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Betrachtung der Beziehung eines Verbrechensopfers zu seinem Täter am Beispiel Geiselnahme

©2001 Diplomarbeit 80 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Eine Entführung oder Geiselnahme ist nach psychologischer Auffassung für einen Menschen eine der schrecklichsten Erfahrungen, die gemacht werden können. Ad hoc sind sie bedrohlichen Tätern hilflos ausgeliefert, wobei sie währenddessen in unterschiedlichster Weise reagieren können. Manche verweigern die Akzeptanz der Realität, manche geraten alsbald in Panik und werden aggressiv, wieder andere starten Verhandlungsversuche. Doch schließlich wird der Widerstand aufgegeben und sich aus Gründen existentieller Risikominimierung den Tätern untergeordnet.
Zuweilen begegnen ihnen die Opfer mit Freundlichkeit, bringen Essen oder suchen Kontakt. Das Gefühl von Nähe und Vertrautheit läßt eine Bindung zwischen beiden Parteien entstehen, die bis zur Freundschaft gehen kann. Dieses Phänomen wird von Psychologen „Stockholm-Syndrom“ genannt.
Im Rahmen dieser Arbeit soll im speziellen auf die viktimologische Perspektive eingegangen werden, da Verbrechensopfer im Gegensatz zum kriminellen Täter in der hiesigen wissenschaftlichen Forschung noch zu wenig Beachtung finden. Aufgrund dessen herrscht reger Förderungsbedarf, auch was den postsituativen Umgang mit den Opfern anbelangt. [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5367
Kütemeyer, Iris: Betrachtung der Beziehung eines Verbreche
nsopfers zu seinem Täter am
Beispiel Geiselnahme / Iris Kütemeyer - Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Wolfenbüttel, Fachhochschule, Diplom, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung...S. 1
1. Grundlagendefinitionen...S. 4
1.1 ,,Verbrechensopfer"...S. 4
1.2 ,,Geiselnahme"...S. 5
1.3 ,,Beziehung"...S. 7
1.3.1 Bindung...S. 7
1.3.2 Kommunikation und Interaktion...S. 9
2. Theoretischer Rahmen der Opfer-Täter-Beziehung...S. 10
2.1...vor der Tat...S. 11
2.2...während der Tat...S. 13
3. Erscheinungsformen von Geiselnahmen...S. 17
3.1 Der Fall Siegfried und Fleuchaus...S. 18
3.2 Der Fall Bennefeld-Kersten...S. 19
3.3 Der Fall Reemtsma...S. 19
4. Betrachtung der Opfer-Täter-Beziehung anhand der Fallbeispiele...S. 20
4.1 Präsituative Beziehung...S. 20
4.2 Annahme bzw. Ablehnung der Situation...S. 21
4.3 Kommunikation...S. 22
4.4 Interaktion...S. 24
4.5 Machtgefälle...S. 25
4.5.1 Bedrohung...S. 25
4.5.2 Widerstand bzw. Kooperation und Kolaboration...S. 27
4.5.3 Abhängigkeit...S. 30
4.6 Gefühle und Einstellungen des Opfers...S. 32
4.6.1...zum Täter...S. 32
4.6.2...zur Polizei...S. 37
4.7 Gemeinsamkeiten zwischen Opfer und Täter...S. 39
4.8 Beziehungscharakter...S. 41
4.8.1 Atmosphäre der Beziehung...S. 41
4.8.2 Symmetrie bzw. Asymmetrie der Beziehung...S. 43

3
5. Viktimologische Erklärungsversuche...S. 46
5.1 Streßmanagement...S. 47
5.1.1 Streß...S. 47
5.1.2 Streßbewältigung und Coping...S. 48
5.1.3 Abwehrmechanismen...S. 50
5.2 Traumatische Streßbelastung...S. 54
5.2.1 Definition ,,Trauma"...S. 54
5.2.2 Peripsychotraumatische Situation...S. 55
5.2.2.1 Physiologische Vorgänge...S. 55
5.2.2.2 Auswirkungen der physiologischen Vorgänge...S. 57
5.2.3 Peritraumatische Abwehrmechanismen...S. 59
5.2.4 Das ,,Stockholm-Syndrom"...S. 62
6. Schlußbetrachtung...S. 69
Literaturverzeichnis
Ergänzende Literatur

