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Einsam in der Menge

Die Selbstreflexion des Schriftstellers in den Nachkriegsromanen von Wolfgang Koeppen

©2002 Magisterarbeit 120 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Koeppen gehört offenbar zu jenen Schriftstellern, deren Berühmtheit die Bekanntheit und erst recht die Beliebtheit bei weitem übersteigt“, schrieb Dietrich Erlach 1973 in seiner Dissertation und beklagte damit den bis dato spärlichen Bestand an Sekundärliteratur. Anders formuliert: Koeppen gehört offenbar zu jenen Schriftstellern, deren literarische und stilistische Fähigkeiten in gleichem Maße gepriesen werden, wie ihr Werk nicht gelesen wird. Noch kürzer: Wolfgang Koeppen ist ein Geheimtipp. Das galt und gilt 1951 wie 1973 wie 2002.
Die Koeppen-Forschung hingegen, die abseits des breiten Lesepublikums wirkt, ist in Bewegung wie lange nicht mehr. War Koeppen zuletzt 1992 positiv durch die Entdeckung seiner Autorschaft an dem Buch „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ und dann 1999 negativ durch die Infragestellung eben dieser Autorschaft in die Schlagzeilen der Feuilletons geraten, ist er nun wieder in den abgeschirmten Schoß der Literaturwissenschaft zurückgesunken. Im Herbst 2001 hat Jörg Döring eine bemerkenswerte und umfassende Arbeit über Koeppens Schaffen zwischen 1933 und 1948 vorgelegt, in der ein ausführliches Kapitel dem Littner-Mysterium gewidmet ist. Döring hat überdies genau den Zeitraum erforscht, den Wolfgang Koeppen zeit seines Lebens als „großen Roman“ aufarbeiten wollte, aber nicht zu schreiben vermochte.
Seit 1995 haben drei internationale Wolfgang-Koeppen-Kongresse stattgefunden, die jeweils umfangreiche Buchpublikationen mit neuesten Forschungsergebnissen nach sich zogen. Am 1. Juli 2000 wurde die Internationale Wolfgang-Koeppen-Gesellschaft e.V. Greifswald/München gegründet. Und schließlich riefen Günter Grass und Peter Rühmkorf die Wolfgang-Koeppen-Stiftung ins Leben, die unter anderem den 2001 begonnenen Wiederaufbau des Koeppenschen Geburtshauses als „Literaturhaus Vorpommern“ in Greifswald finanzieren helfen will.
Im Juni 2001 ist „Das Treibhaus“ erstmals von Michael Hofmann ins Englische übersetzt worden, so dass Wolfgang Koeppen mit seiner Sicht auf das Bonn der Nachkriegs-Restauration nun auch in den Vereinigten Staaten auf Interesse stößt – immerhin mit einem Roman, der 1953 geschrieben wurde. Gleich, ob die deutsche Hauptstadt Bonn oder Berlin heißt: Nach rund 50 Jahren scheint Koeppen nach wie vor (oder wieder) aktuell zu sein.
Dafür, dass das Interesse an ihm nicht erlischt, hat Wolfgang Koeppen selbst gesorgt. Dem mythenverliebten Schriftsteller gelang es in zahllosen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5313
Veit, Lothar: Einsam in der Menge: Die Selbstreflexion des Schriftstellers in den
Nachkriegsromanen von Wolfgang Koeppen / Lothar Veit - Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Hannover, Universität, Magister, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

1
,,Ich bin ein Zuschauer, ein stiller Wahrnehmer,
ein Schweiger, ein Beobachter, ich scheue die Menge nicht,
aber ich genieße gern die Einsamkeit in der Menge."
Wolfgang Koeppen

2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ... 4
1. Tauben im Gras ... 8
1.1. Zeitgenössische Rezeption...8
1.2. Der erste Auftritt des Protagonisten: Philipp...12
1.3. Der Schriftsteller als Beobachter ...13
1.4. Schreibprobleme ...14
1.5. Manipulation der Sprache durch Technik...16
1.6. Der Intellektuelle im Literaturbetrieb ...21
1.7. Beruf und Berufung ...22
1.8. Journalisten als Auguren der Moderne ...30
1.9. Der Schriftsteller als Anwalt der Unterdrückten ...32
1.10. Mr. Edwins Vortrag ...34
1.11. Der Schluss ...39
2. Das Treibhaus ... 40
2.1. Zeitgenössische Rezeption...40
2.2. Der erste Auftritt des Protagonisten: Keetenheuve ...45
2.3. Gegenposition zum bürgerlichen Lebensentwurf...48
2.4. Mythologische Verweise ...51
2.5. Manipulation der Politik durch Technik...54
2.6. Der Schriftsteller als Revolutionär ...59
2.7. Journalisten als Instrumente der Macht ...61
2.8. Der Dichter Keetenheuve ...65
2.9. Die ästhetische Existenz ...70
2.10. Keetenheuves Rede...72
2.11. Der Schluss ...75

3
3. Der Tod in Rom ... 79
3.1. Zeitgenössische Rezeption...79
3.2. Der erste Auftritt des Protagonisten: Siegfried...82
3.3. Manipulation der Musik durch Technik ...83
3.4. Innerer Dialog...86
3.5. Musik als Pseudonym für Literatur ...89
3.6. Kirchenkritik und Religiosität ...90
3.7. Kunst im Kontext der Zeit ...93
3.8. Reflexion des Erzählten durch Erzählung ...95
3.9. Ästhetik der Sexualität...96
3.10. Siegfrieds Konzert ...100
3.11. Der Schluss ...102
4. Autobiographisches in Koeppens Romanen... 106
Fazit... 112
Literaturverzeichnis ... 114

4
Einleitung
,,Koeppen gehört offenbar zu jenen Schriftstellern, deren Berühmtheit die Be-
kanntheit und erst recht die Beliebtheit bei weitem übersteigt"
1
, schrieb Dietrich
Erlach 1973 in seiner Dissertation und beklagte damit den bis dato spärlichen Be-
stand an Sekundärliteratur. Anders formuliert: Koeppen gehört offenbar zu jenen
Schriftstellern, deren literarische und stilistische Fähigkeiten in gleichem Maße
gepriesen werden, wie ihr Werk nicht gelesen wird. Noch kürzer: Wolfgang
Koeppen ist ein Geheimtipp. Das galt und gilt 1951
2
wie 1973 wie 2002.
Die Koeppen-Forschung hingegen, die abseits des breiten Lesepublikums wirkt,
ist in Bewegung wie lange nicht mehr. War Koeppen zuletzt 1992 positiv durch
die Entdeckung seiner Autorschaft an dem Buch ,,Jakob Littners Aufzeichnungen
aus einem Erdloch"
3
und dann 1999 negativ durch die Infragestellung eben dieser
Autorschaft in die Schlagzeilen der Feuilletons geraten, ist er nun wieder in den
abgeschirmten Schoß der Literaturwissenschaft zurückgesunken. Im Herbst 2001
hat Jörg Döring eine bemerkenswerte und umfassende Arbeit über Koeppens
Schaffen zwischen 1933 und 1948 vorgelegt
4
, in der ein ausführliches Kapitel
dem Littner-Mysterium gewidmet ist. Döring hat überdies genau den Zeitraum er-
forscht, den Wolfgang Koeppen zeit seines Lebens als ,,großen Roman" aufarbei-
ten wollte, aber nicht zu schreiben vermochte.
Seit 1995 haben drei internationale Wolfgang-Koeppen-Kongresse stattgefunden,
die jeweils umfangreiche Buchpublikationen mit neuesten Forschungsergebnissen
nach sich zogen. Am 1. Juli 2000 wurde die Internationale Wolfgang-Koeppen-
Gesellschaft e.V. Greifswald/München gegründet. Und schließlich riefen Günter
1
Erlach, Dietrich: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler. Acta Universitatis Upsaliensis ­
Studia Germanistica Upsaliensa 11, Uppsala 1973, S. 9.
2
1951 erschien ,,Tauben im Gras", der erste Roman der Nachkriegstrilogie.
3
Koeppen, Wolfgang: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 1994.
4
Döring, Jörg: »... ich stellte mich unter, ich machte mich klein ...«. Wolfgang Koeppen 1933 ­
1948. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, 2001.

