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Auf den Spuren der Zeit

Eine analytische Betrachtung temporaler Strukturen im Werk Paul Cèzannes und seiner Zeitgenossen

©1998 Doktorarbeit / Dissertation 249 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeit ein wesentlicher Aspekt des impressionistischen Kunstschaffens ist, wurde dieses Thema in der kunstgeschichtlichen Literatur bisher nur unzureichend behandelt.
Zwar lassen sich ohne Weiteres zahlreiche Hinweise auf die Zeitbezogenheit impressionistischer Kunst finden, doch stellen diese vorzugsweise die Negation von Zeit, d. h. Zeitlosigkeit im Sinne von nicht mehr vorhandener Zeit heraus (Novotny, Rewald, Meyer).
Mein Anliegen war es, in der vorliegenden Untersuchung die Vielschichtigkeit des Themas Zeit herauszuarbeiten, so dass das eher dürftige Repertoire an Untersuchungen, wie sie zur Zeit vorliegen, zu diesem Gegenstand um ein fundiertes Projekt erweitert werden kann.
Ausgehend von einer grundsätzlichen Annahme von Zeitbezogenheit und Zeit in den vorgestellten Werken von Renoir, Monet, Degas, Pissarro und Cézanne, möchte ich dem Thema Zeit in der impressionistischen Kunst eine Wende in der Interpretation ihrer Dimension einräumen.
Gang der Untersuchung:
Der erste Teil meiner Arbeit befasst sich mit der Thematisierung temporaler Strukturen unter folgenden Aspekten:
Motivisch: Inwiefern sind die beschriebenen Motive charakteristisch für das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts?
erzählte Zeit: Inwieweit indizieren die Darstellungen Handlungsabläufe und die Anwesenheit von Zeit?
unsichtbare Aspekte von Zeitgeschehen und Zeit.
Im letzten Teil der Untersuchung geht es mir wesentlich um die Darstellung der signifikanten Merkmale im Umgang mit Zeit bei Cézanne. Denn diese werfen ein völlig neues Licht auf die Begründung seiner Modernität.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
EINLEITUNG
ÜBER DIE ZEIT: EINE EINFÜHRENDE SKIZZIERUNG DES PROBLEMFELDES
1.WAS IST ZEIT?
2.DAS PHÄNOMEN ZEIT: EINE OBJEKTBESCHREIBUNG
DER AUFBRUCH IN DIE MODERNE: DAS 19. JAHRHUNDERT UND SEINE TECHNISCHEN UND KULTURELLEN INNOVATIONEN
1.DIE INDUSTRIALISIERUNG VON RAUM UND ZEIT: DER BEGINN DES EISENBAHNZEITALTERS
2.DIE PANORAMATISCHE SICHTWEISE ALS EIN CHARAKTERISTIKUM DES 19. JAHRHUNDERTS
3.PARIS UND DIE ÄRA HAUSSMANN
4.DIE ERFINDUNG DER FOTOGRAFIE UND DIE BEGRÜNDUNG EINER NEUEN SICHTWEISE
5.DER SINN FÜRS ZUFÄLLIGE: JAPANISCHE FARBHOLZSCHNITTEUND IHR AUFKOMMEN IN EUROPA
DAS AUFKOMMEN IN EUROPA
HISTORISCHER ABRISS
THEMENBEREICHE UND STILMERKMALE
AUSWIRKUNGEN AUF DIE EUROPÄISCHE KUNST
6.RESÜMEE
ZEIT UND ZEITGESCHEHEN BEI CÉZANNE, RENOIR, MONET, DEGAS UND […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5474
Cercelovic, Sabrina: Auf den Spuren der Zeit: Eine analytische Betrachtung temporaler
Strukturen im Werk Paul Cèzannes und seiner Zeitgenossen / Sabrina Cercelovic - Hamburg:
Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Berlin, Universität, Dissertation / Doktorarbeit, 1998
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

1
EINLEITUNG
4
ÜBER DIE ZEIT: EINE EINFÜHRENDE SKIZZIERUNG DES PROBLEM-
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DER AUFBRUCH IN DIE MODERNE: DAS 19. JAHRHUNDERT UND SEINE
TECHNISCHEN UND KULTURELLEN INNOVATIONEN
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4
Einleitung
Die Auseinandersetzung mit der impressionistischen Kunst führt beinahe zwangsläufig
zur Beschäftigung mit dem Phänomen der Zeit. Trotzdem lässt sich nicht übersehen,
dass der Komplexität dieses Themas in der kunstgeschichtlichen Literatur kaum
Rechnung getragen wird. Zwar lassen sich ohne weiteres zahlreiche Hinweise auf die
Zeitbezogenheit der impressionistischen Kunst finden; doch diese beziehen sich
vorwiegend auf den Aspekt Vergänglichkeit und stellen somit die Negation von Zeit,
d.h. Zeitlosigkeit im Sinne von nicht (mehr) vorhandener Zeit heraus. So wird in diesem
Kontext die Darstellung des flüchtigen, vergänglichen Augenblicks als das
Hauptanliegen impressionistischen Kunstschaffens genannt (Novotny, Rewald,
Meyer). Eine Konsequenz hieraus war, dass sich das Interesse der bildnerischen
Darstellung mehr und mehr vom Motiv entfernte und die Priorität beim Malvorgang
selbst ansiedelte.
Akzentverschiebungen dieser Art bedingen notwendig eine inhaltliche Revision, der
sowohl die klassischen Themenbereiche wie Historie, Allegorie und Mythologie als
auch sozialkritische oder idealisierende Darstellungen des aktuellen Zeitgeschehens
zum Opfer fallen. Die Impressionisten wählten konsequenterweise thematisch
unbedeutende Motive, denn der Inhalt des Bildes sollte nicht von der bravourösen
Darstellungsart ablenken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das aktuelle
Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts in der bildenden Kunst überhaupt nicht
thematisiert wurde. Eine derartige Behauptung wäre grundsätzlich falsch, denn
gerade in den Werken der Impressionisten, die sich vorwiegend auf die Darstellung
von Vorstadtvergnügungen, kulturellen Veranstaltungen, Café- und Straßenszenen
etc. konzentriert hatten, wird das Lebensgefühl und somit auch der Zeitgeist des 19.
Jahrhunderts sehr gut dokumentiert.
Fehlender Zeitbezug bedeutet in diesem Kontext folglich keinen Mangel an
Dokumentation, sondern ein Nichtwahrnehmen in dem Sinne, dass die Thematik der
Zeit mehr oder weniger auf den flüchtigen Augenblick reduziert und das Motiv nicht
als charakteristisches Merkmal seiner Zeit behandelt, sondern primär als Anlaß für die
Wahl der stilistischen Mittel genommen wird. Diese wiederum - als rein ästhetische
Bestandteile der künstlerischen Aussage - kümmern sich nicht um Belange von
Zeitbezogenheit oder Aktualität. Folglich findet sich in dieser Akzentverschiebung

5
vom Motiv zum Malvorgang selbst eine Negation der Zeit. Dergestalt ignoriert, stellt
sich der Zeitaspekt innerhalb der impressionistischen Kunst nur als negativer Befund
dar. Folglich beziehen sich spezifische Fragestellungen der kunstgeschichtlichen Lite-
ratur vor allem auf die Ab- und Anwesenheit von Zeit und werden in der Regel im
Sinne einer Nicht-Annahme ihres Vorhandenseins formuliert.
Ich konzentriere mich mit der vorliegenden Arbeit auf den positiven Befund. Aus
diesem Grunde gilt mein Interesse nicht nur den sichtbaren Merkmalen von Zeit und
Zeitbezug, sondern insbesondere auch den verborgenen Aspekten der Zeit.
Das Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, Zeit und Zeitbezug der vorgestellten Werke
im kunsthistorischen Rückgriff auf die ikonographische Ausrichtung vorangegangener
Epochen zu erklären und dergestalt ihre Modernität zu begründen. Die
Zeitbezogenheit soll vielmehr aus der künstlerischen Reflexion des aktuellen
Zeitgeschehens abgeleitet werden, d.h. es wird bei den Bildanalysen primär darum
gehen, die wesentlichen Merkmale der impressionistischen Kunst herauszustellen und
den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts zu skizzieren.
Die meinem Forschungsvorhaben zugrundeliegende Arbeitshypothese geht von
einer grundsätzlichen Annahme von Zeit und Zeitbezug in den vorgestellten Werken
aus. Deshalb werde ich die nachfolgend vorgestellten Werke nicht nur unter dem
Aspekt der Ab- oder Anwesenheit von Zeit untersuchen und im ersten Falle einen
vermeintlich negativen Befund als solchen nicht weiter thematisieren. Vielmehr
werde ich mich mit meinen Untersuchungen insbesondere auch den sogenannten
negativen Aspekten von Zeit widmen.
Das bedeutet, dass ich mich nicht allein auf die Darstellungen von
Handlungsabläufen und zeitgenössischen Motiven konzentriere und diese dann als
Indikatoren für die Anwesenheit von Zeit und Zeitbezug benutze, sondern ich werde
auch die weniger konkreten Ausprägungen von Zeit in meine Analysen einbeziehen.
Dies sind vor allem ihre philosophischen und physikalischen Implikationen. Mein
Arbeitsvorhaben zielt also darauf ab, die Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit im Kontext
ihrer interdisziplinären Bedeutungen zu erörtern.
Die positive Darstellung einer zunächst nur mittelbar wahrnehmbaren Gegebenheit
erfordert ein Sichtbarmachen. Dieses geschieht durch Beschreibung und Erklärung.
Das explikationsbedürftige Potential ist die Zeit in ihrer interdisziplinären Bedeutung.
Aus diesem Grunde werde ich in einer einleitenden Skizzierung des Problemfeldes die

6
wesentlichen Merkmale der Zeit herausstellen. Zum einen, um aus der Vielfalt der
interdisziplinären Erörterungen zum Thema Zeit ein Gemeinsames zu entwickeln, das
in der kunstgeschichtlichen Analyse ein brauchbares Instrumentarium darstellt, zum
anderen, um den Untersuchungsgegenstand selbst kenntlicher zu machen, denn ein
Paradoxon der Zeit ist, dass sie Objekt und Subjekt zugleich ist.
Da es im Rahmen dieser Untersuchung unerlässlich ist, auf die wesentlichsten
Neuerungen des 19. Jahrhunderts Bezug zu nehmen, werde ich diese ebenfalls in
einem einführenden Exkurs erläutern.
Im ersten Teil dieser Analyse werden Werke von Cézanne, Renoir, Monet, Degas und
Pissarro vorgestellt. Bei der Thematisierung temporaler Strukturen geht es zunächst
einmal um die motivische Nähe zum 19. Jahrhundert, d. h. es soll geklärt werden,
inwieweit die dargestellten Situationen charakteristisch für ihre Zeit sind. Weitere
Untersuchungsschritte befassen sich sowohl mit den sichtbaren als auch mit den
Unsichtbaren Aspekten von Zeit. Während sich die Erstgenannten auf die
Handlungszeit konzentrieren, geht es bei den Letzten zum einen um die
Darstellungsart und deren Auswirkung auf die inhaltliche Interpretation, zum anderen
um die Quantitäten der Zeitebenen, die in jedem der vorgestellten Werke
repräsentiert sind.
Der zweite Teil dieser Untersuchung befaßt sich wesentlich mit der Darstellung der
signifikanten Merkmale im Umgang mit Zeit bei Paul
Cézanne. Hierbei geht es hauptsächlich um die Aspekte ,,Die Zeit in der Zeit" und
,,Zeitgeschehen". Die diesem Untersuchungspunkt zugrundeliegenden
Fragestellungen zielen zunächst zwar auch darauf ab, Indizien für die Anwesenheit
von Zeit und Zeitbezogenheit zu finden. Sie sollen darüber hinaus jedoch auch
erklären, worin die Modernität Cézannes besteht.
Während die Kriterien, die meine Option für Cézannes Bilder La femme à la
cafetière, Stilleben mit Äpfeln und Orangen und Die Kartenspieler begünstigt
hatten, vorwiegend persönlicher Natur waren, da mich diese Werke sowohl durch
ihre motivische Ausrichtung als auch durch ihre klare und prägnante Formensprache
faszinieren, wurden die restlichen Werke eher themenspezifisch ausgewählt.
Das Auswahlkriterium hierbei war die Dokumentation charakteristischer Ereignisse des
19. Jahrhunderts. Neuerungen, die seit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters in

7
Frankreich im Jahre 1843
1
das Lebensgefühl und den Zeitgeist dieser Epoche prägten,
waren die Mobilität und eine neue Freizeitkultur, die sich in den Werken der
impressionistischen Kunst in einer Motivwahl zeigte, die vorwiegend die Distanz von
der täglichen Arbeit thematisierte. Theaterbesuche, Ausflüge und Vorstadtver-
gnügungen wie Rudern und Segeln waren gängige Motive. Dieser Umstand
begründete meine Option für die Bilder Le déjeuner des canotiers, Le pont de
l'Europe und Die Ballettprobe.
Selbstverständlich spielten auch bei dieser Auswahl subjektive Gründe eine Rolle, da
insbesondere sowohl bei Degas als auch bei Monet zur ausgewählten Thematik
serielle Darstellungen zur Verfügung stehen, so dass der Rückgriff auf die
vorgestellten Werke nicht zwingend war.
Dasselbe trifft auch auf meine Auswahlkriterien für Pissarros: Mädchen beim
Geschirrspülen zu. Allerdings hat mich zu dieser Bildauswahl auch eine partielle
Analogie zu Cézannes La femme à la cafetière motiviert.
Ein wesentliches Kriterium, das mich zu der Option für La maison du pendu, Auvers-
sur-Oise veranlaßt hatte, ist die Tatsache, dass dieses Bild eines der bekanntesten
Werke Cézannes aus dieser Zeit ist, das sowohl seine Annäherung an den
Impressionismus als auch die Distanz zu ihm erkennen lässt.
1
vgl.: Schivelbusch 1995, S. 174