4
Einleitung
Eine Entführung oder Geiselnahme ist nach psychologischer Auffassung für einen
Menschen eine der schrecklichsten Erfahrungen, die gemacht werden können. Ad
hoc sind sie bedrohlichen Tätern
1
hilflos ausgeliefert, wobei sie währenddessen in
unterschiedlichster Weise reagieren können. Manche verweigern die Akzeptanz der
Realität, manche geraten alsbald in Panik und werden aggressiv, wieder andere
starten Verhandlungsversuche. Doch schließlich wird der Widerstand aufgegeben
und sich aus Gründen existentieller Risikominimierung den Tätern untergeordnet.
Zuweilen begegnen ihnen die Opfer mit Freundlichkeit, bringen Essen oder suchen
Kontakt. Das Gefühl von Nähe und Vertrautheit läßt eine Bindung zwischen beiden
Parteien entstehen, die bis zur Freundschaft gehen kann. Dieses Phänomen wird von
Psychologen ,,Stockholm-Syndrom" genannt.
2
Im Rahmen dieser Arbeit soll im speziellen auf die viktimologische Perspektive
eingegangen werden, da Verbrechensopfer im Gegensatz zum kriminellen Täter in
der hiesigen wissenschaftlichen Forschung noch zu wenig Beachtung finden.
3
Aufgrund dessen herrscht reger Förderungsbedarf, auch was den postsituativen
Umgang mit den Opfern anbelangt. Das Opfer findet hierzulande noch zu wenig
Beachtung z.B. im Strafverfahren, wo der Täter mehr Rechte als das Opfer hat oder
in beraterischer Hinsicht, weil es viel zu wenig Opferberatungsstellen (,,Weißer
Ring", ,,Hanauer Hilfe", ,,Zeerspiegel" für Sexualopfer in Braunschweig)
4
gibt, als
Stellen, die sich intensiv mit dem Straftäter und dessen Hintergrundsituation beschäf-
tigen, wie z.B. Jugendgerichts-, Gerichts- und Bewährungshilfe, der Braunschweiger
,,Verein für Straffälligenhilfe und Betreuung (CURA)" sowie soziale Dienste im
1
Im weiteren Verlauf wird aus Gründen der Übersichtlichkeit ausschließlich die maskuline
Bezeichnung für Personen verwendet.
2
Ehrenstein C. (1996). Die Angst nach dem Kidnapping. In: Die Welt.
www.welt.de/daten/1996/04/29/0429s1101848.htx. S. 1
3
In anderen Ländern wie England, Kanada, Niederlande gibt es Opferforschung sowie eine
ausgeprägte adäquate Betreuung von Verbrechensopfern (Unterlagen ,,Viktimologie", FH
BS/WF, Prof. Dr. U. I. Hartmann). In Deutschland mangelt es finanziell leider in fast allen
sozialen Bereichen. Doch warum funktioniert die Opferbetreuung in anderen Ländern so gut?
Warum kann Deutschland nicht stärker mit den genannten Ländern kooperiert werden, um
Erfahrungen und Informationen auf dem viktimologischen Gebiet zu erlangen?
4
Unterlagen ,,Viktimologie", FH BS/WF, Prof. Dr. U. I. Hartmann

5
Strafvollzug.
5
Verbrechensopfer kommen als mögliches Klientel der Sozialarbeit / Sozialpädagogik
(SA/SP) in Frage. Sei es in beraterischer Weise, als unterstützende Institution bei
Gerichtsverhandlungen mittels Betreuung in vereinzelt vorhandenen ,,Zeugen-
zimmern", in denen sich die Opferzeugen etwas entspannen können und auf die
anstehende Verhandlung vorbereitet werden oder als Begleitung zu z.B. Behörden.
Dabei ist jeweils ein einfühlsamer Umgang mit den viktimisierten Personen
gefordert. Selbiger sollte auch bei der Polizei sowie bei Ärzten vorhanden sein.
6
Diese Arbeit soll einen kleinen Beitrag für SA/SP, Polizisten, Ärzte etc. zum
Verständnis der psychischen Situation von Verbrechensopfern nach schweren
Gewalttaten und traumatisierenden Ereignissen darstellen, speziell nach
Geiselnahmen und Entführungen.
Die Grundannahme zur Bearbeitung dieser Arbeit lautet:
Verbrechensopfer sind in einer Geiselsituation nicht die Personen, die sie unter
alltäglichen Lebensbedingungen sind. Sie verändern sich emotional, interaktional
und kognitiv.
Aufgrund dieser These bieten sich folgende erkenntnisleitende Fragen an:
· Warum verändern sich Opfer in einer Geiselsituation?
· Wodurch wird diese ,,Andersartigkeit" ausgelöst?
· Wie äußern sich die Veränderungen bei den Geiseln?
· Wer verändert sich während einer Geiselhaft?
· Wann tritt die ,,Andersartigkeit" in Erscheinung?
· Kann man innerhalb der Situation etwas gegen die ,,Andersartigkeit" tun?
Im folgenden wird die Gliederung der Arbeit mit den prägnantesten Inhalten
vorgestellt:
Das erste Kapitel liefert die ersten Vorinformationen zum Thema ,,Die Betrachtung
der Beziehung eines Verbrechensopfers zu seinem Täter am Beispiel Geiselnahme".
Es werden die Hauptbegriffe des Titels als Verständnisgrundlage dieser Arbeit
erläutert. Zur Veranschaulichung werden aktuelle Statistiken herangezogen.
5
Unterlagen ,,Institutionenkunde", FH BS/WF, Prof. Dr. U. I. Hartmann
6
Unterlagen ,,Viktimologie", FH BS/WF, Prof. Dr. U. I. Hartmann