5
Grass und Peter Rühmkorf die Wolfgang-Koeppen-Stiftung ins Leben, die unter
anderem den 2001 begonnenen Wiederaufbau des Koeppenschen Geburtshauses
als ,,Literaturhaus Vorpommern" in Greifswald finanzieren helfen will.
Im Juni 2001 ist ,,Das Treibhaus" erstmals von Michael Hofmann ins Englische
übersetzt worden
5
, so dass Wolfgang Koeppen mit seiner Sicht auf das Bonn der
Nachkriegs-Restauration nun auch in den Vereinigten Staaten auf Interesse stößt ­
immerhin mit einem Roman, der 1953 geschrieben wurde. Gleich, ob die deutsche
Hauptstadt Bonn oder Berlin heißt: Nach rund 50 Jahren scheint Koeppen nach
wie vor (oder wieder) aktuell zu sein.
Dafür, dass das Interesse an ihm nicht erlischt, hat Wolfgang Koeppen selbst ge-
sorgt. Dem mythenverliebten Schriftsteller gelang es in zahllosen Interviews, ei-
nen Mythos um sich selbst zu weben. Alfred Estermann formuliert es so: ,,Es er-
gab sich eine lange Reihe persönlicher Gespräche und schriftlicher Interviews, bei
denen ihm zustatten kam, daß er über ein brillantes Gedächtnis ebenso verfügte
wie über die souveräne Möglichkeit, keinen Gebrauch von ihm zu machen, daß
sein Erinnerungsvermögen zugleich präzise und durch erzählungsdramaturgische
Rücksichten determinierbar war."
6
Mit immer neuen Ankündigungen von Romanen, die mal in Arbeit waren, mal
fast fertig (und dann doch nie erschienen), hielt Koeppen sich im Gespräch. Die
immer wiederkehrenden Fragen nach seiner Biographie, besonders während des
Nationalsozialismus, beantwortete er bald textbausteinhaft routiniert: Seine
,,zwanglose" Emigration nach Holland, die Wiederkehr, sein ,,Unterstellen" beim
Film und schließlich sein Gang in den ,,Untergrund", nachdem seine Berliner
Wohnung zerbombt worden war ­ diese Stationen wären das Gerüst für seinen
5
Der Autor Michael Hofmann, der vorwiegend Joseph Roth, aber auch Franz Kafka und Peter
Stamm ins Englische übertragen hat, legte 2001 darüber hinaus eine zweite Übersetzung von
Koeppens meistübersetztem Roman ,,Der Tod in Rom" vor. Bereits 1956 erschien ,,Death in Ro-
me" in einer Übersetzung von Mervyn Savill. Eine englische Fassung der ,,Tauben im Gras" wur-
de laut Koeppen in den 50er Jahren von einem amerikanischen Verleger abgelehnt mit der Be-
gründung: ,,Mit diesem deutschen Elend wollen wir nicht mehr konfrontiert werden". Seitdem
steht eine Übersetzung noch aus.
6
Zitiert nach Estermann, Alfred: Nachwort. In: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß.
Herausgegeben von Alfred Estermann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, S. 679.

6
,,großen Roman" gewesen, und er hat die Fakten scheinbar widerwillig immer
wieder mitgeteilt: ,,... es ist zu schwer, das alles zu sagen; ich will es mal schrei-
ben, warum, verdammt noch mal, schreibe ich es nicht?"
7
Auch weiterhin sind neue Erkenntnisse zu erwarten. Nach Wolfgang Koeppens
Tod 1996 wurde damit begonnen, seinen Nachlass zu sichten und zu sortieren. Es
fanden sich zahllose Manuskriptseiten, unter anderem auch das verschollen ge-
glaubte Romanfragment ,,Die Jawang-Gesellschaft", zu dessen Verschwinden sich
Koeppen im Laufe der Zeit mindestens drei verschiedene Varianten ausgedacht
hatte. Eine Kopie des Romantyposkripts ruhte unterdessen wohlbehalten in sei-
nem Manuskriptschrank, der mittlerweile im Greifswalder Koeppen-Archiv zu
besichtigen ist. Warum er sich gelegentlich widersprach, wissentlich oder unwis-
sentlich Dinge verschwieg oder falsch darstellte, lässt sich ohne Spekulationen
nicht beantworten. Sein Nachlass und vor allem der darin enthaltene Briefbestand
werden wohl noch manches aufklären, worüber Koeppen die interessierte Öffent-
lichkeit im Unklaren gelassen hat. Eine erste Auswahl der erhaltenen Prosafrag-
mente ist im Sommer 2000 bei Suhrkamp in dem 780 Seiten starken Sammelband
,,Auf dem Phantasieroß" veröffentlicht worden.
Sosehr er sein eigenes Leben als ,,romanhaft" empfand und diesen Begriff wie-
derholt in Interviews zu Protokoll gab, sosehr finden sich in seinem Werk unent-
wegt die Selbstreflexionen eines Schriftstellers. Man läuft Gefahr, diese Reflexio-
nen in Koeppens Romanen mit autobiographischen Auskünften gleichzusetzen
oder mindestens zu vermischen. Was streng genommen zweierlei ist oder wenig-
stens für einen Literaturwissenschaftler zweierlei sein müsste, lässt sich aber ge-
rade bei Koeppen nur schwer voneinander trennen. Für Autobiographisches in
seinem Werk gibt es zahlreiche Belege. Die seinerseits in Interviews und Gesprä-
chen mehrfach mitgeteilte Reflexion der eigenen Rolle (und gleiches gilt für seine
7
Die Last der verlorenen Jahre. Ein Gespräch mit Wolfgang Koeppen von Volker Wehdeking. In:
Wehdeking, Wolfgang: Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur. Aufsätze, Interviews, Materia-
lien. Aachen 1989. Zitiert nach: Koeppen, Wolfgang: Einer der schreibt. Gespräche und Inter-
views. Herausgegeben von Hans Ulrich Treichel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 210.

7
Romanprotagonisten) schwankt zwischen der utopischen Verklärung des Roman-
ciers an der Seite der Schwachen und Entrechteten und der durch eine kapitalisti-
sche Gesellschaft erzwungenen Verdammung zum profanen Broterwerbsdichter.
1971 beschreibt Koeppen in einem Gespräch mit Horst Krüger das Los der
Schriftstellerei so: ,,Bücher werden aus Mißverständnis gekauft, manchmal aus
Mißverständnis gelesen, aus lauter Mißverständnis in den Schrank gestellt,
schließlich als Taschenbuch verbreitet und weggeworfen, was all diese Mißver-
ständnisse wieder aufhebt und gutmachte, gäbe es nicht die Philologen, die den
Fall registrieren und zu den Akten nehmen für neue Mißverständnisse."
8
So soll nun also in dieser Arbeit registriert werden, wie Wolfgang Koeppen durch
die Protagonisten Philipp, Keetenheuve und Siegfried in seinen drei Nachkriegs-
romanen ,,Tauben im Gras", ,,Das Treibhaus" und ,,Der Tod in Rom" die Rolle
des Schriftstellers reflektiert ­ wohl wissend, dass damit möglicherweise neue
Missverständnisse zu den Akten genommen werden.
8
Selbstanzeige. In: Schriftsteller im Gespräch: Wolfgang Koeppen und Horst Krüger. Herausge-
geben von Werner Koch. Frankfurt am Main 1971. Zitiert nach: Koeppen, Wolfgang: Einer der
schreibt, S. 33.

