 1.2 aus. Kapitel 1.3 dient weiteren Eingrenzungen, da ich meine Hypothese hauptsächlich in der Anwendung bei Traumatisierung durch sexualisierte Gewalterfahrungen in der Kindheit von Mädchen sehe.

Daher spreche ich der Einfachheit halber in meiner Arbeit auch nur von Frauen und Mädchen, da sie den Großteil der Betroffenengruppe ausmachen.

Der zweite Teil der Arbeit beinhaltet die möglichen Folgen, die eine Traumatisierung haben kann. Dabei werde ich die Posttraumatische Belastungsstörung nicht explizit aufführen, da sie zu den Langzeit - b.z.w. Spätfolgen gehört, oftmals erst nach der Adoleszenz auftritt und daher nicht im direkten Zusammenhang zu meiner These steht.

Die Besonderheiten und die Problematik eines Lebens im Drogenmillieu sind ebenfalls Teil des zweiten Kapitels.

Auf die Coping-Mechanismen zur Traumabewältigung gehe ich im dritten Teil meiner Arbeit ein, dabei speziell auf die destruktiven Copingstrategien, zu denen unter anderem auch der Drogenmißbrauch zu zählen ist.

Innerhalb dieses Teils stelle ich auch spezielle Funktionen des Drogenmißbrauchs in der Adoleszenz dar und überprüfe dabei nochmals meine Hypothese.

Im vierten Kapitel werde ich an die destruktiven Coping-Mechanismen des vorangegangenen Kapitels anschließend, konstruktive Formen der Traumabewältigung und Bearbeitung vorstellen, insbesondere verschiedene Modelle der Traumatherapie. In Kapitel 4.3 überprüfe ich die Praxisrelevanz der Psychotherapiemodelle für die Sozialarbeit. Vom Berufsalltag der Sozialarbeit im Drogenhilfesystem ausgehend, zeige ich im fünften Teil meiner Arbeit Defizite im Hilfesystem auf und entwickle Ideen für Verbesserungen; denn meist sind es nicht die traumatischen Ereignisse, die Anlaß zur Behandlung geben, sondern schulisches oder berufliches Versagen, Rausfallen aus sozialen Bezügen, Dissozialität und Gewaltbereitschaft, Panikattacken, Eßstörungen, Selbstverletzungen oder eben Drogenkonsum. Meine Hypothese überprüfe ich in diesem Teil nochmals anhand eines Fallbeispiels.

Mit dem letzten Teil meiner Arbeit möchte ich den Blick in die Zukunft lenken und Möglichkeiten aufzeigen, wie die Erkenntnisse meiner Arbeit Anwendung in der sozialarbeiterischen Praxis finden können.

1 Grundlagen der Psychotraumatologie

`Trauma‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde / Verletzung.

Der Ausdruck `Traumatologie‘ kommt aus der Medizin und bezeichnet dort einen Zweig der Chirurgie, der sich mit von Verletzungen stammenden Behinderungen und Wunden beschäftigt. Im Gegensatz zu den in dieser Disziplin erforschten sichtbaren Wunden und deren Heilung, blieben seelische Wunden lange Zeit von der Forschung vernachlässigt.

Doch ebenso wie die somatischen Systeme eines Menschen überfordert werden können, können auch die seelischen Systeme in ihren Bewältigungsmöglichkeiten überfordert werden. Dann spricht man von einem psychischen Trauma.

Auswirkungen von psychischen Traumatisierungen auf Entstehung und Verlauf von Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten wurden in der Psychologie, der Psychotherapie, in der psychosomatischen und in der psychiatrischen Medizin in Teilbereichen erforscht, aber es fehlte lange Zeit eine interdisziplinäre Lehre von psychischen Verletzungen und ihren Folgen für die Betroffenen. In Deutschland wurde erst 1991 in Freiburg das „Institut für Psychotraumatologie“ gegründet. Die Vorsilbe

„ Psycho“ wurde in Abgrenzung an die Chirurgische Traumatologie gewählt und sollte die unterschiedlichen zu erforschenden Themenbereiche auf einen Nenner bringen

(vgl. Fischer /Riedesser 1999, S.15). Das neue Forschungsinstitut beschäftigt sich seit dem mit den Auswirkungen von Kindheitstraumata, der Therapie von Kriegsopfern und politisch Verfolgten, mit Folgen sexueller Übergriffe, Diagnosemitteilungen bei lebensbedrohlichen Krankheiten und seelischen Belastungen bei Katastrophenhelfern.