6
Im zweiten Kapitel wird auf den empirisch erforschten Rahmen einer Täter-Opfer-
Beziehung in Geiselsituationen eingegangen. Dabei werden einerseits eventuelle
Vorbeziehungen beider Tatbeteiligter vor der Tat sowie andererseits mögliche
Beziehungen innerhalb der Geiselhaft ergründet.
Die einzelnen Fallbeispiele dieser Arbeit werden im dritten Kapitel vorgestellt. Es
handelt sich dabei um drei Fälle aus dem Jahr 1996: Nicola Fleuchaus und Susanne
Siegfried, Jan Philipp Reemtsma sowie Katharina Bennefeld-Kersten, die während
der Geiselnahme vergewaltigt wurde. Da diese Thematik jedoch schon eingehend
behandelt wurde,
7
soll sie in dieser Arbeit nur erwähnt werden, da es sonst den
Rahmen sprengen würde und es sich wie bereits erwähnt lediglich um eine
phänomenologische Betrachtung handelt.
Einen Hauptteil dieser Arbeit stellt das vierte Kapitel mit seiner praktischen
Betrachtung der einzelnen Fälle dar. Es dient dem theoretischen Teil der Anreiche-
rung mit praktischen Aspekten zur Auflockerung und der praktischen Überprüfung
der Theorie.
Unter mehr als 15 Aspekten wird die Beziehung der Opfer zu ihren Tätern betrachtet
und dargestellt, die mit bereits 1978 empirisch erarbeiteten Ergebnissen auf dem
Themengebiet verglichen werden.
Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden lediglich Kürzel samt Seitenzahl für den
Nachweis der einzelnen Fälle benutzt: Reemtsma=Reem., Fleuchaus/Siegfried=Fl.
und Bennefeld-Kersten=BK. Des weiteren wird aus gleichen Gründen nur jeweils am
Anfang jedes neuen Kriteriums der Name der Hauptperson kursiv unterlegt.
Das fünfte Kapitel bildet den zweiten Hauptteil. In ihm soll versucht werden, das
Verhalten, welches aus dem Vorkapitel hervorgeht, zu erklären. Dabei wird auf das
Thema Streß mit seinen Bewältigungsformen eingegangen. Des weiteren wird die
Steigerung des Stresses in traumatische Streßbelastung vorgenommen. Es wird dabei
auf physiologische Vorgänge als Ursache sowie ihre Auswirkungen auf den
traumatisierten Organismus eingegangen. Mittels Abwehrmechanismen soll
letztendlich das viktimologische Verhalten dargelegt werden. Im speziellen wird das
sogenannte ,,Stockholm-Syndrom", als häufig auftretende Erscheinung in
Geiselsituationen, erwähnt.
7
Z.B. Egle U. T., Hoffmann S. O., Joraschky P. (1996). Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung,
Vernachlässigung. Stuttgart: Schattauer Verlag / Gutjahr K., Schrader A. (1990). Sexueller
Mädchenmißbrauch. Köln: Papyrossa Verlag

7
Diese Arbeit hat das Ziel, die Beziehung zwischen den Tatbeteiligten in einer
Geiselsituation phänomenologisch zu untersuchen und einen Erklärungsversuch für
das Verhalten der Opfer zu geben. Das resultiert aus der Tatsache, daß im Rahmen
dieser Arbeit eine empirische Untersuchung schwer möglich war.
Da also Empirie nicht relevant ist, soll in diesem Rahmen keine Überprüfung
sämtlicher psychologischer und soziologischer Theorien vorgenommen werden. Dies
kann auch nicht geschehen, da die Bearbeitung der viktimologischen Erlebnis-
berichte nicht objektiv ist, weil die Opfer ihre Eindrücke bereits gefiltert haben. Es
wäre dann schon ein genauer Beobachter der jeweiligen Situationen oder eine
sofortige Analyse per Fragebogen nötig gewesen. So kann es sich lediglich um eine
Zusammenstellung der ,,oberflächlich" betrachteten Ergebnisse handeln.
Am Ende der Arbeit soll der Leser detailliert über die Umstände einer Geiselsituation
aufgeklärt sein. Besondere Berücksichtigung findet die Untersuchung der Verände-
rungen des Opfers während einer Geiselhaft in emotionaler, seelischer und
körperlicher Hinsicht in Bezug auf viktimologische Interaktionen mit dem Täter.
Professionelles Handeln soll durch ausführliche Informationen adäquater auf die
Bedürfnisse der Opfer abgestimmt werden können.
Im folgenden wird auf die einzelnen Komponenten dieser Arbeit eingegangen, wobei
mit Bestimmungen von Grundlagen begonnen wird.
1. Grundlagendefinitionen
Die folgenden drei Begriffe des Titels stellen die Basis dieser Arbeit dar. Daher
sollen sie vorangestellt erläutert und definiert werden, damit es zu keinen Verständ-
nisproblemen kommt.
Zur Veranschaulichung werden aktuelle Statistiken des Bundeskriminalamtes (BKA)
bezüglich Häufigkeit, Opfergefährdung und Altersgruppen bei Geiselnahmen
eingebracht.
1.1 ,,Verbrechensopfer"
Zur Einführung soll zunächst einmal der Verbrechensbegriff erläutert werden, wobei
die Definition ,,Opfer" hinzugefügt wird, um eine Gesamtdefinition des
Verbrechensopferbegriffs zu erhalten.

