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Das Arzt-Patienten-Verhältnis

Eine Literaturstudie zu den psychologischen Implikationen eines unterschätzten Beziehungsproblems

©2001 Diplomarbeit 117 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Gespräch zwischen Arzt und Patient, das situationsbedingt zwei Menschen zusammenführt, die sich darüber austauschen, warum und woran der Ratsuchende von ihnen erkrankt ist und welche Heilbehandlung dafür am geeignetsten erscheint. Bei einer ersten Sichtung von Publikationen namhafter Autoren wie Balint, von Uexküll und Wesiack, die sich eingehend mit der Untersuchung der Beziehung von Arzt und Patient befassen, gewinnt der Leser sehr bald den Eindruck, das Arzt-Patienten-Verhältnis sei eine gesellschaftliche und insbesondere psychologisch betrachtet hochrelevante Problembeziehung, die in ihrer Spezifik, in ihren Implikationen bisher viel zu wenig beachtet wurde.
Der Großteil der Autoren befaßt sich, und das zeigt der vertiefte Einstieg in das Thema, mit der Arzt-Patienten-Beziehung überwiegend aus der Perspektive des eigenen wissenschaftlichen Hintergrundes. Fraglos gehört das zu einem profunden Arbeitsstil dazu, aus dem Grund gibt es jedoch eine große Zahl an Veröffentlichungen, die das Thema entweder nur aus medizinischer oder psychologischer oder soziologischer Perspektive beleuchten. Dabei geht unvermeidlich der Eindruck darüber verloren, wie wenig die einzelnen Aspekte dieses Themas zu trennen und mit einer reduktionistischen Arbeitsweise umfänglich zu erfassen sind. Denn gerade die Bedeutung der scheinbar so alltäglichen und unspektakulären Arzt-Patienten-Beziehung scheint sich nur aus einer ganzheitlichen bzw. systemischen Perspektive zu erschließen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb das Ziel, im Sinne eines Überblicks aktuelle Forschungsergebnisse der verschiedenen Fachrichtungen in Zusammenhang zu setzen, ohne daß dabei der psychologische Fokus verloren geht. Veröffentlichungen über Compliance- und Interaktionsprobleme, wie sie von Ärzten berichtet werden, finden ebenso Beachtung wie Darstellungen des Kollusionsmodells und die von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen, und ein Exkurs über die Rolle des Körpers in der therapeutischen Gesprächssituationen schließt sich an. Ein weiterer Abschnitt ist neueren Ergebnissen der Grundlagenforschung aus Medizin und Physik gewidmet, denen, und das zeigt sich deutlich anhand der aktuellen Debatte über die Stammzellforschung und das ‚therapeutische Klonen’, ein mittelbarer Einfluß auf das Menschenbild zugemessen werden muß. Das Menschenbild stellt wiederum das wesentliche Fundament dar, auf dem die Arzt-Patienten-Beziehung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5226
Kerbs, Thorsten: Das Arzt-Patienten-Verhältnis: Eine Literaturstudie zu den psychologischen
Implikationen eines unterschätzten Beziehungsproblems / Thorsten Kerbs - Hamburg:
Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: München, Universität, Diplom, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
A.
EINLEITUNG... 4
B.
KONTEXT DER ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG ... 5
1.
G
ESELLSCHAFTLICHE
R
AHMENBEDINGUNGEN
...5
a)
Gesundheit und Lebensqualität als Zielsetzung ärztlichen Handelns... 5
b)
Im Kreuzfeuer der Kritik... 7
c)
Historie und gewachsene Rollen in der Arzt-Patienten-Beziehung... 9
d)
Arzt-Sein in der Gegenwart...12
e)
Zur Übertragbarkeit von Verantwortung...15
f)
Das System von Arzt, Patient und Öffentlichkeit...18
g)
Technische oder Apparatemedizin...22
h)
Geldgeber Wirtschaft ...24
2.
K
RANKHEIT UND
N
ATURWISSENSCHAFT
...27
a)
Leib-Seele-Dualismus...27
b)
Der kranke Mensch...29
c)
Direkte Einwirkung des Gehirns auf das Immunsystem: Psychoneuroimmunologie...32
d)
Psychosomatik ...34
e)
Die Quantentheorie als Vorbote eines Paradigmenwechsels ­ auch in der Medizin?...35
C.
PSYCHOLOGIE DER ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG ...38
1.
E
INE TIEFENPSYCHOLOGISCHE
P
ERSPEKTIVE
...38
a)
Narzißmuskonzept der Tiefenpsychologie...40
b)
Narzißmus und ärztliches Handeln...42
c)
Die oral-regressive (Patienten-)Persönlichkeit...44
d)
Die oral-progressive (Arzt-)Persönlichkeit...45
e)
Helfer-Schützling-Kollusion...46
2.
S
ETTING
...49
a)
Ungleichgewicht in der Arzt-Patienten-Beziehung...49
b)
Psychotherapeutische Wirkfaktoren...50
c)
Psychotherapeutisches Setting als Sonderfall der Arzt-Patienten-Konsultation...56
3.
E
LEMENTE DER
A
RZT
-P
ATIENTEN
-B
EZIEHUNG
...58
a)
Autogene und iatrogene Krankheit...58
b)
Kommunikation im ärztlichen Gespräch...59
c)
Erwartungen und Information...65
d)
Entscheidungen ­ der mündige Patient?...67
e)
Affektive, kognitive und ethische Probleme der Arzt-Patienten-Beziehung...69
f)
Bedeutung von Befunden im Arzt-Patienten-Verhältnis...70
g)
Ein Dilemma ...72
h)
,The Patient Centred Method'...74
4.
A
BWEHRMECHANISMEN DER ÄRZTLICHEN
S
EITE
...79
a)
Zeitdruck...79
b)
Körperlichkeit und ihre Vermeidung...80
c)
Täuschungsmanöver...80
d)
Manipulation...81
e)
Ärztliche Gesprächsführung als Vorgang der Abwehr...81

D.
SCHWIERIGKEITEN DER ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG AM KONKRETEN
BEISPIEL ...82
1.
G
RENZSITUATIONEN ÄRZTLICHEN
H
ANDELNS
...82
a)
Zum Umgang mit unheilbarer Krankheit und baldigem Tod...82
b)
Wie beeinflussen Patientendrohungen ärztliche Entscheidungen?...87
2.
P
SYCHOSOMATISCHE
S
TÖRUNGEN IN IHRER
A
USWIRKUNG AUF DIE
A
RZT
-P
ATIENTEN
-
B
EZIEHUNG
...88
3.
D
ARSTELLUNGEN AUSGEWÄHLTER
E
RKRANKUNGEN
...91
a)
Die Arzt-Patienten-Beziehung und das Immunsystem...91
b)
Zur Arzt-Patienten-Beziehung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen...92
c)
Die Arzt-Patienten-Beziehung im Umgang mit geriatrischen und neuropsychiatrischen
Patienten...94
4.
G
EFAHR DER
W
ANDLUNG DER
A
RZT
-P
ERSÖNLICHKEIT VOM
H
ELFER ZUM UNBETEILIGTEN
B
EOBACHTER
...96
5.
A
US DER
S
ICHT DES
A
RZTES
...98
E.
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK...100
F.
LITERATUR ...104

Einleitung
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A. Einleitung
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Gespräch zwischen Arzt und Patient, das situationsbe-
dingt zwei Menschen zusammenführt, die sich darüber austauschen, warum und woran der
Ratsuchende von ihnen erkrankt ist und welche Heilbehandlung dafür am geeignetsten er-
scheint. Bei einer ersten Sichtung von Publikationen namhafter Autoren wie Balint (Balint, M.,
1957), von Uexküll und Wesiack (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988), die sich eingehend
mit der Untersuchung der Beziehung von Arzt und Patient befassen, gewinnt der Leser sehr
bald den Eindruck, das Arzt-Patienten-Verhältnis sei eine gesellschaftliche und insbesondere
psychologisch betrachtet hochrelevante Problembeziehung, die in ihrer Spezifik, in ihren Im-
plikationen bisher viel zu wenig beachtet wurde.
Der Großteil der Autoren befaßt sich, und das zeigt der vertiefte Einstieg in das Thema, mit der
Arzt-Patienten-Beziehung überwiegend aus der Perspektive des eigenen wissenschaftlichen
Hintergrundes. Fraglos gehört das zu einem profunden Arbeitsstil dazu, aus dem Grund gibt es
jedoch eine große Zahl an Veröffentlichungen, die das Thema entweder nur aus medizinischer
oder psychologischer oder soziologischer Perspektive beleuchten. Dabei geht unvermeidlich
der Eindruck darüber verloren, wie wenig die einzelnen Aspekte dieses Themas zu trennen
und mit einer reduktionistischen Arbeitsweise umfänglich zu erfassen sind. Denn gerade die
Bedeutung der scheinbar so alltäglichen und unspektakulären Arzt-Patienten-Beziehung
scheint sich nur aus einer ganzheitlichen bzw. systemischen Perspektive zu erschließen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb das Ziel, im Sinne eines Überblicks aktuelle For-
schungsergebnisse der verschiedenen Fachrichtungen in Zusammenhang zu setzen, ohne daß
dabei der psychologische Fokus verloren geht. Veröffentlichungen über Compliance- und In-
teraktionsprobleme, wie sie von Ärzten berichtet werden, finden ebenso Beachtung wie Dar-
stellungen des Kollusionsmodells und die von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozes-
sen, und ein Exkurs über die Rolle des Körpers in der therapeutischen Gesprächssituationen
schließt sich an. Ein weiterer Abschnitt ist neueren Ergebnissen der Grundlagenforschung aus
Medizin und Physik gewidmet, denen, und das zeigt sich deutlich anhand der aktuellen Debat-
te über die Stammzellforschung und das ,therapeutische Klonen', ein mittelbarer Einfluß auf
das Menschenbild zugemessen werden muß. Das Menschenbild stellt wiederum das wesentli-
che Fundament dar, auf dem die Arzt-Patienten-Beziehung ruht.
Der Einfluß gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, aber insbesondere die Struktur des Ge-
sundheitswesens, sollte in dem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, ebenso wie die Be-
deutung, die aus der Gewichtung der verschiedenen Lehrinhalte im Rahmen der medizini-
schen Ausbildung erwächst. Geld wird zunehmend eine knappe Ressource, während gleichzei-

