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Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung

Ein Vergleich der Theorie Alfred Adlers mit aktuellen Forschungsergebnissen

©1998 Magisterarbeit 92 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Innerhalb der Persönlichkeitspsychologie unterscheidet man eine Vielzahl an Theorien, die – jeweils verschiedenartige Schwerpunkte setzend – die Entstehung von Besonderheiten des einzelnen Menschen zu erklären versuchen: Sind es erbliche Faktoren, unbewußte Antriebe, oder ist es das soziale Umfeld eines Menschen, seine mitmenschlichen Beziehungen, die den Menschen zu bestimmten Handlungen motivieren und sein Erleben bestimmen?
In dieser Arbeit soll die Bedeutsamkeit der den sozialen Faktoren zugehörigen Variable der Geschwisterposition hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung diskutiert werden. Anlaß für die Wahl der Thematik war nicht nur die wiederholte Auseinandersetzung mit dieser und das dadurch steigende Interesse im Laufe meines Studiums, sondern auch meine persönliche Situation als zweitgeborene von vier Töchtern.
Schon in Märchen und Mythen aller Völker, in Volksbräuchen, Legenden und Sagen finden stereotype Vorstellungen über Geschwisterpositionen ihren Ausdruck. Auch in der Bibel seien „ausgezeichnete Beschreibungen“ von Geschwisterkonstellationen auszumachen, „die mit unserer Erfahrung genau übereinstimmen – so zum Beispiel die Geschichten von Joseph, David, Saul usw.“. Von jeher wurden Motive und Beobachtungen aufgegriffen und gestaltend verarbeitet. Zumeist diente die Darstellung der Geschwisterbeziehung dabei der Verdeutlichung allgemeinerer Fragen des Lebens und Zusammenlebens, wobei die einzelnen Geschwistertypen bestimmte menschliche Seins- und Verhaltensweisen, somit verschiedene Charaktere verkörpern sollten. Demnach unterscheiden sich häufig im Märchen die „Rolle des jüngsten (Nesthäkchen) und die Rolle des ältesten (Führungsrolle) Geschwisters“ deutlich. Die Annahme also, daß das Aufwachsen mit einer Geschwisterschaft, aber auch die Position innerhalb dieser, die Persönlichkeitsentwicklung und das spätere Leben eines Menschen beeinflußt, ist in den Überzeugungen der Völker verankert. Entgegen dieser frühen Erkenntnis wurde der Geschwistereinfluß in der Familien- und Erziehungsforschung lange Zeit unzureichend gewürdigt.
Alfred Adler stellte in den 30er Jahren als erster Hypothesen über Konstellationseffekte auf: Die Geschwisterposition verursache die Ausbildung bestimmter Persönlichkeitseigenschaften, wobei er betont, daß nicht die Rangposition eines Kindes die entscheidende Rolle spielt, sondern die damit verbundene Situation in der Familie, in die es hineingeboren wird und vor allem deren […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Terminologie
2.1 Begriffserläuterung „Geschwisterposition“
2.2 Begriffserläuterung „Persönlichkeit“

3 Allgemeines zur Geschwisterpositionsforschung
3.1 Historischer Abriß
3.2 Demographische Situation
3.3 Methodische Aspekte

4 Alfred Adlers Theorie zum Zusammenhang von Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung
4.1 Einordnung in grundlegende Ansätze zur Geschwisterkonstellationsforschung
4.2 Grundzüge der Individualpsychologie
4.3 Die Bedeutung der Geschwisterposition
4.3.1 Das einzige Kind
4.3.2 Das älteste Kind
4.3.3 Das zweite Kind
4.3.4 Das jüngste Kind
4.3.5 Sonderpositionen

5 Aktuelle Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung
5.1 Extravertiertheit
5.2 Freundlichkeit
5.2.1 Ergebnisse zu Aggressivität
5.2.2 Ergebnisse zu Beliebtheit/Kooperation/Empathie/Altruismus
5.3 Gewissenhaftigkeit
5.4 Neurotische Disposition
5.5 Offenheit für Erfahrung
5.6 Fazit

6 Intervenierende Variablen
6.1 Altersabstand der Geschwister
6.2 Anzahl der Geschwister/Familiengröße
6.3 Geschlecht der Geschwister
6.4 Erziehungsverhalten
6.4.1 Positionsspezifisches Erziehungsverhalten
6.4.2 Wahrnehmung elterlichen Erziehungsverhaltens

7 Kritische Auseinandersetzung

8 Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Innerhalb der Persönlichkeitspsychologie unterscheidet man eine Vielzahl an Theorien, die – jeweils verschiedenartige Schwerpunkte setzend – die Entstehung von Besonderheiten des einzelnen Menschen zu erklären versuchen: Sind es erbliche Faktoren, unbewußte Antriebe, oder ist es das soziale Umfeld eines Menschen, seine mitmenschlichen Beziehungen, die den Menschen zu bestimmten Handlungen motivieren und sein Erleben bestimmen?

In dieser Arbeit soll die Bedeutsamkeit der den sozialen Faktoren zugehörigen Variable der Geschwisterposition hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung diskutiert werden. Anlaß für die Wahl der Thematik war nicht nur die wiederholte Auseinandersetzung mit dieser und das dadurch steigende Interesse im Laufe meines Studiums, sondern auch meine persönliche Situation als zweitgeborene von vier Töchtern.

Schon in Märchen und Mythen aller Völker, in Volksbräuchen, Legenden und Sagen finden stereotype Vorstellungen über Geschwisterpositionen ihren Ausdruck. Auch in der Bibel seien „ausgezeichnete Beschreibungen“ von Geschwisterkonstellationen auszumachen, „die mit unserer Erfahrung genau übereinstimmen – so zum Beispiel die Geschichten von Joseph, David, Saul usw.“ (Adler, 1976, S. 75)[1]. Von jeher wurden Motive und Beobachtungen aufgegriffen und gestaltend verarbeitet. Zumeist diente die Darstellung der Geschwisterbeziehung dabei der Verdeutlichung allgemeinerer Fragen des Lebens und Zusammenlebens, wobei die einzelnen Geschwistertypen bestimmte menschliche Seins- und Verhaltensweisen, somit verschiedene Charaktere verkörpern sollten. Demnach unterscheiden sich häufig im Märchen die „Rolle des jüngsten (Nesthäkchen) und die Rolle des ältesten (Führungsrolle) Geschwisters“ deutlich (Langenmayr, 1987, S. 355). Die Annahme also, daß das Aufwachsen mit einer Geschwisterschaft, aber auch die Position innerhalb dieser, die Persönlichkeitsentwicklung und das spätere Leben eines Menschen beeinflußt, ist in den Überzeugungen der Völker verankert. Entgegen dieser frühen Erkenntnis wurde der Geschwistereinfluß in der Familien- und Erziehungsforschung lange Zeit unzureichend gewürdigt.

Alfred Adler stellte in den 30er Jahren als erster Hypothesen über Konstellationseffekte auf: Die Geschwisterposition verursache die Ausbildung bestimmter Persönlichkeitseigenschaften, wobei er betont, daß nicht die Rangposition eines Kindes die entscheidende Rolle spielt, sondern die damit verbundene Situation in der Familie, in die es hineingeboren wird und vor allem deren Wahrnehmung durch das Kind. Adler sieht in seiner Charaktertypologie des einzigen, ältesten, zweiten und jüngsten Kindes nichts Verbindliches, d.h. es gibt keine festen Regeln. Er ist jedoch davon überzeugt, daß ein Rang ganz spezifische, sich mehr oder weniger gleichbleibend wiederholende Situationsbedingungen aufweist, die wiederum fördernd auf die Entwicklung gewisser Eigenschaften einwirken. Die Hypothesenformulierungen Adlers haben starkes Forschungsinteresse geweckt und folglich zur Durchführung zahlreicher Studien angeregt, die sich mit der Frage nach der Bedeutsamkeit der Geschwisterposition im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung befassen. Ziel dieser Studien ist es, die von Adler aufgestellten Hypothesen zu überprüfen.

In der vorliegenden Arbeit werden die aktuellen Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung der Theorie Adlers vergleichend gegenübergestellt, wobei das individualpsychologische Gedankengut als roter Faden verwandt werden soll.

Neben den Werken Adlers basiert die Arbeit auf psychologischen Zeitschriftenartikeln – überwiegend aus den 70er und 80er Jahren – sowie auf neuerer Literatur, in der Untersuchungen dargestellt werden, die praktische, z.B. pädagogische oder klinisch-psychologische Zielvorstellungen verfolgen.