8
1. Tauben im Gras
1.1. Zeitgenössische Rezeption
Die zeitgenössischen Rezensenten waren sich uneinig darüber, ob sie Koeppens
ersten Nachkriegsroman ,,Tauben im Gras" als politische Zeitkritik oder als Wei-
terführung seines ­ wie sie glaubten ­ bisher einzigen Themas, der subjektiv-
biographisch geprägten Auseinandersetzung mit der Arbeit des Schriftstellers, le-
sen sollten. So betonte etwa Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom 13. Oktober 1951 für die erstgenannte Fraktion: ,,Koeppens Buch sagt über
die politische Gesamtsituation in diesem Land zwischen West und Ost mehr aus
als ganze Jahrgänge von Leitartikeln."
9
­ ein bemerkenswertes Kompliment kurz
nach Erscheinen des Buches, zumal von einem Leitartikler. Aus dem gleichen
Blickwinkel las 1952 Hans Schwab-Felisch ,,Tauben im Gras", kam aber zum ge-
genteiligen Ergebnis: ,,[...] er hat die Düsternis unserer Zeit zum ausschließlichen
Ausgangspunkt gemacht. [...] Das ist nicht der ganze Tatbestand des Nachkriegs-
deutschland."
10
Der Roman sei zwar ,,ein literarischer Wurf; ein epochales, um-
werfendes Ereignis ist er nicht."
11
Als kleines Trostpflaster endete Schwab-
Felisch mit dem Fazit: ,,Trotz allem seien Mut, Offenheit und nebenbei auch die
Erneuerung des Joyceschen Experiments auf verkleinerter Basis anerkannt."
12
Es gab allerdings, wie gesagt, auch Rezensenten, die es erstaunlicherweise ver-
mochten, ,,Tauben im Gras" weitgehend unpolitisch zu lesen, wie etwa Helmut
Heißenbüttel, der in Koeppens Romanen vornehmlich ,,die Frage nach der Mög-
9
Korn, Karl: Ein Roman, der Epoche macht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.10.1951.
Zitiert nach: Greiner, Ulrich: Über Wolfgang Koeppen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
1976, S. 26.
10
Schwab-Felisch, Hans: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Der Monat 4, Heft 40, 1952.
Zitiert nach: Greiner, Ulrich: Über Wolfgang Koeppen, S. 37.
11
Ebd., S. 36.
12
Ebd., S. 38.

9
lichkeit, [...] subjektive Erfahrung in der Form von Erzählung, Erfindung, Fiktion
mitzuteilen"
13
zu lesen glaubte.
Einen wundersamen Gesinnungswandel, weg von der politischen Lesart, vollzog
der bereits erwähnte Hans Schwab-Felisch. Er schrieb vierzehn Jahre nach seiner
ersten Rezension einen ,,Widerruf" und lief damit in die entgegengesetzte Irre:
,,Nicht gesehen habe ich das eigentliche Thema Koeppens, das die Kontaktlosig-
keit ist, die Flucht des Menschen vor sich selbst, die eine Angst vor sich selbst ist.
Nicht erkannt habe ich die Sorge des Autors Koeppen um diese Menschheit, seine
große Trauer."
14
Schwab-Felisch entschuldigte seinen früheren Fehlgriff mit Un-
erfahrenheit und bezeichnete seinen einstigen Schlusssatz gar als ,,auf ziemlich
unerträgliche Weise herablassend"
15
.
In einer der ersten umfassenden literaturwissenschaftlichen Untersuchungen über
Koeppen lenkte Dietrich Erlach 1973 den Blick wieder auf die zeitkritische Kom-
ponente und betonte sie bereits im Titel seiner Arbeit: ,,Wolfgang Koeppen als
zeitkritischer Erzähler". Über die Nachkriegsromane schrieb er: ,,Hatte Koeppen
früher der Befindlichkeit eines von des Dichters eigener Problematik bestimmten
Individuums nachgespürt, so konzentriert er sich jetzt auf die Befindlichkeit des
zeitgeschichtlichen Moments."
16
All diesen Zitaten merkt man an, dass die Literaturkritik ihre Probleme mit Koep-
pen hatte. Der verständliche Versuch der Rezensenten, ihn einer ihrer Schubladen
zuzuordnen, misslang. Vielleicht erschien ihnen der logische Kompromiss als zu
einfach ­ dass nämlich Koeppen aus seinem ,,Berufsverständnis" heraus beides
verknüpfen musste: Die Selbstreflexion über das Schreiben war für ihn ohne Zeit-
diagnose und -kritik ebenso wenig möglich wie die Beschreibung der Zeit ohne
Reflexion der Rolle des Schriftstellers in eben dieser Zeit. Oder etwas geschliffe-
13
Heißenbüttel, Helmut: Literatur als Aufschub von Literatur? Über den späten Wolfgang Koep-
pen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Wolfgang Koeppen. Edition Text + Kritik, Heft 34, Richard
Boorberg Verlag, München 1972, S. 33.
14
Schwab-Felisch, Hans: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Der Monat 18, Heft 218, 1966.
Zitiert nach: Greiner, Ulrich: Über Wolfgang Koeppen, S. 42.
15
Ebd., S. 39.
16
Erlach, Dietrich: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler, S. 45.

10
ner: Man kann ,,den viel beredeten Gegensatz von Zeitkritik und existentiellem
Diskurs nur als Scheinalternative betrachten".
17
Was war das Neue an Koeppens Prosa? Zunächst der Stil, wenigstens in Deutsch-
land. Die Montagetechnik, die assoziativ wirkende Aneinanderreihung von fil-
misch beschriebenen Szenen, die Einsprengsel aus Zeitung und Rundfunk ­ dafür
gab es mit Dos Passos, Faulkner und Joyce Vorbilder in der angloamerikanischen
Literatur der Vorkriegszeit, die Koeppen auch gar nicht verschweigt: ,,Joyce habe
ich 1926 gelesen. [...] Ich bin überzeugt, daß man heute auch ohne die Wegmarke
Joyce in seine Richtung gehen müßte. Dieser Stil entspricht unserem Empfinden,
unserem Bewußtsein, unserer bitteren Erfahrung. Und man sollte, weil ein Großer
zum erstenmal so gesprochen, so erzählt hat, das Gefundene, das Erreichte nicht
leichtfertig verwerfen."
18
Neu war aber vor allem das Thema. Die bis dato erschienene deutschsprachige
Nachkriegsliteratur von Autoren wie Borchert, Böll, Grass oder Andersch ver-
suchte zunächst im Rückblick die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges zu the-
matisieren und zu verarbeiten. Koeppen dagegen zeichnete als erster ein beängsti-
gend präzises Bild der Gegenwartsgesellschaft. Beängstigend deshalb, weil nicht
wenige Zeitgenossen sich in dem Roman wiederzuerkennen glaubten, was Koep-
pen veranlasste, der zweiten Auflage ein Vorwort voranzustellen (,,[...] manche,
die ich nie in Verhältnissen und Bedrückungen vermutet hatte, wie dieses Buch sie
malt, fühlten sich zu meiner Bestürzung von mir gekränkt [...]"
19
).
17
Quack, Josef: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. Verlag Königshausen & Neumann, Würz-
burg 1997, S. 318.
18
Werkstattgespräch. Horst Bienek im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Merkur 16, 1962,
Heft 172. Zitiert nach: Koeppen, Wolfgang: Einer der schreibt, S. 22.
19
Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 7.
Alle weiteren Textstellen werden künftig nach dieser Ausgabe zitiert, die Seitenangabe erfolgt
unmittelbar nach dem Zitat im Text.

