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Problemlagen von Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz im Jahr 2001

Analyse und Veränderungsmöglichkeiten

©2002 Diplomarbeit 142 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Gang der Untersuchung:
Die Diplomarbeit befasst sich mit aktuellen Problemlagen von Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz. Auf einen Exkurs durch die historische Entwicklung dieser Schulen folgt eine Auseinandersetzung mit dem Bergriff „Lernbehinderung“.
Im Hauptteil der Arbeit werden Daten einer Befragung unter Chemnitzer Lehrer/innen an Schulen für Lernbehinderte analysiert. Dabei geht es besonders um die Herausarbeitung von Problemlagen, möglichen Ursachen und um das Aufzeigen ausgewählte Veränderungsmöglichkeiten. In einem abschließenden Kapitel wird die Vision einer sozialpädagogisch integrativen Schule dargestellt.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Einleitung3
1.Historische Entwicklung der Sonderschule, speziell der Schule für Lernbehinderte6
1.1DIE BEHINDERTENFÜRSORGE UND DAS HILFSSCHULWESEN6
1.2SONDERPÄDAGOGIK IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS11
1.3AUSBAU DER SONDERSCHULE NACH 194513
1.4DIE HILFSSCHULE IN DER EHEMALIGEN DDR15
2.Begriff, Ursachen und Hintergründe von Lernbehinderung22
2.1BEGRIFFSDEFINITION IN DER WISSENSCHAFTLICHEN SONDERPÄDAGOGIK22
2.2BEGRIFFSDEFINITION DER KULTUSMINISTERKONFERENZ UND DES DEUTSCHEN BILDUNGSRATES27
3.Aktuelle Problemlagen der Förderschulen für Lernbehinderte in Chemnitz31
3.2SITUATIONSANALYSE31
3.3UNTERSUCHUNG BEZÜGLICH DER PROBLEMLAGEN36
3.3.1Vorbemerkungen36
3.3.2Methode und Ablauf der Untersuchung37
3.3.3Auswertung der Befragungsergebnisse42
3.3.3.1Persönliche Angaben der Lehrer und Lehrerinnen42
3.3.3.2Veränderungen in den Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz49
3.3.3.3Zukunftschancen lernbehinderter Kinder und Jugendlicher in Chemnitz57
3.3.3.4Wünsche, Visionen der Lehrer und Lehrerinnen in Bezug auf lernbehinderte Kinder und Jugendliche61
3.3.3.5Kooperation mit anderen Professionen65
3.4KOMMENTIERUNG DER BEFRAGUNGSERGEBNISSE UND VERÄNDERUNGSPERSPEKTIVEN69
4.Vision einer sozialpädagogisch integrativen Schule73
Literaturverzeichnis78
Anhang85

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5316
Ines Richter
Problemlagen von Schulen für
Lernbehinderte in Chemnitz im
Jahr 2001
Analyse und Veränderungsmöglichkeiten
Diplomarbeit
an der Hochschule Mittweida (FH)
Januar 2002 Abgabe

ID 5316
Richter, Ines: Problemlagen von Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz im Jahr 2001: Analyse
und Veränderungsmöglichkeiten / Ines Richter - Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Mittweida, Fachhochschule für Wirtschaft und Technik, Diplom, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

1
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ... 3
1
Historische Entwicklung der Sonderschule, speziell der
Schule für Lernbehinderte ... 6
1.1 D
IE
B
EHINDERTENFÜRSORGE UND DAS
H
ILFSSCHULWESEN
...6
1.2 S
ONDERPÄDAGOGIK IN DER
Z
EIT DES
N
ATIONALSOZIALISMUS
...11
1.3 A
USBAU DER
S
ONDERSCHULE NACH
1945...13
1.4 D
IE
H
ILFSSCHULE IN DER EHEMALIGEN
DDR ...15
2
Begriff, Ursachen und Hintergründe von Lernbehinderung.. 22
2.1 B
EGRIFFSDEFINITION IN DER WISSENSCHAFTLICHEN
S
ONDERPÄDAGOGIK
...22
2.2 B
EGRIFFSDEFINITION DER
K
ULTUSMINISTERKONFERENZ UND DES
D
EUTSCHEN
B
ILDUNGSRATES
...27
3
Aktuelle Problemlagen der Förderschulen für
Lernbehinderte in Chemnitz... 31
3.2 S
ITUATIONSANALYSE
...31
3.3 U
NTERSUCHUNG BEZÜGLICH DER
P
ROBLEMLAGEN
...36
3.3.1
Vorbemerkungen...36
3.3.2
Methode und Ablauf der Untersuchung...37
3.3.3
Auswertung der Befragungsergebnisse ...42
3.3.3.1
Persönliche Angaben der Lehrer und Lehrerinnen ...42
3.3.3.2
Veränderungen in den Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz ...49
3.3.3.3
Zukunftschancen lernbehinderter Kinder und Jugendlicher in Chemnitz ...57
3.3.3.4
Wünsche, Visionen der Lehrer und Lehrerinnen in Bezug auf
lernbehinderte Kinder und Jugendliche ...61
3.3.3.5
Kooperation mit anderen Professionen...65
3.4 K
OMMENTIERUNG DER
B
EFRAGUNGSERGEBNISSE UND
V
ERÄNDERUNGSPERSPEKTIVEN
.69

2
4
Vision einer sozialpädagogisch integrativen Schule... 73
Literaturverzeichnis... 78
I. S
ELBSTÄNDIGE
P
UBLIKATIONEN
...78
II. S
ONSTIGES
...80
III. I
NTERNETRECHERCHE
...82
Anhang ... 85
I. F
RAGEBOGENORIGINAL
...86
II. G
EDÄCHTNISPROTOKOLLE
L
EHRER
/
INNENDIENSTBERATUNGEN
...93
III. K
OPIE EINES
S
CHREIBENS DES
R
EGIONALSCHULAMTES
C
HEMNITZ
...98
IV. A
NTWORTFRAGEBÖGEN SORTIERT NACH
F
RAGEN
,
DURCHNUMMERIERT
...101
V. T
ABELLE ZU PERSÖNLICHEN
A
NGABEN
, A
NTWORTEN
F
RAGE
1 ...138

3
Einleitung
Im Rahmen meiner Tätigkeit als Schulsozialarbeiterin an einer Förderschule für Lernbe-
hinderte in Chemnitz beschäftige ich mich seit fast vier Jahren mit der Problematik von
Kindern und Jugendlichen, welche als lernbehindert eingestuft und in Förderschulen für
Lernbehinderte ein-, in den meisten Fällen umgeschult wurden. In meinem täglichen Um-
gang mit diesen Kindern und Jugendlichen erlebe ich sie nicht als behinderte Kinder im
pathologischen Sinne, und so verstehe ich Behinderung. Sicherlich fällt ihnen das Lesen,
Schreiben oder Rechnen schwer, aber es sind dennoch ganz normale Kinder und Jugendli-
che. Findet man jedoch geeignete, z. B. sehr anschauliche oder an praktischer Arbeit orien-
tierte Methoden, können auch sie zufriedenstellende Leistungen erbringen. Würde ein
krankhafter Defekt vorliegen, wäre das nach meinem Verständnis kaum möglich. Sicher-
lich gibt es auch Schüler/innen, die durch biologische Bedingtheit in ihrer Lernleistung
eingeschränkt sind, aber das ist zurzeit an den Schulen für Lernbehinderte eine Minderheit.
Der überwiegende Teil dieser Schüler/innen lernt an solch einer Schule, weil er/sie aus
einer sozialbenachteiligten Familie stammt, in welcher er/sie nicht die notwendige Förde-
rung zur Bewältigung des Regelschulsystems erhalten hat. Allein durch ihre Herkunft ha-
ben diese Kinder geringere Bildungs- und damit auch Lebenschancen. Das belegt auch das
erst kürzlich erschienene Ergebnis der Schulvergleichsstudie Pisa.
(1)
Wie kommt es aber, dass Kinder nur auf Grund ihrer Herkunft als behindert klassifiziert
werden? Wie definiert sich Lernbehinderung? Welche Methoden, Instrumentarien werden
für die Feststellung einer Lernbehinderung angewandt? Welche Problemlagen erkennen die
Lehrer/innen an den Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz und welche Veränderungs-
vorstellungen haben sie? Um diese Fragen und um die Klärung von Unverständlichkeiten
soll es in der folgenden Arbeit gehen. Die Arbeit gliedert sich in vier größere Abschnitte.
Im ersten Kapitel beschäftige ich mich mit dem historischen Hintergrund der heutigen
Schule für Lernbehinderte. Einleitend dazu wird die Entstehung und Entwicklung der all-
gemeinen Behindertenfürsorge kurz dargestellt, aus welcher sich später dann unter ande-
rem die Hilfsschulen entwickelten. Der geschichtlichen Entwicklung der Hilfsschulen wird
1
Vgl. Baumert 2001