Obwohl das Forschungsgebiet der Psychotraumatologie in Deutschland also noch recht jung ist, gibt es bereits seit Jahrtausenden Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Trauma und dessen Bewältigung. Bereits in frühester Zeit beschreiben Rituale verschiedener Völker Praktiken um die Folgen von traumatischen Erlebnissen zu mildern ( vgl. Fischer/Riedesser 1999, S.28, Levine 1998, S.65 ).

Im folgenden Kapitel stelle ich daher die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma in ihren verschiedenen wissenschaftlichen Zweigen und Ansätzen grob dar.

1.1 Die Geschichte der Psychotraumatologie

Die Geschichte um die heutige Psychotraumatologie beginnt nicht erst mit Freuds Arbeit zur Ätiologie der Hysterie. Bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts haben sich in Frankreich Gerichtsmediziner mit der Traumatisierung von Kindern auseinandergesetzt, und auch in Deutschland stand die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen in der Tradition der Gerichtsmedizin unter Frau Trube-Becker (vgl. Sachsse 1998 ).

Auch die Berichte von Homer, die literarischen Werke von Shakespeare, viele Märchen, z.B. `Prinz Eisenherz‘ (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S.30), die Erzählungen des Marquis de Sade oder die Geschichte von ‚Alice im Wunderland‘ können hinsichtlich einer traumatischen Erfahrung interpretiert werden.

Die Forschungen der Wissenschaftler Charcot, Freud und Janet haben in dieser Tradition Ende des 19 Jahrhunderts große Dienste für die heutige Forschung geleistet.

Eine zweite Denk - und Forschungstradition ist jedoch genauso wesentlich.

Diese Tradition begann mit der Industrialisierung und den ersten Eisenbahnunfällen.

Zu den Forschern in dieser Zeit gehörte Oppenheimer, der als Erster formulierte, daß es eine traumatische Neurose gebe.Ebenfalls in dieser Zeit gab es die Meinung, die Menschen, die nach einem Unfall mit Maschinen oder der Eisenbahn, ihre Einschlafstörungen, Zittern und Konzentrationsschwierigkeiten auf den Unfall zurückführten, seien Simulanten oder Versicherungsbetrüger.[2]

Im ersten Weltkrieg entstand dann die Symptomatik der sogenannten Kriegszitterer. Betroffene Soldaten bekamen an der Front ein unstillbares Zittern. Heute weiß man relativ sicher, daß dieses Symptom durch die Schützengrabenkriegsführung hervorgerufen wurde und als Massentraumatisierung durch überwältigende Hilflosigkeit gelten kann. Im zweiten Weltkrieg versuchten vor allem die USA, durch Militärpsychiatrie und Gruppentherapie eine solche Massentraumatisierung zu verhindern.

In Deutschland haben die Folgen des Holocaust eine Welle der Traumaforschungen ausgelöst.

Forschungen mit Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki haben ebenfalls Erkenntnisse für ein psychopathologisches Syndrom nach einem traumatischen Ereignis geliefert. Nach dem Vietnamkrieg lösten Forderungen von Angehörigen von Kriegsveteranen erneute Forschungen aus, da viele nicht hinnehmen wollten, daß die auftretenden Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht ernst genommen wurden, und die Veteranen als vorher schon gestört hingestellt wurden (vgl. Sachsse 1998).

Ebenfalls in den 70er/80er Jahren hat die Feministische Bewegung die Forschung um strukturelle Gewalt gegen Frauen in Gang gebracht. Begriffe wie Battered-Child-Syndrom und Broken-Home-Situation waren in aller Munde. In dieser Zeit wurde durch die zahlreichen Forschungen in verschiedenen Disziplinen klar, daß die Verarbeitung von Traumata relativ uniform abläuft (vgl. Sachsse 1998).

Anfang der 90er war die Forschung dann soweit, daß die Traumaverarbeitung verschiedenster Traumatisierungen in einem ersten „Handbuch der posttraumatischen Syndrome“ dargestellt wurde, und die Psychotraumatologie als eigene Forschungsrichtung konkrete Formen annahm.

Die wissenschaftliche Entwicklung von der Verführungstheorie Freuds zum heute gängigen Verlaufsmodell werde ich im Folgenden darlegen.

1.1.1 Die Ursprünge der Traumaforschung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich in Frankreich die gegensätzlichen Positionen der Somatogenese und der Psychogenese. Griesinger war einer der wichtigsten Vertreter der Somatogenese und der Auffassung, daß körperliche Prozesse für viele seelische Symptombildungen ausschlaggebend wären. Charcot jedoch stellte bei seinen Untersuchungen fest, daß es seelische Symptome gibt, die durch seelische Ursachen herbeigeführt werden und daher auch seelisch behandelt werden können. Charcot ist bereits davon ausgegangen, daß hysterische Symptome durch traumatische Ereignisse hervorgerufen wurden.