11
Bedeutend polemischer und offenbar ernsthaft beleidigt reagierte Koeppen bereits
1952 in seinem Aufsatz ,,Die elenden Skribenten" auf einen im ,,Münchner Mer-
kur"
20
veröffentlichten Vorwurf:
,,[...] Meinem Buch ,Tauben im Gras' ist die Ehre widerfahren, den Klatsch
kleiner Kreise zu beleben, die wähnen, die Welt zu sein. Ich höre, lese und
staune, daß ich den und jenen beschrieben und manche Innenseite nach au-
ßen gestülpt haben soll. Dabei wollte ich nur einen Tag meiner Zeit einfan-
gen, die Zeit und ihre Menschen beschreiben, wie ich sie sehe und empfin-
de, ich habe an keine bestimmten Personen, an keine bestimmten Vorgänge
des Lebens gedacht, ich wollte das Allgemeine schildern, das Gültige fin-
den, die Essenz des Daseins, das Klima der Zeit, die Temperatur des Tages,
und ich scheine, mehr als ich vermuten durfte, das Verbreitete und das Be-
zeichnende getroffen zu haben, denn wie wäre es sonst zu erklären, daß sich
für einige meiner Romanfiguren in den Unterhaltungen gleich mehrere Be-
werber, mehrere angebliche Urbilder gemeldet haben, und darunter, was
mich befremdet, Leute, die, wäre mein Roman ein Bühnenstück, die Rollen
nicht spielen könnten; sie bringen nichts dafür mit, sie wären Fehlbesetzun-
gen. Dieses Geschehen bliebe privat und nicht erwähnenswert, wenn sich
nicht eine Zeitung, die den Roman in ihrer Literaturbeilage sehr freundlich
begrüßte, zum Sprachrohr der Gekränkten gemacht hätte, der angeblich und
ganz gegen meinen Willen von mir Gekränkten. In einer mir gewidmeten
Polemik schreibt das Blatt den schönen, oben zitierten Satz über das schrift-
stellerische Gewerbe: ,Es geht vielmehr darum, ob es sittlich vertretbar
sei...' (Siehe oben!) Da haben wir's. Der elende Skribent ist ein Astlochguk-
ker! Mich stattet dazu noch die Zeitung mit einer Miniaturkamera im
Knopfloch aus, und in einem Gespräch soll man ernsthaft vermutet haben,
ich schleiche in der Nacht mit einem Scherenfernrohr um die Häuser, denn
sonst könne ich es doch nicht wissen, ich sei doch nicht dabeigewesen.
Nein, ich war nicht dabei! Ich besitze keine Kamera und kein Scherenfern-
rohr, ich muß die Herrschaften enttäuschen und leider auch erschrecken: der
Vorgang ist viel einfacher und viel, viel unheimlicher. Der Skribent sitzt zu
Hause an seinem Tisch, er saugt sich's aus den Fingern, er richtet seinen
Blick ins Leere oder ins Schwarze oder Helle, und sein Blick durchdringt
die Türen, die Mauern, die geschlossenen Jalousien, er dringt durch die
Kleidung, er dringt ins Herz, und er sieht im Herzen der Menschen die
Wahrheit, die Süße und die Bitternis des Lebens, sein Geheimnis, seine
20
Aus einer anonymen »Tagebuch«-Glosse des »Münchner Merkurs« vom 29. Januar 1952: ,,Es
geht vielmehr darum, ob es sittlich vertretbar sei, mit einem kräftigen Messer das Schlüsselloch
noch zu erweitern, durch das der Schriftsteller seine Welt und seine Gestalten bei seinem Tun beo-
bachtet, das diese mit dem guten Recht des Privatmannes eben hinter geschlossenen Türen absol-
vieren."

12
Angst, seinen Schmerz, seinen Mut. Gegen diese Durchleuchtung kann man
sich nur wehren, indem man die Bestie wieder in den Kindergarten einer
,Schrifttumskammer' sperrt, um sie dort mit bukolischem Salat oder völki-
schem Kraut zu füttern. Solange wir aber noch nicht wieder eingepfercht
sind, werden wir uns, werde ich mich auf der Weide des Lebens, im Um-
kreis der Zeit tummeln."
21
Mit diesen Ausführungen teilt Wolfgang Koeppen bereits einiges über sein
Schriftstellerverständnis im Sinne eines ,,stillen Beobachters" mit. Im Folgenden
soll diese Position an Philipp, der zentralen Schriftstellerfigur aus ,,Tauben im
Gras", untersucht werden. Die einzelnen Szenen, in denen Philipp eine entschei-
dende Rolle spielt, werden in chronologischer Reihenfolge betrachtet.
1.2. Der erste Auftritt des Protagonisten: Philipp
,,Es war eine schmutzige Flut, die mit jedem Besenstoß der Männer Philipp näher
rückte. Hauch und Staub der Nacht, der schale tote Abfall der Lust hüllten Philipp
ein." [16] ­ so endet das erste Segment, in dem die Figur Philipp eingeführt wird.
Er verlässt ein Hotel, in dem er die Nacht verbracht, aber kaum geschlafen hat.
Wir erfahren, dass ,,das Schicksal" Philipp dorthin getrieben hatte und dass sein
eigentlicher Wohnsitz in derselben Straße wie das Hotel liegt, was den Wirt zu ei-
ner misstrauischen Nachfrage veranlasst. Sonst erfährt man wenig über Philipp,
nichts über seinen Beruf, nichts über seinen Familienstand. Koeppen erzeugt
stattdessen durch die Beschreibung des Nachtlebens im Umfeld des Hotels eine
Stimmung, die Philipp bereits als irgendwie Gescheiterten präsentiert. Gescheitert
wie auch alle anderen ­ anonymen ­ Personen, die in dieser kurzen Passage zuge-
gen sind: ,,Unter dem Fenster schimpften Spieler, die ihr Geld verloren hatten. Be-
trunkene torkelten aus dem Bräuhaus. Sie pißten gegen die Häuser und sangen
die-Infanterie-die-Infanterie, verabschiedete, geschlagene Eroberer." [15] Den
21
Koeppen, Wolfgang: Die elenden Skribenten. Zuerst in: ,,Die Literatur" (Stuttgart) Nr. 1 vom
15. März 1952. Zitiert nach: Koppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausge-
geben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Trei-
chel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990, Band 5, S. 231ff. (künftig: GW 5/231).

13
Wirt stellt Koeppen dar als groben Kerl mit ,,kalten Augen, todbitter im glatten
ranzigen Fett befriedigter Freßlust, gesättigten Durstes, im Ehebett sauer gewor-
dener Geilheit", sein Hotel ist ein ,,Bienenstock des Teufels und jedermann in die-
ser Hölle schien zur Schlaflosigkeit verdammt." [15]
Der Erzähler lässt Philipp, nachdem er das Hotel verlassen hat, die Überreste der
besinnungslosen Großstadtvergnügungen beobachten. Der Müll der vergangenen
Nacht wird Philipp buchstäblich vor die Füße gekehrt.
1.3. Der Schriftsteller als Beobachter
,,Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht." [19] heißt es im nächsten Philipp-
Segment. Nach einer Aufzählung von Kindheitserinnerungen (die zum Teil auffäl-
lig verwandt sind mit Wolfgang Koeppens eigener Biographie; Philipp hat zum
Beispiel seine Kindheit in einer Kleinstadt ,,irgendwo in Masuren" [20] verbracht)
reflektiert der Erzähler seine oder Philipps oder beider Zeiterfahrung: ,,Zugleich
aber raste dieselbe Zeit, die doch wiederum stillstand und das Jetzt war, dieser
Augenblick von schier ewiger Dauer, flog dahin, wenn man die Zeit als die Sum-
me aller Tage betrachtete [...]. Aber er, Philipp, stand noch dazu außerhalb dieses
Ablaufs der Zeit, nicht eigentlich ausgestoßen aus dem Strom, sondern ursprüng-
lich auf einen Posten gerufen, einen ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles
beobachten sollte, aber das Dumme war, daß ihm schwindlig wurde und daß er
gar nichts beobachten konnte, [...]." [20]
Hier deutet sich schon an, welche Haltung nach Koeppens Auffassung der Schrift-
steller einnehmen muss, wenngleich uns immer noch nicht mitgeteilt wurde, dass
sein Protagonist ein solcher ist. Als Koeppen 1962 der Büchnerpreis verliehen
wird, spricht er in seiner Dankesrede vom ,,Schriftsteller als Einsamen, als Beob-
achter, als Außenseiter"
22
. Diese drei Standpunkte sind in ,,Tauben im Gras" be-
reits in vollem Maße entfaltet. Philipp ,,stand außerhalb der Zeit" ­ ein Außensei-
22
Koeppen, Wolfgang: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962 in Darmstadt. In:
GW 5/260.