Zunächst werden in Kapitel 2 die zentralen Begriffe „Geschwisterposition“ und „Persönlichkeit“ eingeführt und erläutert, um das Verständnis für die theoretischen Ansätze zu erleichtern. Kapitel 3 befaßt sich mit der Geschwisterpositionsforschung aus historischer Sicht, gibt uns außerdem Informationen zur bevölkerungsstatistischen Situation der Familiengröße sowie zu methodischen Rahmenbedingungen der Forschungsvariable „Geschwisterposition.“ Alfred Adlers Geschwisterpositionstheorie wird in Kapitel 4 erläutert, wobei einleitend eine Einordnung dieser in grundlegende Ansätze sowie eine Darlegung der Grundannahmen der Individualpsycholgie vorgenommen wird. Das sich anschließende Kapitel 5 behandelt aktuelle Forschungsergebnisse, die exemplarisch an fünf Persönlichkeitsdimensionen vorgestellt werden. Weiterhin sollen an dieser Stelle sämtliche neueren Studien kennzeichnende methodische Schwierigkeiten angesprochen werden. Die neben der Geschwisterposition existierenden, persönlichkeitsbeeinflussenden Variablen werden in Kapitel 6 thematisiert, wobei ich auf vier Faktoren, die meines Erachtens bedeutend sind, näher eingehen werde. Eine zusammenfassende, kritsche Gegenüberstellung der Hypothesen Adlers auf der einen Seite und den neueren Forschungsergebnissen auf der anderen Seite erfolgt in Kapitel 7. Schließlich wird in Kapitel 8 der Versuch unternommen, aus den zusammengetragenen Ergebnissen ein Fazit zu ziehen, welches für therapeutische und pädagogische Überlegungen von Nutzen sein kann.

2 Terminologie

Im folgenden soll kurz erläutert werden, wie der Begriff der Geschwisterposition im Kontext dieser Arbeit verstanden wird, welche Rolle er in der Adlerschen Theorie spielt und welche Synonyme häufig in der Literatur zu finden sind. Eine Erläuterung des Begriffs der Persönlichkeit ist weitaus komplexer, da es sich hierbei um ein hypothetisches Konstrukt handelt, eine Abstraktion, welche zur Erklärung eines Phänomens dienen soll. Definitionsversuche aus verschiedenen Nachschlagewerken verdeutlichen durch unterschiedliche Schwerpunktsetzung die Vielschichtigkeit der Thematik. Eine Differenzierung der Begriffe Persönlichkeit und Charakter scheint an dieser Stelle aufgrund des Verwendungswandels der letzten Jahrzehnte sinnvoll. Vor allem sollen individualpsychologische Aspekte im Mittelpunkt stehen.

2.1 Begriffserläuterung „Geschwisterposition“

Sucht man in Nachschlagewerken nach diesem Begriff, wird man insbesondere in individualpsychologischer Literatur fündig. Dies ist durch die Tatsache zu erklären, daß sich Adler (1974, S. 195) als einer der ersten mit der Stellung des Individuums in der Geschwisterreihe beschäftigte und somit als Vater der sogenannten „Positionspsychologie“ bezeichnet werden kann.[2] Neben „Geschwisterposition“ sind die – zum größten Teil synonym verwendeten – Begriffe „Geschwisterreihe“, „Geburtenfolge“, „Geburtsrang“, „Ordinalposition“ sowie der von Adler geprägte Begriff der „Geschwisterkonstellation“ zu finden. Unter letzterem „werden in der psychologischen Literatur jene formalen Aspekte verstanden, die sich aus der Geschwisterbeziehung ergeben“ (Unzner, 1990, S. 20). Hierzu gehören neben der Reihenfolge der Geburten auch der „Abstand zwischen den Geschwistern, ihre Zahl und ihr Geschlecht“ (ebd.). Der für diese Arbeit bewußt gewählte, weniger komplexe Begriff der „Geschwisterposition“ stellt demnach nur einen Teil der Geschwisterkonstellation dar. Er gibt uns Informationen über die rein zahlenmäßige Geburtenfolge der Kinder, d.h. ob es sich z.B. um das einzige, älteste, zweite oder das jüngste Kind handelt.

Verschiedene Autoren, u.a. Sulloway (1997, S. 40f.) und Vuyk (1959, S. 5), weisen auf die sinnvolle Unterscheidung der „biologischen“ Geburtenfolge einerseits und der „funktionalen“ bzw. „psychologischen“ Geburtenfolge andererseits hin. Betrachtet man die Kategorie der Geburtenfolge in biologischer Hinsicht, werden auch verstorbene und totgeborene Kinder mitgezählt, „von denen die lebenden Kinder eventuell nichts wissen“ (Vuyk, 1959, S. 5). Die funktionale bzw. psychologische Geburtenfolge hingegen stellt die für die Geschwisterpositionsforschung bedeutendere Variable dar, da diese die persönlichen Empfindungen und Deutungen des Kindes berücksichtigt: Wird beispielsweise ein Kind adoptiert, oder wachsen Geschwister aufgrund einer Trennung der Eltern nicht zusammen auf, ergibt sich eine veränderte funktionale Geschwisterreihe und somit eine neue psychologische Situation. Auch der Altersabstand der Geschwister spielt eine wichtige Rolle, da „etwa Erstgeborene, deren nächstfolgende Geschwister sechs oder mehr Jahre jünger sind, funktional wie Einzelkinder zu betrachten“ sind (Sulloway, 1997, S. 40f.)[3].

2.2 Begriffserläuterung „Persönlichkeit“

Entlehnt aus dem lateinischen Wort persona, das die „Maske des Schauspielers“, die „Rolle, die durch diese Maske dargestellt wird, Charakterrolle“ bezeichnet, steht der Ausdruck Person/Persönlichkeit für den „Menschen in seiner besonderen Eigenart“, den „in sich gefestigte[n] Mensch[en]“ (Duden, Etymologie, 1997, S. 522). Die Persönlichkeit ist die „Gesamtheit aller individuellen Merkmale von Menschen“ (dtv-Atlas Psychologie, 1992, S. 465) oder „ausgeprägte Individualität eines Menschen“ (dtv-Lexikon, 1975, Bd.14, S. 88).

Es handelt sich einerseits um subjektive Zustände, Inhalte und Vorgänge, andererseits um beobachtbare Aktivitäten, die die unterschiedlichen Eigenschaften der Menschen ausmachen (dtv-Wörterbuch Psychologie, 1997). Somit umfaßt der Begriff der Persönlichkeit eine Vielzahl an Dimensionen, wie z.B. Emotionalität, Aktivitätsgrad oder Geselligkeit, „die gewöhnlich in der psychologischen Forschung bei Erwachsenen durch Fragebogen oder bei Kindern durch Ratingskalen erhoben werden, mittels derer Eltern ihre Kinder bewerten“ (Dunn & Plomin, 1996, S. 29). Im Mittelpunkt jeder Definition steht der Aspekt der Individualität, d.h. der Eigenartigkeit und Einzigartigkeit eines Menschen. Inwieweit diese individuellen Eigenschaften angeboren oder erworben sind, ist eine in den verschiedenartigsten Persönlichkeitstheorien zentral diskutierte Frage.

Die enge Verwandtschaft der Begriffe Persönlichkeit und Charakter wird vor allem in der älteren deutschen psychologischen Literatur deutlich, in der sie häufig synonym verwendet werden. Meist jedoch herrscht dort der Charakter-Begriff vor. Dieser „ist heute weitgehend durch den der Persönlichkeit ersetzt“ (dtv-Wörterbuch Psychologie, 1997, S. 106). In den Büchern von Adler begegnet man beiden Begriffen, wobei er zwischen dem „schöpferischen, prozeßhaft-werdenden Aspekt der Individualität bzw. der Persönlichkeit“ und dem den Charakter betreffenden „statischen Aspekt des Gewordenen, von der Vergangenheit her Geprägten und Gleichbleibenden“ (Hellgardt, 1995, S. 73) unterscheidet. Er stellt also die indeterminierte schöpferische Kraft der Persönlichkeit dem final determinierten Charakter – verstanden als sich gleichbleibend wiederholender Lebensstil – gegenüber und spricht in diesem Zusammenhang von der „Determination des Charakters und seiner Stellung als Mittel im Dienste der Persönlichkeit“ (Adler, 1974, S. 75). Adler betont die für ihn zentrale Bedeutung der „Einmaligkeit und Einzigartigkeit“ der individuellen Persönlichkeit, die seiner Schule innerhalb der Tiefenpsychologie, der Individualpsychologie, ihren Namen gibt (Rattner, 1997, S. 28). Festzuhalten ist, daß für Adler Persönlichkeit und Charakter soziale Begriffe darstellen (Kretschmer, 1995), d.h. die Umwelt des Menschen ist für ihre Entwicklung verantwortlich. In dieser Arbeit verwende ich der Übersichtlichkeit halber ausschließlich den Begriff der Persönlichkeit und stelle den Entwicklungsaspekt der Individualität des Menschen durch seine Umgebung in den Vordergrund. Der Aspekt der Vererbung, der von Adler (1979, S. 136) als „Aberglaube“ bezeichnete „Glaube an angeborene Anteile des Charakters“ tritt somit in den Hintergrund, wie folgende Textstelle verdeutlicht:

‘Gut’ und ‘böse’ haben, wie andere Bezeichnungen von Charakterzügen, nur in dem Zusammenhang einer Gemeinschaft einen Sinn. Sie sind Ergebnisse der Einübung in die Umgebung einer Gemeinschaft unter Mitmenschen, und sie setzen das Urteil voraus: ‘dem Wohl anderer zuträglich’, oder: ‘dem Wohl anderer abträglich’. Vor der Geburt hat das Kind keine es umgebende Gemeinschaft in diesem Sinn. Nach der Geburt hat es Entwicklungsmöglichkeiten nach beiden Richtungen. Welchen Pfad es einschlägt, hängt von den Eindrücken und Empfindungen ab, die es von seiner Umgebung und seinem eigenen Körper empfängt, und von der Deutung, die es diesen Eindrücken und Empfindungen gibt. Vor allem wird es von seiner Erziehung abhängen. (Adler, 1979, S. 136)

Verantwortlich für die Entwicklung der Persönlichkeit – von Adler häufig gleichgesetzt mit dem Begriff des Lebensstils (des Erwachsenen) bzw. des Leitbildes (des Kindes)[4] – seien also nicht bestimmte objektive Faktoren, zu denen neben den Erbfaktoren auch die Stellung des einzelnen innerhalb der Familienkonstellation gehört, sondern die individuumspezifische Bewertung und die daraus folgende Reaktion des Kindes auf diese es umgebende Faktoren.

3 Allgemeines zur Geschwisterpositionsforschung

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik der Geschwisterposition zeichnet sich durch eine Vielzahl verschiedenartiger Vorgehensweisen aus, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Anfänglich beruhend auf Beobachtungen aus psychotherapeutischer Erfahrung, vielfach sich auch eher global und mehr populärwissenschaftlich mit der Bedeutung der Geschwisterposition beschäftigend, herrschen aktuell wissenschaftlich-empirische Auseinandersetzungen vor. Neben der Darstellung der gegenwärtigen Forschungssituation ist auch die demographische Situation hinsichtlich der Familiengröße von Interesse. Weiterhin sollen methodische Betrachtungsschwerpunkte innerhalb der Geschwisterpositionsforschung skizziert sowie eine Charakterisierung der Variable „Geschwisterposition“ vorgenommen werden.

3.1 Historischer Abriß

Schon länger als 100 Jahre dauert nun die „Debatte um den Einfluß der Geschwisterfolge auf Begabung, Erfolg und weitere Schicksalsfragen“ (Spiegel, 25/1990, S. 218). So fanden erste wissenschaftliche Untersuchungen am Ende des vorigen Jahrhunderts statt. Themen dieser frühen Untersuchungen waren vor allen Dingen die der geschwisterpositionsabhängigen Intelligenz und Delinquenz sowie besondere Positionen, z.B. die des Einzelkindes. Anfang diesen Jahrhunderts setzten sich vermehrt Psychoanalytiker und Soziologen mit der Thematik auseinander, wobei sich die psychoanalytische Literatur insbesondere mit der frühkindlichen Rivalität der Geschwister um die Liebe eines Elternteils befaßte. In den 30er Jahren war Alfred Adler der erste, der systematisch auf die Bedeutung der Geschwister, vor allem ihren Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung, einging und mit Veröffentlichungen im Rahmen der aufkeimenden tiefenpsychologischen Forschungen hervortrat, weshalb er auch als „Ziehvater der soziologischen Geschwisterkonstellationsforschung“ bezeichnet wird (Kasten, 1993, S. 14). Darüber hinaus stellen seine Hypothesen über den Zusammenhang zwischen der Geschwisterposition und Persönlichkeitseigenschaften überwiegend die Basis für weitere Forschungen in diesem Bereich dar.

Neben Adler sind auch Freud, der sich vornehmlich mit dem Zusammenhang von Geschwisterkonflikten und Neurosenentstehung beschäftigte, und Toman, der um 1960 in seiner Theorie den Einfluß der Familienkonstellation auf außerfamiliäre soziale Dauerbeziehungen in den Mittelpunkt stellte, als Geschwisterforscher zu nennen. Die Geschwisterpositionsforschung hat demnach ihre Ursprünge im deutschsprachigen Raum, „eindeutige Domäne“ sei heute jedoch die U.S.-amerikanische Forschung, so Unzner (1990, S. 17).

Dechêne (1967, S. 12) konstatiert, daß die Bedeutung der Geschwister für die menschliche Entwicklung von der wissenschaftlichen Psychologie lange Zeit unterschätzt und der „geschwisterlich-familiäre Aspekt doch über Gebühr vernachlässigt“ (ebd., S. 13) wurde. Ein Grund hierfür liege in der bis dahin vorherrschenden biologisch-psychologischen Theorie des Nativismus, die von angeborenen, umweltstarren Gegebenheiten ausgeht und somit den Blick für prägende Wirkungen der sozialen Umwelt, also auch der Geschwister aufeinander, verengt. Weiterhin macht er das damalige, die Gesellschaftsstruktur beherrschende „soziale Leitbild des Patriarchats “ (ebd., S. 12) für die Vernachlässigung verantwortlich: Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses standen die mehr hierarchischen, „vertikalen“ Eltern-Kind-Beziehungen und eben nicht die mehr „horizontalen“ Geschwister-Beziehungen. Nach den Pionierarbeiten Adlers gab es ein Vierteljahrhundert lang kaum Vorstöße auf dem Gebiet der Geschwisterkonstellationsforschung. Verursacht wurde dies sicherlich einerseits durch die Komplexität der Thematik, andererseits durch die determinierte psychologische Forschung aufgrund der politischen Situation während des Dritten Reiches.

Betrachtet man die Entwicklung in den letzten 30 Jahren, ist insbesondere zwischen 1978 und 1982 – nach einer Literaturanalyse von Kasten (1993) – ein Nachlassen der Forschungsaktivitäten zu verzeichnen. Seit 1985 stellt er einen Anstieg der Publikationsrate sowie eine Zunahme anwendungsorientierter Veröffentlichungen fest. Dieser Trend ist zweifellos auf die 1983 publizierte Monographie von Ernst & Angst zurückzuführen – eine der umfangreichsten und fundiertesten Analysen der Fachliteratur, in der die Autoren die Theorie Adlers scharf kritisieren: Die von Adler auf der Basis klinischer Einzelfallstudien erlangten positiven Ergebnisse zum Zusammenhang von Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung seien zurückzuführen auf mangelnde Forschungsmethodik. So ließ sich von diesem Zeitpunkt an ein Rückgang der einschlägigen, sich an Adler orientierenden Veröffentlichungen verzeichnen: Bis dahin meist unkontrollierte Einflußfaktoren, wie z.B. Schichtzugehörigkeit, Erziehungsstil oder Berufsausbildung der Eltern, wurden von da an vermehrt in Untersuchungen miteinbezogen. Die qualitative Veränderung der Forschung, die Nähe zu praxisorientierten Fachdisziplinen, bringt es mit sich, daß im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit „nicht mehr vordergründige Effekte strukturell einfacher Variablen (wie Geburtsrangplatz) [stehen], sondern die dahinterliegenden, verursachenden Prozesse und Wechselwirkungen“ (Kasten, 1993, S. 11). Über die aktuelle Forschungssituation herrscht unter den Autoren keine Einigkeit: Einerseits sei eine Zunahme der Forschungsaktivitäten vor allem in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen, andererseits täusche diese mittlerweile unüberschaubare Anzahl von Forschungsberichten, da die oft widersprüchlichen Ergebnisse – vor allem verursacht durch unterschiedliche methodische Vorgehensweisen – einen umfassenden Überblick erschweren (ebd.).

Auch in aktueller Literatur wird häufig von einer immer noch vorhandenen Forschungslücke im Bereich der Geschwisterbeziehung gesprochen. So stellt Unzner (1990, S. 8) fest, daß „der Geschwistereinfluß in der Familien- und Erziehungsforschung meist nur unzureichend gewürdigt“ wird, obwohl Geschwisterbeziehungen die „langlebigsten Familienbeziehungen“ seien, die sogar die Beziehungen der Kinder zu den Eltern überdauern. Im Unterschied zur Eltern-Kind-, Peers- oder Partnerbeziehung sei „das Thema der Geschwisterbeziehung von den Human- und Sozialwissenschaften lange Jahrzehnte sehr stiefmütterlich behandelt“ (Kasten, 1993, S. 15) worden.