4
dann im Folgendem Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wurden die chronologischen
Schwerpunkte auf die Hilfsschule in der Zeit des Nationalsozialismus und deren Entwick-
lung nach dem II. Weltkrieg gesetzt. Da die Entwicklung der Sonderschulen in der ehema-
ligen DDR besonders für die Erarbeitung zu den Problemlagen an Chemnitzer Schulen für
Lernbehinderte von großer Bedeutung ist, wurde dieser geschichtlichen Entwicklung ein
gesonderter Abschnitt gewidmet.
Im zweiten großen Kapitel beschäftige ich mich mit der Begriffsbestimmung von ,,Lernbe-
hinderung". Dabei unterscheide ich die Definitionen der wissenschaftlichen Sonderpäda-
gogik sowie der Kultusministerkonferenz und des Deutschen Bildungsrates. Außerdem soll
in diesem Kapitel herausgearbeitet werden, welche Möglichkeiten und Methoden zur Fest-
stellung einer Lernbehinderung von wissenschaftlicher Seite gegeben sind. In der eindeuti-
gen Definition des Begriffs ,,Lernbehinderung" sehe ich eine Grundvoraussetzung für die
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, welche als lernbehindert ,,diagnostiziert" wurden. Es
soll hier geklärt werden: Was ist eine Lernbehinderung? Wie wird diese festgestellt?
Kapitel drei stellt den Schwerpunkt dieser Arbeit dar. In einer Befragung habe ich die
Problemlagen an Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz untersucht. Dabei ging es mir
auch um die Bestätigung oder Widerlegung meiner Behauptung, dass an diesen Schulen
zunehmend mehr Kinder und Jugendliche aus sozialbenachteiligten Familien lernen, wel-
che im pathologischen Sinne nicht behindert sind und mit entsprechender Förderung
durchaus das Regelschulsystem schaffen könnten. Ich habe aber auch Daten zu den Leh-
rer/innenpersönlichkeiten erhoben, um Aussagen zur Altersstruktur, zur Homogenität be-
züglich des Geschlechtes und den Ausbildungsstände an Schulen für Lernbehinderte in
Chemnitz zu erfassen. Außerdem wurden Aussagen der Lehrer/innen bezüglich der Zu-
kunftschancen lernbehinderter Kinder und Jugendlicher erfasst. Diese Aussagen sollen als
Untermauerung bzw. Widerlegung der Behauptung dienen, dass diese Schüler/innen auf
Grund ihrer geringeren Bildungschancen auch geringere Lebenschancen haben. In zwei
abschließenden Fragen wurden Aussagen zu Wünschen, Visionen und Ideen der Leh-
rer/innen bezüglich lernbehinderter Kinder und Jugendlicher und der Zusammenarbeit mit
anderen Professionen erfasst. Die Ergebnisse der Befragung werden in einem abschließen-
den Abschnitt kommentiert und mögliche Veränderungsperspektiven aufgezeigt.

5
Im vierten und letzten Kapitel der Arbeit, welches gleichzeitig als Schlusswort fungiert,
wird die Vision von einer sozialpädagogisch integrativen Schule dargestellt. Dabei habe ich
mich an Beispielen der skandinavischen Länder sowie an der Integrationspädagogik orien-
tiert. Diese Darstellung wird nicht kommentiert, sondern sie soll für sich sprechen.

6
1
Historische Entwicklung der Sonderschule, speziell der Schule
für Lernbehinderte
1.1 Die Behindertenfürsorge und das Hilfsschulwesen
Bevor ich zur geschichtlichen Entwicklung der eigentlichen Hilfsschule komme, möchte
ich kurz etwas zur Behindertenfürsorge ausführen, denn ich halte es für wichtig, die Ein-
stellung der sozialen Umwelt zu Menschen mit Beeinträchtigungen insgesamt zu betrach-
ten, um die gedankliche Einordnung des Hilfsschulwesens zu erleichtern.
Die Möglichkeit und der Umfang der Beschulbarkeit von Kindern mit Behinderungen hän-
gen grundsätzlich von den Normen und Werten der jeweiligen Gesellschaft und von den
ökonomischen Bedingungen ab. Ausgehend von dem Gedanken christlicher Nächstenliebe
könnte man glauben, dass mit der Verbreitung des Christentums der Voreingenommenheit
gegenüber Behinderungen und der Diskriminierung entgegengewirkt wurde. Tatsächlich ist
jedoch bis heute kein Abbau spürbar. Die Existenz andersartiger Menschen wurde als Stra-
fe Gottes gesehen und führte bis in die heutige Zeit zum Versagen der Gesellschaft gegen-
über den Behinderten. Da den Behinderten die Schuld für ihr Gebrechen selbst zugeschrie-
ben wurde, brauchte die Gesellschaft sich nicht in Toleranz zu üben. Der Drang, Andersar-
tige auszusondern, an den Rand der Gesellschaft zu drängen oder gar zu töten, begleitete
die gesamte Entwicklung und fand nochmals seinen traurigen Höhepunkt in der Zeit des
Nationalsozialismus von 1933 bis 1945, in der ,,erbkranker Nachwuchs" sterilisiert und
massenweise umgebracht wurde. Auch gegen diese Verbrechen gab es keinen nachhaltigen
Widerstand seitens der Heilpädagogen/Heilpädagoginnen, der Hilfsschullehrer/innen und
der Kirchen.
(2)
2 Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 346 ff

7
Vor und Anfang des 17. Jahrhunderts, als die Kinder der unteren Schichten keinen Zugang
zu Bildung hatten, war es gleich recht nicht vorstellbar, dass Kinder mit Behinderungen
beschult wurden. Einer der großen Pädagogen dieser Zeit war Johann Amos Comenius, der
schon zu damaliger Zeit forderte, allen Menschen alles zu lehren. Schon damals ging er
davon aus, dass man, wenn irgendjemand ein Leistungsziel nur mit größter Anstrengung
erreicht, die Ursache nicht in dem menschlichen Geist suchen sollte, sondern dass Mittel,
Wege und Methoden nicht die richtigen waren. Nach Comenius sollte jeder mit den geeig-
neten Methoden jedes Ziel erreichen können.
(3)
Trotz der wegweisenden Worte hatten Co-
menius` Schriften keinen unmittelbaren Einfluss auf die Beschulung von behinderten und
lernbehinderten Kindern.
Erst Ende des 17. Jahrhundert entstanden die ersten Armen- und Waisenhausschulen, da in
dieser Zeit ein Christentum der Taten verbreitet wurde. Auch wenn hier die karitativ-
christliche Behindertenbetreuung ihren Anfang nahm, so war sie doch immer von einer
Erziehung zur Anpassung und Unterordnung in die gesellschaftliche Norm gekennzeichnet.
Bis zum Ende des 18 Jahrhunderts verkündeten fast alle deutschen Staaten die allgemeine
Volksschule und es bestand eine gesetzliche Unterrichtspflicht. Auf Grund der damaligen
ökonomischen und politischen Bedingungen konnte meist nur etwa die Hälfte aller schul-
pflichtigen Kinder dieser Pflicht nachgehen. Das schlug sich auch in der Behindertenpäda-
gogik nieder. So waren die ersten gehandicapten Kinder, die in den Genuss einer Beschu-
lung kamen, Taubstumme und Blinde, die dem Adelsstand und anderen privilegierten
Klassen angehörten.
(4)
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden dann die ersten Vorläufer der Hilfs-
schulbewegung. Die Philanthropisten
(5)
sahen eine Behinderung nicht mehr als Fluch Got-
tes oder Ausdruck der Bösartigkeit des behinderten Kindes, sondern sie erkannten das Kind
als ein Wesen, welches über entwicklungsfähige Anlagen und potenzielle Fähigkeiten ver-
3
Vgl. ebenda und Comenius in der Neubearbeitung von Ahrbeck 1961
4
Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 350
5
Philanthropismus war eine Erziehungsbewegung Ende des 18. Jahrhunderts, die eine natur- und vernunft-
gemäße Erziehung anstrebt.