14
ter. Er war ,,nicht eigentlich ausgestoßen", aber doch auf einen einsamen Posten
gerufen, einen ,,ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles beobachten sollte". Der
Autor Koeppen gestattete sich in der Tat den Glauben, dass die Beobachterrolle
des Schriftstellers eine ehrenvolle ist, er weiß jedoch auch um die Vergeblichkeit
dieser Aufgabe. Ähnlich geht es Philipp: ,,das Dumme war, daß ihm schwindlig
wurde und daß er gar nichts beobachten konnte".
Eine vergleichbare Sichtweise formuliert Koeppen in einem Beitrag zum 60. Ge-
burtstag des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: ,,Der Schreibende steht als
Beobachter des Lebens mit seinen wechselnden Gefühlen, seinem ehrlichen Ent-
setzen, dem mannigfaltigen Mitleiden, dem hilflosen Zorn, der bösen Verzweif-
lung an einem archimedischen Punkt außerhalb des Sozialgefüges. Er ist verführt,
die Welt aus den Angeln zu heben, und sich der Aussichtslosigkeit bewußt."
23
1.4. Schreibprobleme
In den folgenden Abschnitten erschließt sich dem Leser nach und nach Philipps
Lebenssituation. Ins Hotel war er vor seiner Frau Emilia geflohen, die, so be-
schreibt es Philipp, sich von dem lieben Dr. Jekyll in den bösen Mr. Hyde ver-
wandelt, wenn sie getrunken hat. Die Alkoholikerin Emilia ist Philipp und vor al-
lem seinem Beruf in Hassliebe verbunden: ,,Sie betrachtete den Tisch mit der
Schreibmaschine, das weiße unbeschriebene Papier, die Requisiten der Arbeit, die
sie verabscheute und von der sie sich Wunder versprach, Ruhm, Reichtum, Si-
cherheit, über Nacht gewonnen, in einer Rauschnacht, in der Philipp ein bedeu-
tendes Werk schreiben würde, in einer Nacht, doch nicht an vielen Tagen, nicht in
einer Art Dienst, nicht mit dem stetigen Geklapper der kleinen Schreibmaschine."
[29] Emilia lebt als letzte Nachfahrin einer durch den Krieg verarmten Familie
vom Verkauf ihres Schmucks und ihrer Antiquitäten und finanziert damit auch
Philipp, der im Verlauf des ganzen Buches übrigens nicht eine Zeile schreibt (wie
23
Koeppen, Wolfgang: Er schreibt über mich, also bin ich. In: GW 5/349.

15
auch Keetenheuve in ,,Das Treibhaus" erstaunlich wenig tut, was der Arbeit eines
Berufspolitikers entsprechen könnte).
Immer wieder blitzen in der Beschreibung Philipps Parallelen zu Koeppens eige-
ner Biographie auf (siehe dazu auch Kapitel 4: Autobiographisches in Koeppens
Romanen). So wird in einem Nebensatz erwähnt, dass Philipp der ,,Verfasser ei-
nes im Dritten Reich verbotenen und nach dem Dritten Reich vergessenen Bu-
ches" [52] sei. Ähnlich erging es Koeppen, der in seiner Büchnerpreisrede näher
darauf eingeht: ,,Ich war, als Hitler zur Macht kam, beschäftigt, meinen ersten
Roman zu schreiben [...]. Es waren unsere und leider auch meine Jahre, die da
verbrannten, für mich, der ich nicht mitmarschierte, nicht in der braunen Reihe
ging, verlorene, erlittene, sprachlose Jahre."
24
Die Erwähnung von Philipps vergessenem Buch ­ von dem konsequenterweise
nicht gesagt wird, wovon es handelt ­ findet statt in einem Szenario voll grotesker
und tragisch-ironischer Anspielungen. Von der geschäftstüchtigen Gräfin Anne
,,mit dem Opfer-des-Faschismus-Ausweis" [52] wird Philipp bedrängt, Drehbü-
cher für den Film zu schreiben. Philipp lehnt ab, weil diese Tätigkeit seinem lite-
rarischen Anspruch zuwider läuft, lässt sich aber stattdessen überreden, für die
Gräfin ­ in einer völlig in Trümmern liegenden Stadt ­ ausgerechnet Patentkleber
zu verkaufen. Sein Weg führt ihn in ein Schreibmaschinengeschäft, das ihn
schmerzlich, aber für den Leser nicht unkomisch, an seine eigentliche Bestim-
mung erinnert: ,,Die Schreibmaschinen blitzten im Neonlicht, und Philipp hatte
die Empfindung, daß ihre Tastaturen ihn angrinsten: die Buchstabenfront wurde
zu einem höhnenden offenen Maul, in dem das Alphabet mit bleckenden Zähnen
nach ihm schnappte. War Philipp nicht Schriftsteller? Herr der Schreibgeräte? Ein
gedemütigter Herr! Wenn er den Mund aufmachte, ein Zauberwort ausspräche,
würden sie losklappern: willige Diener. Philipp wußte das Zauberwort nicht. Er
hatte es vergessen." [53]
24
Koeppen, Wolfgang: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: GW 5/257f.

16
1.5. M anipulation der Sprache durch Technik
Die Tragödie steigert sich noch, als Philipp sich nicht als Vertreter zu erkennen
gibt, den Kleber in der Tasche lässt (,,Er hatte nicht den Mut, dem Geschäftsmann
im eleganten Anzug [...] den gräflichen Patentkleber anzubieten, einen, wie es
Philipp nun vorkam, völlig lächerlichen und unnützen Gegenstand." [53]) und
sich vorgeblich für ein Diktiergerät interessiert. Der Verkäufer lässt Philipp das
Gerät testen, dieser sinniert in das Bandgerät über ein Interview mit dem berühm-
ten Schriftsteller Mr. Edwin, das er für das ,Neue Blatt' führen soll. Als er das
Band abhört, ist Philipp geschockt: ,,Es war eine Exhibition, eine intellektuelle
Exhibition. Er hätte sich auch nackt ausziehen können. Seine eigene Stimme, die
Worte, die sie sprach, erschreckten Philipp, und er floh aus dem Laden." [55]
Auch in diese Passage hat der Autor Details aus seiner eigenen Biographie ein-
fließen lassen; die Stelle liest sich wie eine Art selbstreflexive Schadenfreude.
Philipp ist zu den ihm angebotenen Verlegenheitsjobs nicht fähig. Er scheitert als
Vertreter und er weiß ebenfalls nicht, für welche Art Film er angesichts des vor-
herrschenden Massengeschmacks ein Drehbuch hätte schreiben sollen (obwohl
ihm diese von der Gräfin ursprünglich angetragene Tätigkeit ja näher liegen könn-
te): ,,[...] wer will sowas sehen? alle, so sagt man, ich glaube es nicht, ich weiß es
nicht, ich will nicht!" [52] Von Koeppen selbst ist hingegen seine ganz besondere
Verbindung zum Film bekannt. Er hatte sich, so seine viel strapazierte Formulie-
rung, während der Hitlerdiktatur ,,beim Film untergestellt" und für die UFA und
die Bavaria-Filmkunst Drehbücher verfasst. Darunter waren durchaus solche tri-
vialen Stoffe, die Philipp mit Abscheu von sich weist. Koeppen tat dies, um dem
Militärdienst zu entgehen und sich finanziell über Wasser halten zu können. Nicht
ohne Stolz hat er später in zahlreichen Interviews seine Taktik mitgeteilt:
,,Ich habe eine Leistung vollbracht, eine Energieleistung, wie sonst nicht
mehr in meinem Leben, um nicht Soldat zu werden. Ich habe mich eine
Zeitlang beim Film untergestellt. [...] ich wurde beauftragt, Drehbücher zu
schreiben. Wieder eine schizophrene Situation: ich wollte nicht, daß diese
Drehbücher verfilmt werden, denn es waren nicht die Filme, die ich hätte