8
Über die Zeit: eine einführende Skizzierung des Problem-
feldes
Die Auseinandersetzung mit dem Thema ,,Zeit" ist ein komplexes Unterfangen, das alt
und neu zugleich ist. Ihr aktueller Bezug manifestiert sich in jedem Blick auf die Uhr,
der historische Bestand zeigt sich darin, dass sie bereits die Populationen frühzeitlicher
Kulturen beschäftigte - wenn auch in einem für unser heutiges Zeitverständnis
bescheidenen Rahmen. Sie fesselte das Denken der antiken Philosophie, indem sie
um 500 v. Chr. mit den Diskussionen über Vergänglichkeit und Dauer die
Hauptaspekte der Zeitproblematik erörtert hatte.
Im Fortschreiten unserer kulturellen Entwicklung rückte die Frage nach der Zeit immer
mehr in den Fokus des Interesses. Die Zeit ist inzwischen ein interdisziplinärer
Forschungsgegenstand geworden, dessen Unter-
suchung immer komplexere Fragestellungen aufwirft. Fraser stellt dazu fest:
,,Das Unterfangen, die Zeit anzuhalten, war höchst gewinnträchtig und äußerst
vergeblich. Denn indem Menschen sich um ein Verständnis für die Zeit bemühten,
verstanden sie sich selbst und die Welt besser. Die neuen Einsichten fanden im
Überlebenskampf Anwendung. Jeder Schritt auf dem Wege der Erkundung
veränderte die Regeln, nach denen die Suche verlief; dadurch wurde die
Aufgabe, die Zeit zu verstehen, immer gewaltiger. Jeder Erfolg offenbarte eine
noch größere, unerschlossene Welt. In der Beschäftigung mit der Zeit kann es
keinen festen Endpunkt geben, kein erreichbares Ziel, sondern nur Entdeckungen
neuer Ausgangspunkte."
2
Das Rätsel der Zeit beschäftigt auch Elias, der sich über die Zeitproblematik folgende
Gedanken macht:
,,Unklar bleibt heute im großen und ganzen wohl noch immer der ontologische
Status der Zeit. Man denkt über sie nach, aber weiß nicht recht, mit welcher Art von
Gegenstand man es eigentlich zu tun hat. Ist Zeit ein Naturgegenstand ? Ein Aspekt
von Naturvorgängen ? Ist sie ein Kulturobjekt ? Oder täuscht die substantivische
Form des Wortes `Zeit' vielleicht nur einen Gegenstandscharakter vor ? Was zeigen
die Uhren eigentlich, wenn wir sagen, sie zeigen die Zeit an ?"
3
Des weiteren stellt er fest:
2
Fraser 1993, S. 64
3
Elias 1984, S. XIX

9
,,Physiker sagen bisweilen, daß sie die Zeit messen. Sie bedienen sich
mathematischer Formeln, in denen das Maß der Zeit als benanntes Quantum eine
Rolle spielt. Aber man kann die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören noch
schmecken, noch riechen. Das ist eine Frage, die auf Antwort wartet. Wie kann
man etwas messen, das man nicht mit Sinnen wahrzunehmen vermag ? Eine
Stunde ist unsichtbar."
4
1. Was ist Zeit ?
Ist eine eindeutige Definition des Begriffes ,,Zeit" aufgrund seiner interdisziplinären
Anwendung schon schwierig genug, so wird dieser Umstand noch erschwert durch
den zwiespältigen Charakter der Zeit: Einerseits scheint die Zeit ein immaterielles
Etwas zu sein, das man weder sehen noch fühlen kann. Dennoch ist es meßbar und
offensichtlich mit einer gewissen, obskuren Potenz ausgestattet. Die Zeit ist unsichtbar
und haptisch nicht faßbar, sie ist geruchlos und unserer sinnlichen Wahrnehmung
vollkommen unzugänglich. Trotzdem beeinflußt sie unser Handeln in einer Weise, in
der es außer ihr keine andere Macht vermag. Was für ein Mysterium umgibt die Zeit ?
,,Kann Zeit Druck ausüben, den sogenannten Zeitdruck ? Ist sie ein konditionsstarkes
Rennpferd, dem viele von uns mit den zivilisationseigenen Scheuklappen
hinterherzuhetzen trachten ? Läuft sie auf der Nordhalbkugel und in Städten
schneller als im Süden oder auf dem Lande ? Ist sie gar eine menschliche Erfindung
?"
5
Die Zeit ist omnipräsent und omnipotent. Sie ist ,,überall, unteilbar und unzerstörbar."
6
Sie ist die unangefochtene Herrscherin hochdifferenzierter Industrienationen. Durch
ihre bloße Existenz, symbolisiert durch die Zifferblätter der Uhren, ist sie die
Schwungkraft des sozialen Lebens. Ein Blick auf die Uhr genügt und es wird mobil
gemacht: Stechuhren markieren den Beginn der Arbeitszeit, Werksuhren das Ende
der Schicht und Bahnhofsuhren mahnen zur Eile.
Mit der Omnipräsenz der Zeit einher geht die Omnipräsenz der Uhren : Sie sind in
modernen Industrienationen allgegenwärtig und unverzichtbar geworden. Weis
spricht in diesem Kontext auch von der ,,Uhrhörigkeit" als einem Phänomen unserer
Zeit:
,,Viele schauen bei jedem erneuten Hinweis auf die Uhrzeit gleich auf ihre eigene
Uhr, als wollten sie etwas mit prüfendem Blick kontrollieren. Das gilt selbst, wenn kein
`Jahreswechsel' mit dem erwähnten Zeitvergleich ansteht ... Die Uhr ist ein
Kultgegenstand, den man als Mitglied der neuen Zeit-Religion gar nicht oft genug
fasziniert und ergeben anschauen - oder soll ich sagen `gläubig konsultieren ?' -
4
ebd., S. VII
5
Weis 1996a, S. 11
6
Poser 1996, S. 38

10
kann. Dies ist das Jahrhundert der Zeitwahrnehmung, Zeitdebatten und Zeitkämpfe.
Für viele ersetzt die Uhr mit ihren Auskünften die Rolle alter Propheten und Orakel."
7
Worüber debattiert man, wenn man sagt, man erörtere die Zeitproblematik ? Worum
kämpft man, wenn man sagt, man kämpfe um die Zeit ? Welche geheimnisvolle
Macht ist es, die einen nach einem Blick auf die Uhr in hektischen Aktionismus
verfallen lässt ? Was ist Zeit ?
Sie ist nach Weis für uns das Wichtigste. Sie verdeutlicht Leben :
,,Leben, soweit uns irdisch bekannt, ist durch eine Kürze in der Zeit, durch Kommen
und Gehen, Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod gekennzeichnet ... Zeit ist
Leben, Leben ist kurz, Zeit ist Frist ... Sonne und Erde, Vulkane und Bäume, Menschen
und Eintagsfliegen, alles hat seine Lebenszeit."
8
Ist die Zeit also nichts weiter als ein Behältnis ? Ein Rahmen, innerhalb dessen
bestimmte Ereignisse stattfinden ? Weshalb konnte sie dann in Jahrtausend langer
Tradition das Denken der Menschheit fesseln ? Wieso konnte sie dann zu einem
Gegenstand interdisziplinärer Forschung avancieren, wenn sich ihre Definition derart
bescheiden ausnimmt ?
Ganz so einfach scheint es also nicht zu sein mit der Definition von Zeit. So wird die
Zeit denn auch von Mainzer charakterisiert als ein
,,fach-übergreifender Begriff par excellence, für dessen adäquate Behandlung sich
sowohl ein natur- als auch kulturwissenschaftlicher Reduktionismus verbietet."
9
Was macht die eindeutige Definition von Zeit so schwierig ?
Die Zeit wird nicht selten zur Diebesbeute und gerade denen gestohlen, die ohnehin
nicht viel von ihr haben.
,,Auch zählt sie anscheinend zu den verderblichen Gütern: Sie kann reifen, kommen
und gehen; stets ist sie flüchtig und entschwindet ohne Wiederkehr. Einzig den
Glücklichen mag sie, selten genug, für Augenblicke stillstehen und auch den
Leidenden und Bekümmerten oft nicht vergehen. Gemeinhin aber wirkt sie
segensreich - sie heilt Wunden, tröstet und bringt Rat."
10
Mit derartigen Attributen ausgestattet, wirkt die Zeit wie ein ,,mysteriös wirkendes
Agens"
11
, eine omnipotente Entität, was nicht zuletzt auf die substantivische Form des
Wortes ,,Zeit" zurückzuführen ist. Dies erkannte auch Wittgenstein:
7
Weis 1996b, S. 39
8
Weis 1996a, S. 16
9
Mainzer 1995, S. 7
10
Ströker 1996, S. 183
11
ebd. S. 183

11
,,All the facts that concern us (S.C. about time) lie open before us. But it is the use of
the substantive time which mystifies us."
12
Die substantivische Form erinnert an ältere Sprachkonventionen, die dazu neigten,
Abstraktionen zu personifizieren ( aus der Gerechtigkeit wurde die Göttin Justitia )
und andere Begriffe zu allegorisieren.
Redewendungen, wie etwa: ,,die Zeit läuft", ,,die Zeit bestimmen" oder ,,die Zeit
messen" erwecken den Eindruck, als sei die Zeit ein handelndes Etwas und ein
bestimmbares Ding, das sich nur deshalb einer eindeutigen Definition entzieht, weil
es mit den Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Formulierungen dieser Art bekräftigen also
immer wieder den Mythos der Zeit
,,als etwas, das in irgendeinem Sinne da ist, existiert und als derart Vorhandenes
von Menschen bestimmt oder gemessen werden kann, wenn man es auch nicht
mit Sinnen wahrzunehmen vermag."
13
Gäbe es im Deutschen - analog zum Englischen - eine verbale Form des Zeitbegriffs,
dann wäre der instrumentelle Charakter der Zeit unverkennbar. So aber vermittelt
unser Sprachgebrauch den Eindruck, als sei die Zeit ein physikalisches Objekt. Spricht
man beispielsweise davon, dass man die Zeit misst, dann kann es durchaus so
aussehen, als sei die Zeit eine physikalische Gegebenheit wie etwa ein Fluß oder ein
Berg, deren Maße man nehmen kann.
Notwendig trägt der substantivische Gebrauch des Zeitbegriffs in diesem und in
ähnlichen Fällen zu einer illusionistischen Betrachtung desselben bei. Die Verbform
wäre geeigneter, um sich von derartigen Illusionen zu lösen. Gemäß ihrer
grammatikalischen Bedeutung stellte sie heraus, dass es sich beim Zeitbestimmen
oder Synchronisieren um eine Tätigkeit handelt: In diesem Falle um eine menschliche
Tätigkeit mit dem Zweck des In-Beziehung-Setzens.
Mit dem Gebrauch der Verbform erfährt der Zeitbegriff notwendig einen
Bedeutungswandel: Zeit ist nun ein Symbol für eine Beziehung, die zwischen zwei
oder mehreren Geschehensabläufen hergestellt wurde und von denen einer als
Maßstab oder Bezugsrahmen standardisiert worden ist.
In unserem Sprachgebrauch ist jedoch die substantivische Form üblich. Mit ihr hat die
Zeit im sozialen Kontext
,,dieselbe merkwürdige Daseinsform wie andere soziale Gegebenheiten, auf die wir
durch Substantive wie `Gesellschaft', `Kultur', `Kapital', `Geld' oder `Sprache'
12
Wittgenstein 1958, S. 6
13
Elias 1984, S. 8