8
fügt. Der Menschen wurde als ein grundsätzlich gutartiges Wesen gesehen. Für die Institu-
tionalisierung der Förderung, nicht mehr nur der bloßen Betreuung von Armen und Behin-
derten war diese Einstellung zum Menschen unabdingbar.
Weitere Vorläufer der Hilfsschulbewegung waren auch die Industrieschulen
(6)
,die Taub-
stummen- und Blindenschulen, die Schwachsinnigenanstalten und die sogenannten Ret-
tungsanstalten. Besonders in Letzteren wurde verstärkt das Ziel verfolgt, eine Anpassung
an die bürgerlichen Normen zu erreichen.
(7)
Anfang des 19. Jahrhunderts legte Traugott Weise mit der Einrichtung von Nachhilfeklas-
sen
(8)
an der Armenschule in Zeitz den Grundstein für das Hilfsschulwesen. Als einer der
bedeutendsten Vertreter der Pädagogik Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts sah
Johann Heinrich Pestalozzi in der Erziehung das entscheidende Mittel zur Rettung des
Menschen. Dabei wies er besonders darauf hin, dass Erziehung nur durch eigene Kraft er-
folgreich ist. Damit machte er das arme Kind jeweils selbst für die Gestaltung seines Le-
bens verantwortlich. Pestalozzi machte deutlich, dass die harte Wirklichkeit des armen Le-
bens diesen Kindern nicht erspart bliebe. Erziehung hatte nach seiner Auffassung die Auf-
gabe, diese Realität für die Kinder erträglich zu machen, ohne sich damit abzufinden. Pes-
talozzi wird bis in die heutige Zeit als einer der bedeutendsten Vertreter der humanistischen
Pädagogik verehrt, weil er sich für die Ärmsten der Gesellschaft einsetzte. Dennoch hat
sein Bemühen bis heute kaum bildungs- und schulpolitische Konsequenzen eingebracht.
Menschen aus sozialbenachteiligten Schichten und Menschen mit Behinderungen leben
auch heute noch in der Randständigkeit der Gesellschaft und der Pädagogik.
Mitte des 19. Jahrhunderts forderten Karl Ferdinand Kern und Heinrich Ernst Stötzner in
Leipzig, die Errichtung von Schulen für Schwachbefähigte, für Kinder, die in der Volks-
schule hinter den anderen Kindern zurückbleiben. Kern und Stötzner werden als die eigent-
6
Die Industrieschule akzeptierte die Notwendigkeit der Kinderarbeit und machte sie selbst zum Bestandteil
der Schule. Damit sollte die Schulpflicht durchgesetzt werden
7
Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 351 ff
8
Kindern mit Lernschwierigkeiten wurde in diesen Klassen Nachhilfe erteilt. In ähnlicher Form gibt es sol-
che Klassen vor allem in Skandinavien, vereinzelt auch in Deutschland unter dem Begriff der Förderklasse
auch heute noch.

9
lichen Gründer des Hilfsschulwesens bezeichnet. Beide kamen aus der Taubstummen- und
Schwachsinnigenarbeit.
(9)
Stötzner erkannte, dass Kinder, die langsamer lernten, weniger Erfolg hatten und vom Leh-
rer häufiger sanktioniert wurden, das Selbstvertrauen verlieren. Er behauptete, dass diese
Kinder weiter gebracht würden, wenn der Lehrer mehr Zeit für sie aufbringen könnte. So-
mit wurde die Aussonderung dieser Kinder aus der Regelschule zuerst mit dem Ziel be-
gründet, die Kinder vor der Einweisung in die Blödsinnigenanstalt zu schützen, in dem
man ihnen in einem gesonderten Unterricht mit zweckmäßigen Übungen besser gerecht
würde.
Auch wenn man den Vertretern dieser Auffassung durchaus zu Gute halten muss, dass sie
damit versuchten, Verständnis für diese Kinder zu wecken und dass sie das erste Schulkon-
zept entwarfen, dass von kleinen Klassen (max. 15 Kinder), Geduld des Lehrers, Ableh-
nung körperlicher Züchtigung, anschaulichem Unterricht und Einbeziehung der Eltern aus-
ging, so blieben letzten Endes doch die weiteren (von meiner Perspektive aus sehr negati-
ven) Argumente (welche sich bis heute hartnäckig halten), dass durch diese Aussonderung
die allgemeine Schule entlastet werden sollte und dass die schwachbefähigten Kinder zu
brauchbaren, gesellschaftstauglichen Menschen erzogen werden sollten. In gewisser Weise
erscheint der Entlastungswunsch unter den damaligen Umständen (einklassige Volkschule
mit bis zu einhundert Schüler/innen) verständlich. Unverständlich ist für mich jedoch die
Tatsache, dass dieses Grundargument der Aussonderung bis in die heutige Zeit angewendet
wird, ebenso wie das Argument der Erziehung zur Brauchbarkeit. Schon damals benannte
Stötzner einen weiteren kritischen Punkt, der sich bis heute durchsetzt. Er stellte fest, dass
besonders in den ärmsten Schichten der Bevölkerung der Anteil an Schwachsinnigen er-
schreckend hoch war.
(10)
Auch heute ist festzustellen, dass die Kinder in Schulen für Lern-
behinderte größtenteils aus soziokulturell randständigen Gesellschaftsgruppen stammen.
Zusätzlich ist heute erkennbar, dass viele Aussiedler- und Asylbewerberkinder die Schulen
für Lernbehinderte besuchen.
9
Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 351 ff
10
Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 351 ff

10
Die erste namentliche Hilfsschule wurde 1879 in Eberfeld gegründet. Ihr folgten weitere
Gründungen in anderen Städten. Mit der Zunahme der Hilfsschulen verstärkte sich auch die
drastische Abgrenzung zwischen Hilfs- und bürgerlichen Schulen. In der Literatur wird
dabei besonders auf die soziale Kluft zwischen der Eltern- und der Lehrerschaft hingewie-
sen. Die Eltern reagierten mit Hilflosigkeit, Scham, Enttäuschung und Sorge auf die Über-
weisung eines Kindes in die Hilfsschule. Das wurde jedoch von der Gegenseite nur als
falsch verstandene Eitelkeit und Verstocktheit und nicht als Hilferuf interpretiert.
Ein weiterer Kritikpunkt in den Hilfsschulanfängen waren die Auslesepraktiken. Zwar gab
es eine Vorgabe zur Einteilung der Kinder in verschiedene Stufen des Schwachsinns, aber
keine Angaben dazu, wie und nach welchen Kriterien der Grad des Schwachsinns festge-
stellt werden konnte. Auch das setzt sich bis in die heutige Zeit fort, was in den Kapiteln
zur Begriffsbestimmung ,,Lernbehinderung" nochmals ausgeführt wird.
Bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte ein Lehrer namens Louis
Esche, dass es zu wenige Erkenntnisse über den Schwachsinn gab und dass das Zurück-
bleiben vieler Schüler/innen auf das soziale Elend zurückzuführen war. Er kritisierte, dass
Kinder zu Unrecht in die Hilfsschule eingewiesen wurden (auch eine Tatsache die in der
heutigen Praxis noch anzutreffen ist). Esche setzte sich gegen die Einweisung von Kindern
in die Hilfsschule und für eine Rückversetzung von Kindern der Hilfsschule in die Bürger-
schule ein. Für mich macht ihn das zum Helden der Arbeit mit Kindern, die etwas langsa-
mer sind als andere. Aber natürlich war er mit diesem Kampf starker Kritik seitens der
Hilfsschule ausgesetzt, die besonders ihren Weg in die Eigenständigkeit als Schulform ge-
fährdet sah. Das ist auch ein Argument, das bis heute aktuell ist, aber sicherlich von Vertre-
tern heutiger Sonderschulpolitik nicht offen gebraucht wird.
1920 wurde die Grundschule gegründet, was der Verband der Hilfsschulen (gegründet
1898 in Hannover) nutzte, um die Hilfsschule als abgegrenzten Teil der Regelschule und
somit als eigenständigen Teil des Schulsystems darzustellen.
Als weitere wichtige Eckdaten der Hilfsschulentwicklung seien noch folgende benannt:
1922 begann der erste staatliche, heilpädagogische Lehrerausbildungslehrgang in
München. Die Ausbildung dauerte ein Jahr.