8
,,Verbrechen" wird gesetzlich im § 12 Abs. 1 StGB als gegen das Gesetz verstoßende
Tat, die mindestens mit 1 Jahr Freiheitsstrafe oder mehr geahndet wird, definiert.
8
Der Begriff ,,Opfer" entstammt der lateinischen Vokabel ,,victima" und kann auf
zweierlei Arten gedeutet werden:
Einerseits bezieht er sich auf eine Gabe, die in einem spirituellen Verfahren einer
Gottheit als Opfer dargeboten wird. Andererseits bezeichnet laut Schneider der
Begriff eine Person, Gruppe, Organisation, Staat, Gesellschaft oder auch eine
Ordnung (z.B. moralischer Art), die durch das Verhalten anderer Person/en verletzt,
zerstört oder gefährdet wird. Weiterhin wird diskutiert, ob es sich bei Opfern im
eigentlichen Sinn auch um Personen nach Katastrophen und Unfällen handelt
(Schneider in Kiefl/Lamnek, 1986, S. 27). Für das BKA (1999) umfaßt der Begriff
,,Opfer" ausschließlich sogenannte ,,natürliche" Personen, die von oben beschrie-
bener krimineller Tat bedroht wurden oder welche gegen sie gerichtet war.
9
Hierbei werden Institutionen, Staat, Gesellschaft etc. als potentielle Opfer nicht
berücksichtigt. Dazu gehört z.B. Steuerhinterziehung, wobei der Staat betrogen wird.
Trotzdem diverse Autoren über eine Ausdifferenzierung des Opferbegriffs
diskutieren, soll diese jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht näher fortgeführt
werden, da der Schwerpunkt auf der Untersuchung der Beziehung eines Opfers zum
Täter liegt.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll als Definition des Begriffs ,,Verbrechens-
opfer" die Schneidersche Version benutzt werden, so daß zusammengefaßt der
Begriff ,,Verbrechensopfer" im hiesigen Sinn eine Person darstellt, die durch das
Verhalten anderer mittels einer schwer zu ahndenden Tat verletzt, gefährdet oder gar
getötet wird.
1.2 ,,Geiselnahme"
Die Tatbestände der §§ 239 a (Erpresserischer Menschenraub) und b (Geiselnahme)
StGB erscheinen auf den ersten Blick etwas verwirrend, so daß die Relevanz des
Ersteren angenommen werden könnte.
Beide beinhalten die Entführung einer Person, differieren jedoch in der Schwere der
Durchführung zur Erreichung der Forderungen.
8
Beck C. H. (2000). Strafgesetzbuch. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH &
Co. KG. S. 18
9
Bundeskriminalamt (1999). www.file:///A/bka.htm. S. 7

9
So beinhaltet § 239a StGB als Grund der Entführung einer Person hauptsächlich das
erpresserische Ausnutzen der Sorge um das Wohl des Opfers. § 239b StGB hingegen
dramatisiert den Tatbestand, welcher mit Bedrohung mit dem Tod bzw. dessen
leichtfertige Realisierung bei einer Person einher geht. Durch derartige Drohungen,
schwerer Körperverletzung oder durch Freiheitsentzug von mehr als einer Woche
werden die Opfer zu Taten, Duldungen oder Unterlassungen genötigt.
10
Letztere
Tatbestände sind in den vorliegenden Fällen vorhanden.
Statistisch gesehen wurden vom BKA für das Jahr 1999 insgesamt 133052 Straftaten
gegen die persönliche Freiheit ermittelt. Davon fielen 130994 (1998=131990) Fälle
auf Freiheitsberaubung, Nötigung, Bedrohung nach §§ 239-241 StGB, 103
(1998=149) Fälle auf erpresserischen Menschenraub nach § 239a StGB und 88
(1998=102) Fälle auf Geiselnahme nach § 239b StGB.
11
In allen Fallkategorien ist ein Rücklauf zu bemerken, wobei jedoch die Opferzahl bei
Straftaten gegen die persönliche Freiheit um 1,2% von 144286 (1998) auf 145956
(1999) anstieg. Die Opfer bestanden 1999 zu 59,3% aus Männern und zu 40,7% aus
Frauen. Die Hauptzielgruppe besteht aus Erwachsenen zwischen 21 bis 60 Jahren mit
73,5%.
12
Der Fallzahlrücklauf könnte darin begründet sein, daß vermutlich vermehrt
Geiselnahmen an Orten mit vielen potentiellen Opfern stattfanden, wie z.B.
Kindergärten, Schulen.
Die Tatsache, daß mehr Männer als Frauen Geiselopfer werden, könnte auf den
,,Wert" der Einzelperson zurückzuführen sein: Beispielsweise bei der Mengenvertei-
lung politischer Ämter bekleiden zur Zeit noch mehr Männer als Frauen verantwor-
tungsvolle Posten. Männer stellen für eine Familie meistens den Unterhaltsgaranten
dar. Sie sind aufgrund ihrer Muskelausprägung physisch ausdauernder. Sie
bekommen zudem keine Menstruation.
Die oben angegebenen Fälle beziehen sich ausschließlich auf die gesamte
Bundesrepublik. Interessant wäre in diesem Zusammenhang eine Statistik für
Gebiete wie z.B. der nahe Osten, Südamerika, Asien, wo reger Tourismus herrscht
und immer wieder von Geiselnahmen berichtet wird. Der jüngste spektakulärste Fall
war die Entführung u.a. deutscher Touristen auf die Philippinische Insel Jolo durch
10
Beck C. H. (2000). Strafgesetzbuch. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH &
Co. KG. S. 110
11
Bundeskriminalamt (1999). www.bka.de/pks/pks1999/index2.html. S. 1
12
Bundeskriminalamt (1999). www.bka.de/pks/pks1999/p_2_1_5.html. S. 1