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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tig eine Verlagerung zu immer aufwendigeren und damit kostenintensiveren Behandlungstech-
niken zu beobachten ist. Hinsichtlich der Ausbildung zum Arztberuf drängt sich aus psychologi-
scher Sicht die Frage auf, welches Motiv bestimmend für die Berufswahl des jungen Menschen
ist.
Viele Studien kommen aus dem englischsprachigen Raum und beziehen sich auf die dortigen
Verhältnisse. Inhaltlich ist das nicht von Nachteil, weil die Bedingungen des Gesundheitswe-
sens in den reichen westlichen Industriegesellschaften in ihren Grundzügen vergleichbar sein
dürften. Ein Vorteil erwächst daraus insofern, als dort entwickelte Konzepte zur Sprache kom-
men können wie der sogenannte patientenzentrierte Ansatz, konzeptualisierte Modelle der
Entscheidungsfindung und die Health Psychology, die sich die Integration psychologischer Ex-
pertise in das medizinische Gesundheitsweisen zur Aufgabe macht (Stone, G. C. et al., 1987).
B. Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
Im Rahmen einer Arbeit über die in der Arzt-Patienten-Beziehung auftretenden Schwierigkei-
ten ist es zunächst wichtig zu erläutern, welcher fachlichen Ausrichtung der Arzt zuzuordnen
ist, um den es sich im Folgenden handelt. Das ärztliche Berufsbild umfaßt eine enorme Band-
breite an Tätigkeiten, die vom niedergelassenen Arzt über den Psychoanalytiker, den Anästhe-
sisten und Chirurgen bis zum Gruppenleiter eines Biotechnologieunternehmens oder den Vor-
sitzenden eines ärztlichen Berufsverbandes geht. In der vorliegenden Arbeit steht schwer-
punktmäßig der kurativ tätige Arzt im Blickfeld, zu dessen regelmäßiger Arbeit der persönliche
Gesprächskontakt mit dem Patienten gehört. Das gilt in der Regel für niedergelassene Allge-
mein- und Fachärzte oder in der Klinik tätige Ärzte der unterschiedlichen medizinischen Fach-
richtungen. Obwohl es natürlich auch in dieser Gruppierung Ausnahmefälle gibt, wie etwa den
Leitenden Laborarzt einer Klinik, für den sich möglicherweise überhaupt kein direkter Kontakt
mehr zum Patienten ergibt, dürfte der Schwerpunkt der sich anschließenden Überlegungen
eingegrenzt und deutlich geworden sein.
1. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
a) Gesundheit und Lebensqualität als Zielsetzung ärztlichen Handelns
Die
WHO
(World Health Organisation) definiert Gesundheit als einen Zustand des ,vollkom-
menen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens', was ihr mitunter den Vorwurf
einbrachte, angesichts des Elends in der Welt realitätsfernen Illusionen anzuhängen. Uexküll
und Wesiack (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988) setzen diese Kritik in Bezug zur jeweiligen

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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wissenschaftlichen Perspektive, aus der heraus sie geäußert wird. Besteht die implizite Annah-
me, der Mensch würde als biochemische Maschine funktionieren, wäre es kaum realistisch,
das Vorliegen eines
WHO
-gemäßen ,fehlerfreien' Zustands anzustreben. Geht man jedoch von
einem integrativen und holistischen Menschenbild aus, bei dem das jeweilige Gesundheitser-
leben des Individuums im Mittelpunkt steht, das auch Einstellungen und Überzeugungen des
Menschen mit einbezieht, könnte die Definition der
WHO
durchaus zum realistischen Leitbild
eines erstrebenswerten Zustands werden. Schachtner drückt das so aus: ,,Dem in der Medizin
als dominierend wahrgenommenen biomedizinischen Modell setzt der gesundheitswissen-
schaftliche Mainstream ein soziopsychosomatisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit
entgegen. Gesundheit wird als Balancezustand definiert, der gegeben ist, wenn sich eine Per-
son in ihrer physischen, psychischen und sozialen Entwicklung in Einklang mit den eigenen
Möglichkeiten und Zielvorstellungen befindet" (Schachtner, C., 1999, S. 11).
Diesem Gedankengang folgend, muß vom Vorliegen variabler Bedingungen ausgegangen wer-
den, unter denen es Menschen mehr oder weniger leicht fällt, einen gesunden Daseinszustand
zu erzielen oder von vornherein aufrecht zu erhalten. Das sogenannte soziopsychosomatische
Paradigma knüpft an das von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelte Gedan-
kenmodell der Salutogenese an, in dessen Zentrum die Frage steht, unter welchen Bedingun-
gen Menschen gesund bleiben oder werden. Das Forschungsinteresse gilt hier den im Subjekt
und seiner Umgebung vorhandenen gesundheitsförderlichen Ressourcen. Antonovsky geht
davon aus, daß auch kranke Menschen über Selbsthilfepotentiale verfügen, die es im Zuge der
Krankheitsbearbeitung zu wecken und zu stärken gilt (Antonovsky, A., 1987; Fiedler, P.,
1999)
1
.
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, wie eng die Begriffe Gesundheit und Lebens-
qualität miteinander und ineinander verwoben sind. Ihre Herkunft ist in der Politik anzusie-
deln, es finden sich jedoch auch sozialwissenschaftliche und psychologische Definitionen. In
der Medizin hat sich relativ rasch der Terminus ,gesundheitsbezogene Lebensqualität' einge-
bürgert, da in diesem Fachgebiet speziell auf gesundheitsnahe Aspekte des menschlichen Erle-
bens und Verhaltens eingegangen wird und nicht primär auf Bereiche wie materielle Sicherheit
oder politische Freiheit (Bullinger, M., 2000). Zwar bildet die Wahrung oder Verbesserung der
Lebensqualität seit jeher eine Maxime des ärztlichen Handelns, neu jedoch ist der Versuch, die
Lebensqualität der Patienten nicht nur im individuellen Arzt-Patienten-Kontakt zu berücksichti-
1
Zur Entstehung des Begriffs der Salutogenese sei kurz auf Butollo, Krüsmann und Hagl verwiesen, die dessen Ursprünge
eher in den beziehungsorientierten humanistischen Psychotherapieformen sehen. ,,Der heute weit verbreitete Begriff der
Ressourcenorientierung etwa, die Suche nach den nicht bemerkten bzw. nicht genützten Stärken eines Menschen in der
Therapie, geht auf diese Konzeptualisierung des Menschen in seinem Beziehungsfeld zurück. Dabei werden die gesundheits-
fördernden Kräfte in den Vordergrund geholt und der Blick von der Defizitorientiertheit weggeführt. Viel später wurden
diese Gedanken unter dem Begriff Salutogenese in der Gesundheitspsychologie wieder aufgenommen" (Butollo W. et al.,
1998, S. 63).

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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gen, sondern sie auch zu messen. Mit der Hinwendung zu einem neuen klinischen Beurtei-
lungsmaßstab spiegeln sich durchaus auch gesundheitspolitische Entwicklungen wie der zu-
nehmende Anteil älterer und damit auch potentiell chronisch kranker und langfristig behand-
lungsbedürftiger Menschen wieder und die wachsende Notwendigkeit für einen ökonomischen
Umgang mit knappen (finanziellen) Ressourcen (Bullinger, M., 2000).
Es besteht dahingehend ein Konsens, daß zur grundlegenden Frage, wie Lebensqualität zu
definieren ist, eine operationale Definition zu begründen ist, die gesundheitsbezogene Le-
bensqualität als ein multidimensionales Konstrukt betrachtet, das körperliche, emotionale,
mentale, soziale und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funkti-
onsfähigkeit aus Sicht der Patienten (und/oder von Beobachtern) beinhaltet (Bullinger, M.,
2000). Internationale Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, daß Lebensqualität durch-
aus als eine transkulturelle Universalie ohne besonders hervorgehobenen regionalen Bezug
verstanden werden kann.
Man muß jedoch auch festhalten, daß Lebensqualität prinzipiell kein wertneutraler Begriff sein
kann. Lebensqualitätsmessinstrumente, die in einem krankheitsübergreifenden Zusammenhang
eingesetzt werden, zielen implizit auf eine erstrebenswerte Norm des körperlich leistungsfähi-
gen, psychisch gesunden, sozial integrierten und grundsätzlich kompetenten Menschen, der
sein Maximum an offenkundiger Übersteigerung im Jugendlichkeitswahn der Neuzeit findet.
Vor dem Hintergrund solcher Normen steht zu befürchten daß Patientengruppen systematisch
diskriminiert werden könnten, die körperliche Gebrechen, psychische Erkrankungen oder son-
stige Abweichungen oder ,Insuffizienzen' aufweisen (Joyce, C. R., 1995).
Die methodischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung einer weitestgehend objektivierbaren
Lebensqualität sollten nicht in den Schluß münden, den Forschungsgegenstand wieder aus der
Medizin zu verbannen. Dazu besitzt das Thema eine zu grundlegende praktische und gesell-
schaftliche Bedeutung. ,,Die gesellschaftlich zu entscheidende Frage ist, welche Art von Thera-
pie mit welchem finanziellen Nutzen zu welchen Ergebnissen führen, nicht nur hinsichtlich des
bisher klassisch definierten Gesundheitszustandes (z. B. Messung von Laborwerten), sondern
auch im subjektiven Erleben der Patienten (gesundheitsbezogene Lebensqualität)" (Bullinger,
M., 2000, S. 19).
b) Im Kreuzfeuer der Kritik
Auch die helfenden Berufe bleiben trotz ihres Anspruchs, grundsätzlich aus edelmütigen Moti-
ven zu handeln, nicht von Kritik verschont, was deshalb so sein mag, weil eine allseitige Ab-
hängigkeit von dieser Hilfeleistung besteht und letztlich auch die Hilfestellung in einen kom-
merziellen Kontext eingebunden sein muß. Darum findet sich auch in der Literatur eine große
Zahl an Veröffentlichungen sowohl aus dem ärztlichen wie dem psychologischen und soziolo-