11
1931 wurde der erste eigene Lehrstuhl für Heilpädagogik für Europa in Zürich einge-
richtet.
1972 wurde das sonderpädagogische Studium in die Münchner Universität eingeglie-
dert.
Bis 1939 stieg die Zahl der in Hilfsschulen eingeschulten Kinder auf ca. 97000.
(11)
1.2 Sonderpädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus
Die sich durch die gesamte bisherige Geschichte ziehenden Tendenzen, Strukturen und
Handlungen zur Aussonderung und Unterdrückung erfuhren in der Zeit des Nationalsozia-
lismus (unter Beteiligung von Sonderpädagogen/Sonderpädagoginnen) ihre makabere Zu-
spitzung. Da ist es nicht verwunderlich, dass das Thema vom überwiegenden Teil der Son-
derpädagogen/Sonderpädagoginnen bis heute nicht diskutiert, nicht angesprochen und ver-
schwiegen wurde.
Reichmann-Rohr und Weiser führen dazu aus:
,,Gemeint ist das hartnäckige Verleugnen und Verhindern kritischer Bearbeitung einer
historischen Situation, in welcher die Aussonderung ­ unter Beteiligung der Sonderpäda-
gogik ­ brutal, bis hin zur Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher betrieben
wurde. Faschismus war die absolute Absage an jede Hoffnung und an jede Utopie, mit
welcher die Verbesserung der menschlichen und pädagogischen Verhältnisse gedacht wur-
de."
(12)
Und sie werfen die Fragen auf, ob ,,1933 eine im Durchschnitt reformerische und men-
schenfreundliche Entwicklung abrupt abgebrochen" wurde oder ob ,,die machtpolitischen
Maßnahmen gegen behinderte Menschen während der faschistischen Herrschaft die terro-
11
Vgl. Jaumann-Graumann 2000, S. 355 ff, zu dem gesamten Kapitel siehe auch Reichmann-Rohr und Wei-
ser 1996, S. 19 ff
12
zitiert nach Reichmann-Rohr und Weiser 1996, S. 27

12
ristische Zuspitzung bereits vor 1933 vorhandener Absichten und Tendenzen, Denk- und
Handlungsweisen, institutioneller Strukturen usw." waren
(13)
Hilfsschulpädagogen/-pädagoginnen, Verbände und Institutionen haben stets die Ansich-
ten, Grundgedanken und das Bewusstsein der jeweiligen Epoche seit 1870/1871 (Zeitpunkt
der Reichsgründung) bestätigt und verstärkt, so die vereinfachte Entgegnung von Reich-
mann-Rohr und Weiser auf die Fragestellungen. Die Wesensverwandtschaft der deutschen
Hilfsschulpädagogik und des Faschismus bezeichnen die Autoren als das Ergebnis der zu-
vor entwickelten politischen, wissenschaftlichen und berufsbezogenen Standpunkte. Sie
räumen jedoch auch ein, dass die geschichtliche Entwicklung der Sonderpädagogik damit
zwar verwertet wurde, die ,,Revolution von rechts"
(14)
jedoch zur Menschenzerstörung
führte, die eine neue qualitative Stufe darstellte.
(15)
Fakt ist jedoch, dass sich die Sonderpädagogik der damaligen Zeit bei der Umsetzung der
gesetzlichen Bestimmungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligte. Das wurde
zum Beispiel dadurch erhärtet, dass die Hilfsschulen durch das Führen von Personalbögen
und das Anfertigung von Gutachten für die Gerichte an den Sterilisierungsvorgängen betei-
ligt waren. Als bedeutender Teil faschistischer Gesundheitspolitik wurde die erzwungene
Sterilisation von vermeintlich schwachsinnigen Schülerinnen/Schülern der Hilfsschulen
praktiziert. Damit wurde das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aufgehoben. Das
Zuarbeiten zu den ,,rassehygienischen Maßnahmen" wurde als Aufgabe der pädagogischen
Arbeit der Hilfsschulen gleich- und sogar übergeordnet. Die Auflehnung der Fachkräfte in
den sonderpädagogischen Reihen gegen die Unfruchtbarmachung von Menschen geringe-
rer Wertigkeit blieb aus.
(16)
In ihren Grundstrukturen und -funktionen wurde die traditionelle Hilfsschule beibehalten,
jedoch spitzten sie sich auf Grund staatspolitischer Maßnahmen in einer spezifischen Form
zu. Die traditionelle Auslese- und Entlastungsfunktion kam faschistischen Interessen nach
der Beurteilung der Nützlichkeit eines Menschen entgegen. Die Hilfsschule wurde zur Aus-
13
zitiert nach ebenda, S.27
14
zitiert nach ebenda, S 28
15
Vgl. Reichmann-Rohr und Weiser 1996, S. 27 ff
16
Vgl. Reichmann-Rohr und Meiser 1996, S. 27 ff

13
leseinstanz, die nur geringst mögliche Kosten (große Klassen, Schließung von Hilfsschu-
len) verursachen durfte. Der/die Hilfsschüler/in wurde nur noch nach seiner/ihrer Brauch-
barkeit beurteilt. Die Klassen für schwer Schwachsinnige wurden abgeschafft. Nur Schü-
ler/innen, die bildungsfähig und somit auch verwertbar waren, verblieben an den Hilfsschu-
len und entgingen der Euthanasie. Dieser Auslesezwang bezüglich der Bildungsunfähigen
wurde 1937 durch das Referat für negative Schülerauslese und Sonderschulfragen ver-
stärkt. In der Endphase des Nationalsozialismus hatte sich das Hilfsschulwesen gefestigt.
1942 wurden Richtlinien für die Erziehung und den Unterricht in der Hilfsschule erlassen.
Hier wurde unter Berücksichtigung klassischer Hilfsschulmethoden die Institution Hilfs-
schule für ihr Aufgabengebiet im Faschismus beschrieben.
(17)
1.3 Ausbau der Sonderschule nach 1945
Wenngleich man annehmen sollte, dass nach der vorangegangenen erschreckenden Ent-
wicklung der Hilfsschule während der Zeit des Nationalsozialismus eine Veränderung der
klassischen Sonderschulstrukturen, Methoden und wissenschaftlichen Erklärungen folgen
müsste, hat sich die Entwicklung jedoch in klassischer Tradition der Hilfsschulpädagogik
und -didaktik mit wenigen Abänderungen bis in die siebziger Jahre fortgesetzt. Kritik wur-
de unterbunden. 1949 gründete sich in der westlichen Besatzungszone der ,,Verband deut-
scher Hilfsschulen", auf dessen ersten Verbandstag die traditionelle Hilfsschulpädagogik
als sehr positiv hervorgehoben wurde. Gesellschaftliche und kulturelle Ursachen von Lern-
behinderung wurden weiterhin nicht benannt bzw. diskutiert. Der Schwachsinnsbegriff
wurde lediglich durch neue Definitionen und Begriffe ersetzt, welche die in der faschisti-
schen Zeit entstandene Verunglimpfung der Hilfsschüler wieder gut machen sollten. Je-
doch blieb die falsche Auffassung, dass mangelnde Intelligenz oder die Unfähigkeit, in der
Regelschule zu lernen, die wichtigsten Ursachen für die eingeschränkte Entwicklungsfä-
higkeit der Hilfsschüler/innen darstellt. Bis in die sechziger Jahre wurde auf diese Annah-
me die Didaktik und Methodik der Hilfsschule ausgerichtet. In den siebziger Jahren wur-
17
Vgl. Reichmann-Rohr und Meiser 1996, S. 27 ff

14
den die starren Ausleseprozesse und Organisationsstrukturen des Regelschulsystems durch
auf den ersten Blick mildere Formen, z. B. Kurssystem, Abschlussstufung, formaler Schul-
formwechsel abgelöst. Die strukturelle Auslesefunktion der Schule blieb jedoch erhalten,
die Leistungsdimension nahm immer mehr zu. Die Hilfsschule wurde zur Leistungsschule,
in welcher Schwachsinnige oder Idioten nicht geduldet waren. Bezeichnend dafür ist die
gleichlautende Übernahme des diesbezüglichen Paragrafen aus dem Reichspflichtschulge-
setz von 1938.
(18)
Die Entwicklung des Sonderschulwesens von den frühen sechziger bis in
die achtziger Jahre war von Wiedergutmachungsbestrebungen und von Verdrängung der
Vergangenheit geprägt. An den allgemeinen Strukturen der Aussonderungsgeschichte wur-
de jedoch festgehalten.
Das Beurteilungskriterium der Brauchbarkeit verwendete man in den fünfziger und sechzi-
ger Jahren zwar nicht mehr in analogem Wortlaut, aber die wirtschaftliche Rentabilität
stellte zumindest eine ideologische Hilfe für den Ausbau des Sonderschulwesens dar. Die
in Kapitel 3.3.2 noch umfassender beschriebenen Empfehlungen der Kultusministerkonfe-
renz von 1972 zielten auf den Ausbau des Sonderschulwesens, mit dem Hintergrund, die
traditionellen Interessen der Sonderpädagogik fortzuführen. Ihre Legitimation erfahren
Sonderschulen bildungspolitisch weiterhin dadurch, dass ein Teil der Schüler/innen eines
Altersjahrganges durch Lern- und Leistungsbehinderungen im Regelschulsystem nicht oder
nicht ausreichend gefördert werden können.
Der Bereich der Sonderschulen wurde seit den sechziger Jahren enorm ausgeweitet. Von
1960 bis 1973 verdreifachte sich die Zahl der Schüler/innen an Sonderschulen. Der Wider-
spruch zwischen Förderanspruch und Leistungsdruck führte in den Grundschulen zuneh-
mend zu Sonderschulüberweisungen. Zu zunehmender Diskussion und verstärkter Kritik
führte seit den achtziger Jahren der Widerspruch zwischen den öffentlichen Ansprüchen
nach Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle und der Realität mit Schulversagen,
Benachteiligungen, Konkurrenz- und Auslesedruck.
(19)
So ,,wurde die (Sonder-)Schule als
Trägerin grundlegender Sozialisationsvorgänge zum Problem."
(20)
18
Vgl. Reichmann-Rohr und Meiser 1996, S. 29 f
19
Vgl. Reichmann-Rohr und Meiser 1996, S. 29 f
20
zitiert nach Reichmann-Rohr und Meiser 1996, S. 31