17
machen wollen. Ich hätte ganz gern einmal einen guten Film gemacht, aber
das war nicht möglich, damals. Ich schrieb die Drehbücher so, daß sie tech-
nisch gut waren, daß man sagte, das Drehbuch ist gut, wir können es leider
nicht verfilmen, es kommt beim Propagandaministerium nicht durch, aber
wir geben Koeppen einen neuen Auftrag und stellen ihn vor dem Militär si-
cher."
25
Kein einziger Film unter seiner Mitwirkung sei in dieser Zeit entstanden.
26
Auch
spätere Kontakte Koeppens mit dem Film waren nicht eben von Erfolg gekrönt,
obwohl er, wie in dem obigen Zitat angedeutet, keine generelle Abneigung gegen
das Medium hatte. Im Gespräch mit Horst Bienek betonte Koeppen 1962, dass er
,,das Fernsehen, wie auch den Film, für ein Medium der Zeit und auch des Dich-
ters in dieser Zeit"
27
halte. Aber auf die Frage, welche Erfahrung er denn mit der
Filmindustrie gemacht habe (wobei sich die Frage allerdings nicht auf Koeppens
Tätigkeit im NS-Regime bezog, sondern auf gegenwärtige Projekte), konnte
Koeppen nur klagen: ,,Die betrübendsten! Erinnern Sie mich nicht daran! Auf der
Leinwand erschien von mir ein einziger Satz, den eine falsche Person im falschen
Augenblick mit falscher Betonung sprach. Es war schrecklich."
28
Man kann bei Koeppen eine generelle Unbeholfenheit und Berührungsangst im
Umgang mit moderner Technik konstatieren, die sich in seinem Erleben sogar zu
einer tiefer gehenden Furcht vor einer Fremdbestimmtheit durch technische Appa-
rate steigert. Darauf weisen sowohl die Störung der Mikrofonanlage bei Mr. Ed-
wins Vortrag als auch später die Figurenkonzeption des technikbesessenen Frost-
25
Zur Resignation neige ich sehr. Autoren im Studio: Wolfgang Koeppen. Vorgestellt von Ekke-
hart Rudolph. Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart, Sendung vom 24. September 1971. Zitiert nach:
Koeppen, Wolfgang: Einer der schreibt, S. 45f.
26
Die neueste Untersuchung von Jörg Döring (»...ich stellte mich unter, ich machte mich klein...«.
Wolfgang Koeppen 1933 ­ 1948) belegt zwar, dass doch mindestens drei abgedrehte Filme ent-
standen sind, an denen Koeppen Mitautor war. Sowenig sich allerdings die genaue Menge der
Koeppenschen Anteile bestimmen lässt, so schwierig wird es auch weiterhin sein, bestimmte
Textpassagen Koeppen eindeutig zuzuordnen. Döring weist jedoch faktenreich nach, dass Koep-
pen in seinen Selbstauskünften zumindest seine tatsächlichen Aktivitäten im Filmgeschäft erheb-
lich marginalisiert hat.
27
Werkstattgespräch. Horst Bienek im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Merkur 16, 1962,
Heft 172. Zitiert nach: Koeppen, Wolfgang: Einer der schreibt. S. 25.
28
Ebd.

18
Forestier im ,,Treibhaus" hin. Die scheinbar harmlose Diktiergerät-Episode im
Schreibwarengeschäft hat darüber hinaus, wie oben schon angedeutet, einen auto-
biographischen Bezug. So gibt Koeppen 1962 in einem Interview zu Protokoll:
,,Ich habe mir vor einiger Zeit ein Tonband gekauft. Ich dachte mir: wenn mir in
schlaflosen Nächten etwas einfällt, dann kann ich das aufs Band sprechen und ha-
be so am anderen Morgen vielleicht was drauf, was ich abschreiben kann; ich bin
auch heute noch davon überzeugt, daß das möglich ist, nur: sobald ich mir das
Mikrophon vor den Mund halte, verstumme ich ..."
29
Dass sich hinter Koeppens Berührungsängsten auch eine politisch-moralische
Komponente verbirgt, wird an einer geradezu prophetischen Aussage in Koeppens
Büchnerpreisrede deutlich: ,,Der Schreibende, so sehr er Mikrophon und Kamera
und Scheinwerfer scheuen mag, wird sich dem neuen heraufziehenden
Analphabetentum von Bildzeitungen, Comicstrips, Fernsehen und auf höherer
Ebene von technischen Formeln, die uns manipulieren, automatisieren, vielleicht
zum Mond führen werden, stellen müssen." Ganze sieben Jahre später landete
Neil Armstrong tatsächlich als erster Mensch auf dem Mond ­ und auch die
übrigen Warnungen können mittlerweile als hellsichtig bezeichnet werden.
Die Möglichkeit von Manipulation und Automatisierung durch Technik, von ei-
nem Ausgeliefertsein, wird bei Mr. Edwins Vortrag auf die Spitze getrieben: ,,Die
Technik rebellierte gegen den Geist, die Technik, das vorlaute, entartete, schaber-
nacksüchtige, unbekümmerte Kind des Geistes. [...] ,Ich bin hilflos', dachte Ed-
win, 'wir sind hilflos, ich habe mich auf diesen dummen und bösen Sprechtrichter
verlassen, hätte ich ohne diese Erfindung die mich nun lächerlich macht vor sie
hintreten können? nein, ich hätte es nicht gewagt, wir sind keine Menschen mehr,
keine ganzen Menschen, ich hätte nie wie Demosthenes direkt zu ihnen sprechen
können, ich brauche Blech und Draht die meine Stimme und meine Gedanken wie
durch ein Sieb pressen.'" [177]
29
Schreiben als Zustand. Christian Linder im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Text + Kritik,
Heft 34, München 1972, S. 31.