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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gischen Umfeld, die sich in kritischer Weise mit den genannten Berufsständen und ihrem
Selbstverständnis auseinandersetzen. Die Kritik ist oft eng an die gesellschaftlichen Rahmenbe-
dingungen des Gesundheitswesens gebunden, an die das ärztliche Tun gekoppelt ist und aus
denen heraus es sich nur entwickeln kann (siehe auch S. 18). In der Regel bezieht sie sich auf
das ärztliche Menschenbild bzw. das in der modernen Humanmedizin dominierende ,Maschi-
nenparadigma' (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988), auf die damit einhergehenden wissen-
schaftstheoretischen Grundlagen des ärztlichen Handelns und die teilweise durch die Rah-
menbedingung erzwungene Vernachlässigung des Beziehungsaspektes gegenüber dem diagno-
stischen und Interventionsaspekt.
Uexküll und Wesiack sprechen von einer ,,spektakulären Erfolgsgeschichte des physikalisch-
chemischen Konzepts" in der Medizin (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988, S. VIII), die je-
doch mit einer Verarmung ethischer, sozialer und die Kommunikation betreffender Konzepte
der theoretischen Medizin einhergeht. Überhaupt beklagen die Autoren das Fehlen eines theo-
retischen Ansatzes im Sinne einer theoretischen Medizin. ,,Darunter verstehen wir eine Diszi-
plin, die sich mit den Auswirkungen der Theorien und Modelle auf das praktische Handeln
von Ärzten auseinandersetzt. Eine derartige Disziplin existiert bisher ebensowenig wie eine
umfassende Theorie der Heilkunde" (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988, S. 5). Sie schlagen
im folgenden einen ganzheitlichen Ansatz vor, der multifaktoriell alle Faktoren zu berücksichti-
gen und ihre Zusammenhänge in Rechnung zu stellen hat. ,,In jedem Lebens- und Krankheits-
geschehen greifen soziale Konstellationen, individuelle Verhaltensweisen, psychische, zentral-
nervöse und biologische Faktoren mit wechselndem Gewicht ineinander" (von Uexküll, T. &
Wesiack, W., 1988, S. 6).
Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, kritisiert, daß das in der Medizin vorherr-
schende Maschinenbild vom Menschen dazu geführt hat, Krankheit als Maschinendefekt zu
definieren und zu behandeln und nicht als Störung in einem lebendigen Organismus, dessen
Befindlichkeit in Beziehung zu der ihn umgebenden Sozial- und Kulturwelt steht (Schachtner,
C., 1999). Labisch beklagt, daß Hochleistungen in der High-Tech-Medizin eklatante Versäum-
nisse im kommunikativen Bereich gegenüberstehen. Gerade die zunehmend an Bedeutung
gewinnenden funktionellen Störungen und chronischen Erkrankungen erfordern ein gutes Arzt-
Patienten-Verhältnis als den Wirkfaktor neben der palliativen Behandlung, und vor allem die
deutlichen Fortschritte auf dem Gebiet der medizinischen Fürsorge schärfen das Bewußtsein
für ihre Mängel. Alles das geht einher mit der zunehmenden Bedeutung des Faktors ,Gesund-
heit' auf der Prioritätenliste des durchschnittlichen Bürgers (Labisch, A., 1992).
Keupp spricht gar von einer grundsätzlichen Krise aller Helferberufe. Die Ursachen der Krise
ließen sich nur dann adäquat begreifen, wenn der analytische Blick die Gesellschaft als Ganzes
genauer umfaßt. Sie, die Gesellschaft, gibt den Helferberufen ihr jeweiliges Terrain, sie produ-
ziert Probleme, an denen sich der Arzt abzuarbeiten hat, und in ihr werden jene Ideologien

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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erzeugt, die, und hier spricht der Psychologe Keupp, ,,auch unsere Köpfe und unsere Praxis
durchdringen" (Keupp, H., 1987, S. 55).
Daß auf der anderen Seite auch die ,Bürger' zusehends unzufriedener werden mit der an ih-
nen vollbrachten Dienstleistung, wird laut Schachtner daran deutlich, daß z. B. von 1976 bis
1981 die Zahl der Klagen gegen Geburtshelfer auf das Dreifache stieg und sich in West-
deutschland die Zahl der bei den Schlichtungsstellen der Landesärztekammern eingereichten
Anträge wegen eines vermuteten medizinischen Aufklärungs- oder Behandlungsfehlers von
1985 bis 1995 mehr als verdoppelt hat. ,,Gerade das meist als unumstößliche Wahrheit ausge-
gebene ExpertInnenwissen stellte sich nur allzuoft als problemproduzierend oder problemver-
schärfend heraus" (Schachtner, C., 1999, S. 10).
c) Historie und gewachsene Rollen in der Arzt-Patienten-Beziehung
Der folgende Abschnitt kann keine umfassende Darstellung des historischen Wandels der Arzt-
Patienten-Beziehung liefern, sondern bildet diesbezüglich nur die Veränderungen der jüngsten
Vergangenheit ab und das auch nur insoweit, wie dieses Wissen für das weitere Verständnis
der Ausführungen erforderlich ist.
Saynisch stellt dar, daß noch in den 50-er Jahren die Medizin des niedergelassenen Arztes sich
von der der Gegenwart insofern unterschied, als mit dem Patienten als ausdrücklichem Mittel-
punkt des Geschehens viel gesprochen wurde und die Untersuchung überwiegend mit Augen,
Ohren und Händen durchgeführt wurde. Der Arzt verstand es, die konkrete Vorstellung von
der jeweiligen Erkrankung und deren Manifestation im Organismus des Patienten zu vermitteln
(Saynisch, D., 1997). ,,Denkt man zurück an die 50-er Jahre, wie sie sich spiegelten im Kran-
kenhausbereich, in den Arztpraxen und im Selbstverständnis von Patienten und Ärzten, fällt es
schwer zu begreifen, was sich in den vergangenen 40 Jahren in atemberaubendem Tempo
entwickelt hat. Kaum wiederzuerkennen ist dieser von grandiosen Erfolgen, subtiler Technik,
glamourösem Aufwand und Selbstherrlichkeit strotzende Gesundheitssektor, der angetreten ist,
ein Lebensgefühl zu erzeugen, das ­ von kalter Künstlichkeit geprägt ­ kaum noch Reste spon-
taner Lebensfreude erkennen läßt" (Saynisch, D., 1997, S. 6).
Infolge des direkten Kontaktes zum Patienten, der meist im Sinne einer Lebensbegleitung über
mehrere Jahre aufrechterhalten wurde, wurden ganz unterschiedliche Bewältigungsstrategien
erkennbar, die die Patienten aus ihrer persönlichen Seinsweise heraus aufgriffen und weiter-
verfolgten. Darin zeigten sich, so schildert Saynisch ein wenig schwärmerisch, dem Arzt sehr
vielschichtige, interessante und bewegende Verläufe ­ und dies unabhängig davon, ob Ge-
sundheit wiedererlangt wurde, nur Linderung erwartet werden durfte oder der Tod am Ende
des Weges stand (Saynisch, D., 1997).