12
hinweisen - Substantive, die sich auf etwas beziehen, was in einem nicht näher
bestimmten Sinne außerhalb und getrennt von Menschen zu existieren scheint."
14
Substantive dieser Art beziehen sich auf Gegebenheiten, die eine Vielzahl
interdependenter Individuen voraussetzen. Sie besitzen eine relative Autonomie und
sind in der Lage, soziale Standards zu setzen, welche die individuellen
Kompetenzbestrebungen zumindest partiell sabotieren können. Individuell haben
Menschen daher oft den Eindruck, dass Begrifflichkeiten dieser Art generell von
Menschen unabhängig seien, weil sie von ihnen als Individuen unabhängig sind.
Vom gesellschaftlichen Leben abstrahierte Begriffe wie ,,Kultur" und ,,Zeit" sind vom
einzelnen Menschen in ihrem Geltungsbereich unanfechtbar. Als etablierte soziale
Standards haben sie einen normativen Charakter: Sie beeinflussen das Leben des
Einzelnen und strukturieren das Leben der Gesellschaft. Derart mit Machtbefugnissen
ausgestattet, wird ihr Bedeutungsgehalt oft überhöht und fast schon im Bereich des
Mystischen angesiedelt:
,,Besonders in urbanen Gesellschaften werden Uhren in einer Weise hergestellt und
verwendet, die an die Herstellung und Verwendung von Masken in vielen prä-
urbanen Gesellschaften erinnert: Man weiß, daß sie von Menschen gemacht sind,
aber sie werden erlebt, als ob sie eine außermenschliche Existenz repräsentierten.
Masken erscheinen als Verkörperungen von Geistern. Uhren erscheinen als
Verkörperungen der `Zeit'; die Standardredewendung in bezug auf sie lautet: Sie
zeigen die Zeit an. Die Frage ist: Was genau zeigen Uhren an ?"
15
2. Das Phänomen Zeit: eine Objektbeschreibung
,,Die wandelbare Konstellation auf dem Gesicht einer Uhr hat die Funktion,
Menschen anzuzeigen, welche Position in dem Nacheinander des großen
Geschehensflusses sie und andere gegenwärtig einnehmen, oder auch wie lange
sie gebraucht haben, um von dort nach hier zu kommen. Die
menschengeschaffenen Symbole der sich wandelnden Zifferblätter von Uhren, die
wechselnden Kalenderdaten sind die Zeit."
16
Die Zeit ist demzufolge keine Naturgewalt. Sie ist ein Kulturgut, dessen vordergründige
Aufgabe offensichtlich die Orientierung ist. Sie ist das Gemeinsame in der Vielfalt von
spezifischen Geschehensabläufen, das Menschen mit Hilfe von Uhren und Kalendern
zu bestimmen suchen. Sie ist dennoch kein allgemeingültiger und eindeutiger Begriff.
Die Schwierigkeit einer eindeutigen Definition von Zeit resultiert zum einen aus der
14
ebd., S. 95
15
ebd. S. 95
16
ebd., S. XXII

13
Dimension ihrer kulturellen Bedeutung, die insbesondere in hochentwickelten
Industrienationen enorm ist: Uhren als die symbolischen Repräsentationen der Zeit
sind in unserem Kulturkreis allgegenwärtig. Omnipräsent und omnipotent mahnen sie
zu Hast und Eile. Die Zeit übt Druck aus, den sogenannten Zeitdruck - obgleich sie
nach Kant und Aristoteles an sich eigentlich nichts ist.
17
Dieses Paradoxon ist nicht
unbedingt dazu angetan, die Definition von Zeit zu erleichtern. Eine weitere
Schwierigkeit ist in der Komplexität des Themas selbst begründet: Temporale
Perspektiven werden diskutiert in Bezug auf die philosophischen, sozialen, kulturellen,
physikalischen, biologischen und historischen Aspekte des Lebens; die Zeit ist im
Verlauf ihrer Entstehungsgeschichte zu einem Begriff mit einer multiplen
Erscheinungsform geworden.
Dennoch gibt es ein einheitliches Prinzip, das sich hinter den vielfältigen
Ausprägungen von Zeit und Zeitlichkeit erkennen lässt: Ihrer äußeren Erscheinung
nach pluralisch, ist die Zeit in ihrem Innern einheitlich; sie zielt auf Synchronisation,
also Vereinheitlichung ab. Dieses Ziel erreicht sie, indem sie sich als Orientierungshilfe
gibt.
18
Zeit ist das grundlegende Kriterium zur Bestimmung aller Ereignisse, Prozesse und
Objekte - ungeachtet aller Merkmale, die sie sonst noch besitzen mögen. Diese
Definition von Zeit ist zum einen auf die kantische Interpretation des Zeitbegriffs
zurückzuführen, die die Zeit als eine reine Form der sinnlichen Anschauung und als ein
Prinzip der Erkenntnis vorstellt, zum anderen ist sie in der Annahme einer
grundsätzlichen Prozesshaftigkeit aller Dinge begründet, die 1905 in der Speziellen
Relativitätstheorie erörtert wurde und seitdem als richtungsweisend für die
Bestimmung physikalischer Vorgänge gilt.
19
Ob es sich um lebende Organismen und
ihre Interaktion in sozialen Beziehungen oder um unbelebte Materie handelt, ist völlig
irrelevant, denn in allen Fällen liegen zeitlich strukturierte Prozesse vor.
Prozeßhaftigkeit als ein grundlegendes Charakteristikum der unbelebten und
belebten Natur wie auch ihrer soziologischen, psychologischen und mentalistischen
Implikationen unterliegt den Gesetzmäßigkeiten des Phänomens ,,Zeit", denn
Prozeßhaftigkeit bedeutet Veränderung - somit Bewegung. Diese wiederum ist ein
maßgebliches Kriterium zur Bestimmung und Wahrnehmung von Zeit: Zeit impliziert
17
vgl.: Aristoteles 1978, S. 207; Kant 1992, S. 80f
18
vgl.: Elias 1984, S. XXIIf; Dux 1989, S. 60
19
vgl.: Fraser 1993, S. 282

14
die Annahme von Bewegung, denn wenn alles stillstünde, könnte man nicht von Zeit
sprechen. So wurde die Zeit bereits von Aristoteles als ein Maß der Bewegung
vorgestellt.
20
Auch die platonische Schilderung der Entstehung der Zeit kann in
diesem Sinne interpretiert werden: Zur Erzeugung der Zeit wurden die Sonne, der
Mond und fünf Planeten als ein rotierendes Abbild der zeitlosen Ewigkeit geschaffen.
Die Zeit entstand mit dem Himmel und war ablesbar an den Rotationsbewegungen
des Planetensystems. Somit kann sie ebenfalls als ein Maß der Bewegung angesehen
werden, auch wenn diese Interpretation die platonische Definition des Zeitbegriffs
nur ansatzweise trifft.
21
Zeitbestimmung in ihrer ursprünglichen Form war ebenfalls an den Aktivitäten des
Planetensystems orientiert. Auf- und Untergänge von bestimmten Planeten wurden
als Parameter für die Zeitbestimmung benutzt; die Rotationsbewegungen der
Himmelskörper symbolisierten bestimmte Zeiteinheiten.
22
Der Charakter der
Zeitbestimmung war schon von seinen frühen Phasen an instrumentell. Zeitmessung
war niemals Selbstzweck; ihre Funktion war es, den Menschen anzuzeigen, wann
bestimmte soziale Aktivitäten ausgeführt werden sollten und wie lange sie dauern
durften.
23
Das Bedürfnis nach einer Bestimmung der Zeit trat in frühen Populationen erstmals
beim Übergang in die aktive Nahrungsmittelproduktion auf. Dies geschah ab ca.
7.000 v.Chr. durch die Entwicklung von Bauernkulturen im östlichen Mittelmeerraum.
24
Der Übergang in die aktive Nahrungsmittelproduktion mit Ackerbau und Viehzucht
prägte neue Lebensformen mit einer entsprechenden Zeiteinteilung. Allerdings war
von der Zeit als einem Kontinuum in dieser Phase der Evolution noch nicht die Rede.
Die Zeit wurde punktuell wahrgenommen, als die rechte Zeit zur Ausführung
bestimmter Aktivitäten.
25
Je komplexer und differenzierter Gesellschaften werden, um so notwendiger wird es,
Zeitaspekte zu thematisieren. Gleichermaßen erhöhen sich mit der Komplexität
sozialer Strukturen auch die Ansprüche an die Zeitbestimmung. Die Genese der Kultur
impliziert folglich notwendig die Genese der Zeit. Mit der zunehmenden
20
vgl.: Aristoteles 1978, ,S .208
21
vgl.: Platon 1989, S. 160
22
vgl.: Weis 1996b, S. 30; Dossey 1987, S. 50; Mainzer 1995, S. 15f
23
vgl.: Elias 1984, S.14; Fraser 1993, S. 67
24
vgl.: Mainzer 1995, S. 15

15
Urbanisierung und Kommerzialisierung erwerbsmäßiger Prozesse einher ging die
Notwendigkeit, die steigende Zahl differenzierter sozialer Aktivitäten zu
synchronisieren und über einen allgemein verbindlichen, gleichmäßig fortlaufenden
Zeitraster als Bezugsrahmen für diese Tätigkeiten zu verfügen. Dieser entwickelte sich
aus der Beobachtung regelmäßig wiederkehrender Naturereignisse, primär aus der
Wahrnehmung beständig wiederkehrender Planetenkonstellationen. Aufgrund
qualifizierter Beobachtungen lieferte die Astronomie im alten Ägypten die Grundlage
für die temporale Orientierung und demzufolge für diesen Zeitraster, der mit seiner
Einteilung des Jahres in 12 Monate zu je 30 Tagen bereits die Ausgangsbasis für alle
späteren Kalenderreformen darstellte. So geht unser heutiger Kalender historisch auf
die Naturbeobachtungen im alten Ägypten zurück.
26
Waren der Arbeitsrhythmus und die Arbeitsintensität in agrarischen Gesellschaften
noch vom Ablauf der Jahreszeiten bestimmt worden, so wurden sie seit dem 14.
Jahrhundert, als in den oberitalienischen Handelsstädten Turmuhren verwendet
wurden, die den Fortgang der Zeit auch nachts durch Glockenschlag anzeigten,
den abstrakten Kategorien einer mechanisierten Zeitvorstellung unterworfen. Mit
dem Aufkommen dieses Uhrentypus entwickelte sich die Vorstellung von
Zeitökonomie; Zeit war nicht unbegrenzt verfügbar, sie war flüchtig und musste
entsprechend genutzt werden. Mit der Mechanisierung der Zeitmessung setzte
folglich ein Autonomisierungsprozeß der Zeit ein: Die Zeit war nicht mehr länger nur
Maßeinheit und Strukturierungselement von Handlungsabläufen; sie avancierte zum
teleologischen Prinzip dieser Aktivitäten.
27
Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts der holländische Wissenschaftler Christian
Huygens die Pendeluhr erfand, trug diese Erfindung maßgeblich zu der modernen
Vorstellung von der Kontinuität und Homogenität der Zeit bei, denn ein
Nebenprodukt dieser Innovation war die Dichotomie des Zeitbegriffs. Mit der
Entwicklung zuverlässiger Meßinstrumente erachtete der Mensch die zyklischen
Naturprozesse zunehmend weniger als geeignete Mittel zu Zeitbestimmung; losgelöst
von den konkreten Ereignissen naturaler Vorgaben entwickelte sich die lineare Zeit
der Uhren.
28
Die Dichotomie des Zeitbegriffs, die die Zeit fortan in eine zyklische und
25
vgl.: Weis 1996b, S. 29f
26
vgl.: Dossey 1987, S. 50; Mainzer 1995, S. 15ff; Weis 1996b, S. 21
27
vgl.: Dux 1989, S. 334f; Gurjewitsch 1978, S. 184; Münkler 1984, S. 28
28
vgl.: Dossey 1987, S. 51; Elias 1984, S. 6

16
eine lineare Zeit unterteilte, ist wesentlich auf Galilei (1564-1642) zurückzuführen, der
den Gebrauch von mechanischen Uhren zur Bestimmung von rein physikalischen
Vorgängen propagiert hatte.
29
Die zyklische Zeit galt als subjektiv, die lineare Zeit als
objektiv. In der traditionellen Zeittheorie kam der objektiven Zeit ein Primat vor der
subjektiven Zeit zu.
30
Vom entwicklungssoziologischen Standpunkt aus betrachtet, hängt der Dualismus
des Zeitbegriffs eng mit dem Aufstieg der Wissenschaften zusammen. So wurde die
physikalische Zeit letztlich immer mehr als der Prototyp der Zeit angesehen.
31
Eine
Begründung für die Vormachtstellung, die die physikalische Zeit gegen Ende des 17.
Jahrhunderts erlangt hatte, kann nach Elias darin gesehen werden, dass mit dem
Aufstieg zu höheren Ebenen der begrifflichen Synthese oft die Ausgangsbasis in
Vergessenheit gerät. Wird gewohnheitsmäßig mittels hochgradiger Abstraktionen
kommuniziert, dann geschieht es leicht, dass die symbolische Repräsentation
sinnlicher Details, auf die sich diese Abstraktionen beziehen, aus dem Blickfeld
geraten .
32
Doch ohne umfangreiche Naturbeobachtungen hätte die
mathematisierte Zeit der Physik nicht entstehen können. Sie ist letztlich auch nur eine
symbolische Repräsentation naturaler Gegebenheiten. Die Ablösung der Zeit von
ihrem Entstehungsprozeß transformierte sie von einem konkreten Objekt, nämlich
dem Bezugsrahmen einer bestimmten Handlung, zu einem Abstraktum, das mit
universeller Gültigkeit den Zusammenhang aller Ereignisse erklärt. Die lineare oder
objektive Zeit ist inzwischen in Hochkulturen zur Selbstverständlichkeit geworden. Als
eine abstrakte Begrifflichkeit könnte man sie als die symbolische Repräsentation -
oder, um Platons Sprachgebrauch zu folgen - als ewige Idee der konkreten Zeit
definieren.
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, entstand die Notwendigkeit zur
Zeitbestimmung mit dem Übergang in die aktive Nahrungsmittelproduktion. Als
sinnvoll strukturiertes Handeln für das Überleben frühzeitlicher Kulturen notwendig
wurde, entstand das Bedürfnis nach Zeitmessung. Das Zeitbewußtsein in seiner
ursprünglichen Form war demzufolge primär handlungsbezogen. Diese
handlungsorientierte Zeitauffassung hielt sich bis ins frühe Mittelalter.
29
vgl.: Elias 1984, S. 80
30
vgl.: Lüders 1995, S. 20
31
vgl.: Elias 1984, S. 94
32
vgl.: ebd.,S.166