Siegmund Freud war zu dieser Zeit in Frankreich und hospitierte bei Charcot.

Wieder in Wien entwickelte er mit Breuer auf der Basis der Charcot´schen Hypnose ein Verfahren, das bereits an eine Traumaexposition erinnert. Als Ergebnisse dieser Hypnosesitzungen entwickelte Freud die Verführungstheorie, in der er einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen sexuellem Mißbrauch in der Kindheit und späterer hysterischer Erkrankung herstellte.

Ob Freud seine Verführungstheorie ein Jahr später widerrufen hat, oder lediglich seine `sichere Kenntnis der Ätiologie‘ wieder in Frage stellt, ist bis heute umstritten

(vgl. Nitzschke 1999, S.25). Auf jeden Fall wurde er von seinen Zeitgenossen aufgrund seiner Theorie heftig angegriffen und beruflich isoliert. Danach wurde die Traumaforschung in der Psychoanalyse lange Zeit vernachlässigt.

Die Gleichung, die Freud aufstellte, konnte nicht aufgehen, da es, wie wir heute wissen, keinen monokausalen Zusammenhang zwischen infantiler Traumatisierung und psychischer Erkrankung im Erwachsenenalter gibt. Trotzdem hat uns seine Forschung sehr wertvolle Erkenntnisse geliefert, die in die heutige Psychotraumatologie eingeflossen sind. Zu diesen Erkenntnissen gehört vor allem auch das Prinzip der Nachträglichkeit. Für meine These ist dieses Konzept ebenfalls von Bedeutung, da Freud darin zwei zeitlich voneinander getrennte Ereignisse miteinander in Wechselwirkung treten läßt. In der Adoleszenz ist dieses Konzept von besonderer Bedeutung, da dort nachträglich einem traumatischen Ereignis eine spezifische Bedeutung beigemessen wird. Aus der heutigen Sicht ist die Zeitstruktur bei der psychischen Traumatisierung ebenfalls ein wichtiger Faktor, dem das Verlaufsmodell Rechnung trägt. In Kapitel 1.1.3 werde ich dieses ausführlich darstellen.

Ebenfalls in die heutige Psychotraumatologie eingeflossen ist der Ansatz des Freudschen Zeitgenossen Piere Janet, den ich im folgenden Kapitel erläutern werde.

1.1.2 Die Weiterentwicklung in verschiedene Forschungsrichtungen

Janet war ein Schüler Charcots und Leiter der psychologischen Abteilung der Salpetrière in Paris. Er hat damals schon all das beschrieben, was heute als Dissoziative Störung und posttraumatische Belastungsstörung diskutiert wird. Janet vertrat damals schon die Position, daß schwere seelische Störungen oft auf traumatische Ereignisse wie Kindesmißhandlung und Kindesmißbrauch zurückzuführen wären.

Nach Janet war Dissoziation[3] das Ergebnis einer Überforderung des Bewußtseins durch ein traumatisches Erlebnis. Er hat ebenfalls als Erster Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit Traumatisierungen beschrieben.

In seiner Arbeit `L‘ automatisme psycholoque‘ von 1889, beschreibt er, daß seiner Meinung nach Erinnerungen an ein traumatisches Erlebnis oft abgespalten werden, weil sie nicht angemessen verarbeitet werden können. In Form von emotionalen Erlebniszuständen, körperlichen Zustandsbildern, Vorstellungen und Bildern können die nicht integrierten Erinnerungen später wieder aufleben und im schlimmsten Fall zur Ausbildung von unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten führen (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S.32). Leider gerieten Janets Arbeiten lange Zeit in Vergessenheit und wurden erst von der Gruppe um Van der Hart und Van der Kolk vor etwa 15 Jahren wiederentdeckt. Freud und Janet setzten unterschiedliche Akzente, die jedoch beide in die heutige Psychotraumatologie eingeflossen sind. Auch Freud sprach bereits früh von Dissoziation, allerdings eher im Zusammenhang mit seinem Konzept der Abwehr. Er ging von einem absichtsvollen, aktiven Vergessen aus, das die Persönlichkeit vor unangenehmen Affekten bewahren sollte. Janet zufolge wurde dissoziert, weil das Bewußtsein mit der Verarbeitung des Erlebnisses sonst überfordert wäre (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S.33).Für die heutige Psychotraumatologie bedeutsam ist Janets Entdeckung, daß traumatische Erlebnisse sich sowohl in Bildern als auch in körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren können (ebenda).