Festgehalten werden kann, daß die weit verbreitete Auffassung, im Rahmen der frühkindlichen Sozialisation seien ausschließlich Eltern für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder verantwortlich, relativiert wurde und man erkannt hat, daß neben den Eltern auch andere Bezugspersonen, u.a. Geschwister, Einfluß auf die kindliche Entwicklung haben. Weiterhin wurde die Ansicht der prägenden, für die Persönlichkeitsentwicklung entscheidenden ersten Lebensjahre abgelöst von einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, die von Prägungen auch in den späteren Entwicklungsabschnitten ausgeht (Kasten, 1993).

3.2 Demographische Situation

Im folgenden sollen kurz einige aktuelle Entwicklungstrends der beiden demographischen Kennziffern Geburtenrate und Familiengröße genannt werden, da diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit interessant erscheinen. Eine vom Statistischen Bundesamt erstellte Statistik (StBA, 1995) über die in Deutschland Lebendgeborenen nach Lebendgeburtenfolge zeigt eine in den Jahren von 1991 bis 1995 allgemein sinkende Geburtenrate. Der Anteil der Erstgeborenen an den insgesamt ehelich Lebendgeborenen sank von 48.01% (1991) auf 46.56% (1995), während der Anteil der Zweitgeborenen von 35,04% (1991) auf 36,67% (1995) anstieg. Der Anteil Drittgeborener blieb relativ konstant bei ca. 11,6%, der Anteil der Fünftgeborenen blieb bei ca. 1%.

Hinweise zur Entwicklung der Familiengröße von 1991 bis 1996 gibt uns eine weitere Statistik des Statistischen Bundesamtes (StBA, 1996): Gemessen an der Gesamtzahl deutscher Familien mit mindestens einem Kind, ist der Anteil der Einkindfamilien von 51,41% (1991) auf 50,77% (1996) gesunken. Der Anteil der Zweikinderfamilien ist von 36,83% (1991) auf 37,02% (1996) gestiegen. Auch die Zahlen der größeren Familien mit drei und mehr Kindern zeigen steigende Tendenz.

Auf der anderen Seite stieg auch die Zahl der kinderlosen Ehepaare in Deutschland von 1991 bis 1996 stetig an. 1996 gab es im Vergleich zu 1991 9,4% mehr Ehepaare ohne Kinder, während die Zahl der Ehepaare mit Kindern um 6,2% sank. Die Differenz dieser beiden Gruppen wurde im Laufe der Jahre immer kleiner, so daß 1996 fast gleiche Zahlen erreicht wurden, d.h. der Anteil der Ehepaare mit Kindern und der Ehepaare ohne Kinder machte jeweils 50% aus (Grünheid & Mammey, 1997, S. 433).

Es können demnach folgende Strömungen postuliert werden:

Generell ist eine sinkende Geburtenrate zu verzeichnen. Die Familiengröße betreffend kann man zunächst feststellen, daß ungefähr jede zweite (!) Familie in Deutschland – gemessen an der Gesamtzahl deutscher Familien mit mindestens einem Kind – eine Einkindfamilie und jede dritte eine Zweikinderfamilie ist. Dementsprechend macht diese Gruppe zusammen fast 90% der Familien mit Kindern aus. Dies verdeutlicht den hohen Anteil an Kindern, die kein bzw. nur ein Geschwister haben.

Der Anteil an Erstgeborenen zeigt fallende, der Anteil an Zweitgeborenen steigende Tendenz. Aus der daraus folgenden sinkenden Zahl an Einzelkindern kann man jedoch nicht auf eine zunehmende Durchschnittsgröße der deutschen Familie schließen, da sich in dieser Entwicklung möglicherweise auch der Trend zur Kinderlosigkeit widerspiegelt.

Der sinkende Anteil an Einkindfamilien und gleichzeitig steigende Anteil an größeren Familien läßt vielmehr folgende Vermutung zu: Einerseits steigt die Zahl der kinderlosen Ehepaare, andererseits entscheiden sich Paare, die schon mindestens ein Kind haben, für weiteren Zuwachs[5]. So zeigen die Zahlen größerer Familien mit mindestens drei Kindern zwar steigende Tendenz, der Anteil solch großer Familien bleibt jedoch verhältnismäßig gering. Die Daten der Bevölkerungsstatistik des 20. Jahrhunderts vergleichend, macht Kasten (1986, S. 321) diesbezüglich folgende Feststellung: Ende des 19. Jahrhunderts lebten in der deutschen Durchschnittsfamilie fünf Kinder, im Jahre 1980 nur noch 1,3 Kinder. Daraus folgt – die oben genannten Zahlen bestätigend – eine im Gegensatz zu früher durchschnittlich viel kleinere Geschwisterschaft. Tatsache ist, daß es in Deutschland fast genauso viele Ehepaare ohne Kinder wie Ehepaare mit Kindern gibt, wobei die Zahl der kinderlosen Ehepaare sogar steigende Tendenz aufweist! Als Begründungen für das Phänomen der zunehmenden Kinderlosigkeit in der Ehe führen Dorbritz & Schwarz (1996, S. 231ff) u.a. den Anstieg des durchschnittlichen Erstheiratsalters (und das damit verbundene Aufschieben des Kinderwunsches, bis die Geburt eines Kindes nicht mehr erwünscht oder nicht mehr möglich ist), die Belastung des Familieneinkommens, die außerhäusliche Erwerbstätigkeit von Frauen und die Individualisierung/Pluralisierung der Lebensformen auf.

Zusammenfassend kann folglich festgehalten werden, daß zwar eine leicht sinkende Zahl an Einzelkindern zu verzeichnen ist, dennoch ca. jede zweite Familie der Familien mit mindestens einem Kind eine Einkindfamilie ist. Der Großteil deutscher Kinder wächst mit keinem oder einem Geschwister auf[6]. Weiterhin hat sich die Haltung verfestigt, kinderlos zu bleiben, was sich auch in der allgemein sinkenden Geburtenrate widerspiegelt.

3.3 Methodische Aspekte

Wie bereits erwähnt, liegt eine große Zahl empirischer Untersuchungen vor, die die Zusammenhänge zwischen der Geschwisterposition und anderen Variablen zum Inhalt haben[7].

Entscheidende Unterschiede innerhalb der Untersuchungen ergeben sich durch die Art der untersuchten Zusammenhänge, die sich hinsichtlich ihrer Fragestellungen in folgende Gruppen einteilen lassen:

Untersuchungen, die Zusammenhänge erforschen jeweils zwischen Geschwisterposition und

- biologisch-physiologischen Variablen (z.B. Geburtsgewicht, Behinderung),
- Variablen im Leistungsbereich (z.B. Intelligenz, Berufserfolg, Schulleistung),
- Variablen im Persönlichkeitsbereich (z.B. Anpassungsverhalten, Kreativität, Dominanz),
- psychischen Auffälligkeiten (z.B. Schizophrenie, Alkoholismus, Kriminalität).

Man unterscheidet in der empirischen Forschung zwischen unabhängigen, abhängigen und intervenierenden Variablen, wobei Variablen als „Begriffe, die verschiedene Ausprägungsformen oder Werte einnehmen können“ verstanden werden (Kasten, 1993, S. 16). „Mit unabhängiger Variable werden dabei die Bedingung, mit abhängiger Variable die Folge oder die Effekte bezeichnet [...]. Von intervenierenden Variablen spricht man dann, wenn die zwischen unabhängiger und abhängiger Variablen vermutete Beziehung nicht immer gilt, sondern nur unter bestimmten Bedingungen zutrifft“ (Friedrichs, 1985, S. 94). Kasten (1993, S. 16) spricht von intervenierenden Variablen als „zusätzliche Einflußfaktoren neben den eigentlichen unabhängigen Variablen, die entweder als Störvariablen eliminiert oder hinsichtlich ihres Einflußumfangs kontrolliert werden müssen, in jedem Falle aber die resultierende abhängige Variable mitbeeinflussen.“ In den genannten Untersuchungen interessiert die Geschwisterposition also als unabhängige Variable, als ein Faktor, der zwischenmenschliche, individuumsbezogene und soziale Variablen beeinflussen und somit Konstellationseffekte verursachen kann. Die abhängige Variable, auch als „Resultante“ oder „Produkt verursachender Einflußgrößen“ (Kasten, 1993, S. 17) bezeichnet, stellt in diesem Themenbereich die Persönlichkeitskeitsentwicklung dar, wobei in Kapitel 5 verschiedene Aspekte der Persönlichkeit in ihrer Abhängigkeit von der Geschwisterposition diskutiert werden sollen. Neben der Geschwisterposition müssen intervenierende Variablen, wie z.B. sozioökonomischer Status, Erziehungsverhalten oder Geschlecht kontrolliert werden[8]. Hier wird die Vielschichtigkeit der Thematik deutlich. Allein der Umfang an vorhandenen Persönlichkeitstheorien – sich befassend mit der Frage nach möglichen, persönlichkeitsbildenden Faktoren, wie u.a. auch dem umstrittenen Aspekt genetischer Einflüsse – spiegelt dies wider. Häufig findet eine Kontrolle dieser weiteren Einflußfaktoren in der Konstellationsforschung nicht statt, wie Ernst & Angst (1983) kritisch feststellen: Sobald Hintergrundvariablen in die Untersuchungen integriert werden, verschwindet ihrer Meinung nach der Zusammenhang zwischen Geschwisterposition und Persönlichkeitsvariablen[9].