19
Philipp ist, ebenso wie Edwin, entsetzt über das technische Desaster. Der Erzähler
legt ihm sogar einen ähnlichen Wortlaut in den Mund: ,,'Alles zerbricht', dachte
Philipp, 'wir können uns nicht mehr verständigen, nicht Edwin redet, der Laut-
sprecher spricht, auch Edwin bedient sich der Lautsprechersprache, oder die Laut-
sprecher, diese gefährlichen Roboter, halten auch Edwin gefangen: sein Wort wird
durch ihren blechernen Mund gepreßt, es wird zur Lautsprechersprache, zu dem
Weltidiom, das jeder kennt und niemand versteht.'" [193]
In dieser Situation fällt Philipp ein Film mit Charlie Chaplin ein: ,,Immer wenn
Philipp einen Vortrag hörte, mußte er an Chaplin denken." [193] Der Hinweis
spielt mit großer Wahrscheinlichkeit auf den amerikanischen Film ,,The great dic-
tator" (Deutscher Titel: ,,Der große Diktator") von 1940 an. In dem Film, der erst
im September 1958 in Deutschland Premiere hatte, erzählt Chaplin die Geschichte
des tomanischen Diktators Hynkel, der mit seinen Truppen in das Nachbarland
Austerlich (Österreich) einmarschiert. Zur gleichen Zeit verliebt sich ein Friseur
in die Jüdin Hanna, wird dafür verfolgt und landet im Konzentrationslager. Da der
Friseur dem Diktator sehr ähnlich sieht (Chaplin war bei dem Film nicht nur Pro-
duzent, Drehbuchautor, Regisseur und Filmmusik-Komponist, sondern spielte
auch beide Hauptpersonen in einer Doppelrolle), gelingt ihm als Faschist verklei-
det die Flucht. Anstelle Hynkels soll er eine Rede halten und bekommt so die
Chance, einen eindringlichen Friedensappell an die Welt zu richten. Koeppen be-
schreibt Philipps Erinnerung an den Film so:
,,Chaplin bemühte sich, seine Gedanken zu äußern, Erkenntnisse zu ermit-
teln, freundliche und weise Worte in das Mikrophon zu sprechen, aber die
freundlichen und weisen Worte stürzten wie Fanfarenstöße, wie laute Lügen
und demagogische Parolen aus den Schalltrichtern. Der gute Chaplin am
Mikrophon hörte nur seine Worte, die er in das Tonsieb sprach, er hörte sei-
ne Gedanken, er lauschte seinem Seelenklang, aber er vernahm nicht das
Brüllen der Lautverstärker, es entgingen ihm ihre Simplifikationen und ihre
dummen Imperative. Am Ende seiner Ansprache glaubte Chaplin sein Audi-
torium zur Besinnlichkeit geführt und es lächeln gemacht zu haben. Er war
peinlich überrascht, wenn die Leute aufsprangen, Heil riefen und sich zu
prügeln begannen." [194]

20
Charlie Chaplin soll Jahre nach der Filmveröffentlichung gesagt haben: ,,Hätte ich
damals von den tatsächlichen Schrecken der deutschen Konzentrationslager ge-
wußt, hätte ich ,Der große Diktator' nicht machen können; ich hätte mich über
den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können."
30
So wahrscheinlich es ist, dass sich Wolfgang Koeppen auf diesen Film bezieht, so
unklar bleibt, wann und wo er die Originalfassung gesehen hat, da ,,Tauben im
Gras" bereits sieben Jahre vor dem deutschen Filmstart in die Buchläden kam. In
einem Interview erwähnt Koeppen allerdings, dass er unmittelbar nach dem Krieg
(wahrscheinlich 1947) von Erich Kästner den Auftrag erhielt, ,,für ,Die Neue Zei-
tung' einen Aufsatz über den Chaplin-Film ,Der große Diktator'" zu schreiben,
,,ein wichtiger und interessanter Auftrag, keine Frage"
31
. Zu dem Aufsatz kam es
zwar nicht, aber möglicherweise hat Koeppen sich in diesem Zusammenhang den
Film ansehen können. Die Szene, die er in ,,Tauben im Gras" beschreibt, gibt es
allerdings so nicht. Entweder erinnerte Koeppen sich nicht richtig, oder er arbeite-
te die Szene für seinen Roman bewusst um, weil er davon ausgehen konnte, dass
kaum jemand in Deutschland den Film kannte. In Chaplins Film wird der Diktator
Hynkel unter anderem dadurch karikiert, dass er bei seinen Reden ähnlich stakka-
tohaft und mit rollendem ,,r" spricht wie Hitler, er redet allerdings in einer völlig
unverständlichen Phantasiesprache. Als am Ende der ,,gute Chaplin", also der
fälschlich für den Diktator gehaltene Friseur, am Rednerpult steht, hält er eine
flammende Friedensrede, die mitnichten verfälscht aus den Lautsprechern kommt.
Sie wird sogar unverfälscht im Rundfunk übertragen. Der Film endet mit Jubelru-
fen des Volkes über die Rede, aber niemand schreit ,,Heil" oder prügelt sich. Die-
se Szene hätte in der Weise freilich nicht in den Romanzusammenhang gepasst.
Wenn keine Gedächtnislücke Koeppens für die Umgestaltung der Szene verant-
wortlich war, könnte hier möglicherweise auch eine bewusste Kritik am positiven
und ­ angesichts des schrecklichen Ausmaßes der Judenvernichtung ­ unange-
30
Information des deutschen Filmverleihs ,,Kinowelt", München.
31
Die Last der verlorenen Jahre. Ein Gespräch mit Wolfgang Koeppen von Volker Wehdeking. In:
Einer der schreibt, S. 217f.

21
messenen Filmschluss vorliegen, den Chaplin, wie oben zititiert, so sicher kein
zweites Mal gedreht hätte.
1.6. Der Intellektuelle im Literaturbetrieb
Während Wolfgang Koeppen mehrfach geäußert hat, dass er gerne Journalist war,
wenngleich er sich als Feuilleton-Redakteur beim ,,Berliner-Börsen-Courier" von
Anfang an auf einer Vorstufe zum Romanautor fühlte (,,Wenn Hitler nicht ge-
kommen, wenn der »Börsen-Courier« nicht eingegangen wäre, hätte ich die Re-
daktion wohl auch verlassen, um Bücher zu schreiben, wie ich es immer gewollt
hatte."
32
), übernimmt Philipp den Reporter-Job ­ ein Interview mit Mr. Edwin ­
eher zögerlich und, abgesehen vom finanziellen Aspekt, nur aus Interesse am be-
rühmten Autor: ,,Ich schätze ihn. Vielleicht wird es eine gute Begegnung." [55]
Koeppen beschreibt in dem Segment, in dem sich der deutsche und der amerikani-
sche Schriftsteller erstmals begegnen, eine für beide unangenehme Nebenwirkung
der Dichtertätigkeit. In dieser an Verwechslungstragik kaum noch zu überbieten-
den Szenerie wird der Literaturbetrieb mit all seinem Prominentenkult, seiner In-
tellektuellenverehrung und der damit verbundenen Heuchelei vorgeführt. Philipp
soll Mr. Edwin für das Neue Blatt interviewen und wird vor dessen Hotel von den
auf den berühmten Schriftsteller harrenden Bewunderern erst für Edwin, dann für
seinen Sekretär, schließlich ­ als Schriftstellerkollege ­ für einen engen Freund
Edwins gehalten, der möglicherweise der Gruppe von schwärmenden Lehrerinnen
oder wartenden Journalisten den Weg zum großen amerikanischen Intellektuellen
ebnen kann. Während die jugendlich-attraktive Kay, die Philipp ebenfalls für ei-
nen guten Freund Edwins hält, sich aufgrund dieser Tatsache wünscht, ,,mit dem
deutschen Dichter in seinem Eichenwald" [94] spazieren zu gehen, fühlt Philipp
sich gedemütigt, weil ihm eine Aufmerksamkeit und Verehrung zuteil wird, die
32
Werkstattgespräch. Horst Bienek im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. Zitiert nach: Koeppen,
Wolfgang: Einer der schreibt, S. 22.