Auch der nordamerikanische Traumaforscher Mardi Horowitz hat wichtige Beiträge für die heutige Psychotraumatologie geleistet. Er hat Freuds Theorie des ‚Energietraumas‘ aufgegriffen. Die von Freud verwandte biologische Metapher des ‚lebenden Bläschens‘, dessen Schutzhülle bei einer Traumatisierung durch Außenreize gebrochen wird, hat er weiterentwickelt. Bei Horowitz kommt das Überraschungsmoment hinzu. Das Individuum hat keine Zeit sich auf die Situation einzustellen, die Kapazitäten des Individuums zur Informationsverarbeitung werden überschritten, wodurch die Schutzhülle durchbrochen wird. Horowitz hat das Energiekonzept zum Informationskonzept umgewandelt (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S.92-93). Ableiten läßt sich daraus, daß ein Ereignis um so traumatischer wirkt, wenn es unerwartet auftritt. Aus heutigen Untersuchungen ist jedoch bekannt, daß Menschen mit traumatischen Vorerfahrungen leichter erneut traumatisiert werden können als Menschen mit einer größeren kognitiven Distanz zu einem traumatischen Ereignis. Eine Kritik am ‚Informationstraumamodell‘ ,die für eine Längsschnittbetrachtung einer Traumatisierung spricht, wie sie vom Verlaufsmodell vorgenommen wird. In Kapitel 1.1.3 werde ich darauf zurückkommen, daß das Trauma nicht nur aktuell, sondern auch aus der Lebensgeschichte heraus betrachtet werden muß. Eine Traumatisierung kann in einen traumatischen Prozeß übergehen, der durch ein erneutes Trauma verstärkt wird. Inwieweit jedoch ein wirklich verarbeitetes Trauma schützende Wirkung im Sinne Horowitz`s haben kann, ist bis heute umstritten.

Horowitz ging davon aus, daß eine Traumaverarbeitung immer in verschiedenen Phasen abläuft. In jeder Phase kann es zu einer pathologischen Entgleisung des Verarbeitungsprozesses kommen. Meist pendeln die Betroffenen dann zwischen den Phasen der Intrusion und der Verleugnung hin und her, ohne das es zu einem Durcharbeiten und Vollenden kommt.

Die Phasendarstellung der traumatischen Reaktion nach Horowitz stelle ich jetzt kurz dar (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S. 92-95) :

- Die peritraumatische Expositionsphase:
Die Persönlichkeit wird von Eindrücken und emotionalen Reaktionen überflutet, es folgt Panik oder Erschöpfung.
- Verleugnungsphase:
Vermeidungsverhalten, um nicht an die traumatische Situation erinnert zu werden, der seelische Schmerz wird betäubt (eventl. durch Medikamente oder Drogen ).
- Phase des Eindringens von Erinnerungsbildern:
Intrusive Phänomene, Erinnerungsbilder drängen sich ständig auf.
- Phase des Durcharbeitens:
Eine Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis und der eigenen Reaktion findet statt.
- Relativer Abschluß (completion):
Die traumatische Situation kann erinnert werden, ohne zwanghaft daran denken zu müssen.

Diese Arbeit Horowitz’s kann als Pionierarbeit angesehen werden, und die Psychotraumatologie verdankt ihm die „...Entdeckung des biphasischen Charakters der traumatischen Reaktion als einen zentralen psychobiologischen Verarbeitungsmechanismus“ (Fischer/Riedesser 1999, S.93).

Dieser Wechsel von Intrusion und Verleugnung durchzieht das Leben der Betroffenen und hat nach Horowitz die Tendenz, zur Erledigung unvollendeter Handlungen zu führen.

Auch Freud sah in dem von ihm beschriebenen Wiederholungszwang bereits diesen Drang zur Vollendung, doch darauf werde ich im Kapitel 2.2.1 näher eingehen.

Ein weiteres Werk, welches als Vorbild in die Psychotraumatologie einfloß, stammt von John Bowlby (Fischer/Riedesser 1999, S.38). Inhalt seiner Forschungen waren die Auswirkungen frühkindlicher Deprivation. Durch Bowlby sind erstmals Verknüpfungen entstanden von Psychoanalyse, kognitiver Entwicklungspsychologie, neurobiologischen Konzepten und Verhaltensbiologie, bis zur Soziologie, Epidemiologie und Kulturgeschichte.