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Eine gravierende Veränderung im Vergleich mit heutigen Diagnostik sieht Saynisch in der Viel-
zahl der Untersuchungsmethoden, die an die Stelle des Gesprächs zwischen Arzt und Patien-
ten häufig erfolgreich einen Berg von Befunden zu schieben suchen. Die große Menge und
Komplexität dessen erfordere in einem solchen Maße spezielle Expertise und Einsatz, daß für
den vorab genannten persönlichen Kontakt und die mehr ganzheitliche Betrachtung der Er-
krankung keine Zeit und Energie mehr bleiben (Saynisch, D., 1997). Lohmann schildert eine
solche Veränderung im Selbstverständnis des Arztes auch im seelenheilkundlichen Bereich:
,,Die Macht liegt nicht länger auf seiten des Arztes, des ,Wissenden', der den Patienten dazu
auffordert, seine neurotischen Symptome zu schildern, um diese sodann zu klassifizieren; die
ärztliche Macht erleidet vielmehr in dem Maße Dispens, wie der Arzt sich selber ­ und gleich-
sam je nachdem ­ als ,normal' oder ,neurotisch', ,gesund' oder ,krank' erlebt und die Einfälle
und Assoziationen des Patienten verstehend aufnimmt, ohne sie im Sinne wissenschaftlicher
Hypothesenvalidierung auf ein imaginäres Schema von Gesundheit und Krankheit abzubilden"
(Lohmann, H.-M., 1991, S. 16).
Die Interaktionen zwischen Ärzten und Patienten laufen jeweils vor dem Hintergrund be-
stimmter gesellschaftlich geprägter Vorstellungen ab, in deren Rahmen den Ärzten ein be-
stimmtes Rollenverhalten abverlangt wird. In Abhängigkeit von den kulturellen und
gesellschaftlichen Entwicklungsstufen lag und liegt die Betonung auf unterschiedlichen
Varianten und deren Kombinationen, wobei die einzelnen Rollen natürlich keineswegs streng
voneinander zu trennen sind, sondern sich ständig vermischen und überlagern. Zu den
Rollenfiguren, die übernommen werden, zählen nach von Uexküll und Wesiack die des
Magiers, des Priesterarztes, des Erziehers, des Freundes, des Steuermannes, des
naturwissenschaftlichen Experten und des kenntnisreichen Partners (von Uexküll, T. & Wesiack,
W., 1988). Nachfolgend werden sie hinsichtlich ihrer wichtigsten Aspekte kurz skizziert.
Im historischen Rückblick stellt der als Medizinmann oder Schamane auftretende Magier die
früheste Form medizinischer Betätigung dar, bei der die intensive, von Ritualen begleitete Sug-
gestion als überwiegend gehandhabtes Handwerkszeug zur Verfügung stand. Uexküll und We-
siack (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988) sprechen davon, daß auch in der modernen Heil-
kunde noch viele magische Phänomene zu entdecken sind, wozu der weiße Arztkittel ebenso
wie bestimmte diagnostische Vorgehensweisen und die abschließende Überreichung des Re-
zeptes an den Patienten der Hausarztpraxis gezählt werden können.
In den Hochkulturen des dritten und zweiten Jahrtausends v. Chr. kommt es zur Entwicklung
einer Heilkunde, die Tod und Krankheit als göttliche Fügung ansieht und über die Anwendung
einer Erfahrungsheilkunde durch Gebet und Opfergaben zu heilen sucht. ,Ärzte' und Heilkun-
dige waren auf dieser Entwicklungsstufe auf das engste mit dem Priestertum verbunden, so daß
in der Regel von Priesterärzten gesprochen wird. Aus dem zunehmenden Bewußtsein um die
körperliche und psychische Nähe zwischen Arzt und Patient werden Sitten- und Pflichtenleh-

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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ren für den Arzt entworfen und dokumentiert, die auch dem Arzt Triebbeherrschung abverlan-
gen. Er hat dem Kranken wohlwollendes Interesse und Hilfsbereitschaft entgegen zu bringen
und darf ihn nicht zum Objekt seines Geltungs-, Macht- und Bereicherungsstrebens machen
oder ihn gar zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse heranziehen. Hier finden sich erste
Ansätze des in der Freudschen Neurosenlehre so wichtigen ,Abstinenzprinzips'. Dieses Leitbild
des ,anständigen' Arztes ist durchaus auch heute noch gültig. Balint spricht im gleichen Zu-
sammenhang von der ,apostolischen' Funktion des Arztes (Balint, M., 1957).
Die Pädagogik bereichert die Rolle des Arztes um das aufklärerische Element. Der gelehrte Arzt
weiß, was es mit dem Krankheitsgeschehen auf sich hat, was dem Patienten nützt und was ihm
schadet. Er wird damit gleichsam zum Erzieher, zum Elternteil des infolge der Krankheit auf
kindliche Stufe regredierten Patienten.
Die Rolle des Arztes als Freund geht auf die Überlegungen und Erfahrungen der griechischen
Ärzte in Bezug auf die Arzt-Patienten-Beziehung zurück. Die hippokratischen Ärzte brachten
die ärztliche Kunst, Wissenschaft und Technik auf ein bis dahin unbekanntes Niveau, und das
uns überlieferte und noch heute gültige Dokument dieser ärztlichen Ethik stellt der ,Eid des
Hippokrates' dar
2
. Die Medizin erreichte mit der hippokratischen Schule einen so hohen Ent-
wicklungsstand, daß sie über zwei Jahrtausende hinweg normbildend blieb. Die Krankheitsleh-
re wurde und wird noch heute von der Vorstellung bestimmt, daß Gesundheit sich im Gleich-
gewicht aller Kräfte, Krankheit aber durch die Alleinherrschaft einer Kraft offenbaren. Außer-
dem hatte der Begriff der Physis großes Gewicht, der nicht nur Körper und Seele, sondern vor
allem auch das dem beseelten Leib innewohnende Lebens- und Gestaltungsprinzip umfaßte.
Indem die menschliche Natur als Teil der umfassenden Natur und des Kosmos begriffen wird,
gerät die Rolle des Arztes quasi automatisch zu der eines Steuermannes und Gärtners. Dem-
nach vermag der Arzt selber nichts Originäres zu erschaffen, sondern er kann nur die Natur-
kräfte in ihrer Bedeutung verstehen und steuern lernen, so wie ein guter Gärtner die Voraus-
setzungen für das eigenständige Wachstum der Pflanzen schafft.
Auch in der Heilkunde wurde der Einfluß des Christentums spürbar, indem die christliche Lie-
be im Sinne der agape bzw. caritas an zentraler Stelle stand. Alle Menschen sind als Gotteskin-
der und Brüder zu gegenseitiger Hilfe und Trost verpflichtet. Während für den hippokratischen
Arzt die ,Liebe zu den Menschen' von der ,Liebe zur ärztlichen Kunst' nicht zu trennen war,
die Behandlung Mittelloser also keineswegs zum Berufsethos gehörte, stellt dies heute einen
ganz selbstverständlichen Imperativ ärztlichen Handelns dar. Erst durch das Christentum wurde
2
Wobei dieser wahrscheinlich nicht von Hippokr ates stammt, sondern pythagoräischen Ursprungs ist (von Uexküll, T. &
Wesiack, W., 1988).

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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die Bedeutung des griechischen Begriffes der philia um den Sinngehalt der Nächstenliebe er-
weitert. Gleichwohl bedeutete das Christentum nicht die Überwindung der Kluft zwischen Arm
und Reich in der Medizin, denn auch im Mittelalter wurde eine standesbezogen unterschiedli-
che Behandlung der Kranken praktiziert.
Mit der rasanten Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik und gleichzeitiger Säkulari-
sierung des Lebens ging eine Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehung in Richtung eines
Lehrer-Schüler-Verhältnisses einher, wobei der Arzt weniger für den Pädagogen und Erzieher
als für den Experten steht, dem die erforderlichen Techniken geläufig sind. Die Veränderung
unserer Lebenswelt von Wissenschaft und Technik wirkt sich also maßgeblich auch auf das
Gesundheitswesen und seine Protagonisten aus. Uexküll und Wesiack weisen ausdrücklich auf
die Gefahren hin, die dieser Entwicklung innewohnen. ,,Die neue Rolle des Arztes als naturwis-
senschaftlicher Experte, als perfektionierter Techniker, der beinahe Wunder vollbringt (wie
z. B. Organtransplantationen und die Konstruktion künstlicher Organe), der durch komplizierte
Apparaturen das Sterben (wenn nicht verhindern) doch fast beliebig lange hinauszögern kann,
nährt eine gefährliche Wunschvorstellung, die bereits einem Wahn ähnelt. Dem Wahn näm-
lich, fast alles sei machbar und es sei nur eine Frage der Zeit, bis wir Krankheit und Tod end-
gültig besiegt haben" (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988, S. 594).
Dem Arzt obliegt heute die Pflicht, die vorgenannten Rollen beliebig zu tauschen bzw. allen
gerecht zu werden. ,,Dies ist nicht leicht, fällt ihm aber vor allem deshalb so schwer, weil die
Medizinerausbildung gegenwärtig weltweit ganz eindeutig auf die Rolle des naturwissenschaft-
lichen Experten ausgerichtet und eingeengt ist" (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988, S. 596).
Die Autoren sehen in der letzten von ihnen genannten Arztrolle als Partner des Patienten eine
Möglichkeit der Standortbestimmung für eine neue, integrative Form des Auftretens und Aus-
tausches.
d) Arzt-Sein in der Gegenwart
Recht und Finanzen
Von Uex küll und Wesiack weisen darauf hin, daß sich in den letzten Jahren die Klagen über
Unzulänglichkeiten und Defizite der heutigen Krankenversorgung gehäuft haben, was nicht nur
wie erwartet auf die Unzufriedenheit der Patienten, sondern auch auf die der Ärzte zurück-
geht. Die Patienten klagen, daß die Ärzte nicht im gewünschten Maße auf ihre persönlichen
Bedürfnisse eingehen, da ihre Symptomatik zwar Behandlung erführe, sie aber als kranke Ge-
samtperson kaum Beachtung fänden. Die Ärzte hingegen beklagen den Umstand, daß zu we-
nig Zeit für ihre Patienten zur Verfügung stünde, daß diese oft utopische Erwartungen mit-
brächten und unerfüllbare Forderungen stellten. Darüber hinaus ist, so die Autoren, im Ge-
sundheitswesen in den letzten Jahren eine Kostensteigerung, ja geradezu eine Kostenexplosion