15
Betrachtet man die historische Entwicklung im Überblick, lässt sich sagen, dass die Entste-
hung der Hilfsschulen gleichzeitig die institutionelle Verankerung der Aussonderung im
Schulsystem bedeutete. Die Randständigkeit der Schüler/innen wurde (wird) durch die
Sonderschule gefördert. Andererseits war die Hilfsschule an sich auch die öffentliche Kri-
tik an der allgemeinen Volksschule, welche es nicht schaffte oder nicht schaffen wollte, das
Problem des Schulversagens zu lösen.
Die sich verstärkenden Forderungen nach neuen, alternativen Schulkonzepten, nach einer
Schule für alle Kinder, lässt die Schule für Lernbehinderte zunehmend unter Rechtferti-
gungsdruck geraten. Die Daseinsberechtigung der Schule für Lernbehinderte wird immer
mehr in Frage gestellt. Da den Namensänderungen in Förderschule für Lernbehinderte
oder Schule für Lernförderung keine neuen praktischen Konzeptionen folgten, wird auch
das nichts an der Krise ändern. Das 21. Jahrhundert könnte das Ende der Aussonderungs-
schule für ,,Lernbehinderte" und der Beginn einer Schule für alle Kinder sein.
1.4 Die Hilfsschule in der ehemaligen DDR
Das Bildungswesen der DDR, besonders die Frage nach den Werten der pädagogischen
Konzepte war oft Mittelpunkt zahlreicher Diskussionen. Dabei wurden das Sonderschulwe-
sen der DDR und der Umgang mit Behinderten sehr kritisch reflektiert. In den folgenden
Ausführungen wird kurz die geschichtliche Entwicklung des Bildungswesens, insbesondere
des Sonderschulwesens in der DDR dargestellt und anschließend speziell auf die Arbeit der
Schulen für Lernbehinderte in der DDR eingegangen. Diese Darstellung der historischen
Entwicklung der Hilfsschule in der DDR ist etwas ausführlicher gefasst, da die Leh-
rer/innen, welche ich in der später folgenden Befragung konsultierte, an dieser Entwick-
lung teil hatten und somit natürlich durch diese Entwicklung geprägt wurden.
Zwei Monate nach Beendigung des II. Weltkrieges leitete mann erste Maßnahmen zur
schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen auf dem Gebiet der sowjetischen Be-

16
satzungszone ein. Noch 1945 wurde die ,,Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung"
gegründet und am 1.Oktober desselben Jahres der Unterricht wieder aufgenommen. Das
gesamte Schulwesen, die Bildungsinhalte und die Lehrerschaft sollten entnazifiziert wer-
den. Dadurch entstand ein gewaltiger Bedarf an neuen Lehrern und Lehrerinnen, was für
die Sonderschulen ebenso zutraf. Es fehlte an Lehrern mit Sonderschulbefähigung und -
erfahrungen. Im ,,Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" von 1946 wurde eine
humanistische Bildung für alle Bürger angestrebt. Dieses Gesetz regelte gleichzeitig aber
auch die Abschaffung aller Privatschulen und legte somit das Monopol der Bildung in al-
leinige staatliche Obhut. Es entstand die achtjährige Einheitsschule. In diesem Gesetz wur-
de auch die Leitung und Aufsicht der Sonderschulen geregelt, welche das Volksbildung-
samt ausübte. Von 1947 bis 1949 wurde das Institut für Sonderschulwesen und die Ausbil-
dung von Sonderschullehrer/innen an der Humboldt-Universität zu Berlin installiert.
(21)
Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 löste das ,,Ministerium für Volksbildung
der DDR" die ,,Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung" ab und in der Verfassung
schrieb die Regierung ein Recht auf gleiche Bildung und Erziehung für alle Kinder und
Jugendlichen fest. Zu diesem Zeitpunkt war das Sonderschulwesen immer noch von großen
Schwierigkeiten geprägt. Da es zu wenige Sonderschuleinrichtungen gab und behinderte
Kinder nicht in den Regelschulen unterrichtet werden durften, wurde ein Großteil behinder-
ter Kinder und Jugendlicher nicht oder unzureichend beschult. Mit dem ,,Schulpflichtge-
setz" von 1950 wurde die Verantwortung des Staates für die Bildung und Erziehung der
Kinder und Jugendlichen geregelt, was bedeutete, dass auch behinderte Kinder und Jugend-
liche in staatlichen Schule unterrichtet werden sollten. 1951 erließ das ,,Ministerium für
Volksbildung" die ,,Verordnung über die Beschulung und Erziehung von Kindern und Ju-
gendlichen mit wesentlichen physischen oder psychischen Mängeln". In dieser Verordnung
wurde festgelegt, dass Schüler/innen, die eine so starke Behinderung hatten, dass sie im
Normalunterricht nicht genügend gefördert werden konnten, in Sonderschulen zu bilden
und zu erziehen waren.
(22)
Diese Festlegung erinnert sehr an die Aussonderungskriterien
für Kinder und Jugendliche mit Handicaps, welche bis heute in Deutschland Bestand ha-
21
Vgl. Ränke, 2001 (Internetrecherche), S. 1 f
22
Vgl. Ränke, 2001 (Internetrecherche), S. 3

17
ben. Daher ist sie ebenso kritisch zu betrachten, insbesondere da sie von einer enormen
Allgemeingültigkeit geprägt ist.
1952 wurde mit der ,,Anordnung über den organisatorischen Aufbau des Sonderschulwe-
sens" die Struktur desselben organisatorisch und inhaltlich bestimmt. Es entstanden neun
Sonderschularten. Die Schule für Lernbehinderte wurde Hilfsschule genannt. 1954 erfolgte
die ,,Anordnung zur Meldung von Körperbehinderungen, geistigen Störungen, Schädigun-
gen des Seh- und Hörvermögens", welche Eltern, Pädagogen/Pädagoginnen und Mediziner
verpflichtete, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mit einer entsprechenden Behinde-
rung den Abteilungen des Gesundheitswesens zu melden. Diese staatlich verordnete Früh-
erfassung mit dem Ziel der Frühförderung kann aus heutiger Sicht nur sehr kritisch
betrachtet werden. Einerseits bot diese zeitige Erfassung die Chance der rechtzeitigen
Förderung und Einflussnahme und somit einer Vermeidung von unzureichender Förderung
durch die Eltern (wie es heute oft beschrieben wird). Andererseits, und das betrachte ich
äußerst negativ, wurde den Eltern der Zwang auferlegt, ihr Kind in einer staatlichen
Einrichtung fördern zu lassen, unabhängig davon, ob sie es wollten oder nicht. Das kam
einer teilweisen Entmündigung der Eltern gleich.
(23)
Aus der Sicht der heutigen
Lehrer/innen an Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz ist das Wegfallen dieser
Früherfassung aus verständlichen Gründen ein entscheidender Faktor für den Wandel der
Schüler/innenklientiel an diesen Schulen.
In Sonderschulen galten die gleichen Stundentafeln wie an den allgemeinbildenden Schu-
len. Sie sollten sich an deren Lehrplänen orientieren, welche von fachlich und staatspoli-
tisch qualifizierten Lehrer/innen vermittelt wurden. Trotzdem wurde die Rückführung von
Hilfsschülern/-schülerinnen in die Regelschule in der DDR abgelehnt.
(24)
1959 ersetzte das
,,Gesetz zur sozialistischen Entwicklung des Schulwesens der DDR" die ,,Verordnung zur
Demokratisierung der Schule" und schrieb die Einführung der zehnklassigen polytechni-
23
Dazu ist anzumerken, dass das gesamte (Bildungs-)System der DDR durch diese ,,heimlichen" Zwänge
gekennzeichnet war. Beispiele für die Verordnung von staatlicher Seite waren die stark ideologisierte Erzie-
hung der Kinder und Jugendlichen in Pionier- und FDJ-Organisation und die enorme ideologisierte Ausrich-
tung der Unterrichtinhalte.
24
Da jedoch die heutige Rückführungsquote bundesweit sehr niedrig ist, kann das keine Begründung für die
wenigen Rückführungen in Chemnitz sein.