Schooler (1972, S. 174) kritisiert die sich in der Forschungspraxis vieler Autoren äußernde Auffassung, die Geschwisterposition sei eine leicht zu erfassende Variable und zudem sehr objektiv und reliabel zu messen: „This apparent simplicity and objectivity was probably the main source of the appeal of birth order as an independent variable to those investigators looking for a simple way of controlling genetic effects or an objective way of studying family dynamics.“

Weiterhin wird vermehrt der Verdacht geäußert, daß viele Wissenschaftler im Rahmen anderer Forschungsbereiche unbeabsichtigt auf Zusammenhänge stoßen, ihre Untersuchungen folglich „wirken wie isolierte und oft zufällige Schnappschüsse von Stichproben, die nur ungenau oder unzureichend definiert waren“ (Toman, 1996, S. 245). Somit komme es häufig zu „post hoc-Theoretisierungen, die man eher ‘Plausibilisierungen’ nennen könnte“ (Kasten, 1986, S. 322)[10].

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die in Kapitel 2.1 beschriebene notwendige Unterscheidung zwischen biologischer und psychologischer Geschwisterreihe häufig nicht beachtet wird, entscheidende Ereignisse wie Totgeburt oder Adoption nicht kontrolliert werden und somit Forschungsergebnisse nicht vergleichbar sind. Außerdem kommt es vielfach zu verwirrenden Vermischungen von Ursachen und Wirkungen, d.h. die klassische Einteilung der Forschungsvariablen in unabhängige/intervenierende auf der einen und abhängige Variablen auf der anderen Seite wird nicht eingehalten[11].

4 Alfred Adlers Theorie zum Zusammenhang von Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung

Adler lebte von 1870 bis 1937 und beschäftigte sich als einer der ersten mit der Stellung des Individuums in der Geschwisterreihe. Er war davon überzeugt, daß die Geschwisterposition „untilgbare Spuren im Lebensstil“ hinterläßt (Adler, 1979, S. 126). Seiner Einschätzung nach sind die „am besten bewährten Zugänge zur Erforschung der Persönlichkeit“ gegeben in einem „umfassenden Verständnis der ersten Kindheitserinnerungen, der Position des Kindes in der Geschwisterreihe, irgendwelcher Kinderfehler, in Tag- und Nachtträumen und in der Art des exogenen, krankmachenden Faktors“ (Adler, 1973, S. 45). Indem die Individualpsychologie – das von Adler begründete psychoanalytische System – „nach den Vor- und Nachteilen des Platzes eines Kindes in der Geschwisterreihe fragte“ (Adler, 1979, S. 118), hat sie ein umfangreiches Forschungsgebiet eröffnet. Die Frage, „wie sich frühkindliche Umweltfaktoren und Belastungen auf die psychische Struktur auswirken, rückte für ADLER ins Zentrum“, d.h. er beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit pathogenen Zusammenhängen, also dem Ursprung neurotischer Dispositionen (Lehmkuhl & Lehmkuhl, 1994, S. 189). Zum besseren Verständnis der in den 30er Jahren aufgestellten Hypothesen über Konstellationseffekte innerhalb der Persönlichkeitsentwicklung ist es sinnvoll, zunächst den Rahmen vorhandener Erklärungsansätze sowie einige Grundannahmen der Individualpsychologie darzulegen.[12]

4.1 Einordnung in grundlegende Ansätze zur Geschwisterkonstellationsforschung

Die im Mittelpunkt aller Theorien stehende Frage ist die nach den Ursachen der Persönlichkeitsdifferenzen unter Geschwistern. Die Erklärungsansätze zu Unterschieden in der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Personen verschiedener Geschwisterposition lassen sich grob in psychologische und biologisch-physiologische unterteilen.

Psychologisch orientierte Ansätze stellen das individuelle Sozialfeld eines Kindes, vor allem die Eltern-Kind-Beziehung und die Geschwisterbeziehung in den Vordergrund. Interaktionen in der Familie – möglicherweise gekennzeichnet durch Rivalitäten, Wettbewerb oder Eifersucht – und die Reaktionen des Individuums darauf, werden als verursachende Faktoren für die Ausbildung von Persönlichkeitseigenschaften verstanden.

Biologisch-physiologisch orientierte Ansätze hingegen machen u.a. Erbfaktoren, verschiedenartige Schwangerschaftsverläufe, Unterschiede zwischen Erstgebärender und Mehrfachmutter für bestimmte Persönlichkeitsmerkmale verantwortlich. Physiologische Theorien werden hauptsächlich im Zusammenhang mit Leistungsvariablen (Intelligenz) diskutiert. Dabei wird z.B. von unterschiedlichen Ernährungssituationen der Föten in Abhängigkeit des Alters der Mütter als bedeutenden Einflußfaktor bezüglich der Intelligenzentwicklung ausgegangen (Adams, 1972; Ernst & Angst, 1983). Diese wesentlichen Arten der Erklärungsansätze sind selten isoliert vorzufinden, da psychologische und physiologische Aspekte nicht zu trennen sind, d.h., daß im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung sowohl Sozialisationsprozesse als auch Erbfaktoren eine Rolle spielen.

Auch ökonomische Hypothesen, die Geschwisterdifferenzen durch unterschiedliche Verteilung materieller Ressourcen zu erklären versuchen, existieren[13]. Dieser ökonomische Ansatz stellt jedoch nur eine teilweise, zusätzliche Erklärungsmöglichkeit dar:

Theories of family economics have been used to account primarily for birth order differences in achievement, especially as these derive from college attendance. However, as we shall see, these theories tend not only to be relatively narrow in terms of what they try to explain, but are also only partial explanations. (Adams, 1972, S. 416)

Adlers Ansatz wird der Gruppe der psychologischen zugeordnet, wobei auch immer wieder physiologische Aspekte diskutiert werden[14].

4.2 Grundzüge der Individualpsychologie

Die Individualpsychologie widmet – „im Gegensatz zu den Assoziationen, die der Name heute weckt – den sozialen Bedingungen, unter denen menschliche Entwicklung sich vollzieht, besondere Aufmerksamkeit“, wobei sie sich bemüht, jedes individuelle Leben und Handeln als etwas Ganzes zu sehen, als unteilbare Einheit, „so daß eine deutsche Übersetzung des Begriffs I[ndividualpsychologie] etwa ‘Unteilbarkeitspsychologie’ oder auch ‘Ganzheitspsychologie’ lauten würde“ (Antoch, 1994, S. 255).

Im Gegensatz zur biologisch-kausalen Sichtweise Freuds, die den Menschen als triebgesteuertes, unfreies Wesen beschreibt und neurotische Entwicklungen überwiegend auf die intrapsychischen psychosexuellen Konflikte zurückführt, betont Adler die Möglichkeit der Selbstbestimmung menschlichen Handelns, die Eigenverantwortlichkeit im Eingebundensein in die Gemeinschaft und geht somit von einem positiven Menschenbild aus. Die zentrale, kausal orientierte Frage Freuds nach dem ‘Woher?’ wird in der Theorie Adlers ersetzt durch die final orientierte Frage nach dem ‘Wohin?’, denn „erst wenn wir das wirkende, richtende Ziel eines Menschen kennen, dürfen wir uns anheischig machen, seine Bewegungen [...] zu verstehen“ (Adler, 1974, S. 263). Die treibende Kraft menschlichen Verhaltens stelle also die Zielgerichtetheit, die Bewegung eines Menschen auf ein Ziel hin, dar. Diese Sicht führt zu einer „philosophischen Position der Teleologie und Finalität [meine Hervorhebung!], zur Determinierung durch Endziele“ (Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 101).