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
Seite 13 von 115
eingetreten, die von der modernen Medizin erst initiiert, weiterhin kaum noch bezahlbar er-
scheint (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988).
In Hinblick auf die wirtschaftliche Situation des Arztes äußert Saynisch, daß das Einkommens-
gefüge des Arztes labil ist. Er erfährt erst Monate nach erbrachter Leistung die Höhe seiner
Honorare, die u. a. davon abhängen, wie viele Ärzte außer ihm in einem bestimmten Zeitraum
(Quartal) dieselbe Behandlung vollzogen haben. Je mehr Kollegen die gleichen Leistungen
erbracht haben, desto niedriger fällt der sogenannte Punktwert (Punktwert = x DM) aus
(Saynisch, D., 1997).
Die Informationspolitik der Massenmedien ist laut Saynisch nicht unerheblich daran beteiligt,
daß die Phantasie der Bevölkerung oft in unverantwortlicher Weise überfüttert wird. Dies ver-
führt zu einer Anspruchshaltung, die aus der geringsten Befindlichkeitsstörung eine behand-
lungswerte Krankheit machen möchte. Die Kostenexplosion geht, so fährt Saynisch fort, nicht
unerheblich auf die daraus erwachsende maßlose Übermedizinierung zurück, die die Versu-
che, sie staatlicherseits über verschiedene Verschreibungs- oder Behandlungsrestriktionen,
letztlich also über den Rezeptblock des Arztes in den Griff zu bekommen, wenig wirkungsvoll
erscheinen läßt. ,,Wenn hinter jedem Husten ein Bronchialkarzinom, hinter jedem Herz-
schmerz ein Infarkt, hinter jedem Magenschmerz ein Geschwür oder eine Geschwulst und
hinter jedem Kopfschmerz ein Hirntumor lauern kann und wir, wie es so schön heißt, daran
immer denken müssen, dann ist der Arzt nicht nur berechtigt, er ist verpflichtet, sehr früh sein
differentialdiagnostisches Instrumentarium einzusetzen ­ und das ist teuer" (Saynisch, D.,
1997, S. 76).
Daran wird ein weiterer Aspekt deutlich, durch den ärztliches Handeln zunehmend bestimmt
ist. Juristische Fallstricke lauern in vielen Bereichen, an die noch vor einigen Jahren nicht ge-
dacht werden mußte, denn ein Trend zur ,Amerikanisierung des Haftungsrechts' ist zu beo-
bachten. Die sachlichen Begründungen der Klagenden werden immer umfangreicher, weil sich
die Grundlagen vermeintlicher oder wirklicher Fehler vor dem Hintergrund der heute zur Ver-
fügung stehenden Diagnostik immer besser objektivieren lassen. ,,Fehlverhalten und Miß-
brauch gab es und wird es immer geben. Noch nie jedoch wurden diese Fallstricke menschli-
cher Existenz schlechthin zum erklärten öffentlichen Verdachtspotential verdichtet und an ei-
nem Berufsstand festgeschrieben, der wohl doch einige karitative Leistungen erbringt, die in
keine Gebührenordnung zu pressen sind. Es sind die nicht faßbaren, die nicht beschreibbaren,
die unbezahlbaren. Damit sind es genau jene, ohne die die Arzt-Patienten-Beziehung zu einer
Geschäftssache degradiert würde" (Saynisch, D., 1997, S. 16). Angesichts der enormen Bela-
stungen des ärztlichen Alltags, fährt Saynisch fort, erscheint die häufig anzutreffende freundli-
che Atmosphäre in den Praxen fast schon als eine bemerkenswerte Leistung.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
Seite 14 von 115
,Decision Making'
Zu den bereits angesprochenen Veränderungen der Arzt-Patienten-Beziehung in der moder-
nen Medizin gehört nach Charles, Gafni und Whelan auch, daß junge Menschen in erheblich
umfangreicherem Maße an medizinischen Entscheidungen, die sie selbst betreffen, aktiv parti-
zipieren wollen als dies für ältere Menschen gilt. Die Generation der jetzt Älteren verhielt sich
in ihrer Jugend hinsichtlich des Mitspracherechts erheblich zurückhaltender und billigte dem
Arzt in einem Maße Expertise und Kompetenz zu und brachte ihm Vertrauen entgegen, wie
dies bei den heute Jüngeren nicht oder nicht mehr der Fall ist (Charles, C. et al., 1997 zit. in
Büchi, M. et al., 2000). Wird vom Patienten ein Mitspracherecht eingefordert, bedeutet dies
gleichzeitig, daß er bereit ist, Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen. Patienten
wechseln durchaus auch kurzfristig zwischen solchermaßen aktiven und passiven Rollenmu-
stern hin und her, zumal die verantwortungsvolle Rolle naturgemäß mit einem höheren Angst-
niveau einhergehen mag. Büchi, Bachmann, Fischer und andere (Büchi, M. et al., 2000) diffe-
renzieren zwischen drei zu beobachtenden Unterscheidungsmodellen:
Paternalistic decision making: Der Extremfall dieser Kategorie ist der eines bewußtlosen Unfall-
opfers, für das der Arzt nach bestem Wissen und Können zu entscheiden hat. Diese Situation
ist jedoch außerordentlich selten, und so spricht man von paternalistic decision making dann,
wenn der Patient den Vorgaben des Arztes im Detail folgt und sie fraglos zu seinen eigenen
macht.
Informed decision making: Der Patient läßt sich in kompetenter Weise vom Arzt die relevanten
Informationen liefern, und die Entscheidungsgewalt liegt mit allen Konsequenzen beim Patien-
ten. Vorstellbar ist auch, daß er sich Informationen von dritter Stelle (also von anderen Ärzten,
Fachpresse, Internet, Selbsthilfegruppen etc.) verschafft und auf der Grundlage dessen seine
Entscheidung trifft. Es wird vorausgesetzt, daß der Patient zum einen in der Lage ist, trotz sei-
ner Erkrankung für die eigenen Interessen einzustehen, und daß zum anderen Informationen
hinreichend verfügbar und hochwertig sind (Gafni, A. et al., 1998 zit. in Büchi, M. et al.,
2000).
Shared decision making: Arzt und Patient begegnen sich in diesem Modell in einem offenen
Austausch und halten sich im Rahmen dessen über ihre Informationen gegenseitig auf dem
laufenden. Dabei liegt eine wichtige Aufgabe des Arztes darin, dem Patienten bei der zu tref-
fenden Entscheidung zu einer differenzierten Position zu verhelfen, die über die reine Vermitt-
lung von Fachinformationen deutlich hinausgeht. ,,Der Arzt bleibt Experte für das Wissen, der
Patient wird als Experte für seine Präferenzen anerkannt. Eine Therapieentscheidung wird zwi-
schen beiden ,Experten' einvernehmlich gesucht, die Verantwortung wird geteilt" (Büchi, M. et
al., 2000, S. 2777).