18
schen Oberschule vor. Das galt auch für die Sonderschulen. Diese Anordnung stieß beson-
ders in den Sonderschulen auf Widerstand, da es an den nötigen materiellen und personel-
len Ausstattungen und geeigneten Unterrichtsformen an diesen Schulen fehlte.
1965 wurde durch die ,,Staatliche Kommission zur Gestaltung des einheitlichen sozialisti-
schen Bildungssystems" das ,,Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem"
verabschiedet, welches bis 1990 galt und die allseitige und umfassende Bildung des gesam-
ten Volkes zum Ziel hatte. Oberstes Bildungsziel war dabei die Entwicklung von allseitig
gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten. Das betonte noch einmal verstärkt die starke
ideologische Ausrichtung der DDR-Schulen. Das Sonderschulwesen verstand man als in-
tegrierter Bestandteil des gesamten Volksbildungswesens, was in § 19 des oben genannten
Gesetzes festgeschrieben wurde. Der gleiche Paragraf führte die verschiedenen Kategorien
von Behinderungen der zu betreuenden Menschen auf.
(25)
In den Hilfsschulen der DDR unterrichteten die Lehrer/innen die Schüler/innen in den so-
genannten Abteilungen I und II. In Abteilung I wurden Kinder aufgenommen, die einen
leichten Grad an Lernbehinderung aufwiesen und in Abteilung II wurden Kinder mit einer
schweren Lernbehinderung betreut und unterrichtet. Aus Sicht der Lehrer/innen war das
von Vorteil, da man in Abteilung II mit nur sehr kleine Klassen arbeiten und somit sehr
individuell auf die einzelnen Schüler/innen eingegangen werden konnte. In den Klassen der
Abteilung I musste man sich nicht auf besonders schwache Kinder konzentrieren und konn-
te ebenfalls individueller mit den Kindern arbeiten. Die ,,bildungsunfähigen" Schwachsin-
nigen wurden in der ehemaligen DDR ähnlich wie im westlichen Teil Deutschlands aus
den Hilfsschulen ferngehalten und in Pflegeanstalten abgeschoben.
(26)
Im Verfahren der Diagnostik bezüglich Lernbehinderungen in der DDR sehe ich einen wei-
teren entscheidenden Faktor für die Zunahme von Kindern und Jugendlichen aus sozialbe-
nachteiligten und unterprivilegierten Familien in Schulen für Lernbehinderte. (Das war
25
Vgl. Ränke, 2001 (Internetrecherche), S. 5 ff
26
Bei diesen Ausführungen beziehe ich mich auf den Inhalt eines Gespräches mit einer Chemnitzer Schullei-
tung einer Schule für Lernbehinderte (Wahrung der Anonymität). In der Literatur fand ich diesbezüglich
keine Aussagen.

19
auch eine Kernaussage der noch folgenden Befragung.) Daher werde ich an dieser Stelle
kurz darauf eingehen.
Das Diagnoseverfahren in der damaligen DDR führten Pädagogen/Pädagoginnen, Ärz-
ten/Ärztinnen und Psychologen/Psychologinnen durch. Nur wenn alle drei Gutachten eine
Lernbehinderung diagnostizierten, wurde das Kind in die Hilfsschule ein- bzw. umge-
schult. Es musste eine nachgewiesene Hirnschädigung vorliegen. Heute kann ebenfalls die
Begutachtung und Diagnose von allen drei Professionen durchgeführt werden, aber das
muss nicht so sein und wird auch eher weniger so gehandhabt.
(27)
Die Diagnoseleh-
rer/innen der Förderschulen für Lernbehinderte begutachten die Kinder, die meist von den
Grundschulen an die Förderschulen überwiesen werden. Da es nicht mehr zwingend erfor-
derlich ist, durch Mediziner eine Hirnschädigung nachzuweisen, werden auch zunehmend
Schüler/innen aus sozialbenachteiligten und unterprivilegierten Familien in die Sonder-
schulen aufgenommen, denen es oft nur an der notwendigen frühkindlichen Förderung
fehlte, welche aber keine Lernbehinderung im Sinne eines krankhaften Handicaps haben.
Bei dieser Verfahrensweise sollte man besonders auf die Befindlichkeiten der jeweiligen
Schule achten. Einerseits werden nicht selten Kinder von den Grundschulen zu spät an die
Förderschulen für Lernbehinderte gemeldet, da vielleicht dieses eine Kind notwendig war,
um die Klasse vor dem Aufteilen zu bewahren. Somit ist auch Lehrerpersonal an der jewei-
ligen Grundschule persönlich betroffen (eine Klassenschließung kann die Versetzung oder
gar Entlassung eines Lehrers / einer Lehrerin nach sich ziehen). Andererseits kann man
diese Annahme auch für die aufnehmenden Förderschulen aufstellen, denen eventuell
Schüler/innen zur Bildung neuer Klassen fehlen. Die Erfassung in der Grundschule und die
Diagnostik in der Förderschule für Lernbehinderte kann also stark von persönlichen Be-
findlichkeiten der Pädagogen/Pädagoginnen beeinflusst werden.
Ebenfalls von besonderer Bedeutung für die Hilfsschulen der DDR war die Frühförderung
und Früherfassung in den Vorschuleinrichtungen, welche ebenfalls der Abteilung Volks-
bildung der DDR unterstellt waren. Hier wurden beeinträchtigte Kinder entsprechend den
gesetzlichen Vorgaben frühzeitig erkannt und entsprechende gefördert. (Die Vor- und
Nachteile dieser zwanghaften Förderverordnung habe ich oben bereits dargelegt.) Somit
27
Informationen ebenfalls aus oben genannten Gespräch

20
konnten sozialbedingte Beeinträchtigungen (welche offiziell nicht existierten) zum Teil
schon vor der Einschulung abgebaut werden. Das politische Ansehen der DDR spielte na-
türlich eine entscheidende Rolle, wenn es darum ging, Kinder mit Beeinträchtigungen zu
beschulen. Nach Außen wurden stets nur die allseitig gebildeten sozialistischen Kinderper-
sönlichkeiten gezeigt, wogegen man Kinder mit Beeinträchtigungen gern verschwieg. Das
spiegelte sich auch im allgemeinen Ansehen der Hilfsschulen wider. Sie waren, wie bereits
erwähnt, materiell und anfangs auch personell am schlechtesten von allen Schulen ausges-
tattet und agierten stets im Schatten der allgemeinen Schulen.
Dieses Negativimage der Hilfsschulen, besonders deren Schattendasein zeigte sich auch in
den beruflichen Perspektiven der Schüler/innen von Hilfsschulen. War es z. B. für körper-
behinderte Kinder und Jugendliche durchaus möglich, einen allgemein anerkannten Fach-
arbeiterabschluss oder gar Abitur mit anschließendem Studium zu erreichen, so standen für
die Absolventen/Absolventinnen der Hilfsschulen lediglich Teilfacharbeiterabschlüsse oder
Hilfsarbeitertätigkeiten zur Verfügung. Diesbezüglich hat sich seit 1990 eine positive Ent-
wicklung vollzogen. Sicherlich sind die Chancen lernbehinderter Jugendlicher auf dem
Arbeitsmarkt auch heute eher eingeschränkt, aber sie sind es nicht mehr durch staatliche
Vorgaben, sondern auf Grund der allgemeinen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Generell
haben Absolventen/Absolventinnen von Förderschulen für Lernbehinderte heute jedoch die
Möglichkeit, gleichwertige Berufsabschlüsse zu erlangen wie Absolventen/Absolventinnen
von Regelschulen.
Abschließen möchte ich diesen Exkurs durch die Geschichte der DDR-Hilfsschule mit ei-
nigen persönlichen Betrachtungsweisen. Die Entwicklung der Hilfsschulen der DDR war,
wie das gesamte Bildungswesen der DDR, von einer starken ideologischen Ausrichtung
gekennzeichnet. Die erzwungene Förderung von Kindern mit Beeinträchtigungen, die
Randständigkeit der Hilfsschulen im gesamten Bildungswesen und die Vorgabe der beruf-
lichen Ausgrenzung von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen lehne ich zutiefst ab.
Dennoch gab es einige Ansätze, welche man näher überdenken sollte. So waren für das
Diagnoseverfahren eindeutige Kriterien (Hirnschädigung) für die Bestimmung einer Lern-
behinderung festgelegt und es musste durch Ärzte, Psychologen und Pädagogen durchge-
führt werden. Die Frühförderung und Früherfassung von beeinträchtigten Kindern, so nega-
tiv die Verordnung für die Eltern auch war, ermöglichte eine rechtzeitige Einflussnahme

21
auf Verzögerungen und Mängel in der kindlichen Entwicklung. Sicherlich gilt es auch,
diese positiven Ansätze kritisch zu hinterfragen, besonders bezüglich der politischen und
ideologischen Beweggründe.