Ein tragender Gedanke Adlers ist die Erkenntnis von der Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls für die Entwicklung der Persönlichkeit, für jede Handlung und Gefühlsregung (Unzner, 1990). Was aber meint Adler mit diesem mißverständlichen Begriff, wenn eben nicht – wie ihm gelegentlich unterstellt wird – eine „nahtlose[...] Anpassung oder gar Unterwerfung des einzelnen unter die Interessen der Gemeinschaft“ (Antoch, 1994, S. 259)? Dreikurs (1997) umschreibt den Begriff folgendermaßen:

Subjektiv äußert sich das Gemeinschaftsgefühl in dem Bewußtsein, mit anderen Menschen verbunden zu sein, zu ihnen zu gehören, nicht abseits zu stehen. Damit verbunden ist das Gefühl, daß man trotz aller persönlichen Verschiedenheiten das Schicksal seiner Mitmenschen teilt. Nur dann entwickelt man seine ganze Fähigkeit zur Kooperation. Die Fähigkeit eines Menschen zur Kooperation kann als Maßstab für sein Gemeinschaftsgefühl angesehen werden. (Dreikurs, 1997, S. 24)

Nach Antoch (1994, S. 23) ist mit diesem Gemeinschaftsgefühl „Offenheit für Dinge und Personen, Kontakt und Aufgeschlossenheit den Aufgaben des Lebens gegenüber, Wachheit für die sozialen Begleitumstände und Folgen dieser Aufgabenlösungen “ gemeint, wobei Adler von einem der „faktischen Lebensnotwendigkeit des Gemeinschaftslebens“ entsprechenden „psychologische[n] Zwang in der Richtung auf Sozialität“ ausgehe (Wexberg, 1969, S. 79). Die Entwicklung und Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls hänge wesentlich von den Eindrücken der Kindheit und Jugend ab, also u.a. auch von der Art und Weise des Heranwachsens unter Geschwistern:

Das Gemeinschaftsgefühl ist [...] ein ‘biologisches Erbe’. Ob es aber in einem für ein geordnetes Zusammenleben ausreichenden Maß ausgebildet wird oder nicht, hängt [...] von den Lebensumständen des Kindes in seiner frühen Kindheit [...] und dem Erziehungsstil der Eltern ab. [...] Förderlich ist alles, was den Kontakt des Kindes verstärkt. Um ein Mitmensch (und kein Gegenmensch) zu werden, muß das Kind durch ‘innige Kooperation’, zunächst mit der Mutter, erst später auch mit dem Vater und den Geschwistern, in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, bei der beide gewinnen , als ein ‘gleichberechtigter Mitarbeiter’ aufwachsen. (Adler, 1973, S. 18)

So bezeichnet er das Gemeinschaftsgefühl als „wichtigste[n] Bestandteil unserer Erziehung“ (Adler, 1978, S. 19), an anderer Stelle als „Barometer kindlicher Normalität“ (Adler, 1976, S. 10), da ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl einen schädigenden Einfluß auf die seelische Entwicklung des Kindes habe, seiner Auffassung nach sogar gleichbedeutend ist mit der „Ausrichtung zur unnützlichen Seite des Lebens. Aus den Menschen, denen es an Gemeinschaftsgefühl fehlt, rekrutieren sich die Gruppen der Sorgenkinder, der Kriminellen, der Geistesgestörten und der Alkoholiker“ (Adler, 1978, S. 19).

An dieser Stelle wird der für diese Arbeit bedeutende und in Adlers Theorie zentrale Begriff des Lebensstils – synonym verwendete er in seinen Schriften auch die Begriffe „Lebensplan“, „Lebensschablone“, „Bewegungslinie“, „Leitlinien“ oder einfach „Gangart“ – erläutert (Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 176; Dreikurs, 1997, S. 56ff). Es wird angenommen, daß spezifische, u.a. geschwisterpositionsabhängige Erfahrungen ihren Niederschlag im persönlichen Lebensstil finden. Der Begriff des Lebensstils

wird verschiedentlich gleichgesetzt mit dem Ich, der einem Menschen eigenen Persönlichkeit, der Einheit der Persönlichkeit, der individuellen Form der schöpferischen Aktivität, der Methode, Problemen ins Auge zu sehen, der Meinung von sich selbst und den Lebensproblemen, der ganzen Einstellung zum Leben und anderen. (Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 175)

Dieser Lebensstil äußere sich in der Bewältigung der sogenannten „Lebensaufgaben“ (Rattner, 1980, S. 38f.) oder auch „Lebensfragen“, die sich nach Adler (1973, S. 45) drei Gruppen – jede ein besonderes Gebiet von Inhalten und Aktionsmöglichkeiten umfassend – unterordnen lassen: dem Problem des Gemeinschaftslebens, der Arbeit und der Liebe. Das Wesen eines Menschen werde erst klar aus der Kenntnis der Art, wie das Individuum mit diesen Lebensaufgaben umgehe, „denn all unser Verhalten zu diesen drei Fragen ist die Antwort, die wir kraft unseres Lebensstils geben“ (ebd.). Die Lösung dieser Probleme setze einen gewissen Grad an Gemeinschaftsgefühl voraus.

Bei der Entwicklung des individuellen Lebensstils kann man unterscheiden zwischen objektiven Faktoren einerseits – einteilbar in innere und äußere Faktoren – und subjektiven Faktoren andererseits, die sogenannte schöpferische Kraft, die die Folgen und Auswirkungen der Milieueinflüsse durch jeweils unterschiedliche Deutung dieser individuell gestaltet (Unzner, 1990). So ziehe das heranwachsende Kind alle Eindrücke, die es empfängt, in Betracht, die seines eigenen Körpers und die seiner äußeren Umgebung, und bildet unter deren Einfluß schöpferisch seine Meinung von sich und der Welt, zusammen mit seiner Idee von seinem individuellen Ziel des Erfolgs. Dies geht allmählich, im 4. bis 5. Lebensjahr, vor sich. Hat das Kind so einmal einen Prototyp seines Lebensstils geschaffen, dann werden alle weiteren Eindrücke stark von diesem beeinflußt. (Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 339)

Dieser Aspekt der subjektiven Auslegung und Bewertung einer Situation spielt in Adlers Theorie eine entscheidende Rolle.

Mit den objektiven inneren Faktoren innerhalb des Entwicklungsprozesses des Lebensstils ist die Anlage des Kindes, also auch die vererbte körperliche Konstitution gemeint. In diesem Zusammenhang wird die Organminderwertigkeit genannt, die ein Minderwertigkeitsgefühl des Kindes zur Folge haben kann, wobei bemerkt werden muß, daß Organschäden nicht statisch wirken, „durch ihr bloßes Vorhandensein, sondern nur dynamisch, durch die Einstellung des Kindes zu ihnen“ (Dreikurs, 1997, S. 39). Die Dynamik menschlichen Handelns wird verstanden als ein Streben nach Überwindung dieser subjektiv erlebten – nicht nur körperlichen – Mangelzustände, die auf einer geringen Selbsteinschätzung basieren. So ziehe das Minderwertigkeitsgefühl einen Kompensation smechanismus, ein Geltungsstreben nach sich, das als eine Art treibende Kraft des Menschen bezeichnet werden könne, die ihm helfe, „mit Schwierigkeiten und Problemen fertig zu werden, seine Lage zu verbessern, sein Selbstwertgefühl zu sichern und so erst lebensfähig zu werden“ (Unzner, 1990, S. 21). Adler führt auch die Erziehbarkeit des Kindes auf sein Minderwertigkeitsgefühl, seine Schwächen und die Hilflosigkeit – die es anlehnungsbedürftig machen – zurück. In das Gebiet der seelischen Pathologie falle der sogenannte, sich möglicherweise aus dem Minderwertigkeitsgefühl entwickelnde Minderwertigkeitskomplex. Dieser könne entstehen, wenn sich Pessimismus und Ängstlichkeit verdichten, der Betreffende derart entmutigt wird, daß er annimmt, die Mangellage nicht aufarbeiten zu können.

Die objektiven äußeren Faktoren stellen die Umweltgegebenheiten des Kindes dar. Innerhalb dieser auf das Kind einwirkenden Erlebnisse lassen sich drei familiale Faktoren unterscheiden: die Familienatmosphäre, die Erziehungsmethode sowie die Familienkonstellation. Unter Familienatmosphäre versteht man das durch Verhaltensdimensionen und Wertvorstellungen der Eltern erzeugte Klima in der Familie, nach Dewey (1978, S. 58) das „charakteristische Muster, das Eltern ihren Kindern als Maßstab für soziales Leben vermitteln.“ McDonough (1978) umschreibt den Begriff folgendermaßen:

It is also important to understand the ‘family atmosphere’ which simply includes all the characteristics, values, ideals, and preferences that the family members commonly share. The family atmosphere is the social setting in which the child develops his attitudes towards life. The things that siblings have in common reflect the family atmosphere. The things they differ in reflect competition. (McDonough, 1978, S.63)

Durch die Form des Umgangs miteinander wird in der Familie sozusagen ein Vorbild menschlicher Beziehungen entwickelt. So spiegeln sich in den verschiedenen Atmosphären – wie z.B. die autoritäre, die inkonsequente, die nachsichtige, die materialistische, die unharmonische – auch die unterschiedlichsten Erziehungsmethoden wider, die bestimmte Verhaltensmuster und somit auch Lebensstile hervorbringen[15]. Während ein „Sich-Entziehen“ der Familienatmosphäre für ein Kind nicht möglich sei, könne es sich jedoch für oder gegen die Wertorientierungen der Eltern entscheiden: Entweder passe das Kind sich an und übernehme die Werte seiner Eltern, oder es rebelliere gegen die Familienwerte, „gewöhnlich ohne sich bewußt zu sein, weshalb es das tut“ (Dewey, 1978, S. 649).