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Wollen Patienten an Entscheidungen partizipieren?
Bezüglich dieser Frage läßt sich aus den vorliegenden Untersuchungen keine eindeutige Aussa-
ge ziehen. Auf der einen Seite finden sich Belege dafür, daß Patienten nicht am Entschei-
dungsprozeß teilhaben wollen, andererseits gibt es auch solche Studien, aus denen das Gegen-
teil hervorgeht, daß nämlich das Bedürfnis an wichtigen Entscheidungen durchaus beteiligt zu
werden, besteht (Deber, R. B. & Baumann, A. O., 1992; Deber, R. B. et al., 1996 zit. in Büchi,
M. et al., 2000).
Deber und Baumann sowie Deber und Kraetschmer führen diese widersprüchlichen Befunde
auf grundsätzliche Probleme beim Design solcher Studien zurück, die wiederum mit Schwie-
rigkeiten, die der Fragestellung innewohnen, zu begründen sind. Der Patient will wegen der
eigenen, mangelhaften medizinischen Expertise in der Regel nicht im frühen Stadium der Al-
ternativenselektion als Mitentscheider gefordert sein, d. h. zu einem Zeitpunkt, in dem die
grundsätzlich infrage kommenden Behandlungen identifiziert, von den ungeeigneten selegiert
und nach Gewichtung sortiert werden. Geht es zu einem späteren Zeitpunkt darum, ob die
optimalen der vorab ausgewählten Behandlungen nicht oder nun doch durchgeführt werden
sollen, und in welcher Reihenfolge das zu geschehen hat, ist im Regelfall damit zu rechnen,
daß er daran durchaus beteiligt werden möchte.
Solange die Forschung nicht zwischen diesen beiden Aspekten unterscheidet, sind nach An-
sicht der Autoren in dieser Frage weiterhin widersprüchliche Aussagen zu erwarten.
e) Zur Übertragbarkeit von Verantwortung
Wenn sich Arzt und Patient begegnen, gehen in der Regel beide implizit davon aus, daß der
Arzt im Besitz von Expertenwissen ist, das dem Patienten auch durch einen Erfahrungsschatz
nicht zur Verfügung steht
3
. Der Patient erhofft sich vom Arzt sowohl eine Erklärung über die
Ursachen seiner Beschwerden als auch eine konkrete Hilfe in Form ihrer Besserung, die letzt-
lich in die umfassende Wiederherstellung mündet. Wir sehen uns hier mit dem nicht leicht zu
definierenden Ausdruck ,gesunder Zustand' konfrontiert, denn das Anliegen des Patienten zielt
mitunter gar nicht auf eine Gesundung im Sinne einer Heilung ab. Oftmals wird in erster Linie
die Befreiung von unliebsamen Symptomen gewünscht, da sich der Begriff Gesundung in unse-
rer Kulturlandschaft häufig nur auf den Aspekt der Symptomfreiheit reduziert (von Uexküll, T.
& Wesiack, W., 1988). Da Symptomfreiheit im Extremfall möglicherweise sogar einer tiefge-
3
Was natürlich objektiv auch richtig ist. Allerdings steht dem Patienten, falls er Zugang zu einer entsprechenden Selbstwahr-
nehmung hat, ein diagnostisches (und therapeutisches) Potential zur Verfügung, das im Einzelfall die ärztlichen Möglichke i-
ten weit übersteigt und auf das der Arzt eigentlich nicht verzichten kann.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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henden Heilung entgegensteht
4
, wird der Arzt durch die Erwartungshaltung des Patienten in
ein Handlungsdilemma gestürzt, das ihn vor dem Hintergrund eines zeitlich begrenzten Bud-
gets zur Entscheidung zwischen einer vernünftigen medizinischen Behandlung und dem
Wunsch des Patienten nach Befreiung von der vordergründigen Problematik drängt. Man muß
bedauern, daß die kassenärztlichen Abrechnungsvorschriften zeitlich umfangreiche Beratungs-
gespräche nicht honorieren, die eine umfangreiche Aufklärung des Patienten zum Ziel haben
und die das Verständnis der komplexen, in der Regel systemischen Zusammenhänge seiner
Symptomatik ermöglichen (Saynisch, D., 1997).
Der aktiv lenkende Partner Arzt im Arzt-Patienten-Gespräch beeinflußt in der Regel auf Grund
seiner medizinisch-fachlichen Kompetenz die Richtung der späteren Behandlungsentschei-
dung. Damit trägt er in hohem Maße auch eine juristische Verantwortung für die Behandlung,
die in diesem Zusammenhang allerdings nicht interessiert. Wichtiger für den Kontext des Arzt-
Patienten-Verhältnisses ist die Frage, wer sich von den Beteiligten für die Genese der Krank-
heit, die zu treffende Behandlungsentscheidung und den weiteren Krankheitsverlauf auf einer
mehr psychologischen Ebene verantwortlich fühlt (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988). Aus
der Perspektive des Patienten betrachtet stellt sich die Frage, ob sich der Patient als Träger der
Krankheit empfindet und ob er sich vom Krankheitsgeschehen als Adressat angesprochen fühlt.
Von einer ,psychologischen Verantwortungsübernahme' für die Erkrankung soll im Folgenden
dann ausgegangen werden, wenn das Individuum keine Trennung zwischen sich und der
Krankheit vornimmt, am Genesungsprozeß körperlich und seelisch aktiv teilhaben will und
nicht jede Verantwortung für die zu ergreifenden Maßnahmen und den Erfolg des Prozesses an
den behandelnden Arzt abgibt. Dieser Punkt bedarf deshalb der besonderen Erwähnung, weil
diesbezügliche Voraussetzungen durchaus nicht immer erfüllt werden.
An anderen Beispielen soll das Phänomen der vom Patient an den Arzt delegierten Verantwor-
tung weiter veranschaulicht werden. So sieht sich der Kranke häufig nicht nur von seinen Sym-
ptomen isoliert, sondern lehnt auch jegliche Verantwortung für ihre Ursachen ab. Es wird also
von ,dem' Krebs gesprochen, als handele es sich um einen fremden Organismus im eigenen
Körper, obwohl es sich zweifelsfrei um körpereigene, dem Trägerorganismus zugeordnete Zel-
len handelt. Die Ursache für eine Grippe liegt nach dem gängigen Verständnis der Kausalzu-
sammenhänge ausschließlich in den jeweiligen Virenstämmen begründet, und der Hautaus-
schlag geht entweder auf eine Pilzinfektion oder eine Prädisposition, d. h. auf die ererbte Ver-
anlagung, zurück. So zutreffend die Behauptung hinsichtlich der grundlegenden Wirkzusam-
menhänge auch sein mag, das Geschehen spielt sich letztlich auch bei Infektionserkrankungen
4
Etwa bei chronisch entzündlichen Prozessen, die infolge einer wiederholten Antibiotikatherapie nicht zu einer abschlie-
ßenden Ausheilung kommen, sondern sich dadurch möglicherweise erst potenzieren.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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im eigenen Körper ab. Es ist also grundsätzlich schwer von der Hand zu weisen, daß häufig im
Vorfeld der Erkrankung Körperprozesse stattfinden, die erst die Voraussetzungen für das Auftre-
ten der Erkrankung bilden. Zumindest muß eine Schwächung, eine Irritation oder eine Inkom-
petenz auf Seiten des Immunsystems vorliegen, ohne die der relativ häufig stattfindende Pro-
zeß der Vermehrung entarteter Zellen bis hin zum Tumorstadium gar nicht stattfinden würde
(Vithoulkas, G., 1993).
Rein theoretisch ist also durchaus die Frage berechtigt, woraus die Schwächung der körperei-
genen Abwehrmechanismen mit reduzierter Organfunktionalität o. ä. ursächlich resultiert und
ob darin nicht ein gewisser Aufforderungscharakter in Hinblick auf die Lebensgestaltung oder
die Art der Behandlung des eigenen Körpers oder der Seele liegt (Dethlefsen, T. & Dahlke, R.,
1990). Gleichzeitig steht außer Frage, daß in nur wenigen Fällen darauf eine Antwort gefunden
werden kann. Als bedenklich sind die Weltbilder anzusehen, die Krankheit als die zwingende
Konsequenz eines vorangegangenen Fehlverhaltens moralischer oder sonstiger Art verstehen.
Aus psychotherapeutischer Sicht wäre allerdings die Auseinandersetzung mit Fragen, die das
eigene Leben und die eigene Person betreffen, sehr zu begrüßen. Sie wird von den meisten
therapeutischen Schulen als förderlich für den Heilungsprozeß somatischer Beschwerden ange-
sehen, insbesondere von Schulen mit humanistischer und tiefenpsychologischer Ausrichtung
(Downing, G., 1996; Mertens, W., 1996; Perls, F., 1982).
Für den Krankheitsverlauf und den Heilungsprozeß nahezu jeder Krankheit ist es von großer
Bedeutung, daß der Patient ein von verantwortlicher Einstellung geprägtes Krankheitsbewußt-
sein besitzt oder es im Laufe der Krankheit entwickelt (von Uexküll, Th et al., 1981). Wün-
schenswert wäre eine Grundhaltung, die davon ausgeht, daß das Krankheitsgeschehen ein
sinnvoller und zielgerichteter Bewältigungsversuch des Organismus ist, wobei ­ und dies ist
besonders wichtig ­ die vom Organismus verfolgte Zielsetzung nicht unbedingt mit den intel-
lektuell reflektierten Zielen des Patienten übereinstimmen muß. Für den Fall, daß eine solche
Diskrepanz deutlich erkennbar ist, arbeiten offensichtlich im Organismus zwei Instanzen nicht
in die gleiche Richtung, was in einem psychotherapeutischen Setting als Spannungssituation
identifiziert und einen interessanten Ausgangsbefund darstellen würde (Downing, G., 1996;
Perls, F., 1982).
Zusammenfassend läßt sich im Sinne einer Arbeitshypothese formulieren, daß die heutige
Schulmedizin dem Patienten mehr Verantwortung für seine Erkrankung übertragen könnte,
wodurch die Krankheit offenkundiger im direkten Einflußbereich des Betroffenen liegt und er
weniger als passiver Rezipient von der Diagnostik zur Behandlung und zurück pendelt.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
Seite 18 von 115
f)
Das System von Arzt, Patient und Öffentlichkeit
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Krankenversorgung
Dank der gesetzlich festgelegten Krankenversicherungspflicht und des Sozialversorgungssystems
existiert in Deutschland unabhängig von der Einkommenssituation eine flächendeckende Kran-
kenversorgung auf hohem qualitativen Niveau. Allerdings tut sich seit einigen Jahren eine kon-
tinuierlich wachsende und maßnahmenresistente Finanzierungslücke auf, auf die hier nicht
weiter eingegangen werden wird. Die Frage, die sich stellt, zielt darauf ab, ob überhaupt Im-
plikationen und wenn ja, Implikationen welcher Art mit dem Vorliegen einer flächendecken-
den Krankenversorgung für das Arzt-Patienten-Verhältnis einhergehen. Hier soll nun, auch auf
der Grundlage eigener Überlegungen, einer Antwort gesucht werden, die in erster Linie den
Charakter einer Arbeitshypothese aufweist und sich weniger auf gesicherte empirische Fakten
stützt.
Eine Leistungsgesellschaft, die dem Individuum starke Wertschätzung entgegenbringt, muß sich
fast zwangsläufig mit solidarischen Prinzipien schwer tun­ zumindest ist anzunehmen, daß hier
die Voraussetzungen zur Entwicklung psychologischer Dissonanz vorliegen. Da das deutsche
Sozialversicherungssystem auf dem Solidarprinzip beruht, verpflichtet es den Leistungsfähigen
zur Unterstützung Bedürftiger. Vielfach werden, wie auch in anderen Sozialversicherungsberei-
chen, die monatlichen Beitragszahlungen derart mißverstanden, daß sie vom Beitragszahler
selbst in voller Höhe berechtigt in Anspruch genommen werden dürfen, der Beitragszahler also
Anspruch auf Leistung in einer bestimmten Höhe hat. Je höher die monatlichen Zahlungen
ausfallen und je schlechter die Einbindung in die soziale Gemeinschaft gelingt, desto stärker
ausgeprägt dürfte die Anspruchshaltung sein ­ zumindest soll dies hier hypothetisch ange-
nommen werden.
Tatsächlich kann der beitragzahlende Bürger im Versicherungsfall auch eine Gegenleistung für
seine finanzielle Investition erwarten, für die der Arzt ,das ausführende Organ' der zuständigen
Institutionen ist. Er wandelt im Auftrag der Krankenversicherung die Beitragszahlung des Pati-
enten in eine heilende bzw. behandelnde Maßnahme zu dessen Gunsten um. Da der Kassen-
patient zum einen kein Wissen über die tatsächlich anfallenden Kosten
5
hat und andererseits
der Solidargedanke gegenüber dem Pflichtaspekt der Beitragszahlung mehr und mehr in den
Hintergrund rückt, wächst beim Patienten die Erwartungshaltung an die Menge oder Qualität
der ,ihm zustehenden' Gegenleistung.
5
Im französischsprachigen europäischen Ausland beispielsweise arbeiten auch die gesetzlichen Krankenkassen nach dem
Kostenerstattungsprinzip.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
Seite 19 von 115
Im psychologischen Kontext stellt sich die Frage, inwieweit der Patient in der Lage oder gewillt
ist, zwischen seinem vorgenannten Anspruch auf angemessene Maßnahmen und den tatsächli-
chen Möglichkeiten der ärztlichen Institutionen kompetent zu differenzieren. Da zwischen
seiner monatlichen Beitragszahlung und der gerade in Anspruch genommenen Leistung kein
unmittelbarer und nachvollziehbarer Zusammenhang besteht, bewegt sich das Arzt-Patienten-
Verhältnis hinsichtlich des finanziellen Hintergrundes auf einem unklaren Fundament. Das ist
insofern erwähnenswert, als in allen zwischenmenschlichen Beziehungen das Austauschprinzip
eine nicht unerhebliche Rolle spielt (Frey, D. & Greif, S., 1997).
Die Erwartungshaltung der Patienten wird zusätzlich gesteigert, indem nicht nur von den Kran-
kenkassen
6
, sondern gerade auch in der Werbung die pharmazeutische Industrie das Bild vom
Menschen als reparierbare Maschine aufbaut (Capra, F., 1998). Eine skurrile Überspitzung
dieses Menschenbildes findet sich mit dem aktuellen Vorschlag des Verbands der Angestellten-
Krankenkassen (VdAK) zur Verbesserung der Behandlung von Patienten. Der VdAK fordert ein
erfolgsabhängiges Honorar für Ärzte, das nur dann ausgezahlt wird, wenn die Behandlung
nachweisbar in die Heilung mündet (Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2000).
Im gleichen Kontext ist für das Arzt-Patienten-Verhältnis noch ein weiterer Aspekt wichtig, der
in Betracht zieht, wie die Gesellschaft mit dem eigentlichen Krankheitsereignis umgeht. Wer
sich einer herandrängenden Verpflichtung im persönlichen, sozialen oder beruflichen Bereich
zu entziehen sucht, geht ­ wie die Erfahrung lehrt ­ den leichtesten Weg, wenn er die Kran-
kenrolle wählt. So ist ein Fernbleiben vom Arbeitsplatz oftmals nur durch eine akute Krankheit
zu entschuldigen, während für ernsthafte Anliegen des persönlichen Bereichs, wie beispiels-
weise der Klärung von Partnerschaftsproblemen oder gesteigerte Aufmerksamkeit für Kinder in
einer schwierigen Phase, wenig Verständnis entwickelt wird. Wer mit einer solchen Entschuldi-
gung fehlt, fehlt unentschuldigt. Krankheit hingegen rechtfertigt alles, selbst wenn sie nur zeit-
lich verzögerter Ausdruck eines ungelösten Konfliktes im obigen Sinne ist. Wie sich dies auf die
Interaktion mit dem Arzt auswirkt, beschreiben Luban-Plozza, Knaak und Dickhaut: ,,Die
Kranken haben sich inzwischen teilweise auf solche Verhaltensweisen der Ärzte eingespielt.
Diese Kranken glauben, dem Arzt in erster Linie einen Körperschaden vorweisen zu müssen,
um die ,Eintrittskarte' in das Versorgungssystem zu erhalten. Selbst bei massiven sozialen Kon-
flikten werden die Körpersymptome in den Vordergrund geschoben" (Luban-Plozza, B. et al.,
1987, S. 23).
6
Die größte gesetzliche Krankenkasse, die AOK, bezeichnet sich in der Werbung als ,,Die Gesundheitskasse".