22
2
Begriff, Ursachen und Hintergründe von Lernbehinderung
Im Allgemeinen wird Lernbehinderung auch heute noch als eine Krankheit, eine Behinde-
rung angesehen, was nochmals dadurch untermauert wird, dass eine Lernbehinderung über
ein Diagnoseverfahren (Begrifflichkeit, die man schnell mit Medizin verbindet) erfasst
wird. Für diesen Ansatz wird davon ausgegangen, dass die Ursachen einer Lernbehinde-
rung personenintern sind. In der Praxis kann man aber beobachten, dass der überwiegende
Teil der Schüler/innen an Lernbehindertenschulen aus sozialbenachteiligten und unterprivi-
legierten Familien kommt. Die Eltern dieser Kinder waren bzw. sind oft auf Grund ihrer
eigenen eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten nur begrenzt in der Lage, ihre Kinder aus-
reichend zu fördern und auf die Anforderungen der Schule vorzubereiten. Wiederholtes
Versagen in den ersten Schuljahren führt bei diesen Kindern meist zu einem verstärkten
Abbau des Selbstwertes und der Motivation. Letztendlich werden sie durch die Regelschu-
le, deren Leistungsrastern diese Kinder nicht gerecht werden, an die Sonderschule überwie-
sen. Für den überwiegenden Teil der heutigen Schüler/innen an Schulen für Lernbehinderte
kann man also sagen, dass die Ursachen, die zur negativen Selektion aus der Regelschule in
die Sonderschule geführt haben, vorwiegend außerhalb der Person liegen. Ein Wider-
spruch, den Louis Esche ( Kapitel 2.1) bereits Ende des 19. Jahrhunderts kritisierte. Diese
Widersprüchlichkeit setzt sich in den Definitionsansätzen von Lernbehinderung fort, auf
welche ich im Folgenden näher eingehe.
2.1 Begriffsdefinition in der wissenschaftlichen Sonderpädagogik
In der Sonderpädagogik unterscheiden sich Begriffsdefinitionen mitunter sehr. So werden
nicht nur gleiche Begriffe für verschiedene Sachverhalte, sondern auch für gleiche Sach-
verhalte verschiedene Begriffe verwendet. Das deutet darauf hin, dass sich die Begriffsbil-
dung in der Sonderpädagogik noch in der Entwicklung befindet. Es liegt derzeit keine ge-
naue und einheitliche Beschreibung zum Begriff ,,Lernbehinderung" vor, obwohl mit dem

23
Begriff in der sonderpädagogischen Theorie und Praxis ständig gearbeitet wird. Hans E-
berwein benennt als ein charakteristisches Merkmal, als eine definierbare Eigenschaft von
als lernbehindert eingestuften Kindern, die Beeinträchtigung ihres Lernvermögens. Durch
dieses Merkmal sollen sie sich hauptsächlich von nichtbehinderten und andersbehinderten
Kindern unterscheiden. Eberwein stellt jedoch im Gegensatz dazu auch fest, dass es unter-
schiedliche Definitionen und Interpretationen der Begriffe Lernen, Begabung, Lernfähig-
keit und Intelligenz gibt. Er bestätigt außerdem erneut die Feststellung, dass in Förderschu-
len für Lernbehinderte zunehmend mehr Kinder aufgenommen werden, deren Schulversa-
gen nicht auf eine krankheitsbedingte Lernbehinderung, sondern auf ihre Herkunft aus so-
zialbenachteiligten Familien und der sich daraus ergebenden mangelnden elterlichen För-
derung sowie den sonstigen Schwierigkeiten dieser Randgruppen zurückzuführen ist. An-
dererseits benennt er auch das umgekehrte Phänomen, dass lernbehinderte Schüler/innen
auf Grund fehlender Sonderschulen in den Regelschulen unterrichtet werden. Weitere Ge-
genargumente zur Unterscheidung von Lernbehinderten auf Grund obenbenannten Defini-
tionsmerkmals sind laut Eberwein,
dass auf Grund von Vereinfachungsbestrebungen und dem ,,Es-sich-leichter-
machen-wollen" Schüler als lernbehindert bezeichnet werden, die mit ungewohnten
Schwierigkeiten in ihren Lernbemühungen nur schwer umgehen können (Abschie-
bung langsamerer Schüler/innen) und
dass auch anders behinderte Kinder, z. B. geistig oder körperlich behinderte Kinder
in ihrem Lernen beeinträchtigt sind und Lernbehinderung somit auch als Oberbeg-
riff für andere Behindertenbereiche angewendet werden kann.
(28)
Schon mit Rückblick auf die Geschichte der heutigen Schulen für Lernbehinderte wird
deutlich, dass die Begriffsbildung stets defizitorientiert, als Schule für Schwachsinnige,
Schwachbefähigte, Erziehungs- und Bildungsschwache- bzw. -unfähige angesetzt war und
zum Teil auch noch ist.
Nach Benkmann
(29)
ist beim größten Teil der lernbehinderten Kinder und Jugendlichen ein
verzögerter Lernprozess festzustellen. Es liegt eine langfristige Störung des Lernens vor.
28
Vgl. Eberwein 1996, S. 40 ff

24
Kanter
(30)
hält dagegen, dass es eine allgemeine Lernfähigkeit von Menschen gar nicht gibt
und dass es demzufolge auch keinen Mangel an Lernfähigkeit, wie sie in Bezug auf eine
Lernbehinderung verstanden wird, geben kann. Er geht vielmehr davon aus, dass das
betreffende Kind Schwierigkeiten bei der Bewältigung spezifischer Aufgaben hat, was sich
bereichsspezifisch allerdings häufen kann. Wie verworren die Begriffsfindung in punkto
,,Lernbehinderung" ist, zeigt das folgende Zitat, welches ebenfalls von Kanter (einige Sei-
ten vor der oben aufgegriffenen Behauptung) stammt. Danach muss man davon ausgehen,
dass letztlich eine Lernbehinderung vorliegt, wenn ,,die schwerwiegende, umfänglich und
langdauernde Beeinträchtigung der Lernprozesse und des Lernaufbaues eines Men-
schen"
(31)
vorliegt. Die Begriffe schwerwiegend, umfänglich und langandauernd stellen
dabei nur sehr ungenaue Beurteilungskriterien dar, da es kein diagnostisches Mittel zu de-
ren verbindlichen Messung gibt und keine einheitlichen Beurteilungskriterien festgeschrie-
ben sind.
In den Anfängen der Lernbehindertenpädagogik zwischen 1955 und 1965 wurde Lernbe-
hindertenpädagogik als Pädagogik für Kinder mit Schulleistungsschwächen verstanden.
Mit dem ,,Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" (Dieses stand mir leider als
Literaturquelle nicht zur Verfügung. Ich beziehe mich auf die diesbezüglichen Aussagen
von Kanter 1977.) wurde seit der Zeit des Nationalsozialismus das erste Konzept bildungs-
polischer Art für die Sonderpädagogik herausgegeben. Damit wurde eine Definition lern-
behinderter Kinder vorgelegt, welche durch die Definitionsmerkmale geistige und seelische
Schwachbegabung und Schwäche und Schulversagen in Grund- und Hauptschule gekenn-
zeichnet war. Außerdem sollten normalbefähigte Schüler/innen durch die Herausnahme der
leistungsschwachen Schüler/innen entlastet werden.
(32)
Diese Faktoren werden bis heute
bei der Entscheidung über eine Sonderschuleinweisung berücksichtigt.
Die Unterscheidung zwischen Lernbehinderung und Lernstörung erweist sich als weiteres
Problem. So wird die ,,Störung" mit Begriffen wie ,,vorübergehend, behebbar und be-
grenzt" bestimmt. Jedoch fällt es auch hier schwer, die Genauigkeit nachzuvollziehen, denn
29
Vgl. Benkmann 1998, S 52 ff
30
Vgl. Kanter 1977, S. 47
31
zitiert nach ebenda, S. 35
32
Vgl. ebenda, S. 27, aber auch Eberwein 1996, S. 43