10
eine militante Gruppe namens ,,Abu-Sayyat".
13
Interessant wäre neben geschlechtsspezifischen Angaben auch eine Statistik über
Opferwerdung gegliedert nach Bekanntheitsgrad, Vermögen etc., um sich möglicher-
weise bezüglich Präventionsmaßnahmen daran zu orientieren, auf die am Ende dieser
Arbeit eingegangen wird.
1.3 ,,Beziehung"
Laut Bechtler wird Beziehung als Grundform unseres gesellschaftlichen
Zusammenlebens definiert. Sie bedeutet die wechselseitige emotions- und verhal-
tensbezogene Abhängigkeit zweier Menschen voneinander. Nach psychoanalytischer
Auffassung basiert jede zwischenmenschliche Beziehung auf einem unbewußten
Beziehungsmodell. Dieses Modell begründet sich durch sowohl positive als auch
negative Erfahrungen mit den frühkindlichen Beziehungspersonen und spiegelt sich
im Erwachsenenalter wider (Bechtler in DVöpF, 1993, S. 166 f).
Diesem Beziehungsmodell kann die Bindungstheorie nach Bowlby zugrunde gelegt
werden, das auf beobachteten frühkindlichen Bindungserfahrungen zur Mutter
basiert:
1.3.1 Bindung
Bindung unterscheidet sich von Beziehung dahingehend, daß ersteres als
Komponente im komplexen Beziehungsgeflecht verstanden wird.
Nach Bowlbys Auffassung ist die Qualität der in den ersten Lebensmonaten zwischen
Säugling und Hauptbezugsperson (z.B. Mutter) entwickelten Bindung ausschlag-
gebend für den weiteren Lebensweg. Es handelt sich dabei nicht um eine starre
emotionale Bindung, die ausschließlich in der frühen Kindheit relevant ist. Sie kann
sich durch andere emotionale Erfahrungen in anderen Beziehungen während des
ganzen Lebens in verschiedene Richtungen verändern.
13
Wallert W. (2000). Horror im Tropenparadies. München: Goldmann Verlag.
Leider erfuhr ich von diesem Buch erst Januar 2001, sonst hätte ich es aufgrund der
Aktualität und Vielseitigkeit dem Fall Bennefeld-Kersten vorgezogen.

11
Des weiteren spielen früh erfahrene Interaktionserlebnisse zwischen Säugling und
Mutter samt Trennungen (z.B. Mutter muß arbeiten) und erneuter Annäherung eine
entscheidende Rolle: Der Säugling bildet im ersten Lebensjahr innere Verhaltens-
modelle gekoppelt mit den damit verbundenen Affekten zwischen ihm und der
Hauptbezugsperson aus. Der Autor bezeichnet dies als ,,innere Arbeitsmodelle".
Diese Modelle zeichnen sich durch Erproben von Verhaltensweisen seitens des
Säuglings zur Mutter aus. Z.B. wenn das Kind weint und die Mutter als sichere Basis
aufsucht, wird sie erwartungsgemäß auf dessen Bindungsbedürfnisse mit
charakteristischer Nähe oder Distanz sowie mit typischen Verhaltensweisen eingehen
(z.B. tröstend umarmen).
Wird das Kind älter, zeichnet sich sein Entwicklungsstand im allgemeinen durch
Erkundungsdrang aus, wobei die Bindung an die Bezugsperson zeitweilig
vernachlässigt wird.
Bowlby nahm daraufhin empirische Untersuchungen der Bindungsqualität (Stärke der
Ausprägung und Emotionalität) bezüglich Trennung von und Wiedersehen mit der
Bezugsperson vor und teilte diese in drei Kategorien:
1. Sichere Bindung
Es herrscht eine ausgewogene Balance zwischen Bindung und Erkundungsdrang. Für
das Kind ist die Abwesenheit der Mutter furchtbar, es reagiert gestreßt. Dafür ist es
aber um so glücklicher bei ihrer Rückkehr. Es kommt zu Körperkontakt.
2. Unsicher-vermeidende Bindung
Das Kind reagiert recht gleichgültig auf die Abwesenheit der Mutter und kommt
seinem Erkundungsdrang nur leicht eingeschränkt nach. Kehrt die Mutter zurück,
zeigt sich das Kind eher ablehnend und möchte auch keinen Körperkontakt.
3. Unsicher-ambivalente Bindung
Das Kind zeigt nach der Trennung großen Streß. Nach der Rückkehr der Mutter kann
es jedoch kaum beruhigt werden. Es dauert längere Zeit, bis das Kind wieder einen
stabilen emotionalen Zustand erreicht. Bei Körperkontakt reagiert es einerseits mit
Ausdruck des Bedürfnisses nach selbigem und andererseits ablehnend.
Einer im Säuglingsalter entwickelten sicheren Bindung schreibt Bowlby aufgrund
von Studien eine für die weitere Entwicklung des Kindes schützende Funktion zu,
weil durch sie positive soziale Verhaltensweisen gefördert werden. Das wiederum