17
Der Komplexionsgrad frühmittelalterlicher Gesellschaften erforderte es noch nicht,
die Zeit von der einzelnen Handlung zu abstrahieren und als eigenständige
Begrifflichkeit zu behandeln. Die Zeit wurde gewöhnlich nach der Brenndauer eines
Spans, einer Kerze oder des Öls in einem Heiligenlämpchen bemessen. Mönche
orientierten sich beim Zeitbestimmen an der Zahl der Seiten, die sie gelesen hatten,
oder an der Zahl der Psalmen, die sie zwischen zwei Himmelsbeobachtungen zu
sprechen vermochten. Das ständige Bedürfnis, genau zu wissen, wie spät es ist,
existierte für die Menschen des frühen Mittelalters noch nicht. Die Tage wurden in
handlungsorientierte Abschnitte gegliedert.
33
Diesem Umstand ist es auch
zuzuschreiben, dass die Zeit des frühen Mittelalters eine lokale Zeit war: Da jede
Handlung mit einem Handlungsfeld verbunden ist, innerhalb dessen sie stattfindet,
implizierte die handlungszentrierte Zeitauffassung des frühen Mittelalters per se den
Verbund von Zeit und Raum.
34
Die Zeit hatte folglich nicht nur ihre eigene Handlung,
sondern auch ihren eigenen Raum. Aus diesem Grunde war die Zeit des frühen
Mittelalters - wie auch die des Altertums - eine lokale Zeit.
Eine grundlegende Änderung erfuhr dieses handlungszentrierte Zeitverständnis seit
dem Hochmittelalter, als sich ab dem ausgehenden 12. Jahrhundert durch die
Institutionalisierung des Christentums als Kirche und die mit ihr verbundene
Öffentlichkeit der Religion das Primat der sakralen Zeit etablierte. Die liturgischen
Interpretamente hatten eine eigene Zeitlichkeit; sie legten die heiligen Zeiten fest,
die im Fluß der profanen Zeiten ein Kontinuum darstellten. Die Arbeit der
Gottesdienstlichkeit war nach stringenten temporalen Ordnungsprinzipien organisiert
worden, die sukzessive auch vom weltlichen Leben übernommen wurden. So wurde
die Zeit des Klosters, die die Organisation des Tagesablaufes in Anlehnung an die aus
der Antike übernommene Gliederung des Tages in ,,horae" gestaltete und diese zur
Grundlage ihrer Gebetszeiten machte, welche durch Glockengeläut angezeigt
wurden, auch richtungsweisend für die Strukturierung des weltlichen Lebens.
35
Mit der
Bedeutung, die nun die Begriffe ,,Disziplinierung" und ,,Organisation" erfuhren,
wandelte sich auch die Bewertung von Zeit. Man könnte fast sagen, dass die
rigorose Strukturierung, die das soziale Leben durch die fortschreitende
Christianisierung seit dem Hochmittelalter sukzessive prägte, bereits erste Züge von
dem trug, was man heute unter Zeitökonomie versteht.
33
vgl.: Gurjewitsch 1978, S. 117f; Dux 1989, S. 317
34
vgl.: Mongardini 1986, S. 46

18
Maßgeblicher für die Entwicklung unseres heutigen Verständnisses von Zeit waren
jedoch die ab dem 9. Jahrhundert einsetzende Urbanisierung Europas und die mit ihr
notwendig verbundene Kommerzialisierung erwerbsmäßiger Prozesse. Ist der Markt
nicht mehr nur der Ort des Austauschs von Produkten, sondern Umschlagstelle einer
gezielt auf ihn ausgerichteten Produktion, dann bildet die Arbeitszeit den wichtigsten
wertbildenden Faktor. Dieser Umstand impliziert die Notwendigkeit der
ökonomischen Wertbestimmung von Zeit. Das Aufkommen der Turmuhren zu Beginn
des 14. Jahrhunderts markierte den Übergang in eine neue, ökonomisierte Zeit:
Umfunktioniert zu einer Art ,,Werksglocke", sollte der Schlag der Turmuhren dafür
sorgen, dass möglichst viele Arbeiter tagtäglich zu einer bestimmten Zeit zur Arbeit
kamen
36
- die Arbeitszeit wurde entqualifiziert, d.h. sie wurde von der konkreten
Handlung abgekoppelt und galt nun als limitierbare Maßeinheit für eine zu
erwartende Arbeitsleistung. Die Konsequenzen, die sich aus den mittelalterlichen
Innovationen ergeben hatten, entwarfen ein Interpretationsmuster von Zeit, das mit
unserem heutigen Zeitverständnis durchaus deckungsgleich ist. Wesentlich ist in
diesem Kontext die Entkoppelung der Zeit von der Handlung zu nennen.
Sinn und Zweck der zeitlichen Strukturierung ökonomischer und sozialer Prozesse ist es,
eine Zeitlichkeit zu entwickeln, die kompatibel mit der Zeit der relevanten
Bezugspersonen ist. Zeit ist in diesem Sinne eine Anschlußform, die sowohl den
Arbeitnehmer an das Erwerbsleben anschließt, als auch das neugeborene
Individuum an den soziokulturellen Kontext seiner vorgefundenen Umwelt.
Jeder Organismus besitzt aufgrund seiner endogenen Prozesse, die einer bestimmten
Periodizität unterliegen, eine eigene Zeitlichkeit. Da jeder Organismus gleichermaßen
ein integraler Bestandteil seiner Umwelt ist, unterliegt er auch deren Zeit. Für das
Fortbestehen von Organismen ist es folglich notwendig, dass sie ihre Eigenzeiten mit
den temporalen Strukturen ihrer Umwelt koordinieren. Die Zeit ist somit nach Dux eine
Anschlußform, die ebenso unter realen Bedingungen der Außenwelt wie der
Innenwelt steht, die es zu verarbeiten gilt.
37
Da der Mensch - im Gegensatz zum
Instinkt geleiteten Tier - nicht an die Dynamik der äußeren Wirklichkeit, in die er hinein
geboren wurde, angeschlossen ist, muss er diesen Anschluß zeitlich erst organisieren.
35
vgl.: Dux 1989, S. 320f; Nowotny 1995, S. 37
36
vgl.: Dux 1989, S. 332ff
37
vgl.: ebd.,S.131

19
Dies sogar in einem doppelten Sinne: als temporale Strukturierung seines eigenen
Verhaltens und als zeitliche Organisation seiner Umwelt.
Das vordergründige Motiv, das diesen Prozeß initiiert, ist die Bedürfnisbefriedigung.
Der anthropologische Aspekt des Zeitbegriffs muss also notwendig in Engführung mit
dem Begriff ,,Handlung" diskutiert werden; denn die Ausbildung kategorialer
Zeitlichkeiten resultiert aus dem menschlichen Bestreben, die größtmögliche
Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erlangen. Notwendig hierfür ist die Adaptation der
Eigenzeit des Organismus an die seiner Umwelt. Diese Anpassung ist das Resultat
eines mentalen Prozesses. Somit ist auch die Zeit, als ein Organisationsmittel sinnvoll
strukturierten Handelns, ein mentales Konstrukt.
38
Die Zeit ist also nicht nur eine
Maßeinheit von Bewegungsabläufen, sie ist gleichermaßen auch das teleologische
Prinzip dieser Bewegungen. Ihre Handlungsbezogenheit ist in diesem Sinne eine
doppelte.
Die Handlungsgebundenheit der Zeit produziert notwendig eine pluralische
Erscheinungsform von Zeit: Die enge Bindung des Zeitbegriffs an die Handlung lässt so
viele Zeiten wie Handlungen entstehen. In der ontogenetischen Entwicklung der Zeit
ist diese noch eng an die Handlung gebunden. Ein Ausdruck dieses frühen,
handlungsorientierten Zeitverständnisses ist die Vielfalt der Zeit: Auf diesem Niveau
des Zeitbestimmens hat jedes Geschehen seine eigene Zeitlichkeit; die Zeit ist
heterogen.
39
Mit der Anerkennung der Zeit als einer unabhängigen Konstante im Verlauf
wiederholbarer und nicht wiederholbarer Ereignisse einher ging der Dualismus des
Zeitbegriffs. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Zeit unterschieden in objektive und
subjektive Zeit. Die objektive oder lineare Zeit wurde zu einem Begriff der Physik, die
subjektive oder zyklische Zeit blieb weiterhin die Maßeinheit für naturale Prozesse,
soziologische und individuelle Aktivitäten. Mit der Objektivierung der Zeit als
homogenisierte Universalzeit hörte also die Handlungszeit nicht plötzlich auf zu
existieren. Sie wurde lediglich als konkrete Zeit der allumfassenden physikalischen
oder abstrakten Zeit einverleibt. Man könnte in diesem Kontext auch behaupten,
dass mit der Dichotomie des Zeitbegriffs die Vorstellung von einer Art ,,Zeitschachtel"
entstanden ist: Zum einen gab es die allumfassende lineare Zeit, die unabhängig
38
vgl.: Dux 1989, S. 46; Brück 1996, S. 207f
39
vgl.: Ströker 1996, S. 191

20
vom einzelnen Geschehen entstand und verging und zum anderen existierten die
vielen zyklischen Zeiten, die abhängig von den einzelnen Geschehensabläufen
waren. Handlungen ereignen sich vor dem Hintergrund der Geschichtszeit im Sinne
eines aktuell existierenden Zeitraumes; Handlungszeit ist folglich ein Bestandteil der
Chronologie. Da jede Handlung zwar ihre Eigenzeit hat, sich aber dennoch vor dem
Hintergrund einer allumfassenden Zeit abspielt, ist jede Handlungszeit eine Zeit in der
Zeit.
40
Zur Überwindung der handlungsorientierten Zeitmessung ist es notwendig, den Begriff
der Handlungskompetenz von dem konkreten Ereignis zu lösen: Handlungen müssen
in einer abstrakten Zeit, die außerhalb der Dauer eines konkreten Geschehens liegt,
vorgestellt und miteinander koordiniert werden können. In der Formulierung eines
abstrakten und von der konkreten Handlung abgelösten Begriffs von Zeit manifestiert
sich das Ende der ontogenetischen Entwicklung der Zeit.
41
Zeit ist nun nicht länger die
pluralische Erscheinungsfom multitemporaler Ereignisse; Zeit ist zur homogenisierten
Universalzeit geworden, die die vielfältigen Eigenzeiten diverser Aktivitäten unter
einen gemeinsamen Oberbegriff subsumiert.
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, erfolgte durch das Aufkommen mechanischer
Uhren eine Neubewertung der Zeit. Die Zeit wurde ökonomisiert und autonomisiert
durch die Entkoppelung von der konkreten Handlung. Der Autonomisierungsprozeß
der Zeit kulminierte in Newtons Zeittheorie, die die Zeit am Ende des 17. Jahrhunderts
in eine absolute, universale Weltzeit und eine relative Zeit gliederte.
42
Die absolute
Zeit war unabhängig vom einzelnen Geschehen; sie wurde mit dem Begriff ,,Dauer"
belegt.
43
Die relative Zeit galt als das Maß der Dauer. Newton unterschied also
zwischen der meßbaren und beobachtbaren Zeit und der Zeit an sich. Die absolute
Zeit wurde als gleichförmig fließend und homogen definiert. Sie besaß bei Newton
eine exponierte Bedeutung , indem sie als normierende Instanz fungierte, die es
gestattete, unabhängig von der Existenz beschleunigter oder gleichförmig bewegter
Bezugssysteme, gleich große Zeitintervalle festzusetzen. In diesem Sinne war Newtons
absolute Zeit vollkommen autonom.
40
vgl.: Dux 1989, S. 139; Röttgers 1996, S. 214ff
41
vgl.: Dux 1989, S. 85f
42
vgl.: Müller 1986, S. 60ff
43
vgl.: Fraser 1993, S. 61; Newton 1963, S. 25