Die Forschungsergebnisse hier aufzuführen, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Die letzte Forschungsrichtung, die ich als Einflußfaktoren der Psychotraumatologie hier vorstellen möchte, ist die Streßforschung von Sleye. Sleye war Internist und erforschte die Auswirkungen von Umweltfaktoren. 1936 veröffentlichte er sein Streßreaktionsmodell, welches die drei Phasen des Alarms, des Widerstands und des Erschöpfungsstadiums enthält. Dieses Modell wurde auch unter dem Namen ‚generelles Adaptionssyndrom‘ bekannt. Im Zuge des ‚transaktionalen Streßmodells‘ nach Lazarus wurden diese Forschungen weiterentwickelt, und die Forschungsrichtung des ‚Stress- and Coping-Approach‘ entstand (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S. 40). Ausführlicheres würde auch hier zu weit führen.

Selbstverständlich haben viele weitere Forscher einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der Psychotraumatologie in ihrer heutigen Form geleistet, allerdings ist es mir nicht möglich, hier eine vollständige Darstellung zu geben. Daher habe ich eine Auswahl getroffen, die die Hauptströmungen der Geschichte der Traumaforschung verdeutlichen sollen. Von völlig verschiedenen Ausgangspunkten mit unterschiedlichen Begriffssystemen haben sich die Erforschungen des Phänomens Trauma bei den Wechselwirkungen von Individuum und Umwelt getroffen.

Im Verlaufsmodell wurden die traumatische Situation, die postexpositorische Reaktion und die traumatischen Prozesse in ein Modell gebracht ,welches ich im nächsten Kapitel darstellen möchte.

1.1.3 Die Entwicklung in der Gegenwart : Das Verlaufsmodell

Das Verlaufsmodell (vgl. Fischer/Riedesser 1999, Kapitel 2) nimmt an, daß psychische Traumata eine zeitliche Verlaufsgestalt haben. In den Phasen von Situation, Reaktion und Prozeß manifestiert sich diese Gestalt. Der wechselseitige Zusammenhang ist dabei ausschlaggebend.

Das zentrale traumatische Situationsthema muß dabei besonders berücksichtigt werden. Es bildet sich aufgrund der Lebensgeschichte aus dem Zusammenwirken von objektiven Gegebenheiten und subjektiver Bedeutungszuschreibung. Hier liegt auch der Punkt maximaler Inteferenz zwischen traumatischer Situation und Persönlichkeitssystem. Die aufgrund früherer Belastungssituationen gebildeten kompensatorischen Mechanismen können unter Umständen gerade anfällig für eine Traumatisierung sein.Um den Punkt der maximalen Inteferenz bildet sich das Traumaschema aus. Dabei handelt es sich um ein Wahrnehmungs- und Handlungsschema, das im Sinne von Trauma als einem unterbrochenen Ansatz mit Kampf- bzw. Fluchttendenzen die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert. Die neurokognitiven Anteile sind der von der Hippocampusregion gesteuerten Erinnerung oft unzugänglich. So erfolgt eine erneute Stimulation der traumakompensatorischen Mechanismen meist über implizite Erinnerungen. Der Zusammenhang von z.B. angstauslösenden Faktoren mit der traumatischen Erfahrung ist subjektiv nicht herzustellen. Das Traumaschema ist daher von einer „systematischen Diskrepanz von Wahrnehmung und Handlung, von rezeptorischer und effektorischer Sphäre bestimmt und folgt einer Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung unterbrochener Handlung“ (Fischer/Riedesser 1999, S.115). Die daraus erfolgende passive Form des Wiederholungszwangs werde ich in Kapitel 2.2.1 weiter ausführen. Eine aktive Wiederholung steht jedoch im Dienste der Vollendungstendenz. Im vierten Teil meiner Arbeit werde ich im Zusammenhang mit verschiedenen Therapieformen auf diese aktive Wiederholung zur Vollendung zurückkommen.

Insgesamt läßt sich zum Traumaschema sagen, daß es Ausdruck eines Regulationsverlustes innerhalb der traumatischen Situation ist.

Funktionen der Wahrnehmungs - und der Erfahrungsverarbeitung gehen verloren. Eine Diskrepanz zwischen den bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsfaktoren wird gespürt, und durch das Gefühl der Hilflosigkeit kann eine dauerhafte Erschütterung des Selbstverständnisses und sogar des Weltverständnisses die Folge sein.

Die postexpositorische Phase ist einerseits besonders vulnerabel, d.h. vergleichsweise geringe Belastungen können eine pathogene Entwicklung fördern, andererseits können in dieser Phase korrektive Faktoren besonders gut ansetzen.

In Form eines Diagramms stelle ich nun das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung noch einmal im Überblick dar.

Den folgende Überlegungen dieser Arbeit liegt dieses Theoriemodell eines Traumas zu Grunde.