12
führt beim Kind zu einer stabilen und belastbaren Psyche (Bowlby in Brisch, 1999, S.
35 ff).
1.3.2 Kommunikation und Interaktion
Beziehung manifestiert sich konkret in komplexer prozeßhafter Kommunikation
sowie Interaktion (Bechtler in DVöpF, 1993, S. 166).
Als Interaktion bezeichnet man die sich aufeinander beziehenden Handlungen zweier
Menschen, die von wechselseitigen Erwartungen geprägt sind und auf bestimmten
Faktoren wie z.B. Sprache basieren. So wird auch das Tatgeschehen selbst als
Interaktion definiert (Kiefl/Lamnek, 1986, S. 332).
Legewie und Ehlers (2000, S. 300 f) konkretisieren Beziehung, indem sie bewußt
zwischen gleichberechtigten, ungleichen und sich ergänzende Beziehungen unter-
scheiden. Innerhalb einer andauernden Beziehung kann es ggf. zu einer Veränderung
der jeweiligen Beziehungsdefinition kommen, wenn eine anfangs überlegene Person
(Täter) plötzlich durch Reue o.ä. zur trostbedürftigen (durch Opfer) Person wird.
Watzlawick et al. (1969, S. 68 f) nennen dieses Phänomen eine symmetrische (sich
ergänzende, gleichberechtigte) oder komplementäre (sich ergänzende, unterschied-
liche) Beziehung, deren Status durchaus wechseln kann.
Als grundsätzlich komplementär kann die Opfer-Täter-Beziehung bezeichnet
werden, da der Täter mächtig und das Opfer ihm unterlegen ist. Beide Beziehungs-
partner sind nicht gleichberechtigt. In 4.8.2 wird demonstriert, daß sporadisch der
Anschein einer symmetrischen Beziehung entstehen kann.
Bei letzterem Aspekt handelt es sich speziell um das von Watzlawick et al.
formulierte 5. Axiom (griech.= "keines Beweises bedürfender Grundsatz")
14
der
menschlichen Kommunikationstheorie.
Der Vollständigkeit halber werden die übrigen 4 Axiome an dieser Stelle erwähnt. Es
wird jedoch, wie eingangs begründet, nicht vertieft auf sie eingegangen:
1. Axiom:
Es kann in einer Beziehung zwischen zwei Individuen nicht keine
Kommunikation geben. Auch Passivverhalten wie Mimik, Gestik, Körperhaltung
beinhalten eine Botschaft, wie z.B. z.B. Ablehnung.
14
Dr. Scholze-Stubenrecht W., Dr. Wermke M. (1996). Duden. Mannheim, Leipzig, Wien,
Zürich: Dudenverlag. S. 142

13
2. Axiom: Jede Kommunikation enthält einen Inhalts- wie auch einen
Beziehungsaspekt. Die erste Komponente umfaßt Informationen. Durch die Zweite
bestimmt der Sender, wie er die Informationen vom Empfänger verstanden wissen
möchte, z.B. per Stimmlage.
Das 3. Axiom beinhaltet die Beziehungsnatur, welche durch die Strukturierung der
Kommunikationsabläufe bestimmt wird. Es geht um beiderseitige Verhaltensverket-
tungen. Z.B. nörgelnde Frau, ignoranter Mann: Er meidet sie, weil sie nörgelt, und
sie nörgelt wiederum, weil er sie meidet.
4. Axiom: Kommunikation vollzieht sich digital (=Inhalt, z.B. Zahlen, Fakten) und
analog (=Beziehung, z.B. durch Mimik) (Watzlawick et al., 1969, S. 50 ff).
Neben den genannten Komponenten einer Beziehung zählen auch klimatische
Kriterien wie Nähe, Distanz, Wärme, Kaltherzigkeit, Gereiztheit, Gelassenheit,
Engagement und Gleichgültigkeit innerhalb der Beziehung (Legewie/Ehlers, 2000, S.
300 f).
Die Betrachtung von Kommunikation könnte noch weiter ausgeführt werden, was
jedoch zu allgemein würde und vom Thema weg führte.
Die hier aufgeführten Aspekte dienen lediglich der Unterstützung des Verständnisses
menschlicher Kommunikationsvorgänge. Die Fallberichte sollen nicht daraufhin
analysiert werden, da es sich nicht um eine kommunikationstheoretische Studie
handelt, sondern um eine viktimologische, phänomenologische Fallbetrachtung mit
theoretischen Erklärungsversuchen.
Im nächsten Kapitel werden Ergebnisse zweier Doktoranden vorgestellt, die sich vor
über zwei Jahrzehnten mit der Titelthematik auseinander gesetzt haben.
2. Theoretischer Rahmen der Opfer-Täter-Beziehung
Neben den Fakten aus dem vorangehenden Kapitel bildet der zweite Punkt eine
theoretische Basis für eine spätere Auswertung der Ergebnisse bezüglich der
Beziehung zwischen Opfer und Täter vor sowie während einer Geiselnahme. Zeller
und Günther haben sich 1978 im Rahmen ihrer Dissertation bereits mit dem
Titelthema befaßt. Interessant wäre nun, ob sich in den vergangenen 22 Jahren u.U.
Änderungen und Neuerungen eingestellt haben.