22
ihm leider nicht gilt, die er sich allerdings gern auch für sich und sein literarisches
Schaffen gewünscht hätte.
Was Philipp nicht weiß (und auch der Leser erfährt es erst 68 Seiten später), ist,
dass Edwin der Verehrung ebenfalls ambivalent gegenübersteht. Rational betrach-
tet ist ihm das Gebaren der Menge zuwider, emotional hat er dennoch das Bedürf-
nis, verehrt und geliebt zu werden. In einem Anfall von Lampenfieber wegen sei-
nes Vortrags reflektiert er an einer Hotelbar diese Begleiterscheinungen seiner
Prominenz: ,,Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Eitelkeit! Eitelkeit! Ei-
telkeit der Weisen. Warum war er nicht in seiner Klause geblieben, der behagli-
chen mit Büchern und Antiquitäten vollgestopften Wohnung? Neid auf den Ruhm
der Schauspieler, Neid auf den Beifall, mit dem man den Protagonisten überschüt-
tete, hatte ihn hinausgetrieben. Edwin verachtete die Schauspieler, die Protagoni-
sten und die Menge, die Jugend, die Jünger, sie waren Lockung und Verführung,
wenn man so lange wie Edwin am Schreibtisch gesessen und sich einsam um Er-
kenntnis und Schönheit, aber auch um Anerkenntnis gemüht hatte." [162f.] Edwin
wiederum weiß nicht, dass Philipp ihn im Umfeld der ,,Jünger" wider Willen ver-
treten muss und die Situation mit der gleichen Ambivalenz erlebt: ,,Aber dennoch
blieb es peinlich, daß ihm auf so anrüchige hinterhältig höhnende Weise Achtung
bezeigt wurde, daß ein Philipp geachtet wurde, den es gar nicht gab, den es aber
leicht hätte geben können, ein Philipp, der er hatte werden wollen, ein bedeuten-
der Schriftsteller, dessen Werk selbst in Massachusetts gelesen wurde." [95]
1.7. Beruf und Berufung
Wenn Wolfgang Koeppen das Schwanken des Intellektuellen zwischen abgeklär-
ter Bescheidenheit und allzu menschlicher Eitelkeit zur Sprache bringt, darf man
annehmen, dass Edwins und Philipps Selbstreflexionen weitgehend dem Koep-
penschen Erfahrungshorizont entsprechen. Philipp hält seinen spontanen Wunsch,
,,selbst in Massachusetts" gelesen zu werden, kurz darauf für einen dummen Ge-
danken, weil Massachusetts für einen deutschen Schriftsteller genau so fern und

23
genau so nah sei wie Deutschland: ,,Der Schriftsteller stand in der Mitte, und die
Welt um ihn war überall gleich fern und nah, oder der Schriftsteller war außen,
und die Welt war die Mitte, war die Aufgabe, um die er kreiste, etwas nie zu Er-
reichendes, niemals zu Bewältigendes, und es gab keine Ferne und keine Nähe."
[96] Dieses Nicht-bewältigen-können der Aufgabe des Schriftstellers hat Martin
Hielscher bereits in ,,der nervösen Atemlosigkeit der Sprache" ausgemacht. Hiel-
scher fügt hinzu: ,,Dennoch bleibt in den Romanen die Vorstellung einer privile-
gierten Deutungsperspektive des einzelnen, einsamen Künstlers erhalten. Gerade
diese traditionelle Position, die in Koeppens Romanen in ironischen, grotesken
und tragischen Szenen reflektiert und gebrochen wird, ihre Verzweiflung aber we-
sentlich motiviert, unterscheidet den Roman radikal von den Vorbildern in der
Moderne."
33
In dem bereits erwähnten Segment ,,Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht" [19]
wird Philipp als ein ,,außerhalb dieses Ablaufs der Zeit" Stehender beschrieben,
,,nicht eigentlich ausgestoßen aus dem Strom" [20], aber auf einen einsamen Be-
obachterposten gestellt. Hielscher: ,,Diese Stelle macht deutlich, daß Philipp ­ und
mit ihm Koeppen ­ gerade den Zugriff auf das ,Wesen' einer Zeit als problema-
tisch empfindet."
34
Auch hier die Ambivalenz: Hielscher ist zwar grundsätzlich
zuzustimmen, aber Koeppen behauptet in seinem Vorwort zur 2. Auflage der
,,Tauben im Gras" ja nichts Geringeres als: ,,Diese Zeit, den Urgrund unseres
Heute, habe ich geschildert, und ich möchte nun annehmen, sie allgemeingültig
beschrieben zu haben [...]." [7] Der Schriftsteller als privilegierter Seher und
gleichzeitig als wirkungslose und unnütze Instanz ­ zwischen diesen beiden Polen
schwankt Koeppen unentwegt, im Geschriebenen wie als Schreibender.
Eine dritte Kategorie kommt hinzu, die Koeppen Philipp in den Mund legt: ,,[...]
er war schließlich nur jemand, der sich Schriftsteller nannte, weil er in den Ein-
wohnerakten als Schriftsteller geführt wurde [...]." [96] Auch für diese Reduzie-
33
Hielscher, Martin: Wolfgang Koeppen. Verlag C. H. Beck, München 1988, S. 78.
34
Ebd., S. 86.

24
rung des Schriftstellers auf eine austauschbare, die Existenz materiell sichernde
Tätigkeit gibt es Parallelstellen in Interviews mit Wolfgang Koeppen:
,,Da ich Schriftsteller geworden bin, da ich vom Schreiben lebe oder es ver-
suche, hängt meine Existenz, mein Wohl- oder Schlechtleben von diesen
Käufern meines Buches ab. Ein blödsinniger Zustand. Da ich in einer kapi-
talistischen Gesellschaft lebe, wäre ich gern ein Erbe (wie die Franzosen
Gide, Flaubert, Proust), der nicht vom Schreiben leben müßte, und damit ein
viel besserer Schriftsteller, viel fleißiger, frei vom falschen Zwang zur Pro-
duktion, weil die Miete zu zahlen ist, und es wäre mir dann gleichgültig, ob
ich einen oder tausend Leser hätte, und der eine wäre mir lieb."
35
Einen eher heiteren Beleg für die Tatsache, dass Koeppen unter der Berufsschrift-
stellerei gelitten hat, liefert er mit der Schilderung eines (Alb-)Traums: ,,Ich liege
ja schlaflos und träume von meinem Verleger, von Herrn Unseld, sehe ihn in sei-
nen Verlagsräumen sitzen vor einem leeren Schreibtisch, und man trägt die Möbel
aus dem Verlag heraus, sie werden gepfändet, und auch den Schreibtisch zieht
man ihm schließlich weg, und Herr Unseld sitzt völlig verzweifelt und verarmt da,
nur weil ich das Manuskript nicht abgegeben habe ... ­ das ist ein wirklicher
Traum von mir ..."
36
. Es bleibt allerdings die spannende Frage ­ sie muss freilich
unbeantwortet bleiben ­, ob Koeppen ohne äußeren Druck überhaupt etwas zu
Papier gebracht hätte, oder vielmehr: zur Veröffentlichung freigegeben hätte.
Zurück zu Philipp: Er flieht vor dem Menschenpulk, der über ihn zu Edwin gelan-
gen will und findet sich im Hof des Hotels wieder, wo kurze Zeit später auch Mr.
Edwin eintrifft ­ ebenfalls auf der Flucht. Beide sprechen kein einziges Wort mit-
einander, Koeppen lässt das Weitere in ihren Köpfen ablaufen. Edwin hält Philipp
zunächst ,,für sein Spiegelbild, für seinen Doppelgänger, eine sympathisch-
unsympathische Erscheinung" [102f.]. Sofort bemerkt er die Absurdität seines
35
Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch: Wolfgang Koeppen und Horst Krüger. Zitiert nach:
Koeppen, Wolfgang: Einer der schreibt, S. 33.
36
Schreiben als Zustand. Christian Linder im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Text + Kritik,
Heft 34, München 1972, S. 20.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832453138
ISBN (Paperback)
9783838653136
Dateigröße
881 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover – Literatur- und Sprachwissenschaften
Note
1,5
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