(Fischer/Riedesser 1999, S.118)

1.2 Traumadefinition

Traumatische Erlebnisse sind Grenzerfahrungen. Sie bringen Individuen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, ihrer Flexibilität, ihres Handlungsvermögens und oft an die Grenze zwischen Leben und Tod.

Eine traumatische Erfahrung hat daher immer mit der Beziehung zwischen Innen und Außen zu tun, oft mit dem Verlust äußerer Wirklichkeiten und inneren Verletzungen durch äußere Realität (vgl. Butollo/Hagl/Krüsmann 1999, S. 178).

Das Trauma ist also ein Konzept, welches ein äußeres Ereignis mit dessen Folgen für die innere Realität verknüpft. Dadurch, daß es sich um einen relationalen Begriff handelt, ist auch die Unschärfe zu erklären.Manche traumatisierte Personen entwickeln bizarre und desorganisierte Verhaltensweisen. Für meine Arbeit habe ich Drogenmißbrauch als eine dieser Verhaltensweisen ausgewählt, um zu zeigen, daß die Ursachen solcher gegenwärtigen Probleme und Verhaltensweisen in einem vergangenen Trauma zu finden sein können. Daher sollte man die Symptome nicht als Verhaltensweisen ansehen, die einfach nur unter Kontrolle gebracht werden müssen, sondern als mißlingende Versuche der Klientinnen, sich ihrer Steuerungsfähigkeit und Sicherheit zu vergewissern. Doch bevor ich mich im zweiten Teil meiner Arbeit mit diesen Verhaltensweisen als Folgen einer Traumatisierung befassen werde, möchte ich noch einmal die Begrifflichkeiten, die ich verwende, definieren.

Wie durch meine bisherigen Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es kein einheitliches Verständnis von Trauma. Das Glossar des ‚Lehrbuchs der Psychotraumatologie ‘ definiert die traumatische Erfahrung wie folgt :

„ Psychische Traumatisierung läßt sich definieren, als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer/Riedesser 1999, S. 351).

Diese Definition impliziert, daß je stärker die Situationsfaktoren, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch über genügend Ressourcen verfügt, um die Erfahrung zu bewältigen. Das pathogenetische Moment besteht hier weniger in der objektiven Intensität des Ereignisses als in der Qualität und Beständigkeit der Bewältigungsmechanismen und dem Gefühl der Hilflosigkeit. Die Formulierungen sind absichtlich weit gefaßt, um den Selbstvertrauensverlust ebenso einzuschließen, wie das mangelnde Vertrauen in die soziale Realität (vgl. Fischer/Riedesser 1999, S. 85). Auch für Levine spielt die Hilflosigkeit eine bedeutende Rolle. Er definiert ein Trauma über vier sogenannte Traumakomponenten, die seiner Meinung nach bei jedem Traumatisierten zu finden sind. Zu diesen zentralen Komponenten gehört ein außergewöhnlicher Erregungszustand, eine psychophysische Kontraktion, eine Dissoziation und ein Erstarren (Immobilität), in Verbindung mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Diese Komponenten bilden für ihn den Kern der traumatischen Reaktion. Alle übrigen Symptome entwickeln sich aus den vier genannten Symptomen (vgl. Levine 1998, S.134). Auch Tyson bezeichnet ein Trauma, als einen „... Erfahrungszustand, bei welchem die Fähigkeit eines Individuums [..],seine Erlebnisse zu organisieren und zu regulieren, überfordert wurde, so daß ein Zustand von Hilflosigkeit entstand “ (Tyson et al.1990, zit. n. Bürgin 1999, S. 142).

Die ICD-10 definiert ein traumatisches Ereignis als „..ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz - oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde“(ICD-10 1994).

Die vielen Faktoren, die eine traumatische Erfahrung charakterisieren, sind nicht untereinander verrechenbar, sondern stellen unterschiedliche Dimensionen dar. Eine traumatische Erfahrung wird definiert durch Dauer, Intentionalität, Vertrauensbruch, Vorhersehbarkeit, Kontrollierbarkeit, Entsetzlichkeit, Absurdität, Verlust, Bedrohung, Verletzung und vielen weiteren Aspekten (vgl. Butollo/Hagl/Krüsmann 1999, S.117). Auf jeden Fall muß eine Definition einer traumatischen Erfahrung dem systematischen Zusammenhang zwischen subjektiven und objektiven Faktoren Rechnung tragen und beide Gesichtspunkte aufeinander beziehen. Eine abschließende, allgemeingültige Definition wird es allerdings nicht geben. Letztendlich kann ein Trauma immer nur retrospektiv von seinen seelischen Folgen her definiert werden (Bohleber 2000, S. 828). Daher gehe ich, basierend auf meinen bisherigen Ausführungen für meine These, von folgender, absichtlich weit gefaßter Definition aus :

Ein Trauma ist ein Ereignis, welches durch seine Intensität und Plötzlichkeit die psychischen Abwehrmechanismen überfordert.