14
Wie auch in 1.2 werden Statistiken des BKA zur numerischen Veranschaulichung
aufgeführt.
2.1...vor der Tat
Bezüglich der präsituativen Beziehung zwischen Opfer und Täter unterscheidet
Schneider in zwei Kategorien: Zum einen handelt es sich um die objektiven sowie
um die subjektiven Beziehungen. Als objektive soziale Beziehung bezeichnet der
Autor z.B. wenn Opfer und Täter ohne es bewußt zu wissen nicht weit voneinander
entfernt wohnen. Opfer und Täter werden ohne ihr Wissen räumlich und zeitlich
miteinander verbunden, wie es z.B. bei Straftaten im sozialen Umfeld der Fall sein
kann.
Kennt das potentielle Opfer den Täter oder umgekehrt, besteht zwar eine Art
subjektive Verbindung. Man kann jedoch nicht von einer beidseitigen sozialen
Beziehung sprechen, welche prozeßhaft und mit wechselseitigen Beeinflussungen
aufgrund von gegenseitigen Einstellungen und Erwartungen geschieht (Schneider,
1979, S. 24 f).
Kiefl und Lamnek (1986, S. 208) konkretisieren Täter-Opfer-Beziehungen
grundsätzlich in viererlei Hinsicht, ohne den objektiven und subjektiven Aspekt
einzubeziehen:
· Zwischen dem Opfer und seinem Täter bestand vorher kein Kontakt, sie sind sich
daher fremd. Diese Beziehungssituation ist typisch für z.B. Handtaschenraub,
wobei äußerliche Merkmale des Opfers von Bedeutung sind wie Konstitution,
Kleidung.
· Ferner kann eine einseitige Beziehung zwischen beiden bestehen, indem dem
Täter das Opfer vom Sehen her bekannt ist, wie bei z.B. Sexualdelikten und
Begehrlichkeitsdelikten. Der Täter braucht für sicheres Tatgelingen vor dem
eigentlichen Verbrechen Informationen über Gewohnheiten des Opfers. Dieses
Phänomen ist auch bei Geiselnahmen zu finden, wie sich im späteren Verlauf
noch zeigen wird.
· Typisch für Sexualdelikte ist die Konstellation, daß beide bereits Kontakt, wenn
auch nur oberflächlich, zueinander hatten.
· Die vierte Kategorie von Täter-Opfer-Beziehungen beinhaltet enge freundschaft-
liche oder verwandtschaftliche Verhältnisse, wie es z.B. bei partnerschaftlichen
oder familiären Tötungsdelikten, eheliche Vergewaltigung oder Kindesmiß-
brauch der Fall ist.

15
Bereits Schneider (1979, S. 25 f) beschreibt derartige Abstufungen von Täter-Opfer-
Beziehungen. Er fügt hinzu, daß die Übergänge bei sozialen Beziehungen oft
fließend ineinander übergehen: So können Menschen z.B. gleichzeitig Nachbarn und
Sportkameraden sein. Leider werden in der Viktimologie die unterschiedlichen
Grade sozialer Beziehungen nicht immer ausreichend differenziert beurteilt, was die
prozentuale Erfassung bei einzelnen Deliktarten erschwert.
Laut Polizeistatistik des BKA von 1999 existierte seitens der männlichen Opfer
(86518) von Straftaten gegen die persönliche Freiheit zumeist ,,keine Vorbeziehung"
(41,4%), gefolgt von ,,Bekanntschaft" (21,6%), ,,flüchtige Vorbeziehung" (13,3%)
und ,,Verwandtschaft" (5,3%).
Bei den Frauen rangiert ,,Bekanntschaft" mit 33,2% an erster Stelle, gefolgt von
,,keine Vorbeziehung" (24,5%), ,,Verwandtschaft" (19,8%) und ,,flüchtige
Vorbeziehung" (9,4%).
15
Die Angaben sind pauschal und nicht differenziert gemacht worden, mit Augenmerk
auf Geiselnahmen. Vermutlich wurden die Angaben hauptsächlich auf
Freiheitsberaubung, Nötigung und Bedrohung bezogen, weil laut Statistik sehr viel
vorsituative Bekanntschaft zwischen vom Opfer zum Täter bestand. Bei
Geiselnahmen kommt dieses Phänomen wohl eher nicht zum Tragen, da intensivere
Beziehungen zu einer Person zu einer größeren Hemmschwelle bezüglich u.U.
gewalttätiger Durchsetzung der Forderungen führen können.
Diese Tatsache ist nicht mit sexuellem Mißbrauch zu verwechseln, der sehr häufig in
Familien und durch bekannte Personen stattfindet. Das geschieht aber nicht zur
Durchsetzung von Forderungen, sondern aus Trieb- und Erniedrigungsmotiven
heraus (z.B. Fischer/Riedesser, 1999, S. 293).
Befinden sich Opfer und Täter ganz kurz vor der kriminellen Situation, kommt es
darauf an, wie sich beide definieren: Viele Verbrecher ,,leben" quasi von der Angst
ihrer Opfer, wie z.B. Triebtäter. In den meisten Situationen definieren sich die
attackierten Personen sofort als Opfer durch Furcht vor dem Täter. Die Passivität
reizt die Täter meist jedoch noch mehr. Keinesfalls solle man sich aber so stark
wehren, daß der Täter in Panik gerät und seine Gewalt verstärkt.
Der Idealfall wäre eine Nichtdefinition als Opfer vor dem Täter und statt dessen mit
ihm in einen verbalen Austausch zu treten, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Als
Beispiel wird ein Banküberfall durch einen Mann genannt, der seinen Revolver auf
eine Kassiererin richtete. Diese entgegnete jedoch, daß sie für ,,solchen Unsinn"
15
Bundeskriminalamt (1999). www.bka.de/pks/pks1999/p_2_1_5.html. S. 7