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Der Arzt im Blickfeld der Öffentlichkeit
Der Allensbacher Befragung zum Prestige der gängigsten Berufsgruppen aus dem Jahr 2001
(siehe Bild 1) ist zu entnehmen, daß der Arztberuf in Deutschland mit Abstand den höchsten
Prestigewert besitzt. Dieses Ergebnis spiegelt sich auch in der gleichbleibend hohen Zahl an
Abiturienten wieder, die sich nicht scheuen, ein langes und entbehrungsreiches Studium zu
absolvieren, um anschließend als Mediziner berufstätig werden zu können. Gleichzeitig ist, wie
bereits erwähnt, die Kritik an dieser Berufsgruppe nicht zu überhören, die daher rühren mag,
daß fast jeder in seinem Leben früher oder später mit dem Gesundheitswesen in Kontakt
kommt. Das geschieht fast immer in einem gesundheitlich angeschlagenen Zustand des Patien-
ten und für den Arzt im Kontext knapper Geldmittel der Kassenärztlichen Verrechnungsstelle.
Kontaktstelle ist in dieser Situation in der Regel ein Arzt, der den einzigen direkten Ansprech-
partner im Gesundheitswesen darstellt und nolens volens so etwas wie eine Blitzableiterfunkti-
on innehat (Saynisch, D., 1997).
Saynisch sieht allerdings auch, daß nicht der praktizierende Arzt die ,,grenzenlose Begehrlich-
keit" (Saynisch, D., 1997, S. 76) und eine mangelnde Akzeptanz von Schicksal, Krankheit und
Leid geschaffen hat, sondern hier vielmehr das Resultat einer Vorstellung möglichen Glücks
sichtbar wird, das sich in Jahrzehnten im privaten und öffentlichen Leben breitgemacht hat,
also ganz und gar von der Gesellschaft konstruiert wurde. Als Beispiel dafür, wie die gesell-
schaftliche Kraft gestaltend am Ärztewesen sichtbar wird, führt Saynisch den in Deutschland
üblichen Ausbildungsweg an. Heute haben Einser-Abiturienten die besten Chancen, wenn
nicht gar die einzige Möglichkeit, einen medizinischen Studienplatz zu erobern. Ob nun gera-
de diese Elite die besten Voraussetzungen dafür mitbringt, einem Leidenden beizustehen, er-
scheint ihr zumindest zweifelhaft. Hingegen hält die Autorin für erwiesen, daß sich der lei-
stungsorientierte Nachwuchs vom Sozialstatus des Arztes, seinen Verdienstmöglichkeiten und
der Freiberuflichkeit angezogen fühlt (Saynisch, D., 1997).
In einer Studie untersuchten Ali, Lo, Auvache und andere (Ali, N. Y. et al., 2001), ob in einer
Langzeitübersicht der drei gängigen britischen Zeitschriften Daily Telegraph, Guardian, und
Daily Mail, die einen Zeitraum von über 21 Jahren umfaßte, der Ärzteschaft gegenüber eine
eher positive, neutrale oder negative Haltung eingenommen wurde. Die Autoren wollten wis-
sen, ob der in mehreren zurückliegenden Publikationen (Goodman, N., 2000; Keep, P., 2000
zit. in Ali, N. Y. et al., 2001) geäußerte Eindruck, die Presse würde immer negativer über Ärzte
berichten, den Tatsachen entsprach. Sie kamen dabei zum Ergebnis, daß in diesen drei Zeitun-
gen tatsächlich doppelt so viele Artikel mit negativer als mit positiver Einfärbung der Darstel-
lung veröffentlicht wurden, wobei die Zahl der in die Wertung kommenden Beiträge absolut
zunahm und das Verhältnis von positiv zu negativ in etwa konstant blieb. Die Zahl der neutra-
len Beiträge bewegte sich annähernd auf gleichem Niveau wie die der negativen.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Für die Zuverlässigkeit dieser Aussage spricht der Umstand, daß der für die Summe der Zeit-
schriften feststellbare Trend auch für jede einzelne der drei Zeitschriften zutrifft. Die Autoren
führen zudem noch aus, daß sich interessenpolitische Ereignisse in der Zahl der Berichte nie-
derschlagen. ,,These data suggest that UK newspapers respond to incidents, rather than delib-
erately campaigning against doctors" (Ali, N. Y. et al., 2001). Methodenkritisch ist anzumerken,
daß die Einschätzung das Kriterium einer positiven oder negativen Wertung doch recht stark
vom Betrachter abhängt. Auch die Auswahl der Zeitungen entbehrt nicht einer gewissen Will-
kür.
Grundsätzlich gilt, auch im Hinblick auf die Arzt-Patienten-Beziehung, daß ,,den öffentlichen
Medien ebenfalls ein wichtiger Stellenwert bei der Krankheitsverarbeitung zu(kommt). Sie
beeinflussen z. B. die allgemeine Beachtung, die bestimmte Symptome, Krankheitsbilder oder
Behandlungsmaßnahmen erfahren" (Arbeitskreis OPD (Hrsg.), 2001, S. 42). So ist aus vielfa-
chen Gründen die meinungsbildende Bedeutung der Presse nicht zu unterschätzen.
Bild 1: Allensbacher Berufsprestige-Skala 2001