21
Mit der Formulierung der ,,Speziellen Relativitätstheorie" zu Beginn des 20.
Jahrhunderts verlor die objektive Zeit ihre autonome Struktur. Basierend auf Machs
Einwänden, dass eine absolute Zeit, die für alle Zeitintervalle invariante Maße festlegt,
nicht denkbar ist, da sich die Zeitmessung in der Physik niemals auf einen reinen
Zeitfluß bezieht, sondern auf Vergleichen von Veränderungen basiert, erfuhr der
Zeitbegriff in Einsteins Theorie eine Neuinterpretation: Die Zeit wurde nun als
gleichbedeutend mit dem Ergebnis einer Meßoperation angesehen. In der
,,Speziellen Relativitätstheorie" gibt es kein universell gültiges ,,Jetzt" mehr für alle
ruhenden oder gleichförmig bewegten Koordinatensysteme innerhalb des
Universums. Die Zeit ist relativ und Relativität der Zeit besagt, dass jedes
Koordinatensystem seine spezifische Eigenzeit besitzt und dass zu jeder
Zeitbestimmung die Position im Raum gehört. Somit existiert - wie bereits in
frühzeitlichen Kulturen - eine Vielfalt lokaler Zeiten.
44
In der Annahme der Relativität von Zeit lässt sich ein gewisser Anachronismus
erkennen, der das Zeitbewußtsein des 20. Jahrhunderts in wesentlichen Punkten in
eins setzt mit dem des Altertums und des frühen Mittelalters. Insbesondere die
Synthese von Zeit und Raum und die Anerkennung der Existenz vieler Lokalzeiten sind
in diesem Kontext zu nennen. So lässt sich über die Auswirkungen der ,,Speziellen
Relativitätstheorie" auf das Verständnis von Zeit resümieren, dass sie nicht nur die
prinzipielle Gültigkeit des frühzeitlichen Zeitbewußtseins manifestieren, sondern auch
die aristotelische - und teilweise auch die platonische - Auffassung von Zeit als einem
Maß von Bewegung bestätigen.
Wenn die transzendentale Idealität der Zeit nach Kant darin besteht, dass sie - wenn
von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert wird -
nichts ist, so ist die Annahme einer explizit wahrnehmungsgebundenen Existenz von
Zeit nicht richtig. Zeit existiert, auch wenn wir nichts von ihr bemerken. Charakterisiert
als das Maß von Bewegung ist sie omnipräsent. Dies in dem Sinne, dass Bewegung in
jedem System - in unbelebter Materie ebenso wie in lebenden Organismen - in Form
von Molekularbewegungen vorhanden ist: Zerfallserscheinungen wie beispielsweise
Alterungsprozesse oder Korrosionen liegen immer Neuordnungen der Atome
zugrunde somit Bewegungen, auch wenn wir diese nicht wahrnehmen können.
44
vgl.: Müller 1986, S.64ff

22
Folglich kann auch dann von einer Anwesenheit von Zeit ausgegangen werden,
wenn wir sie nicht bemerken.
Dadurch, dass sich in der Physik des 20. Jahrhunderts mit den erkennt-
nistheoretischen Überlegungen Ernst Machs und deren Modifikation durch Albert
Einstein die Grundannahme einer prinzipiellen Bewegung durchsetzte, kann man -
gemäß der Interpretation des Zeitbegriffs als einem Maß von Bewegung - auch von
einer dauerhaften Anwesenheit von Zeit ausgehen. In diesem Sinne ist die Zeit
dauerhaft und unvergänglich.
Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, musste sich die Zeit von dem Verbund mit
der einzelnen, konkreten Handlung lösen, um ein Synchronisationsmittel und eine
Orientierungshilfe zielgerichteten Handelns werden zu können. Als das teleologische
Prinzip von Handlung musste die Zeit von der konkreten Handlung entkoppelt und zu
einem abstrakten Begriff werden, zu einem verbindlichen Integrationsmuster, das das
soziale Leben strukturiert. Somit ist die Dauerhaftigkeit der Zeit eine doppelte, denn
auch als Begriff eignet der Zeit die Unvergänglichkeit.
45
Begriffe, wie Sprache,
Wissenschaft, Kunst und Zeit werden nach Poser als ,,Waffen gegen die
Vergänglichkeit" benutzt: In ihrer Negation aller Zeitlichkeit bilden sie einen ,,
Restbestand platonischen Gedankengutes
46
", wenn sie als beständige Identitäten
im Sinne der ewigen Ideen aufgefaßt werden. Begriffe stellen in dem kontinuierlichen
Wandel der äußeren Erscheinungen festgefügte Ordnungen und Orientierungsmuster
dar. Sie sind symbolische Repräsentationen der Beständigkeit, denn sie bleiben als
eine Idee des konkreten Gegenstandes erhalten, wenn dieser längst nicht mehr
existiert.
So lässt sich in dem Versuch, aus den vielfältigen Aspekten temporaler
Gegebenheiten ein einheitliches Interpretationsmuster von Zeit zu entwerfen, über
die Zeit folgendes sagen: Die Zeit ist keine eigenständige Entität, sondern als
abstrakte Begrifflichkeit ein Ordnungsprinzip mit universeller Gültigkeit. Sie ist, als ein
grundlegendes Kriterium zur Bestimmung aller Ereignisse und Prozesse, unabhängig
vom einzelnen Geschehen. Als ein Strukturierungselement gesellschaftlicher und
ökonomischer Prozesse ist sie eine Anschlußform, die die unterschiedlichen
Eigenzeiten individueller Aktivitäten koordiniert und mit den temporalen
45
vgl.: Poser 1996, S. 48; Fraser 1993, S. 32
46
Poser 1996, S. 46

23
Gegebenheiten der Umwelt synchronisiert. In diesem Sinne ist die Zeit das
teleologische Prinzip von Bewegung: Sie bestimmt den rechten Zeitpunkt zur
Ausführung bestimmter Handlungsabläufe und legt fest, wie lange sie dauern dürfen.
Gleichermaßen ist die Zeit das Maß von Bewegung. Sie ist also autonom und
abhängig zugleich.
Dieser Zwiespalt zeigt sich nicht nur hinsichtlich des handlungsbezogenen Aspekts
von Zeit, die Doppelbödigkeit der Zeit ist durchgängig:
Zeit ist objektiv und subjektiv.
Zeit ist gleichermaßen Quantität und Qualität von Meßoperationen.
Bewegungsabläufe indizieren die Anwesenheit von Zeit, denn ohne Bewegung gäbe
es keinen Zeitverlauf. Als ein Maß von Bewegung misst die Zeit folglich das, wodurch
sie definiert wird. Im Gegensatz zu dem Liter, der als eine Maßeinheit für Flüssigkeit
lediglich die Quantität einer Meßoperation darstellt und demzufolge auch ohne
bestimmbares Objekt vorstellbar ist, wie auch die Flüssigkeit selbst durchaus ohne
den Liter existieren kann, ist dies bei der Zeit nicht der Fall.
Zeit ist als zyklische Zeit sinnlich-konkret und als lineare Zeit nicht wahrnehmbar.
Zeit ist dauerhaft und vergänglich zugleich. Denn als ein Maß von Bewegung
entsteht und vergeht die Zeit mit der einzelnen Bewegung, während sie gleichzeitig
bei einer grundsätzlichen Annahme von Bewegungen unvergänglich ist.
Rechnete man diese antagonistischen Charakterisierungen gegeneinander auf,
dann käme man zu dem Resultat, dass die Zeit an sich wirklich nichts ist. Mit dieser
Annahme folgte man der kantischen und der aristotelischen Interpretation des
Zeitbegriffs, die die Zeit als nichts oder ein Nichtseiendes charakterisiert hatten.
Die Zeit ist in der Tat nichts hinsichtlich ihrer materiellen Beschaffenheit. Dennoch darf
die Substanzlosigkeit nicht über die enorme Autorität des Phänomens Zeit hinweg
täuschen. Als etablierter sozialer Standard hat die Zeit einen normativen Charakter:
Sie beeinflußt sowohl das Leben des Einzelnen, als auch das der Gesellschaft. Derart
mit Machtbefugnissen ausgestattet, kann man die Zeit als eine unsichtbare Autorität
charakterisieren, deren Regiment sämtliche Bereiche des sozialen Lebens umfaßt.

24
Der Aufbruch in die Moderne: das 19. Jahrhundert und
seine technischen und kulturellen Innovationen
1. Die Industrialisierung von Raum und Zeit: der Beginn des
Eisenbahnzeitalters
Den Abschluß und Höhepunkt der industriellen Revolution, die in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts mit der Einführung von Maschinen in der englischen
Tuchindustrie begonnen hatte bildete die Erfindung der Eisenbahn. Mit ihr wurden im
ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Weichen für ein neues Zeitalter gestellt.
Die ersten Lokomotiven, die in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts das
Eisenbahnzeitalter eingeleitet hatten, wurden von der Bevölkerung noch nicht als
autonome Bewegungsapparaturen wahrgenommen. Statt dessen galten sie als auf
Räder montierte Dampfmaschinen. Tatsächlich ist diese Bezeichnung nicht ganz
unrichtig, denn vom technischen Standpunkt aus gesehen, ist die Lokomotive eine
abgewandelte Version der Hochdruckdampfmaschine von Oliver Evans. Diese
Maschine, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelt worden war,
bildete den Abschluß und Höhepunkt in der Genese der Dampfmaschinen.
47
47
Dampfmaschinen gibt es seit dem 17.Jahrhundert. Die erste ökonomische
Nutzung der Dampfkraft wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch
Newcomens atmosphärische Dampfmaschine möglich.
Diese Maschine wurde im Kohlerevier von Newcastle eingesetzt, um das Was-
ser aus den Schächten zu pumpen. 1767 waren bereits 57 dieser Maschinen im
Einsatz. 1780 wurden die Newcomen-Maschinen durch die Wattschen Nieder-
druck-Dampfmaschinen ersetzt. Die Entwicklung dieser Maschinen stellte insofern
einen enormen technischen Fortschritt dar, als daß Dampfmaschinen nun erst-
mals zur gewerblichen Industrieproduktion außerhalb der Kohlereviere benutzt
werden konnten.
Die Wattsche Dampfmaschine hatte einen wesentlich geringeren Brennstoff-
verbrauch als die Newcomen-Maschine bei gleichzeitig erheblich gesteigerter
Leistung. Entscheidend für ihre industrielle Nutzung war jedoch ihre Fähigkeit,
Rotationsbewegungen auszuführen.
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Wattsche Niederdruck-
dampfmaschine durch die von Oliver Evans entwickelte Hochdruckdampf-
maschine abgelöst. Der Vorteil dieser Maschine lag in einer nochmaligen In-
tensivierung der Arbeitsleistung, was auf die unmittelbare Wirkung des Dampf-
druckes zurückzuführen war. Diese neue Hochdruckdampfmaschine war nicht
nur leistungsstärker als ihre Vorgängerinnen; sie war auch kleiner und hatte einen
erheblich geringeren Brennstoffverbrauch. ( Vgl. Schivelbusch 1995, S. 9f)

25
Die durch die Hochdrucktechnik erreichte Intensivierung - ,, maximale Arbeitsleistung
in minimaler Apparatur"
48
- ermöglichte die bewegliche Verwendung der
Dampfmaschine, das heißt ihre Nutzung als Lokomotive. Dies geschah seit Beginn
des 19. Jahrhunderts im Kohlerevier von New-castle. Dort entstand zwischen den
Gruben und dem River Tyne, auf dem die Kohle weiter transportiert wurde, ein
dichtes Netz von Schienenwegen in Längen bis zu 10 Meilen.
Schienenwege in Bergstollen sind seit dem späten Mittelalter üblich. Die auf diesen
Schienen verkehrenden Lorenzüge wurden zunächst von Pferden bewegt, seit
Beginn des 19. Jahrhunderts verrichteten Lokomotiven diese Arbeit. Die Umstellung
auf den mechanisierten Antrieb erfolgte aus rein ökonomischen Gründen, denn der
Brennstoff Kohle war im Kohlerevier billiger als Futtermittel, die aus anderen Teilen des
Landes herantransportiert werden mussten. Seit 1815 galt die Relation ,, billige Kohle
versus teure Futtermittel"
49
auch für den Rest von England. Begünstigend für den
Einsatz mechanischer Arbeitskraft im Bergbau war auch der Erlaß des von
landwirtschaftlichen Interessen dominierten Parlaments, welches 1815 eine hohe
Besteuerung des Importgetreides festgelegt hatte. Die hohen Getreidepreise wurden
ab 1820 als Standardargument dafür benutzt, das gesamte Transportwesen auf die
Eisenbahn auszurichten. Der Unterhalt eines Pferdes kostete nach damaligen
Berechnungen soviel wie der Unterhalt von acht Arbeitern. Würde die eine Million
Pferde, die in England zu Transportzwecken unterhalten werden musste, durch die
Umstellung des Transportwesens überflüssig, argumentierten die Bahn-Befürworter, so
setzte diese Einsparung zusätzliche Lebensmittel für acht Millionen Arbeiter frei. Die
Quantität der Kohleförderung in England lieferte ein weiteres Argument für den
Einsatz von Dampfmaschinen im Transportwesen: Kohle erschien als ein unendlich
verfügbarer Brennstoff. Die Kohleproduktion in England betrug
1816 16 Mio. Tonnen
1836 36 Mio. Tonnen
1846 44 Mio. Tonnen
1851 57 Mio. Tonnen.
48
Schivelbusch 1995, S. 11
49
Schivelbusch 1995, S. 11

26
Frankreich, das eine wesentlich geringere Produktionsrate aufzuweisen hatte,
nämlich
1820 1 Mio. Tonnen
1837 2 Mio. Tonnen
1846 5 Mio. Tonnen
50
konnte sich aufgrund seiner ökonomischen Realitäten der englischen Argumentation
nicht anschließen. Die Befürchtung, daß sich die fossilen Brennstoffe eines Tages
verringern werden, während sich die animalische Arbeitskraft ewig reproduzieren
lässt, ließ Frankreich zunächst mit Skepsis auf die Modernisierung des Transportwesens
schauen.
Dennoch begann 1843 mit der Eröffnung der ersten großen Strecken das
Eisenbahnzeitalter - oder die Industrialisierung von Raum und Zeit - auch in
Frankreich.
51
Wie bereits erwähnt, wurden die ersten Lokomotiven noch nicht als autonome
Bewegungsapparaturen wahrgenommen, sondern als Dampfmaschinen, die auf ein
Fahrgestell montiert waren. Gleichermaßen wurde in den ersten Definitionen der
Eisenbahn übereinstimmend auf die Unteilbarkeit von Fahrzeug und Maschine
hingewiesen: Lokomotive und Schienenweg stellten ein maschinelles Ensemble dar.
Dieser Eindruck des maschinelles Ensembles entstand dadurch, daß die ersten
Eisenbahnen nicht auf glatten Schienen liefen: Sie bewegten sich mittels eines
gezahnten Antriebrades über eine gezahnte Schiene. Nach diesem Prinzip wurden
Lokomotiven und Schienen bis etwa 1825 gebaut.
52
Die Mechanisierung des Transportwesens schritt unaufhaltsam voran, so daß 1842 die
Gründung einer Kooperationsstelle zur Abwicklung des immer bedeutsamer
werdenden englischen Eisenbahnverkehrs erforderlich wurde:
,,Die maschinelle Einheit, die Rad, Schiene, Schienenweg und Fahrzeug bilden,
entfaltet sich zur Einheit des gesamten Schienennetzes. Dieses erscheint wie eine
über das Land verteilte große Maschine."
53
50
vgl.: ebd., S. 12f
51
vgl.: ebd., S. 174
52
vgl.:ebd.,S. 21ff
53
ebd.,S. 32