16
keine Zeit hätte. Der Täter war so irritiert, daß er die Bank verließ (Schneider, 1979,
S. 81 f).
Bezüglich Geiselnahmen besteht der Zweifel, ob ein Opfer sich aus der Situation
heraus manövrieren kann. In den meisten Fällen werden die Opfer nach bestimmten
Gesichtspunkten ausgewählt, wie z.B. politischer Einfluß, Reichtum. Das könnte
höchstens in Zufallssituationen gelingen, wie z.B. dem Banküberfall. Selbst der
Mann hätte bei unkalkuliert auftauchender Gefahr eine Geisel nehmen können, was
jedoch die Kassiererin im Vorfeld abgeblockt hat. Wären es allerdings mehrere Täter
gewesen, hätte es auch mehrere Variablen gegeben, die ein Abweisen des Überfalls
und einer möglichen Geiselsituation höchstwahrscheinlich verhindert hätten.
Zusammenfassend bezieht sich der Terminus ,,Täter-Opfer-Beziehung" nach
vorliegender Literatur lediglich auf den Prozeß des Opferwerdens, also auf die
Vorbeziehung zwischen Opfer und Täter und ihre Relevanz auf die Tatausübung
sowie die jeweilige Rollendefinition und -akzeptanz.
Da es sich im Rahmen dieser Arbeit um einen bestimmten Deliktfall handelt,
interessiert vielmehr, wie die innersituative Beziehung der männlichen und
weiblichen Straftatsteilnehmer aussieht, welche Interaktions- und Kommunikations-
prozesse ablaufen, wie und warum diese die Situation beeinflussen.
Aufgrund mangelnder Fakten zur Opfer-Täter-Beziehung innerhalb der
Geiselsituation in der wissenschaftlichen Literatur, stützen sich die folgenden
Angaben auf die oben genannten zwei Dissertationen.
2.2...während der Tat
Durch empirische Studien sind beide Autoren im Hinblick auf die im vierten Kapitel
zum Tragen kommenden Kriterien während der Tat zu folgenden Ergebnissen
gekommen:
Zeller fand in seiner Dissertation anhand einer empirischen Studie u.a. heraus, daß
sich das Verhalten von Geiseln in zwei Gruppen unterteilen läßt:
Zum einen existiert das Auflehnungs- versus Unterwerfungsverhalten und das
Schock- versus Nichtschockverhalten. Vermutet wird eine Abhängigkeit der Stärke

17
des Schockverhaltens des Opfers von sicherem und negativem Täterverhalten. Z.B.
je brutaler ein Täter agiert, desto geschockter reagiert ein Opfer.
Es zeigen sich jedoch keine Zusammenhänge des Schockverhaltens mit Aufleh-
nungs- und Unterwerfungsverhalten, obwohl in Machtbeziehungsanalysen definitiv
einseitige Verhaltensdeterminationen nachzuweisen sind (Zeller, 1978, S. 316 ff).
Interessant wäre noch die Untersuchung der Korrelation von Brutalität bzw. mildem
Verhalten und Widerstand bzw. Kooperation, Kolaboration.
Günther wie Zeller bezeichnen aufgrund ihrer empirischen Studien das Geiselneh-
merverhalten als sicher und brutal. Nach ihren Angaben solle besonders Brutalität in
Form von Drohungen gegen das Leben, Willensdurchsetzung, Zwänge,
unterstützende Gesten (z.B. mit Waffen) sowie ein lauter, erregter Befehlston Angst
und psychovegetative Langzeitschäden bei den Geiseln auslösen. Dabei ist es
relevant, ob die Opfer intro- oder extrovertierter Persönlichkeitsnatur sind, was sich
auf die Wahrnehmung und damit auf die Bewertung erlebter Zwänge, Brutalität etc.
auswirkt (siehe 5.1.1). So werden labile Geiseln zunehmend sensibilisiert und
nehmen obige Aspekte verstärkter wahr als introvertierte Menschen (Günther, 1978,
S. 135 ff).
Bezüglich des Widerstandes gegenüber den Tätern kommt Günther (1978, S. 139) zu
dem Schluß, daß dieser nur schwach ausgeprägt ist und Folgebereitschaft geleistet
wird, was auf fehlenden Mut, Bestimmtheit der Anweisungen der Täter, keinen
Widerstand zu leisten und auf die geringe Erfolgschance zurückgeführt wird.
Zeller (1978, S. 311 f) kommt zu dem gleichen Ergebnis, wobei er jedoch bei
etlichen Opfern erhöhte Widerstandsphantasien feststellte. Zeller vermutet mit der
Folgebereitschaft der Geiseln, daß diese dadurch ihren eigenen Wert verbessern
wollen, um somit das Machtgefälle zwischen sich und dem Täter zu reduzieren und
letztendlich ihre eigene Sicherheit zu steigern.
Die Einstellung zum Täter betreffend beschreibt Günther eine überwiegend negative
Haltung sowie Gefühle gegenüber den Peinigern. Auch an dieser Stelle kommt das
Wesen des Opfers zum Tragen: So seien besonders ängstliche, emotional labile
Personen tendentiell positiver eingestellt als introvertierte Opfer. Das Verhalten
korreliert weniger mit dem Täterverhalten als vielmehr mit der Persönlichkeits-
struktur und dem Selbstschutztrieb des Opfers. Rein kasuistisch gesehen, vermutet
die Autorin, daß Frauen und Langzeitgeiseln eine stärkere Tendenz zur Ausbildung

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832453671
ISBN (Paperback)
9783838653679
Dateigröße
572 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel – Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
abwehrmechanismen stockholm-syndrom trauma
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Titel: Betrachtung der Beziehung eines Verbrechensopfers zu seinem Täter am Beispiel Geiselnahme
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