1.3 Zur Ätiologie des Traumas

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich dargestellt, was ein Trauma ist. In diesem Kapitel stelle ich nun dar, wie es zu einer Traumatisierung kommt. Allumfassende Ätiologiemodelle gibt es bisher nicht, das psychodynamisch-kognitive Modell von Horowitz und das Verlaufsmodell habe ich bereits aufgeführt, nun werde ich mich mit den einzelnen Einflußfaktoren beschäftigen. Wie bereits in Kapitel 1.1.1 angesprochen gibt es keinen monokausalen Zusammenhang zwischen bestimmten traumatischen Erlebnissen und späteren Störungen, ebensowenig sicher kann man sagen, daß ein bestimmtes Ereignis immer und bei jedem Menschen traumatisch wirkt. Trotzdem gibt es einige Einflußfaktoren, sowohl protektiver, als auch korrektiver Natur ebenso wie gewisse Risikofaktoren. Als protektive Faktoren gelten z.B. biographische Schutzfakoren[4]. Korrektive Faktoren wirken bei der Traumverarbeitung. Die Vielzahl der möglichen Faktoren und Wirkungsmechanismen verweisen auch hier auf die unterschiedlichen theoretischen Erklärungsansätze und legen multi- und interdisziplinäre Zugangsweisen nahe. Da jedoch nicht die Psychotraumatologie selbst das Thema meiner Arbeit ist, werde ich die Einflußfaktoren nur in soweit ausführen, als es mir für meine weiteren Darstellungen notwendig erscheint. Die meisten Forschungen hierzu stammen aus der Streßforschung.

Traumata entstehen nicht aufgrund der speziellen Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, zumindest nicht ausschließlich ( Levine 1999, S.156). Vielmehr spielen Umweltfaktoren eine große Rolle. Bestimmte Formen von Streß, Verlust und Deprivation, die ein Kind erfährt, beeinflussen seine Entwicklung ungünstig.

Sie können zu Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung, zu einer gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber belastenden Ereignissen und zur Anfälligkeit für bestimmte psychische Störungen und extremen Lebensstilen führen. „Negativer Streß in der frühen Entwicklung hat langfristige neurobiologische Folgen“ (Van der Kolk 1999, S. 32). Die Überwältigung durch extreme affektive Zustände kann zu langfristigen Veränderungen in der physiologischen Reaktionsbereitschaft führen und Auswirkungen auf das Gehirn haben (vgl. Van der Kolk 1999, S. 42). Allgemein läßt sich sagen, ein ungünstiges Lebensumfeld und bestimmte negative Persönlichkeitsfaktoren erhöhen das Risiko eine traumatische Erfahrung zu machen (vgl. dazu auch Kapitel 2.2.2).

Eine traumatische Erfahrung kann nie ganz losgelöst von der Person betrachtet werden, die die Erfahrung macht. Die individuelle Bedeutungszuschreibung der Person verändert die Wirkung des Ereignisses, wie ich bereits in Kapitel 1.1.2 und 1.1.3 verdeutlicht habe.

Diese Bedeutungszuschreibung wird geformt durch das Erfahrungsnetzwerk einer Person, durch die aus den Erfahrungen gebildeten Schemata (Wird sie in einer negativen Weltsicht bestätigt oder handelt es sich um eine nicht einzuordnende Erfahrung ?) und ihren kognitiven Stil (Wie geht die Person mit neuen Erfahrungen um ?). Extremer Streß beeinflußt die Wahrnehmung von sich selbst und anderen und damit auch die Art und Weise, wie im späteren Leben auf Belastungen reagiert wird. Die Strategien zur Streßbewältigung lassen sich dabei grob in zwei Kategorien einteilen: die problemorientierte Bewältigung, bei der auf Ressourcen zurückgegriffen wird, um das streßerzeugende Problem zu lösen und die emotionsorientierte Bewältigung, bei der z.B. durch Verleugnen des Geschehens oder eine Einstellungsänderung gegenüber den Ereignissen, die Spannung durch Veränderung der eigenen Gefühle reduziert wird.

In Situationen, in denen die Ereignisse überhaupt nicht beeinflussbar sind, können sich Menschen durch inneren Rückzug und mentales Loslassen schützen. Besonders bei Kindern kann sich diese Art der emotionsorientierten Streßbewältigung verfestigen und auf lange Sicht das Gefühl der Machtlosigkeit verstärken.