27
Dieser Maschine wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz allgemein nachgesagt,
daß sie Raum und Zeit vernichte
54
, was wesentlich auf die enorm gesteigerte
Geschwindigkeit zurückzuführen ist, die die Bahn im Gegensatz zu früheren
Verkehrsmitteln erreichen konnte. Eine gegebene räumliche Distanz, deren
Überwindung traditionell ein bestimmtes Zeitmaß erfordert hatte, war nun in einem
Bruchteil dieser Zeit zu überwinden. Oder, um es anders zu formulieren, in derselben
Zeit konnte nun ein Vielfaches der alten räumlichen Distanz überwunden werden.
Unter verkehrsökonomischen Aspekten betrachtet, bedeutete dies eine
Verkleinerung des Raumes.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit der ersten Eisenbahnen in England betrug ca. 25
Meilen. Das war ungefähr das Dreifache der traditionellen Transportgeschwindigkeit.
Folglich wurde eine gegebene Strecke in einem Drittel der gewohnten Zeit
zurückgelegt oder zeitlich auf ein Drittel reduziert. Diese zeitliche Verkürzung ist in
Texten des frühen 19. Jahrhunderts als Schrumpfung des Raumes vorgestellt
worden.
55
Anläßlich der Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris nach Rouen und
Orléans im Jahre 1843 äußerte Heinrich Heine seine Besorgnis über den
Zusammenbruchs des traditionellen Raum-Zeit-Bewußtseins:
,,Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsere Anschauungsweise und in
unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind
schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es
bleibt uns nur noch die Zeit übrig ... In viereinhalb Stunden reist man jetzt nach
Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die
Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen
verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf
Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür
brandet die Nordsee."
56
Die seit dem frühen 19.Jahrhundert bestehende Annahme, daß durch die
Mechanisierung des Transportwesens Zeit und Raum vernichtet würden, bezieht sich
auf die reduzierte Wahrnehmbarkeit sowohl des Zwischenraumes als auch der
Zwischenzeit, die zwischen Beginn und Ende einer Reise liegen. Als nicht mehr
existent erlebt wurde das herkömmliche Raum-Zeit-Kontinuum: Auf der einen Seite
erschloß die Bahn neue Räume, die bislang nicht verfügbar waren, auf der anderen
Seite geschah dies, indem Raum vernichtet wurde, nämlich der Raum dazwischen.
Dieser Zwischenraum oder die Reisedauer, die im langsam-intensiven traditionellen
54
vgl.: ebd.,S. 35
55
ebd.,S. 35f

28
Reiseverkehr sehr bewußt wahrgenommen wurde, verschwand im Zeitalter der
Eisenbahnen: ,, Die Eisenbahn kennt nur noch Start und Ziel."
57
Indem der Raum zwischen Ausgangsbasis und Zielort der Reise dergestalt reduziert
wurde, rückten diese Orte in der damaligen Vorstellung unmittelbar aneinander. Sie
verloren ihr altes ,,Hier und Jetzt", das durch den Zwischen-Raum definiert worden
war. Gleichermaßen verloren die Ortschaften durch die Einbindung in das
Eisenbahnnetz ihre Individualzeiten. Solange die Städte des frühen 19. Jahrhunderts
durch die fehlende Einbindung in das Verkehrsnetz noch relativ isoliert waren,
besaßen sie ihre individuelle Zeit. So war die Londoner Zeit beispielsweise vier Minuten
früher als die Zeit in Cirencester und vierzehn Minuten eher als die in Bridgewater.
Diese unterschiedlichen Lokalzeiten hatten solange nicht gestört, wie der Verkehr
zwischen den Ortschaften traditionell vor sich gegangen war: Die temporalen
Differenzen waren hinter der Langsamkeit des Transportwesens verschwunden. Die
zeitliche Streckenverkürzung durch die Eisenbahn deckte diese temporalen
Differenzen nun auf. Da durch die gleichzeitige Existenz verschiedener Lokalzeiten
kein einheitlicher Fahrplan erstellt werden konnte, wurde eine Vereinheitlichung der
Zeit notwendig. Diese wurde in England in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts von
den einzelnen Bahngesellschaften vorgenommen. Jede Gesellschaft führte auf ihrer
Strecke die vereinheitlichte Zeit ein. Als sogenannte ,,Eisenbahnzeit" galt diese Zeit
jedoch nur für den Bahnverkehr; die Ortschaften besaßen weiterhin ihre eigenen
Zeiten. Je komplexer das Verkehrsnetz jedoch wurde, desto häufiger kam es zu
Konfrontationen zwischen den jeweiligen Lokalzeiten mit der Eisenbahnzeit. Aus
diesem Grunde wurde die Eisenbahnzeit 1880 allgemeine Standardzeit in ganz
England; in Deutschland erfolgte diese Zeitumstellung im Jahre 1893.
58
Durch die Industrialisierung verlor das zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch
weitgehend vom Mittelalter geprägte europäische Stadtbild seine herkömmliche
Struktur. Die räumliche Geschlossenheit verschwand; mit der Entstehung
spezialisierter Distrikte wie Wohn-, Geschäfts- und Industriebezirke entwickelten sich
Stadtlandschaften. Wo diese Entwicklung nicht unmittelbar von der Eisenbahn
verursacht worden war, wirkten zumindest die Begleitumstände des Bahnwesens als
56
zit. nach: ebd.,S. 38f
57
ebd.,S. 39

29
beschleunigende Faktoren dieser Tendenz.
59
Primär trat der Einfluß der Eisenbahn
durch eine massive Steigerung des Straßenverkehrs in Erscheinung. Insbesondere die
Straßen in der Umgebung der Bahnhöfe veränderten sich ,, wie über Nacht."
60
Die
ersten Hauptverkehrsstraßen entstanden notwendig zwischen Bahnhof und
Stadtzentrum, weitere verbanden die verschiedenen Bahnhöfe einer Stadt
miteinander. Der Reiseverkehr machte also nicht am Bahnhof Halt, sondern bahnte
sich von dort aus seinen Weg durch die Stadt. Um dem erhöhten
Verkehrsaufkommen adäquat begegnen zu können, wurden umfangreiche
Modernisierungsmaßnahmen in allen europäischen Städten notwendig. Besonders
intensiv wurde Paris modernisiert: Innerhalb von 17 Jahren änderte sich die
Physiognomie des Stadtbildes vollständig.
Als Baron Georges Eugène Haussmann (1809-1891), der im Second Empire von
Napoleon III. mit umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen beauftragt wurde, 1853
seinen Dienst angetreten hatte, gab es noch keinen einheitlichen Straßenplan von
Paris - es existierten lediglich Teilpläne von den einzelnen Quartiers. Folglich begann
Haussmann seine Arbeit, die in der Zerstörung des historischen Stadtbildes kulminierte,
mit der Vermessung der Stadt. Daraufhin wurde ein Gesamtstraßenplan angefertigt,
in den die geplanten neuen Straßenzüge bereits eingetragen waren. Nachdem eine
allgemeine Planierung von Paris stattgefunden hatte, entstanden die großen
Boulevards und Avenuen. Der erste Boulevard, der in Paris entstand, ist der Boulevard
de Strasbourg. Er beginnt am Gare de l'Est und verläuft ,,geradezu wie die
Fortsetzung des Schienenstrangs, mathematisch exakt in derselben Achse liegend,
nicht weniger linear." In dieser ,, fast ästhetischen Deutlichkeit, als direkte Fortsetzung
der Eisenbahnstrecke in der Stadt erkennbar"
61
ist der Boulevard de Strasbourg
einzigartig. Doch lassen sich auch die übrigen Straßendurchbrüche, die in der Ära
Haussmann ausgeführt wurden, als Ergänzungen des Eisenbahnverkehrs erkennen.
Mit der Sanierung des historischen Paris für einen reibungslosen Verkehrsfluß
widerfährt den Parisern nach Schivelbusch ein ähnliches Schicksal wie den ersten
Eisenbahnreisenden:
,,Wie diese, gewöhnt an die Raum-Zeit-Wahrnehmung des Reisens in der Kutsche,
die Eisenbahnreise als Vernichtung von Raum und Zeit erleben, so erscheint das für
58
vgl.: ebd.,S. 39ff
59
vgl.: ebd.,S. 159
60
ebd.,S. 159
61
ebd., S. 161

30
den Verkehr umgestaltete Paris seinen Einwohnern vernichtet, und zwar doppelt,
physisch demoliert und zerschlagen in seiner räumlichen und historischen
Kontinuität."
62
Gleichzeitig mit der Umgestaltung des historischen Paris in eine Metropole der
Boulevards und Avenuen zeichnete sich im Einzelhandel eine entsprechende
Veränderung ab. Mit der Gründung des ersten Kaufhauses, Bon Marché, durch
Aristude Boucicaut entstand im Jahre 1852 eine neue Form des Einzelhandels.
63
Die
großen Kaufhäuser, die ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerichtet wurden,
findet man ausnahmslos in den Avenuen und Boulevards, von denen sie ihre Kunden
und Waren empfangen. Kaufhäuser waren also von Anfang an in den Verkehrsfluß
integriert, beziehungsweise hätte sich die Kultur des Kaufhauses mit ihrer spezifischen
Erscheinungsform und Funktionsweise ohne ein entwickeltes innerstädtisches
Verkehrssystem nicht etablieren können: Kaufhäuser erzielen ihre Gewinne mit hohen
Umsätzen bei relativ niedrigen Preisen. Aufgrund dieses Umstandes sind sie auf eine
maximale Frequentierung angewiesen.
62
ebd., S. 163
63
vgl.: ebd., S. 165

31
2. Die panoramatische Sichtweise als ein Charakteristikum
des 19. Jahrhunderts
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Eisenbahn als ein Projektil und die Reise in
ihr als ein ,, Geschossenwerden durch die Landschaft" erlebt, bei dem einem ,,Sehen
und Hören vergeht."
64
Inwieweit die Fahrt in der Bahn dazu beigetragen hat, die
Fähigkeit des Hörens zu verlieren, mag dahingestellt bleiben. Dass sie die
traditionellen Sehgewohnheiten massiv beeinflusst hat, ist jedoch nicht von der Hand
zu weisen. Durch die relativ hohe Geschwindigkeit der Eisenbahn, die ein Vielfaches
des herkömmlichen Tranportmittels ausmachte, änderte sich die Wahrnehmung der
durchreisten Landschaft - sie verflüchtigte sich hinter der schnellen Abfolge visueller
Eindrücke. Dadurch wurden Differenzen indifferent, denn der Blick aus dem
Abteilfenster konnte sich nicht mehr im Detail verfestigen, sondern verflüchtigte sich
im Panorama.
1. Die verflüchtigte Landschaft:
Die Schwierigkeit, außer den gröbsten Umrissen überhaupt noch etwas in der
durchreisten Landschaft zu erkennen, wird in fast allen frühen Beschreibungen von
Bahnreisen thematisiert. Jacob Burckhard beschreibt den Verlust von Landschaft
1840 folgendermaßen: ,, Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und
dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; so wie man sich danach
umsehen will, sind sie schon lange vorbei."
65
Aufgrund der großen Geschwindigkeit, mit der eine Vielzahl visueller Eindrücke am
Fenster des Eisenbahnabteils vorbeizieht, ist es unmöglich, Details auszumachen. Was
sich dem Betrachter durchreister Landschaften darbietet, ist das Panorama, das sich
in einer raschen Zusammendrängung wechselnder Bilder zeigt. Durch die
Geschwindigkeit wird eine erhöhte Anzahl wechselnder Eindrücke produziert, die
eine Wahrnehmung bleibender Eindrücke oder der Geringfügigkeit ihrer Differenzen
erschwert oder gar verhindert. Was bleibt, ist der flüchtige Gesamteindruck, ,, wo die
64
ebd., S. 53
65
zit. nach: ebd., S.54