25
es gibt auch dafür keine einheitlichen Festlegungen oder diagnostische Mittel der eindeuti-
gen und objektiven Bestimmung. Nach Eberwein finden sich vor Allem sozial und kulturell
Benachteiligte unter den Kindern mit Lernstörungen wieder.
(33)
Da ergibt sich erneut die
Frage, wieso zunehmend sicherlich nur lernschwache und keinesfalls lernbehinderte Kin-
der und Jugendliche aus sozial und kulturell benachteiligten Familien (der überwiegende
Teil der Aussiedlerkinder wird durch die Sprachproblematik in die Lernbehindertenschule
überwiesen) ihre Schullaufbahn in der chancenvermindernden Schule für Lernbehinderte
absolvieren. Die bisher dargestellte Systematik der Begriffsfindung erweist sich als viel zu
unkonkret, schwammig und nur minimal handhabbar. Danach ist eigentlich nicht beurteil-
bar, ob ein Kind lerngestört, lernbehindert, milieugeschädigt und/oder falsch erzogen ist.
Als weiteren Vertreter benennt Eberwein Ulrich Bleidick, welcher Lernbehinderung an-
fänglich als Intelligenzschwäche mit einem Intelligenzquotienten unter 90 definiert. Dabei
geht er davon aus, dass solch eine Begabungsschwäche angeboren ist und andere externe
Bedingungen, wie z. B. zu wenig Förderung im Elterhaus, zu hoher Leistungsdruck, man-
gelndes, nicht leistungsförderndes Umfeld in Elternhaus und Schule die Schwäche ledig-
lich verstärken und stabilisieren können. Später räumt er jedoch ein, dass die Intelligenz-
schwäche nicht nur genetisch bedingt ist. Er zieht die Möglichkeit in Betracht, dass solch
eine Schwäche eventuell auch das Ergebnis sozialer und kultureller Benachteiligungen sein
kann.
(34)
Auch bei Kanter finden sich biologische aber auch soziokulturelle Bedingungen als Ursa-
chen für die Lernbehinderung. Und er widerspricht seiner Definition, wie oben bereits fest-
gestellt, indem er einräumt, dass sich die Rückstände und Defizite im Lernen nicht auf das
gesamte Lernen, sondern nur bezogen auf spezielle Aufgaben und Aufgabenbereiche und
unter bestimmten Lebensbedingungen bezieht. Diese Entwicklung der Definitionen Kan-
ters wird auch bei Eberwein deutlich, besonders in Bezug auf die Wichtigkeit des Intelli-
genzquotienten bei der Beurteilung der Lernbehinderung. Gibt Kanter anfänglich eine ver-
minderte Intelligenzleistung als Leitmerkmal der Lernbehinderung an, so beschreibt er sie
später weder als die Lernbehinderung selbst noch als Ursache einer solchen. Er sieht einen
33
Vgl. Eberwein 1996, S. 43
34
Vgl. Eberwein 1996, S. 45, aber auch Bleidick 1968, S 457

26
geringen Intelligenzquotienten dann lediglich noch als wesentliches und sicheres Indiz ei-
ner Lernbeeinträchtigung an.
(35)
Kanter räumt damit auch ein, dass die Anwendung des
Intelligenzquotienten als objektives Auslesekriterium nicht mehr haltbar sei. Ein Umdenk-
prozess von der Auslese zur Förderdiagnostik fand statt, fand jedoch in der Praxis kaum
Anwendung.
Kanter bezeichnet Lernbehinderung heute als individuell unterschiedliches und komplexes
Phänomen, als mobiles Geschehen. Er räumt ein, dass Lernbehinderung viele Perspektiven
hat und kommt damit dem ,,multifaktoriellen" Modell von Bleidick nahe.
(36)
Die Definitionsversuche der wissenschaftlichen Sonderpädagogik bestätigen um so mehr
die Anfangsaussage, dass der Prozess der Begriffsbildung in der Sonderpädagogik noch
nicht abgeschlossen ist. Es gibt derzeit von dieser Seite zu viele verschiedene und nur sehr
begrenzt in der Praxis handhabbare Definitionen von Lernbehinderung. Das ist für mich
eine mögliche Erklärung dafür, warum in Schulen für Lernbehinderte so viele Kinder ler-
nen, welche augenscheinlich zwar Schwierigkeiten im Lernen haben, jedoch keineswegs
als behindert im pathologischen Sinne eingestuft werden können. Somit sollten von wis-
senschaftlicher Seite dringendst einheitliche, verbindliche und im diagnostischen Verfahren
nachprüfbare Kriterien für die Einschulung von Kindern in Lernbehindertenschulen für die
Praxis entwickelt werden und/oder ernsthaft über die Sinnhaftigkeit der Aussonderung von
Kindern mit Beeinträchtigungen nachgedacht und diskutiert werden. Die Daseinsberechti-
gung von Schulen für Lernbehinderte sehe ich durch die fehlenden bzw. mangelhaften De-
finitionen und Kriterien bezüglich Lernbehinderung stark in Frage gestellt.
35
Vgl. dazu sowohl Eberwein 1996, S.46, aber auch Kanter 1977, S 55
36
Vgl. ebenda und auch Bleidick 1968, S. 457 ff, zu der gesamte Problematik der Begriffsdefinition siehe
auch Walther Timm unter www.bido.unik.ac.at

27
2.2 Begriffsdefinition der Kultusministerkonferenz und des Deutschen
Bildungsrates
In ihrer Empfehlung für den Unterricht in den Schulen für Lernbehinderte (Sonderschule)
bestimmte die Kultusministerkonferenz 1977 eine Lernbehinderung als eine umfangreiche
und langanhaltende Lernbeeinträchtigung, als deutliches Abweichen von den altersgerech-
ten Leistungs- und Verhaltensnormen. Diesen Abweichungen kann trotz spezieller Lernhil-
feangebote gar nicht oder nur unzureichend entgegengewirkt werden. Die Kultusminister-
konferenz gibt als Kennzeichen für eine Lernbehinderung eine deutlich herabgesetzte Lern-
leistung, verbunden mit einer deutlich verminderten Intelligenz an.
(37)
Die Begriffsbe-
stimmung ,,Lernbehinderung" der Kultusministerkonferenz ist somit stark an Aussagen von
Gustav Otto Kanter angelehnt, (welche in sich sehr widersprüchlich waren) und daher e-
benso kaum von messbaren Vergleichskriterien geprägt. Besonders die noch zusätzlich
einbezogene Beurteilung des Sozialverhaltens, als Abweichen von den altersgerechten
Verhaltensnormen bezeichnet, sehe ich äußerst bedenklich, da hier der Begriff der Lernbe-
hinderung und nicht abweichendes soziales Verhalten definiert werden sollte. Außerdem
legt die Kultusministerkonferenz damit noch eine weitere defizitorisch begründete Beg-
riffsdefinition vor. Mit dem Bestimmungsmerkmal des Intelligenzrückstandes wird die
Schule für Lernbehinderte damit wieder zur staatlichen Aussonderungsanstalt für schwach-
begabte Kinder und Jugendliche.
Eberwein sieht die Terminologie des Intelligenzrückstandes im Gegensatz zum Intelli-
genzmangel auch von einer positiven Seite, welcher ich mich bedingt anschließen kann.
Der Begriff der Rückständigkeit birgt seiner Meinung nach die Chance des Wiederaufho-
lens, des Ausgleichens und/oder Beseitigens. Die Kultusministerkonferenz bestimmt Lern-
behinderung als ein derzeitiges Leistungs- und Verhaltensbild. Sie räumt damit ebenfalls
die Möglichkeit ein, dass dieses Erscheinungsbild sonderpädagogisch verändert werden
37
Vgl. Kultusministerkonferenz von 1977

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832453169
ISBN (Paperback)
9783838653167
DOI
10.3239/9783832453169
Dateigröße
5.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Mittweida (FH) – unbekannt
Erscheinungsdatum
2002 (April)
Note
1,0
Schlagworte
förderschule lernbehinderung stigmatisierung benachteiligung hilfsschulen
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Titel: Problemlagen von Schulen für Lernbehinderte in Chemnitz im Jahr 2001
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