Die für diese Arbeit bedeutsamste Persönlichkeitsdeterminante des Kindes innerhalb der familialen Faktoren stellt die Familienkonstellation dar, die die „sozio-psychologische Konfiguration einer Familiengruppe“, d.h. die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern beschreibt (Shulman & Nikelly, 1978, S. 51):

Um die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen zu verstehen, muß man nicht nur seinen Lebensstil kennen, sondern auch die Art, wie er dazu kommt, seine Eigenart zu entwickeln. Dies geschah in dem Zusammenspiel von ihm und allen anderen Mitgliedern der Familie. (Dreikurs, 1997, S. 86)

Dreikurs (1997, S. 60) konstatiert folgenden Unterschied in den Auswirkungen von Familienatmosphäre und Familienkonstellation: Während gemeinsame Eigenschaften und Charakterzüge der Kinder einer Familie auf die spezifische Familienatmosphäre zurückgeführt werden können, seien Verschiedenheiten die Folge einer charakteristischen „ Familienkonstellation, in der jedes Kind seinen Platz in seiner ihm eigenen Art gefunden hat.“ Die Annahme, daß Kinder derselben Familie von derselben Umgebung geprägt werden, wird von Adler (1981, S. 110) als „eine weitverbreitete falsche Annahme“ zurückgewiesen: „Natürlich ist in ein und demselben Haus für alle vieles gleich, doch die psychische Situation jedes Kindes ist individuell und unterscheidet sich insbesondere aufgrund der Geburtenfolge von der der anderen Kinder“ (ebd.). Jedes Kind wachse also in einer neuen Lage, in einer neuen Situation auf und „zeigt in seinem persönlichen Lebensstil die Ergebnisse seiner Versuche, sich an seine eigenen, besonderen Umstände anzupassen“ (Adler, 1979, S. 118). Auch Pepper (1978, S. 66) äußert die Ansicht, daß Kinder, die in der gleichen Familie geboren werden, niemals in einer identischen Situation aufwachsen und führt folgende mögliche Gründe für Differenzen der jeweiligen Umwelt auf:

- Die Situation ändert sich mit der Geburt jedes Kindes.
- Die Eltern sind älter und erfahrener oder stärker entmutigt.
- Die Eltern können finanziell besser gestellt sein.
- Die Eltern können in eine andere Gegend gezogen sein.
- Wegen Scheidung oder Tod kann ein Stiefvater oder eine Stiefmutter in der Familie sein. (Pepper, 1978, S. 66)

Gemäß dieser Auffassung sind also Persönlichkeitszüge u.a. Ausdruck einer Bewegung innerhalb der Familiengruppe, der sogenannten Familienkonstellation – wozu neben Faktoren wie Familiengröße, Altersunterschiede, Dominanz oder Unterordnung der einzelnen Familienmitglieder auch die Stellung in der Geschwisterreihe gehöre (Shulman & Nikelly, 1978).

4.3 Die Bedeutung der Geschwisterposition

Ich halte meine Aufgabe für gelöst, gezeigt zu haben, daß sich in der Lebensform jedes Kindes der Abdruck seiner Stellung in der Geschwisterreihe zeigt. Diese Tatsache wirft auch ein scharfes Licht auf die Frage der Charakterentwicklung. (Adler, 1973, S. 160)

Adler räumt dem Geburtsrang des Kindes einen bedeutenden Platz innerhalb der persönlichkeitsbeeinflussenden Faktoren ein, wobei er diesen vorwiegend unter einem pathogenen Aspekt betrachtet, sich somit mit Themen der Rivalität, Entthronung, Macht oder des Status befaßt. Er zählt die Geschwisterposition sogar „zu den wichtigsten Hilfen für das Verständnis des individuellen Lebensstils“ (Heisterkamp, 1995, S. 204).

Wiederholt deutet er darauf hin, daß „natürlich [...] nicht der Rang des Kindes in der Geburtenfolge seinen Charakter [beeinflußt], sondern die Situation, in die hinein es geboren wird“ und die damit verbundene Wahrnehmung dieser durch das Kind (Adler, 1981, S. 110). Wie bereits erwähnt, ändert sich die Familiensituation bei der Geburt jedes Geschwisters und bietet somit jedem Kind neue Gegebenheiten, für die neben den Eltern auch die Geschwister verantwortlich sind. Das Zusammenspiel aller Mitglieder der Familie ergibt eine Atmosphäre in einer bestimmten Familienkonstellation, in der sich jedes Kind seinen individuellen Platz sucht, und folglich jedes Kind eine andere Rolle übernimmt. Wesentlich ist die Tatsache, daß das Verhalten eines jeden Kindes mit dem seiner Geschwister koordiniert ist, und man „ganz einfach kein Kind unabhängig von seinen Geschwistern verstehen“ kann (Dreikurs, 1997, S. 88). Immer wieder wird betont, daß (aufgrund der mit schöpferischer Kraft individuell entwickelten Reaktionsmuster) der Stellung in der Geschwisterreihe keine deterministische Bedeutung in der Entwicklung des Kindes zukomme, auch wenn Adler eine Typologie der jeweiligen Positionen aufstellt, „nach der bestimmten frühkindlichen Situationen gewisse Charakterhaltungen mit einiger Wahrscheinlichkeit zuzuordnen sind“ (Rattner, 1980, S. 80). Somit darf diese Typologie auch angesichts der „regelfeindlichen Haltung der Individualpsychologie“ (Adler, 1973, S. 162) nicht als feststehende Klassifikation verstanden werden, da „ Adler in allgemeinen Regeln oder Richtlinien nichts Verbindliches sah: Für ihn sollten sie nur das Feld beleuchten, auf dem der individuelle Fall – der in der Praxis allein wesentlich ist – gefunden oder vermißt wird“ (Rattner, 1980, S. 82).

Die im folgenden beschriebenen positionsspezifischen Eigenschaften stellen also Merkmale dar, die von Adler (1981, S. 130) „als typisch für bestimmte Positionen in der Familie“ angesehen werden, die „unter anderen Umständen Modifizierungen zugänglich“ seien. Es sind demnach mögliche , situationsbedingte Stellungnahmen des Kindes. Adler unterscheidet vier grundlegende Positionen innerhalb der Geschwisterreihe, die ein Kind innehaben kann:

- Das einzige Kind
- Das älteste Kind (Erstgeborene)
- Das zweite Kind (Zweitgeborene)
- Das jüngste Kind (Letztgeborene)

4.3.1 Das einzige Kind

Die Position des Einzelkindes wird von Adler als äußerst problematisch dargestellt. Stets dem erzieherischen Elan der Eltern ausgesetzt, wachse es meist übertrieben sorgsam behütet, immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehend auf. Es wolle diese bevorzugte Stellung unter keinen Umständen verlieren und entwickele einen „lebensstiltypischen Anspruch auf eine einzigartige Sonderstellung“ (Heisterkamp, 1995, S. 204). Das Einzelkind habe sogar das „Gefühl, dies sei sein Recht, und wenn jemand seine Stellung in Frage stellt, empfindet es das als große Ungerechtigkeit“ (Adler, 1979, S. 124). Im späteren Leben könne diese Überschätzung der eigenen Person zu Schwierigkeiten führen, sobald das Einzelkind einmal nicht im Mittelpunkt des Interesses steht und ihm nicht die Geltung zuteil wird, die es in der Familie genossen hat.

Aufgrund der Angst, ihr einziges Kind zu verlieren, verwöhne und verzärtele die Mutter es gewöhnlich sehr, woraufhin es einen sogenannten Mutterkomplex entwickeln könne: Das Kind wachse in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter auf, und weil alles für den „Zwerg unter den Riesen“ (Dreikurs, 1997, S. 88) getan werde, ihm alle Probleme aus dem Weg geräumt werden, lerne es nicht, Dinge durch eigene Anstrengung zu erlangen. Stattdessen wisse es bald, wie es die Erwachsenen in seinen Dienst stellen kann und werde so sehr unselbständig.

Als Folge der ihm permanent entgegengebrachten, übertriebenen Sorge werde ihm seine Hilfsbedürftigkeit verstärkt bewußt: „Das Persönlichkeitsgefühl des Kindes ist ganz auf seine Schwäche eingestellt, es trainiert seine Hilflosigkeit, der es seine Alleinherrschaft in der Familie verdankt“ (Wexberg, 1969, S. 149).