32
vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt,
immer neue Gesichter schneiden."
66
2. Egalisierung als optische Implikation von Geschwindigkeit:
Der Blick aus dem Abteilfenster, der die rasch wechselnden Abfolgen visueller
Eindrücke aufnimmt, muss, um diese permanente Reizüberflutung zu kompensieren,
eine neue Fähigkeit entwickeln: ,, Es ist die Fähigkeit, das Unterschiedene, wie es
jenseits des Abteilfensters abrollt, unterschiedslos aufzunehmen." Diese neue
Sichtweise, für die die Mobilität ,,die Grundlage der neuen Normalität."
67
geworden
ist, haftet nicht mehr am Detail, sie verliert sich im Ganzen. Sie ist ,,flüchtig,
impressionistisch, eben: panoramatisch."
68
Die panoramatische Sichtweise resultiert jedoch nicht nur aus der Beschleunigung
durch die Mechanisierung des Transportwesens. Gleichermaßen begünstigend für
ihre Etablierung ist auch die Umwandlung des herkömmlichen Detailgeschäfts ins
Warenhaus. Schivelbusch stellt dazu fest:
,,Im Übergang vom Detailgeschäft alten Typs zum Kaufhaus verändert sich die
Wahrnehmung der Waren durch den Kunden in analoger Weise wie sich die
Wahrnehmung der Reisenden im Übergang von der Kutsche zur Eisenbahn bzw. die
Wahrnehmung der Pariser aufgrund der Haussmannisierung ihrer Stadt verändert.
Im Kaufhaus entwickelt sich die Wahrnehmung, die wir panoramatisch nennen."
69
Dies ist - analog zu der geballten Vielfalt visueller Eindrücke, die sich dem
Bahnreisenden durch das Abteilfenster bieten - primär auf die Reizüberflutung durch
die präsentierte Warenmenge zurückzuführen. Wo im herkömmlichen Detailgeschäft
Einheit geboten wurde, zeigt sich im Warenhaus die Vielfalt in simultaner Präsenz.
Analog zur durchreisten Landschaft, wo Unterschiedliches zunehmend indifferent
erlebt wird, verliert auch die Ware durch das Kaufhaus ihre ,,unmittelbar individuelle
Präsenz und sinnliche Qualität."
70
Sie wird nicht mehr primär in ihrer Individualität
wahrgenommen, sondern als Teil einer heterogenen Masse.
66
Eichendorff,Joseph, zit.nach: ebd., S.56
67
Schivelbusch 1995, S.59ff
68
ebd., S.166
69
ebd., S. 166
70
ebd., S. 167

33
Was für die simultane Vielfalt visueller Eindrücke gilt, trifft auch auf die
Geschwindigkeit zu: Auch sie ist in den neuen Kaufhäusern anzutreffen. Ihre Waren
haben nach Schivelbusch an derselben Verkehrbeschleunigung teil,
,,welche die neue Wahrnehmungsweise in der Eisenbahn und auf den Boulevards
hervorbrachte. Im Kaufhaus ist diese Verkehrsbeschleunigung der beschleunigte
Warenumsatz."
71
An anderer Stelle fährt er fort:
,,Ist die Verbindung mit dem Straßenverkehr notwendig, um die für den
beschleunigten Warenumsatz notwendigen Käufer- und Warenmengen aufsaugen
zu können, so basiert der Umsatz selber nicht weniger auf Bewegung. Es ist die von
der Straße her einströmende Bewegung und zugleich eine neue Bewegung, in
welche die Käufer aufgrund eines sorgfältig manipulierten Warenarrangements
versetzt werden ... Aufgrund dieses Bewegungszustands des Käufers, der durch das
Kaufhaus reist wie der Eisenbahnreisende durch die Landschaft, wirken die Waren
in ihrer Gesamtheit auf ihn, als ein Ensemble von Gegenständen und Preisschildern,
verschmolzen zu einem pointillistischen Gesamteindruck."
72
71
ebd., S.167
72
ebd., S. 168f

34
3. Paris und die Ära Haussmann
Als George-Eugène Haussmann (1809-1891) am 29.6.1853 zum Präfekten von Paris
ernannt wurde,
73
war Paris war übervölkert und schmutzig: Es war ,, häßlich, gemein,
vulgär, chaotisch."
74
Es gab keine öffentlichen Märkte, keine Brunnen, keine
regulären Hauptstraßen und keine Theater. Die von Haussmann vorgefundene Stadt
war mittelalterlich strukturiert mit engen, dunklen Gassen und einem verfallenen Kern.
Das gesamte Zentrum von Alt-Paris und die drei Arrondissements am linken Seine-Ufer
wurden von dem Stadtrat Victor Considérant 1844 als eine einzige große Kloake
beschrieben. Hinzu kam, daß Paris 1849 von der 2. großen Cholerawelle heimgesucht
wurde.
75
Man musste nach Jordan ,, also für Licht und Luft sorgen und die Stadt vom
Würgegriff der mittelalterlichen Wucherungen befreien." Im Straßenbau wurde das
Patentrezept gesehen; ,,er sollte für mehr Bewegungsfreiheit sorgen und Paris
zugleich säubern und belüften."
76
Mit dieser Argumentation erlangten Straßen
erstmals eine größere Relevanz als Bauwerke und diese Priorität beeinflußte alle
weiteren Planungen.
Neben den Erfordernissen der Zeit, die, wie das verstärkte Verkehrsaufkommen und
die unzureichenden hygienischen Zustände, per se eine Sanierung der Stadt
notwendig machten, spielten auch politische Motive eine wesentliche Rolle bei der
Umgestaltung der Stadt: Louis Napoléon brauchte dringend Prestigeobjekte, die
sowohl die Stärke des neuen Regiemes symbolisieren, als auch Arbeitsplätze schaffen
sollten.
77
Um diese Pläne zu realisieren, mussten zunächst einmal massive
Enteignungen und Abrissarbeiten vorgenommen werden, die von Napoléon
vollständig unterstützt wurden.
78
Haussmann musste in großem Umfang zerstören; er
tat dies vor allem in der Altstadt. Das Resultat seiner Sanierungsmaßnahmen war ,,das
extremste Beispiel einer Stadterneuerung durch Abriß."
79
Zola schrieb über den
Anblick von Paris, das während der Haussmannschen Aktivitäten voller Gerüste und
aufgerissener Straßen war:
73
vgl.: Jordan 1996, S. 180
74
ebd., S. 35
75
vgl.: ebd., S. 205
76
ebd., S. 36
77
vgl.: ebd., S. 177
78
Zwischen 1852 und 1859 wurden 4.349 Häuser abgerissen; von diesen mussten
2.236 enteignet werden (vgl.Jordan 1996:279).
79
Jordan 1996, S. 218

35
,,Sieh nur dort bei den Hallen, da hat man Paris in vier Teile geschnitten ... Wenn das
erste Verkehrsnetz fertig ist, fängt der richtige Tanz an. Das zweite Netz wird die
Stadt überall durchlöchern. ... Vom Boulevard du Temple bis zur Barrière du Trône
ein Einschnitt, dann auf dieser Seite wieder ein Einschnitt, von der Madeleine bis zur
Ebene von Monceau. ... Paris wird mit Säbelhieben zerhackt, seine Adern geöffnet,
und so ernährt es hunderttausend Erdarbeiter und Maurer."
80
Haussmanns Umgang mit der Île de la Cité wurde vielfach als ,, mutmaßliche
Zerstörung der Wiege von Paris"
81
kritisiert: Von dem dicht bebauten mittelalterlichen
Viertel, das auf kleinstem Raum Hunderte von Wohnungen und viele Kirchen
vereinigt hatte, ließ Haussmann nur Notre-Dame, die Conciergerie
82
, den Palais de
Justice und die Sainte Chapelle stehen. Den Modernisierungmaßnahmen auf der Île
de la Cité fielen Wohnhäuser für beinahe 15.000 Menschen zum Opfer; Ende des 19.
Jahrhunderts lebten nur noch 5.000 Menschen in der Altstadt.
83
,,Aus dem mittelalterlichen Stadtkern war ein Rechts- und Behördenzentrum
geworden. Einst Sitz der Könige und des Hofes, des Bischofs, der Kirchenhierarchie ...
war die Île nun nicht einmal Museum, sondern eine Art Mischmasch, erdrückt von
öffentlichen Gebäuden, die stilistisch, funktional und historisch nichts miteinander zu
tun hatten. Notre-Dame bot sich dar wie eine zu bewundernde Statue, aber keine
Stätte für den Gottesdienst. Die Sainte-Chapelle war in einem Hof des Palais de
Justice versteckt, die alte Cité nicht mehr das Wahrzeichen von Paris ...
Haussmanns Umgang mit der Île de la Cité traf einen empfindlichen Nerv der
Moderne, und viele seiner Zeitgenossen schrien laut auf. Kein anderer Pariser
Stadtteil war so altehrwürdig, und in keinem anderen wütete er so radikal mit
seinen Abrissen."
84
Haussmanns Sanierung betraf nicht alle Stadtteile im selben Maße; ausgestattet mit
einer tiefen Abneigung gegen den ,,Pariser Pöbel"
85
vernachlässigte er den Ostteil
von Paris und das linke Seine-Ufer, die Wohngegend der unterpriveligierten
Gesellschaftsklasse. Er vertrieb die schmutzige Schwerindustrie aus der Stadt,
entwurzelte die Armen und steckte das Geld in die Nobilitierung der Weltstadt.
Haussmann
,,krönte das neue Zentrum mit der prachtvollen Opéra, baute Luxushotels, lockte
Warenhäuser auf seine schicken Boulevards, schuf teuren Wohnraum, mit einem
80
zit. nach: Vallès-Bled 1997, S. 33f
81
Jordan 1996, S. S. 218
82
Bauzeit: Ende des 13. bis Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Conciergerie war bis
Ende des 14. Jahrhunderts Staatsgefängnis; während der Französichen Revolution
beherbergte sie u. a. Marie Antoinette.
83
vgl.: Jordan 1996, S. 218
84
ebd., S. 219f
85
ebd., S. 266

36
Wort: machte die Stadt angenehm und behaglich für alle, die gut betucht
waren."
86
Auch wenn Haussmanns Modernisierungsmaßnahmen primär mit dem Ausbau des
Straßennetzes und der Kanalisation in Verbindung gebracht werden, so ist die
Gestaltung von Parks und Plätzen gleichermaßen charakteristisch für diese Ära: 1850
hatte die Stadt 47 Hektar Parkanlagen, 1870 waren es 4.500. Des Weiteren erhielt die
Stadt in der Ära Haussmann 18 neue Plätze.
87
Haussmanns Umbaumaßnahmen zielten darauf ab, der Hauptstadt des Second
Empire ein Erscheinungsbild zu präsentieren, das sich durch geometrische Strenge,
symmetrische Muster und geballte Gleichförmigkeit auszeichnet. Er verband die
einzelnen Stadtteile miteinander, aber nicht - wie bis dahin üblich - mit dem
Stadtkern. Damit wurde jenes zentralisierte Ordnungsprinzip verworfen, das Paris
jahrhundertelang geprägt hatte. Haussmann schuf zahlreiche Brennpunkte, die er
durch die großen Boulevards zu einem Gesamtsystem verband.
88
Zum Stadtzentrum
wurde die neue Oper erkoren. Allerdings wollte Haussmann dort keinesfalls alle
Straßen zusammenlaufen lassen, dazu war Paris mittlerweile zu weitläufig geworden.
Haussmanns Paris wurde optisch wie funktional fokussiert: Alle Aspekte des
öffentlichen Lebens wurden durch entsprechende Bauwerke repräsentiert: Der
Verkehr durch die Bahnhöfe, das Gewerbe durch das Tribunal de Commerce, die
Stadtverwaltung durch das Hotel de Ville, die Kultur durch die Opéra und Alt-Paris
durch Notre Dame. Diese Fixpunkte des öffentlichen Lebens waren gleichermaßen
auch dezentrale Markierungspunkte der Stadtlandschaft.
Das zentrale Prinzip der haussmannschen Stadtsanierung war die Egalisierung:
,,Sein Wunsch nach Gleichförmigkeit und seine systemische Auffassung der Stadt
machten ihn argwöhnisch: So umgab er Garniers Opéra mit Gebäuden, die sie fast
erdrückten und zwängte das außergewöhnlich formenreiche Bauwerk so in einen
trostlosen Komplex aus Stein. Die großen vorgefundenen Bauwerke - wie Notre-Dame,
der Invalidendom oder der Louvre - ließ er von der Stadtlandschaft nicht
beeinträchtigen, stellte sie sogar völlig frei, weil er sie für Monumente, für
hervorzuhebende Schwerpunkte des Stadtreliefs hielt. Alle sonstigen Entwürfe bettete
er in das engmaschige Stadtgeflecht ein. Der Einzelbau hatte ebenso wie das
Familienhaus in seiner Stadt nichts zu suchen."
89
86
ebd., S. 266
87
vgl.: ebd. ,S. 294
88
vgl.: ebd., S. 181
89
ebd., S. 185f