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Wechselwirkungen
Der Arbeitskreis zur Erstellung der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (
OPD
) ­
es handelt sich bei der
OPD
sozusagen einem psychodynamischen ,Gegenentwurf' zu
DSM-IV
und
ICD
-10 ­ betont in der aktuellen Ausgabe des Manuals, daß für das Krankheitserleben
Faktoren wie (1) die Krankheitsverarbeitung, (2) die materiellen und institutionellen Bedingun-
gen des Gesundheitssystems, (3) die wissenschaftlichen Orientierungen und Standards im Ge-
sundheitssektor sowie (4) die gesundheits- bzw. krankheitsbezogenen Einstellungen und Hal-
tungen von besonderer Relevanz sind (Arbeitskreis OPD (Hrsg.), 2001). Merkmale der Kran-
kenversorgung und des Gesundheitssystems sowie der praktizierten somatischen Behandlung
wirken auf dem Wege der Arzt-Patienten-Beziehung direkt auf den Patienten, sein Krankheits-
erleben und seine Krankheitsverarbeitung ein. ,,Dabei weist das weitgehend am organischen
Krankheitsmodell orientierte medizinische Versorgungssystem dem Patienten im Prozeß der
Diagnosenstellung und bei der Behandlung in der Regel eine passiv-rezipierende Rolle zu"
(Arbeitskreis OPD (Hrsg.), 2001, S. 42). So wird beispielsweise das gehäufte Auftreten somato-
former Störungen in bestimmten Populationen zur Konsequenz einer gegebenen Organisation
des Gesundheitssystems. Der Hinweis auf die Bedeutung dieser speziellen Beziehungsdynamik
zwischen Arzt und Patient erfolgt schon seit längerem von Seiten psychoanalytischen Autoren
(Beckmann, D., 1984).
Horn vertritt die Ansicht, daß sich das Menschenrecht auf körperliche und geistige Gesundheit
in einer Gesellschaft, die sich in einem so hohen Maße selber herstellt wie die unsere, nicht
zureichend individualistisch und auch nicht nur als naturwissenschaftliches Problem begreifen
und handhaben läßt (Horn, K., 1998). Die Prozesse des Erkrankens und der Gesundung spie-
len sich zwar als Entlastungs- und Rückgliederungsmechanismen im einzelnen ab ­ wobei die
naturwissenschaftliche Medizin wichtige Beiträge dazu liefern kann ­, eine problemangemes-
sene Handhabung läßt sich aber nur aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive erzielen. Deutlich
wird das an der historischen ,Irren'-Problematik (Dörner, K., 1969, Foucault, M., 1954, zit. in
Horn, K., 1998), die erst in dem Moment in das Bewußtsein der Öffentlichkeit vordrang, als
die bürgerliche Form der Rationalität unsere Gesellschaften durchzuorganisieren begann und
,das Irrationale' als störender Gegenpol zur Kenntnis genommen wurde. Erst von dem Moment
an ergab sich die Notwendigkeit einer Kasernierung des ,Andersartigen'.
g) Technische oder Apparatemedizin
Die in der westlichen Welt vorherrschende Gesundheitsfürsorge befindet sich gegenwärtig
insofern in einer kritischen Phase, als in vielen Ländern die Kosten in alarmierender Weise
ansteigen und die traditionelle Arzt-Patienten-Beziehung durch den technischen Fortschritt
bedroht erscheint (von Uexküll, Th et al., 1981). Es sind im Gesundheitswesen Veränderungen
zu bemerken, die zum einen in dieser Form nicht gewollt sind und zum anderen auch durch

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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gezielte Maßnahmen scheinbar nicht aufzuhalten sind. U. a. ist der enorme Bevölkerungszu-
wachs in den Entwicklungsländern eine Ursache, die eine weltweite angemessene Versorgung
unerschwinglich werden läßt. ,,Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, daß man beginnt,
die Durschlagskraft des Systems unserer Gesundheitsfürsorge in Zweifel zu ziehen. Zweifel an
der Effektivität unserer medizinischen Versorgung führen folgerichtig zu Zweifeln an der Ratio-
nalität der Fundamente unserer Heilkunde, der wissenschaftlichen Theorien und Konzepte der
ärztlichen Berufe sowie der Regierungen, von denen das System der Gesundheitsfürsorge ab-
hängt" (von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988, Vorspann ohne Seitenangabe).
Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen ist die Aufgabe des Arztes nicht leicht. Er
trägt nicht nur ,handwerklich' eine große Verantwortung, nämlich das außerordentlich emp-
findliche Gut des körperlichen und seelischen Gleichgewichts des Menschen zu bewahren,
denn noch mehr als in anderen Berufen ist er angehalten, seine Tätigkeit fachlich kompetent
auszuüben und dabei absolut fehlerfrei zu agieren. Zusätzlich lastet noch auf ihm die enorme
Erwartungshaltung seiner Kunden und der recht überstrapazierte Nimbus seines Berufsstandes
(von Uexküll, T. & Wesiack, W., 1988).
Ein möglicher und durchaus üblicher Ausweg aus den verantwortungsvollen Situationen eröff-
net sich damit, die zu tragende Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen bzw. sie an
technische Geräte und Computer zu delegieren. Die letztere der Möglichkeiten wird heute im
medizinischen Sektor mit dem Trend zu einer technisierten und immer aufwendigeren
Apparatemedizin beschritten (Saynisch, D., 1997). Zum einen läßt sich einer Diagnose durch
Bilderreichtum und eine größere Vielfalt an Daten aus unterschiedlichen Quellen größeres
Gewicht verleihen, zum anderen bieten technische Gerätschaften auch zusätzliche
Interventionsmöglichkeiten, ohne die der Arzt u. U. schon vorher in eine passiv-abwartende
Haltung gezwungen würde
7
. Anschließende Ausführungen zeigen, daß der Arzt nun gerade mit
dieser abwartenden Haltung recht schlecht umgehen kann.
Rossmanith geht ähnlich wie Capra (Capra, F., 1998) davon aus, daß sich hinter der zuneh-
menden Technisierung schon ein Paradigmenwandel in der Heilkunde zu einer holistischen
Medizin hin ankündigt, die ,,alle Bereiche menschlichen Lebens und Erlebens in ihrer interde-
pendenten Vernetzung für das Verstehen und Behandeln von Kranken zu berücksichtigen ver-
sucht. Biologische, psychosoziale und kulturelle Faktoren werden für das Krankheitsverständnis
konzipiert und in Diagnostik, Therapie und Umgang mit den Kranken integriert. Diese ganz-
heitliche medizinische Perspektive erfordert vom Arzt auch eine ganzheitliche Ausbildung und
7
Gänzlich unbenommen davon ist natürlich die Tatsache, daß die Erweiterung der technischen Möglichkeiten in den mei-
sten Bereichen der Medizin tatsächlich einen erheblichen Zugewinn bedeutet. Im Rahmen dieses Textes liegt der Fokus auf
den psychologischen Implikationen solcher Phänomene für das Arzt-Patienten-Verhältnis, was eine mitunter überspitzte
Darstellung mit sich bringt.

Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung
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Wahrnehmungsfähigkeit und wirkt damit der Spaltung der Heilkunde ... entgegen"
(Rossmanith, S., 1989, S. 12f). Die von den Autoren angesprochene Spaltung in eine Körper-
und eine Seelenmedizin zieht eine Behandlung der Patienten in unterschiedlichen Kliniken
und nach unterschiedlichen Methoden nach sich.
Unmittelbar einsichtig ist, daß eine größere Zahl von Apparaten, Bildern und Laborbefunden
die körperliche und emotionale Distanz zum Patienten tendenziell vergrößert. Die Wahrneh-
mung des Arztes ist in erster Linie auf die Bedienung der Geräte bzw. auf die von ihnen gene-
rierten Befunde gerichtet und nicht auf den Menschen selbst (Balint, M., 1957). Sein Auftreten,
seine Schilderungen sowie die affektive und körperliche Präsenz ­ wie die Gestalttherapie sagt
­ gehören dem ,Hier und Jetzt' an (Perls, F., 1982), was letztlich die persönliche Beziehung
zwischen Arzt und Patient schwächen muß. Der Patient muß spüren, daß es bei dieser Art der
Befundung nicht um ihn in seiner Ganzheit geht, sondern nur um einen abbildbaren Aus-
schnitt. Solange dieser Mangel in der Begegnung mit dem Arzt nicht ausgeräumt oder wenig-
stens zur Sprache gebracht wird, ist er psychologisch als eingestandene oder uneingestandene
Enttäuschung wirksam. Dieser Fall tritt nicht zwangsläufig ein, aber die Voraussetzungen dafür
sind durch das Setting von Arzt, Gerät und Patient in geradezu idealer Weise geschaffen
(Schmidbauer, W., 1999).
Selbst wenn mit der sogenannten Apparatemedizin letztlich eine Entwicklung hin zu verbesser-
ter Diagnostik und Therapie, also zu Gunsten des Patienten einhergeht, verdient sie einige
Beachtung, nicht nur im Hinblick auf den Beziehungsaspekt des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
,,Die Antwort auf die Frage, warum wir alles anwenden, was möglich ist, kann nicht sein: weil
wir es können oder weil wir die Geräte haben. Sie muß wieder lauten: was wir tun, ist allein
am sinngebenden Interesse des Kranken orientiert" (Saynisch, D., 1997, S. 104f).
h) Geldgeber Wirtschaft
Es ist davon auszugehen, daß ohne die gezielte finanzielle Unterstützung der Industrie wesent-
liche Fortschritte in der Erforschung von Medikamenten und Behandlungsmethoden nicht hät-
ten stattfinden können, immerhin stammen 30 bis 40 Prozent der reinen Forschungsetats deut-
scher Universitäten aus externen Quellen (Siegmund-Schultze, N., 2001). Bei einer Befragung
von Wissenschaftlern kommt Bodenheimer zu dem Ergebnis (Bodenheimer, T., 2000), daß die
Kooperation mit der Privatwirtschaft in der Regel auf einem hohen fachlichen Niveau stattfin-
det. Fallen die Untersuchungsergebnisse jedoch nicht in der gewünschten Weise aus, kommt
es unweigerlich zu einem Konflikt zwischen den wissenschaftlichen Interessen des Forschers
und den kommerziellen Erfordernissen, für die der Geldgeber einzustehen hat.
Bodenheimer betont, daß das Aufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Interessen in eine
fruchtbare Auseinandersetzung münden kann. Studien hingegen, die in Pharmakonzernen in

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2001
ISBN (eBook)
9783832452261
ISBN (Paperback)
9783838652269
DOI
10.3239/9783832452261
Dateigröße
3.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Psychologie und Pädagogik
Erscheinungsdatum
2002 (März)
Note
1,0
Schlagworte
psychotherapie compliance patientenmündigkeit krankheit beziehung
Produktsicherheit
Diplom.de
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Titel: Das Arzt-Patienten-Verhältnis
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