Seine Wettbewerbsgefühle richten sich oft gegen den Vater, der für das Einzelkind den Rivalen darstellt. In diesem Zusammenhang wird auch vom – Adlers Ansicht nach nicht häufig vorkommenden – Ödipuskomplex als „ eine der vielen Erscheinungsformen im Leben eines verwöhnten Kindes “ (Adler, 1973, S. 51) gesprochen, der sich aus der übermäßigen Bindung an die Mutter und Eifersucht gegenüber dem Vater entwickele: Vor allem, wenn das erste Kind ein Junge ist, könne es zwischen Vater und Sohn zu einem – von letzterem als solchen empfunden – Kampf um die Aufmerksamkeit der Mutter kommen. Das Kind gewinne die Überzeugung, daß es niemals so stark und männlich werden wird wie sein Vater und versuche folglich durch Provokation einen Elternteil gegen den anderen auszuspielen. Entziehe sich die Mutter dem Streit der zwei Männer und lasse sie sich gegenseitig bekämpfen, so könne der Ödipuskomplex überwunden werden, da der Sohn keinen Vorteil mehr darin sehe, den Vater herauszufordern (Dreikurs, 1997).

Adler (1979, S. 124) nennt als weiteren Gefahrenpunkt für die Entwicklung des Einzelkindes die Möglichkeit, in eine furchtsame Umgebung hineingeboren zu werden. Aufgrund von Ängstlichkeit und Pessimismus – beispielsweise bezüglich der wirtschaftlichen Situation oder der Konfrontation der Eltern mit dieser ihnen vollkommen unbekannten Situation – entstehe eine nervöse Atmosphäre, unter der das Kind schwer leide und die es unsicher mache. Adlers (1979, S. 125) Einschätzung nach weise jedes Kind Züge eines Einzelkindes auf, wenn viele Jahre zwischen seiner und den Geburten seiner „benachbarten“ Geschwister liegen[16]. Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Situation des Einzelkindes eine „schwierige Angelegenheit“ darstellt, bei der „fehlerhafte Stellungnahmen fast unausweichlich sind“ (Adler, 1966, S. 143), sich „schlimme Ergebnisse“ einstellen können, „wenn nicht die besten Erziehungsmethoden angewandt werden“ (Adler, 1981, S. 125). So fällt Adler ein hartes Urteil, indem er folgendes über das Einzelkind schreibt:

Dieses wird in höchstem Grade unselbständig, wartet immer, daß ihm jemand den Weg zeigt, es sucht stets nach einer Stütze. [...] Solche Kinder werden mit jeder selbständigen Tätigkeit Schwierigkeiten haben und für das Leben untauglich werden. Sie können leicht Schiffbruch leiden. Manchmal ähnelt ihr Leben dem von Parasiten, die nur genießen, während andere alles für sie besorgen müssen. (Adler, 1966, S. 142f.)

Auch Wexberg (1969, S. 149) äußert die Ansicht, daß – verursacht durch sehr intensive und sehr schwer korrigierbare Milieuwirkungen – „gerade dieser Typus ganz besonders oft noch beim Erwachsenen deutlich erkennbar ist.“

4.3.2 Das älteste Kind

Ein ältestes Kind erlebt immer zunächst die Vorzugsstellung eines Einzelkindes, muß jedoch nach der Geburt des zweiten Kindes Beachtung und Zuwendung der Eltern teilen. Es wird plötzlich aus seiner Position vertrieben und gezwungen, sich einer neuen Lage anzupassen, nachdem es sich daran gewöhnt hat, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und alle Rücksicht, Zärtlichkeit, Fürsorge und Liebe für sich einzunehmen. Adler spricht bei diesem einschneidenden Erlebnis von Entthronung, die bei dem Kind eine starke Spannung und das „Bestreben, die Gunst der früheren Situation zurückzugewinnen“, auslöse (Adler, 1981, S. 110). Dies versuche es durch Verwendung all der Mittel, mit denen es bis dahin Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Da sich die Eltern anfangs überwiegend um den Neuankömmling kümmern, dürfte der Versuch des Ältesten, positive, d.h. brave und kooperative Verhaltensweisen einzusetzen, oft unbeachtet bleiben, also ändere das Kind seine Taktik. So schildert Adler (1981, S. 111) folgende „ungeeignete[...] Methoden“, die das entthronte Kind zur Rückeroberung seiner Vorzugsstellung anwende und damit meist „unangenehme Aufmerksamkeit“ auf sich ziehe: Um im Rampenlicht zu stehen, zeige sich das Erstgeborene sogar schwach, es brauche plötzlich wieder Hilfe beim Essen und auf der Toilette. Ungezogene, widerborstige und aggressive Eigenarten lassen Eifersuchts- und Neidgefühle erkennen, die häufig bis zu Angriffen gegen das Baby führen. Weiterhin löse es Besorgnis und Schrecken bei den Eltern durch Krankheiten, Unwohlsein oder risikoreiche, gefährliche Verhaltensweisen aus. Adler (1981, S. 111f.) faßt all dies zusammen als allgemeinen „Verhaltenswandel zum Schlechteren hin.“ Darauf folgende, zurückstoßende Reaktionen der Eltern bestätigen das Kind in seiner Annahme, nicht mehr geliebt zu werden, denn je mehr und stärker es kämpfe, um so schlechter werde seine Lage. Zahle sich das Kämpfen wiederholt nicht aus, werde das entthronte Kind die Hoffnung verlieren und womöglich depressiv bzw. dazu veranlaßt, „sich auf noch raffiniertere Weise des Unglücks zu bedienen, um sein Ziel zu erreichen“ (Adler, 1981, S. 112). Habe es jedoch Erfolg mit seiner kämpferischen Haltung, werde es diese beibehalten und auch weiterhin um seine Vorteile kämpfen.

[...]


[1] Diese übernehmen als jüngste Geschwister jeweils die Rolle des Eroberers, indem sie die älteren Geschwister überflügeln.

[2] Rattner (1980, S. 79) spricht vom „Einfluß der Stellung in der Geschwisterreihe auf die spätere seelische Entwicklung“ als „eine der wichtigsten Entdeckungen Adlers.

[3] Vgl. Kapitel 6.1.

[4] Vgl. Kapitel 4.2.

[5] Dies könnte den zunehmenden Wunsch von Eltern widerspiegeln, kein Einzelkind großzuziehen.

[6] Unzner (1990, S. 12) weist darauf hin, daß diese Aussage mit Vorsicht zu betrachten ist, „da erwiesenermaßen der Familienbildungsprozeß erst nach durchschnittlich 13-jähriger Ehe nahezu abgeschlossen ist und erst nach dieser Zeit keine weiteren Kinder mehr zu erwarten sind.“

[7] Die methodischen Vorgehensweisen reichen von „teilnehmender Beobachtung“ im Rahmen psychotherapeutischer Arbeit (Bank & Kahn, 1994, S. 22) über mündliche und schriftliche Befragung anhand von Fragebogen, Ratingskalen bis hin zu Untersuchungen, die in testorientierten, experimentellen Laborsituationen stattfinden (Vgl. auch Kapitel 5.6).

[8] Vgl. Kapitel 6, in dem exemplarisch vier intervenierende Variablen vorgestellt werden.

[9] Vgl. Kapitel 6.

[10] „Birth order research seems very simple, since position in a sibship and sibship size are easily defined. The computer is fed some ordinal numbers, and it is then easy to find a plausible post hoc explanation for any significant difference in the related variables“ (Ernst & Angst, 1983, S. XI).

[11] Vgl. Kap 5.6.

[12] Es sei darauf hingewiesen, daß alle Autoren, die in diesem Kapitel zitiert werden, die individualpsychologische Theorie unterstützen und somit in Adlers Sinne argumentieren.

[13] Einerseits habe das erstgeborene Kind keinen Konkurrenten, wenn es um die Finanzierung der Ausbildung und somit einen höheren Bildungsstand geht, andererseits könne alternativ dazu ein Vorteil für Spätgeborene postuliert werden aufgrund der bis dahin verbesserten finanziellen Situation der Eltern oder der finanziellen Unterstützung durch die älteren Geschwister (Adams, 1972).

[14] Adler beschreibt in seiner Theorie ausführlich das Phänomen der Organminderwertigkeit! Vgl. Kapitel 4.2.

[15] Vgl. Kapitel 6.4.

[16] Vgl. Kapitel 6.1.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783832452407
ISBN (Paperback)
9783838652405
DOI
10.3239/9783832452407
Dateigröße
731 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät, Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2002 (März)
Note
2,0
Schlagworte
familienkonstellation charaktertypologie individualpsychologie erziehungsverhalten enttrohnung
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Titel: Geschwisterposition und Persönlichkeitsentwicklung
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