37
Seit Napoléon I. (1769-1821) wurden die französischen Architekten entweder an der École
Politechnique oder an der École des Beaux-Arts ausgebildet. Haussmann favorisierte die
Absolventen der École Politechnique, die sich durch einen funktional ausgerichteten
Einheitsstil auszeichneten.
90
Haussmann wurde für seine Arbeiten am 7. Dezember 1862 von Napoléon III. mit dem
Großkreuz, dem höchsten Rang der Ehrenlegion, ausgezeichnet.
91
Er hatte eine Stadt
des Luxus, des Handels, des Bankwesens und der Eisenbahnen geschaffen. ,,Ihre
typischen äußeren Kennzeichen waren der Boulevard und die Mobilität."
92
Obgleich das Kaufhaus als ,, Symbiose aus Boulevard und Geschäft" nicht direkt von
Haussmann erfunden wurde, so hatte er mit seinen Avenuen und Boulevards die
Voraussetzung dafür geschaffen. Die im Kaiserreich gegründeten Kaufhäuser: Au Bon
Marché, Au Louvre, Galeries Lafayette, Printemps entstanden entlang der Grands
Boulevards und Avenuen, von denen sie ihre Laufkundschaft empfingen. Diese Form
des Einzelhandels fand sich damals nur in Paris; die anderen französischen Städte
boten nicht genug Kaufkraft. Das Aufkommen der Kaufhäuser, die mit ihrer
Verknüpfung von Unterhaltung und Kommerz ,,den Prototyp des eher egalitären
Theaters"
93
bildeten, hatte erheblich zum Ansehen der Boulevards und Avenuen
beigetragen, da sie nun - neben allen anderen Vorzügen - um eine ökonomische
Komponente bereichert wurden.
Haussmanns Arbeit war solide und beständig: 1970 stammten noch ca. 60 % aller
Pariser Bauten und Straßen aus der Ära Haussmann.
94
90
vgl.: ebd., S. 187
91
vgl.: ebd., S. 199
92
ebd., S. 188
93
ebd., S. 370
94
vgl.: ebd., S. 376

38
4. Die Erfindung der Fotografie und die Begründung einer
neuen Sichtweise
Die kulturelle Atmosphäre des 19. Jahrhunderts war maßgeblich geprägt durch die
Erfahrung einer sich rapide wandelnden Wirklichkeit; technische Errungenschaften
und städtebauliche Veränderungen zerstörten das alte betuliche Weltbild und
setzten an dessen Stelle eine Realität, die sich durch Mobilität und
Innovationsgeschwindigkeit auszeichnete. Die Tendenz zur permanenten Erneuerung
machte natürlich nicht vor der bildenden Kunst halt; die klassisch - romantischen
Kunstperioden verloren ihre Prägekraft und Vorbildlichkeit, es etablierte sich ,, eine
geschärfte Aufmerksamkeit für die `Prosa des Lebens'
95
". Im Naturalismus und
Impressionismus erfuhr die prosaische Welt ,, ihre Nobilitierung zum
Kunstgegenstand".
96
Das Genre - als bevorzugte Bildgattung des Naturalismus und
Impressionismus - arbeitet nach Busch ,, mit dem gebannten Augenblick"
97
, hierin
besteht die Analogie zur Fotografie, die - wie die Erfindung der Eisenbahn - als ein
maßgebendes Ereignis des 19. Jahrhunderts angesehen werden kann.
1839 zum Patent angemeldet, gehen ihre Ursprünge ins 18. Jahrhundert zurück, denn
die Idee, Bilder der Camera obscura
98
auf einem lichtempfindlichen Stoff
einzufangen, wurde bereits 1793 von den Brüdern Claude und Nicéphore Niépce
diskutiert.
99
Die theoretische Überlegung blieb jedoch vorerst ohne Folgen und wurde
erst im Jahre 1816 wieder aufgegriffen. Den Anlaß dazu gab die Erfindung der
95
Busch 1995, S. 127
96
ebd., S. 130
97
ebd., S. 141
98
Die Camera obscura, die den einfachsten Typ einer Kamera darstellt, ist ein
Licht dichter Kasten mit einem winzigen Loch in der einen Wand, das als Blende fungiert
und einer Mattscheibe auf der gegenüberliegenden Wand. Dort entsteht ein umgekehrtes,
Seiten vertauschtes scharfes Abbild des reflektierten Motivs. Die Camera obscura ist schon
seit dem Mittelalter bekannt. Ursprünglich wurde sie als Instrumentarium zur
Sonnenbeobachtung genutzt, ab 1521 aber allgemein verwendet - vor allem als
Zeichenhilfe für Künstler. Im Laufe der Zeit wurde die Camera obscura immer handlicher
und präziser.
1685 war sie schließlich so weit perfektioniert, daß sie als Prototyp der Kamera des 19.
Jahrhunderts angesehen werden konnte.(Vgl. Busch 1995:245f)
99
vgl.: Busch 1995, S. 179

39
Lithographie
100
, die 1797 von Alois Senefelder erfunden und um 1812 in Frankreich
publik gemacht wurde.
101
Auch Nicéphore Niépce beschäftigte sich seit 1813 mit dieser neuen Drucktechnik
und versuchte, das Verfahren fotochemisch zu modifizieren. Er präparierte Steine
oder Zinnplatten mit einem lichtempfindlichen Firnis und benutzte beides als
Druckplatten für die empfangenen Motive aus der Camera obscura. Diese Anfänge
der Fotografie waren jedoch nicht sehr erfolgreich, da das Motiv seitenverkehrt
erschien mit einer umgekehrten Wiedergabe der Licht- und Schattenpartien.
Außerdem ließ es sich nicht fixieren. Im Rahmen seiner Experimente wandte sich
Niépce schließlich anderen Materialien zu, die zwar immer wirkungsvollere Ergebnisse
vorweisen konnten, das eigentliche Ziel aber, mittels der Camera obscura Bilder zu
erzeugen, die sich reproduzieren lassen, noch lange nicht erreichten.
1829 schloß sich Niépce mit Louis Jaques Mandé Daguerre zusammen, der in Paris
wegen seines Dioramas einen relativ großen Bekanntheitsgrad besaß. Während ihrer
Zusammenarbeit verfolgten beide unterschiedliche Ziele: Daguerre zielte primär
darauf ab, möglichst einfache und naturgetreue Reproduktionen zu erhalten;
Niépce hingegen ging es um die Quantitätssteigerung der Reproduktionen. In dem
Vertrag vom 14. Dezember 1829, der die Zusammenarbeit von Daguerre und Niépce
näher kennzeichnete, nannte Niépce seine Erfindung ,,Heliographie". Ihre
Arbeitsmethode lässt sich in relativ leicht beschreiben: Mit Hilfe der Camera obscura
aufgefangene Bilder werden durch Lichteinwirkung in ihren Tonabstufungen
zwischen schwarz und weiß von selbst festgehalten. Das Licht wirkt dabei chemisch
auf verschiedene Stoffe ein. Es wird von ihnen absorbiert, gibt ihnen neue
Eigenschaften und hält sie fest.
102
Niépce starb im Juli 1833. Bis zu seinem Tode hatten sich noch immer keine
nennenswerten Fortschritte in der Entwicklung der Heliographie eingestellt. Dies lag
unter anderem an den viel zu langen Belichtungszeiten. Daguerre arbeitete nach
Niépces Tod mit dessen Sohn Isidore weiter an der Entwicklung der Fotografie. Im
Sommer 1835 schließlich gelang die Entwicklung des latenten Bildes auf
100
Die Lithographie ist ein Flachdruckverfahren, bei dem mit fetthaltiger Kreide oder
Tusche die Zeichnung auf einen Stein aufgetragen und dann durch Ätzung fixiert wird; sie
ist sozusagen ein chemisches Steindruckverfahren.
101
vgl.: Busch 1995, S. 179
102
vgl.: ebd., S. 186

40
Jodsilberplatten mit Hilfe von Quecksilberdämpfen. 1839 beantragte Daguerre die
urheberrechtliche Schützung seiner Erfindung. Am 19. August 1839 wurde per Dekret
die Veröffentlichung des Verfahrens der ,,Daguerreotypie" verkündet.
103
Daguerres
Lichtbilder waren jodierte Silberplatten, die in der Camera obscura belichtet wurden.
Man musste sie hin und her wenden, um bei der richtigen Beleuchtung ein zartgraues
Bild darauf zu erkennen.
104
Schon ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der Daguerreotypie zeigten sich
Anzeichen einer allgemein positiven Resonanz. Diese kommt besonders gut in der
Schilderung des Kunsthistorikers und Journalisten Jules Janin (1804-1874) zum
Ausdruck:
,,Niemals hat die Zeichenkunst der großen Meister eine solche Zeichnung
hervorgebracht ... Es ist die Sonne selbst, als allmächtiges Werkzeug einer neuen
Kunst, die diese unglaubliche Arbeit vollbringt. Diesmal ist es nicht mehr der
unsichere Blick des Menschen, der aus der Ferne Schatten und Licht wahrnimmt, es
ist nicht mehr seine zitternde Hand, die auf vergängliches Papier die wechselhafte
Gestalt der Welt bannt, die sofort wieder vergeht. Diesmal braucht man nicht mehr
drei Tage auf derselben Stelle zu verbringen, um auch nur einen leblosen Schatten
davonzutragen. Das Wunderwerk tut seine Arbeit im Augenblick, so zügig wie der
Gedanke, so schnell wie der Sonnenstrahl, der das dürre Bergland oder die kaum
erschlossene Blüte trifft. Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: `Gott sprach: Es werde
Licht, und es ward Licht.' Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen:
`Werdet Bild!' und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben, der
sie eines schönen Tages zur Gänze mit sich fortgetragen hat."
105
Die für die Genese der Fotografie im heutigen Verständnis maßgeblichen Impulse
gingen jedoch weniger von der Daguerreotypie aus, als vielmehr von den
Forschungen des Engländers William Henry Fox Talbot, die das fotographische
Negativ-Positiv-Verfahren begründet hatten.
106
1840 beantragte Talbot das Patent
für die ,,Kalotypie". Bei der Kalotypie konnte die bis dahin übliche Belichtungszeit von
einer Stunde auf eine halbe Minute verkürzt werden. Mit diesem, in der Folgezeit
noch modifizierten Verfahren, war Talbot die Erfindung der Fotografie als Medium der
technischen Reproduzierbarkeit gelungen.
Zwischen 1840 und 1857 wurden zahlreiche Verbesserungen der Fotografie
vorgenommen. Beispielsweise wurde die Lichtempfindlichkeit des
Aufnahmematerials erhöht, so daß jetzt auch belebte Motive abgebildet werden
103
vgl.: ebd., S. 186ff
104
vgl.: Benjamin 1989, S. 49
105
Jules Janin, zit.nach: Kemp 1980, S. 47

41
konnten, ,,und die Starre und tödliche Stille, die über den ersten Fotos lag,
verschwand."
107
Gleichbedeutend für die Entwicklung der Fotografie war die
Erfindung lichtstarker Objektive.
Ein maßgebliches Charakteristikum der Fotografie war - und ist - ihre unbeugsame
Objektivität. Diese führte zu einer völlig neuen Auseinandersetzung mit der
Wirklichkeit, was sich insbesondere in der Rezeption der ersten fotografischer
Arbeiten zeigte. Buddemeister schreibt dazu:
,,Die in der Photographie liegende Möglichkeit und Aufforderung, die äußere
Wirklichkeit genauer zu betrachten, entsprach dem Geist des herrschenden
Positivismus. Daß ein Daguerreotyp tatsächlich betrachtet wurde, um die
Außenwelt genauer zu erforschen, wird an einem Phänomen deutlich, das in allen
frühen Texten in die Augen springt. Es ist kaum von der neuen Erfindung die Rede,
ohne daß berichtet wird, man habe ein Daguerreotyp mit der Lupe betrachtet und
dabei mehr erkannt, als mit dem bloßen Auge zu sehen war."
108
In diesem unverblümten Realitätsgehalt fotografischer Arbeiten, durch den man auf
ihre Vormachtstellung gegenüber der Malerei schließen könnte, wie es beispielsweise
Janin getan hatte, liegt gleichermaßen auch ihre Unterlegenheit gegenüber der
Kunst:
,,In den Auseinandersetzungen, die nicht zuletzt das neue Selbstverständnis der
Kunst begründen sollten, war - oftmals unter Berufung auf die romantische Ästhetik -
zwischen der Realität, dem Vorstellungsbild und dem Abbild unterschieden
worden. Kunst, im Gegensatz zur Fotografie, bringe Vorstellungsbilder und damit
eine anverwandelte Wirklichkeit hervor; sie erzeuge wahre Ähnlichkeit. Fotografie
hingegen sei, so hieß es, zweite Natur, ihr sei einzig die zwar exakte, aber geistlose
Identität erreichbar. Daher könne sie allenfalls Vorbild für den Künstler, jedoch selbst
nicht Kunst sein, denn ihr fehle der Vorrang der Gesamtwirkung, der `Massen', vor
den Details."
109
Nach dieser Argumentation ist das Werk der Fotografie folglich dort beendet, wo die
Arbeit des Künstlers beginnt.
1851 wurde die Daguerreotypie durch das Aufkommen der Papierfotografie
allmählich verdrängt.
110
Der Vorteil dieser Neuerung lag in einer größeren
Gestaltungsmöglichkeit der Fotografie: Dadurch, daß durch das Papier die
unerbittliche Genauigkeit der Daguerreotypie entfallen war, konnte der Blick vom
106
vgl.: Busch 1995, S. 188
107
Busch 1995, S. 218
108
Buddemeier, Heinz, zit.nach: ebd., S. 222
109
Busch 1995, S. 223f; vgl. auch: Kemp 1980, S. 73; Benjamin 1989, S. 53
110
vgl.: Busch 1995, S. 224

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783832454746
ISBN (Paperback)
9783838654744
Dateigröße
2.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Kulturwissenschaften, Kunsthistorisches
Note
2,0
Schlagworte
kunst impressionismus zeitgeschehen
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Titel: Auf den Spuren der Zeit
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