Doch es sind nicht nur personale Faktoren, die ein Ereignis traumatisch werden lassen. Gesellschaftliche und kulturelle Aspekte sind ebenso wichtig. Soziale und gesellschaftliche Variablen bilden die Grenzen, in denen sich ein Individuum bewegt - und um Grenzzerstörungen geht es bei einer Traumatisierung schließlich.

Die Frage zwischen Ursache und Wirkung sozialer Unterstützung bei einer Traumatisierung bewegt sich allerdings in einem Teufelskreis: Mangelnde soziale Unterstützung kann Quelle einer Traumatisierung sein oder eine posttraumatische Störung begünstigen, andererseits können posttraumatische Symptome auch den Zugang zu sozialen Ressourcen behindern (vgl.Butollo/Hagl/Krüsmann 1999, S. 135).

Nicht vergessen werden darf auch die Tatsache, daß nicht alle Kinder mit traumatischen Erfahrungen zu gestörten Erwachsen werden, und daß umgekehrt eine glückliche Kindheit nicht automatisch in ein glückliches Erwachsenenleben mündet.

Dabei kommt auch in der psychologischen Forschung das Phänomen der ‚Resilienz‘ auf. Damit werden Menschen bezeichnet, die trotz extremer Belastung in der Kindheit zu psychisch gesunden Erwachsenen werden und sich nach schweren Traumata schnell erholen. Davon läßt sich ableiten, daß es auch protektive Faktoren geben muß, die dem Leben eines traumatisierten Kindes oder Jugendlichen zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung eine positive Wendung geben können (vgl. dazu die Lösel-Studie, in Nuber 2000, S. 76-78). Zu diesen protektiven und korrektiven Faktoren gehören eine stabile emotionale Beziehung zu einem Erwachsenen, positive soziale Modelle, die dem Kind zeigen, wie Probleme konstruktiv gelöst werden können, frühe Leistungsanforderungen, damit das Kind Verantwortung entwickeln kann, intellektuelle Fähigkeiten und das angeborene Temperament. Rolf Oerter schlußfolgerte sogar „Kinder sind ohne weiteres in der Lage, ungünstige Einflüsse aufzufangen, wenn die Zahl der Risikofaktoren nicht zu groß wird“ (zit. n. Nuber 2000, S.82). Viele ‚resiliente Kinder‘ konnten sich durch kreative Spiele und imaginäre Spielkameraden aus der belastenden Realität entfernen (vgl. Nuber 2000, S.84). Diese Einflußfaktoren geben sowohl für die Prävention Anregungen als auch Hoffnung für die Therapie. Allerdings können nicht alle Kinder diese ‚Quellen‘ nutzen, und den meisten der Kinder um die es in meiner These geht, standen diese Schutzfaktoren nicht zur Verfügung.

[...]


[1] Die Kriterien nach ICD-10 1994 (International Statistical Classification of Deseases and Related Health Disorders, 10th Revision) sind : (1) Drogenmißbrauch : - gelegentlicher Konsum, - Gesundheitsschädigung durch Konsum, z.B. „Kater“ nach Alkohol ; (2) Drogenabhängigkeit : - starkes Bedürfnis nach Konsum, anhaltender Konsum trotz Gesundheitsschädigung, Vorrang des Konsums vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen, Toleranzentwicklung, d.h. gegenüber Nichtabhängigen höhere Dosis für gleiche Wirkung, körperliches Entzugssyndrom

[2] 1871 wurden in Deutschland die ersten Gesetze zur Haftpflicht erlassen und so gab es auch die ersten Gutachterstreits

[3] Als Dissoziation bezeichnet man eine Spaltung von Körper und Seele, ausführlich in Kapitel 2.1.1

[4] z.B. das Aufwachsen in einer Großfamilie, wenn durch eine kompensatorische Beziehung zu den Großeltern die Mutter entlastet wird, soziale Förderung durch Jugendgruppen, Schule oder Kirche, oder auch eine überdurchschnittliche Intelligenz (vgl. Fischer/Riedesser (1999), S.133)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832456269
ISBN (Paperback)
9783838656267
DOI
10.3239/9783832456269
Dateigröße
3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt – unbekannt
Erscheinungsdatum
2002 (Juli)
Note
2,0
Schlagworte
therapiemodelle traum drogen sexueller mißbrauch psychotraumatologie
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Titel: Drogenmissbrauch in der Adoleszenz als Folge einer frühen Traumatisierung
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